Dörte Hansen legt mit Altes Land einen eindrucksvollen und warmherzigen Debütroman vor. Nüchtern, und doch mit ganz viel Humor, erzählt sie von Heimat und Heimatlosigkeit, von Flucht und dem Wunsch danach, ein Zuhause zu finden. Schon jetzt kann ich sagen, dass Altes Land mein Buch des Frühjahrs ist.
In manchen Nächten, wenn der Sturm von Westen kam, stöhnte das Haus wie ein Schiff, das in schwerer See hin- und hergeworfen wurde. Kreischend verbissen sich die Böen in den alten Mauern.
Das Alte Land ist ein Teil der Elbmarsch südlich der Elbe, der vor allen Dingen bekannt für einen ertragreichen Obstbau ist: hier findet man Apfelbäume, Birnbäume und Kirschbäume. Die Kirschbäume sind bei räuberischen Vögeln beliebt, besonders bei den Staren, die mit lauten Rufen und Trommeln verscheucht werden. Doch so leicht wie sich die Vögel verscheuchen lassen, lassen sich Menschen nicht wegschicken. Auf dem Hof von Ida Eckhoff, Bäuerin im Alten Land, stehen im Frühjahr 1945 plötzlich Flüchtlinge aus Ostpreußen und bitten um Einlass. Ida Eckhoff schimpft die Flüchtlinge Polacken und lässt Hildegard von Kamcke und ihre Tochter Vera in der Knechtekammer schlafen.
Vera hatte immer gefroren in diesem Haus, nicht nur am Anfang, als sie mit ihrer Mutter in der Gesindekammer an der großen Dielentür wohnte, die von allen kalten Räumen im Haus der kälteste war, am weitesten weg von Ida Eckhoffs warmem Herd.
Doch Hildegard von Kamcke lässt sich nicht unterkriegen, sie möchte nicht allzu lange Flüchtling sein. Sie schnappt sich bald darauf einen gut verdienenden Mann und zieht mit diesem weiter nach Hamburg, um eine neue Familie zu gründen. Vera bleibt auf dem Hof zurück und lebt von nun an bei Karl, Idas einzigem Sohn. Karl ist körperlich beinahe unversehrt aus dem Krieg heimgekehrt, doch er wird sich von seinen Erlebnissen nie erholen. Auch als sie endlich erwachsen ist und als Zahnärztin arbeitet, zieht Vera nicht aus und bleibt alleine zurück in diesem großen, kalten Haus, in dem sie lebt, doch trotzdem nie so richtig heimisch ist.
Sechzig Jahre später stehen plötzlich erneut zwei Flüchtlinge vor der Tür: Veras Nichte Anne und ihr kleiner Sohn. Ihr Mann hat sich in eine Andere verliebt und ihre Arbeit als Flötenlehrerin füllt sie schon lange nicht mehr aus – überhaupt empfindet sie ihr Leben in Hamburg-Ottensen zunehmend als erdrückend.
Manchmal, wenn sie mit fremden Frauen auf dem Spielplatz saß, sah sie die dunklen Augenringe und fragte sich, ob es noch andere gab wie sie, Nachtmütter, die sich am Tag ein anderes Leben wünschten. Falls ja – sie würden es auch unter Folter nicht gestehen. Man durfte erschöpft sein auf den Bänken in Ottensen, gestresst und ungekämmt, auch ungeschminkt, das alles ging, nur mutterglücklos, das ging nicht.
Gemeinsam mit ihrem Sohn und Willy, dem Kaninchen, zieht Anne zu Vera in das große, kalte Haus. Anne, die eine Ausbildung als Tischlerin gemacht hat, nimmt sich dem Haus an, das Vera ein Leben lang vernachlässigt und nie gepflegt hat: die morschen Fenster werden erneuert, auch ein Gerüst wird aufgebaut. Dabei wird deutlich, dass das Haus voller Geheimnisse ist, voller Erlebnisse, über die nie gesprochen wurde, voller drückendem Schweigen. Doch diese bedrückende Vergangenheit sitzt nicht nur im Haus, sondern auch in Vera selbst – durch die zwei Flüchtlinge, die ihr Leben spontan ergänzt haben, beginnt sie sich ganz langsam aus einer jahrelangen Erstarrung zu lösen.
Flüchtlinge suchte man nicht aus, man lud sie auch nicht ein, sie kamen einfach angeschneit mit leeren Händen und wirren Plänen, sie brachten alles durcheinander.
Dörte Hansen erweist sich in ihrem Roman Altes Land als wunderbar genaue Beobachterin. Dabei gelingen ihr sehr intensive Einblicke in die Gefühle und Empfindungen ihrer Figuren, die alle irgendwie Flüchtlinge sind. Vera kommt als ungewolltes Flüchtlingskind in der Elbmarsch an und wird dort auch noch von ihrer eigenen Mutter zurückgelassen, die sich im viel schickeren Hamburg ein eigenes Leben aufbaut. Doch auch Anne ist ein Flüchtling, denn sie erstickt so langsam an ihrem schicken Leben in Hamburg. Die Beobachtungen des szenigen Großstadtlebens lesen sich herrlich amüsant: eingekauft wird natürlich im Bio-Supermarkt, die Kinder werden zu autonomen Entscheidungsträgern herangezogen, müssen die eine oder andere Frühförderung über sich ergehen lassen und wenn eine Beziehung doch mal scheitert, dann trennt man sich gesittet und eben wie zwei Erwachsene. Ebenso amüsant und mit humorvollem Augenzwinkern liest sich die Beschreibung der Menschen, die von der Stadt auf das Land gezogen sind, weil es dort doch ach so romantisch ist und dort nun Hoftür an Hoftür mit Vera und den anderen Alteingesessenen leben. Sie planen Bücher und Zeitschriften über die Landromantik, doch dabei übersehen sie, dass das Leben auf dem Land auch seine Schattenseiten haben kann. Der eine kann von seinen Verkäufen kaum überleben, der andere arbeitet noch im hohen Alter, da er keinen Nachfolger für den Hof findet – obwohl er drei Söhne hat.
Altes Land ist ein lesenswerter Roman, der von einem wunderbaren Humor getragen wird. Die Sprache ist nüchtern – knapp und verdichtet. An keiner Stelle ist ein Wort zu viel. Doch der Humor und die ironischen Beschreibungen sind nicht alles, denn unter der dicken Schicht Humor gibt es auch ganz viel Traurigkeit und eine bedrückende Schwere. Es geht um Heimat und Heimatlosigkeit. Es geht um den Wunsch anzukommen und das Gefühl, sich fremd zu fühlen – manchmal sogar im eigenen Haus. Altes Land ist wunderbar leicht und unterhaltsam und doch gleichzeitig so tiefgehend und berührend. Ein leichtes Buch, das doch ein kleines Wunder ist. Erwähnte ich schon, dass das Buch für mich das Buch des Frühjahrs ist? Eine unbedingte Leseempfehlung!
Dörten Hansen: Altes Land. Roman. Knaus Verlag, München 2015. 286 Seiten, €19,99. Weitere Besprechungen gibt es im Bücherwurmloch und bei Papiergeflüster.
26 Comments
Claudia Loewe
April 13, 2015 at 8:30 amWow! Da schreibst du was. Das Bücherwurmloch hat sich ja auch so begeistert geäußert. Ich habs daraufhin meiner Bibliothek vorgeschlagen und sie werden es in den Bestand aufnehmen. Ich fiebere dem Tag entgegen an dem sie es als Neuerwerb anpreisen und ich es ergattern kann. Es scheint ja echt toll zu sein! LG, Claudia
Mara
April 17, 2015 at 2:58 pmLiebe Claudia,
ich hoffe, du musst nicht mehr allzu lange und warten und wirst das Buch bald lesen können! Mich hat es wirklich sehr begeistert, es hat mich nicht nur berührt, sondern auch ziemlich gut unterhalten. Ich bin schon jetzt gespannt darauf, wie es dir gefallen wird. Berichte doch bitte!
Liebe Grüße
Mara
Constanze Matthes
April 13, 2015 at 8:52 amDas ist ein Buch ganz nach meinem Geschmack. Ich habe schon sehr viel Gutes dazu gelesen, und nun Dein wunderbarer Bericht. Ich finde es irgendwie bemerkenswert, dass in den vergangenen Monaten und Jahren das Ländliche in der deutschen Gegenwartsliteratur in den Fokus gerückt wird. Ein Thema, das sehr stark die skandinavische Literatur verbreitet. Darüber haben wir uns ja einmal kurz unterhalten. Außerdem ist das Thema Flüchtlinge und Heimatlosigkeit sehr aktuell. Viele Grüße
Mara
April 17, 2015 at 3:00 pmLiebe Constanze,
diese Tendenz hin zur Literatur über das Dorf ist auch etwas, das ich bereits seit einigen Jahren beobachte. Ich habe dazu auch mal ein interessantes Gespräch mit Max Scharnigg geführt, der sein Buch auf auf dem Dorf angesiedelt hat. Bei Dörte Hansen hat mir besonders gut die Sprache gefallen, aber auch der Themenmix: mich hat das Buch sowohl berührt als auch unheimlich gut unterhalten.
Liebe Grüße und viel Spaß bei der Lektüre
Mara
dasgrauesofa
April 13, 2015 at 10:40 amLiebe Mara,
du schilderst das Buch mit so begeisterten und begeisternden Worten, dass ich mich ja kaum Deiner Leseempfehlung – ach was, Deiner Lese(auf)forderung – entziehen kann. Verdammt, die Leseliste….
Ich habe gerade einen anderen Debütroman gelesen, auch aus Hamburg, aus einem schicken gentrifizierten Stadtteil, in dem man eben auch nur im Feinkost- und Bioladen einkauft. Und auf der anderen Seite gibt es auch diese Sehnsucht nach Ausstieg und Wegziehen auf das Land, in alte, große Häuser, in ein alternatives Leben, nicht mehr getrieben von den Großstadt- und Berufsanforderungen. Hier entscheiden sich die Protagonisten aber für ihr Großstadtleben, weil sie schon ahnen, dass das Landleben nichts ist für sie. Das Entfliehen der Großstadtzumutungen, in der Realität wie im “Alten Land” sowie in der Phantasie wie in Kristine Bilkaus “Die Glücklichen”, scheint gerade ein wichtiges Motiv zu sein.
Viele Grüße, Claudia
Xeniana
April 13, 2015 at 1:01 pmIrgendwie gehen “Die Glücklichen” von Bilkau und “Altes Land” auch für gefühlt Hand in Hand.
Mara
April 17, 2015 at 2:54 pmDann muss ich “Die Glücklichen” wohl auch noch lesen, ich war bisher immer nur so drum rum geschlichen. 😉
Xeniana
April 17, 2015 at 3:01 pmEin wunderbares Buch. Es ist so melancholisch …
Mara
April 17, 2015 at 2:56 pmLiebe Claudia,
meine Leseliste sieht wohl ähnlich voll aus wie deine, aber es lohnt sich wirklich, dieses schmale Buch noch dazwischen zu schieben. Ich kann dir garantieren, dass es sich wirklich flott lesen lässt.
Kristine Bilkaus Roman stand seit deinem Kommentar auf meiner Wunschliste. Nachdem ich deine Besprechung gelesen habe, habe ich es mir mittlerweile bereits im Buchladen bestellt und freue mich auf die Lektüre. Bei Dörte Hansen wird dieses Stadtteilleben wirklich herrlich amüsant geschildert. Ich habe selten zuvor so gelacht bei einer Lektüre.
Liebe Grüße
Mara
Xeniana
April 13, 2015 at 1:02 pmSchöne Rezension eines wirklich lesenswerten Buches. Es ist einfach ein Buch, das einen weiter begleitet.
Mara
April 17, 2015 at 2:53 pmWie schön, dass dir das Buch ebenfalls gut gefallen hat – es scheint ja mittlerweile schon bei einigen gut angekommen zu sein. 🙂
nettebuecherkiste
April 14, 2015 at 5:15 pmKlingt super, ich hole es mir vielleicht als Hörbuch 🙂
Mara
April 17, 2015 at 2:49 pmIch kann es dir wirklich nur ans Herz legen! 😀 Berichte doch bitte, falls du es dir gekauft hast.
mathildatanzt
April 14, 2015 at 10:36 pmDerzeit mein Lieblingstitel. Habe das Buch schon dreimal mit riesigem Erfolg verschenkt 🙂
Mara
April 17, 2015 at 2:49 pmAch, wunderbar – Bücher verschenken macht doch den größten Spaß, vor allen Dingen dann, wenn sie so gut ankommen. 😀
Isa Schikorsky
April 15, 2015 at 2:44 pmDa bin ich ja gleich noch viel neugieriger auf das Buch, das ich mir gerade einen Tag vorher gekauft hatte. Vielen Dank!
Mara
April 17, 2015 at 2:48 pmAch, was für ein toller Zufall, liebe Isa. Ich bin schon ganz gespannt darauf, wie es dir gefallen wird – berichte doch bitte, falls du die Zeit findest. 🙂
Maren Wulf
April 17, 2015 at 7:57 pmDas Buch liegt schon bereit – jetzt nach deiner schönen Besprechung freue ich mich doppelt auf die Lektüre. 🙂
Mara
April 22, 2015 at 1:31 pmDann wünsche ich dir ganz viel Spaß bei der Lektüre und bin schon gespannt darauf, wie dir das Buch gefallen wird!
Mareike von Herzpotenzial
April 24, 2015 at 9:02 pmIch muss ja sagen, dass ich bei dem Cover und Titel etwas völlig anderes erwartet habe. Eher so ein Gummistiefel-Frau-in-den-Wechseljahren-Geschichte 😀
In meinem Kopf ist das irgendwie drin, deshalb habe ich es mir immer noch nicht besorgt, dabei seid ihr alle so begeistert.
Liebe Grüße
Mareike
Mara
April 28, 2015 at 3:40 pmLiebe Mareike,
ich kann dir das Buch nur ans Herz legen und dir eindringlich davon abraten, dich von Covern fehlleiten zu lassen. Wenn ich nur auf das Cover geschaut hätte, hätte ich nie den wunderbaren Roman “Ada liebt” von Nicole Balschun entdeckt.
Lies in der Buchhandlung einfach mal rein, vielleicht packt es dich ja ebenfalls!
Liebe Grüße
Mara
atalantes
May 6, 2015 at 11:10 amHallo Mara,
dieser Roman hat auch mein Interesse geweckt. Schön, daß ich von Dir noch ein bißchen mehr darüber erfahren konnte. Wenn ich Dich richtig verstanden habe, versucht Hansen sich dem Zusammenhang von Heimat und Identität zu nähern. Mit dem historischen Bezug und der ironischen Sicht auf die Landlust scheint Hansen da ja ein vielfältiges Spektrum gelungen zu sein.
Freundliche Grüße,
Kerstin
Mara
May 6, 2015 at 12:46 pmLiebe Kerstin,
wie schön, dass du dich hier mal wieder zu Wort meldest – das Buch von Dörte Hansen habe ich sehr gerne gelesen, es ist immer noch mein Frühjahrshighlight. Sie beschäftigt sich in dem Roman in der Tat mit Heimat und Identität und wirft dabei einen ironischen Blick auf das Leben in deutschen Szene-Stadtteilen, aber auch auf die ungebrochene Landlust.
Ein wunderbares Buch, ich wäre sehr gespannt darauf, wie es dir gefallen wird, falls du es lesen solltest.
Liebe Grüße
Mara
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