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Zeitgenössisches

Johan Harstad – Max, Mischa & die Tet-Offensive

Buzz Aldrin wo warst du in all dem Durcheinander war der Debütroman von Johan Harstad. Ich las das Buch vor mehr als 14 Jahren und verliebte mich damals rettungslos: in die Sprache, die Figuren, die Geschichte. Ich habe sogar meinen Blog nach diesem Buch benannt. Jetzt liegt endlich der langerwartete nächste Roman des norwegischen Autors vor: Max, Mischa & die Tet-Offensive ist genauso gut, klug, wunderbar erzählt. Ein Lesegenuss und eine große Empfehlung!

Man stürzt sich mit der Hoffnung in die Arbeit, einen Teil von sich selbst zu erkunden und zu bewahren, vom Wunsch erfüllt, mehr über sich zu erfahren. Aber es ist immer dasselbe: Wenn man auf der anderen Seite wieder herauskommt, begreift man weniger als zuvor.

In Max, Mischa und die Tet-Offensive spannt Johan Harstad einen weiten Bogen: auf 1242 Seiten erzählt er eine Geschichte, die uns von Norwegen, über die USA bis zurück in den Vietnamkrieg führt. Es ist schwer zu sagen, was dieses Buch eigentlich genau ist: es ist eine Liebesgeschichte aber auch die Erzählung einer großen Freundschaft. Doch worum genau geht es eigentlich genau? Da ist Max – Max ist 35 Jahre alt und arbeitet als Theaterregisseur. Mit seinem neuesten Stück tourt er gerade durch die USA, wo der gebürtige Norweger seit mehr als zwanzig Jahren lebt, aber immer noch nicht zu Hause ist.

Ich bin fünfunddreißig Jahre alt, fühle mich aber eher wie sechzig. Ich habe ein Gesicht, das zu wahren mir zunehmend schwerfällt. Die Person, die sich dahinter verbirgt, hat nichts mehr mit mir zu tun. Es ist, als würde ich mit jeder Nacht, die ich nicht schlafe, um ein ganzes Jahr altern, und womöglich bin ich tot, wenn diese Tournee vorüber ist. Oder ich sterbe im selben Alter wie Shakespeare. Ja. Sitzen oder stehen – das ist hier die Frage.

Im Grunde, ist das gesamte Buch ein langer und oft schwermütiger Monolog, der uns einmal quer durch das gesamte Leben von Max führt. Auf den ersten Seiten reflektiert er seine Arbeitsweise als Regisseur: wie muss ein Stück erzählt werden, damit es funktioniert? Was ist sein Antrieb? Was ist seine Angst? Woran zweifelt er? Danach beginnt er damit, sich zu erinnern: Er erzählt von seinem besten Freund Mordecai, der Schauspieler ist. Von seiner großen Liebe Mischa, die als Künstlerin arbeitet. Von seinem Onkel Owen, der Jazzpianist ist und im Vietnamkrieg kämpfte, um die amerikanische Staatsbürgerschaft zu bekommen.

Er erzählt auch von seiner Kindheit in Norwegen. Von dem Film Apocalypse Now, dessen Dialoge er auswendig mitsprechen kann – so oft hat er ihn gesehen. Als er 13 Jahre alt ist, zwingt ihn seine Familie zum Umzug in die USA – der Vater arbeitet als Pilot und heuert bei American Airlines, um mehr Geld zu verdienen und bessere Chancen zu haben. Was macht es mit einem Kind, das eigene Zuhause zu verlieren? Die Freunde? Das Land, in dem es aufwuchs? Die Sprache, die es dreizehn Jahre lang sprach? Auch mit fünfunddreißg Jahren hat er das Gefühl, noch nicht richtig angekommen zu sein.

Fast jeden Abend, wenn er ins Bett geht, denkt er an die Briefe, die er im Laufe der Jahre nicht verschickt hat, die er sich nicht überwinden konnte zu schreiben; es sind viele, und es werden immer mehr, auch wenn die Zahl der Empfänger gleich niedrig bleibt. Trotzdem schreibt er keinem von ihnen, nicht einem Einzigem; er liegt im Bett, versucht zu schlafen, und um ihn herum, über den ganzen Boden verstreut, liegen die Briefe, die er nicht geschrieben hat, auf der Kommode und auf dem Bettvorleger, sie quellen aus den Schubladen, fallen aus den Taschen der Hosen und Jacken, die er über den Stuhl gehängt hat. um sie am nächsten Tag anzuziehen.

Auch der 11. September findet Erwähnung, genauso wie der Wirbelsturm Sandy. Das Buch ist übervoll – aber es funktioniert, kein Satz und keine Seite sind zu viel. Als ich es zuklappte, hätte ich am liebsten direkt wieder von vorne angefangen. Max biegt in seiner Erzählung immer wieder ab, erinnert sich an Menschen, die ihn begleiteten und Orte, die ihm wichtig waren. Im Zentrum des Romans steht der Verlust von Heimat und die damit verbundene Frage, wie wir uns ein neues Zuhause schaffen können. Max ist ein ewig Suchender: der vor lauter Suchen manchmal nicht sehen kann, wie viel er eigentlich schon besitzt.

Auf dem Buchcover ist die Schauspielerin Shelley Duvall zu sehen: sie spielt auch im Roman eine Rolle, denn Max merkt mehrmals an, dass Mischa aussieht wie Shelley Duvall in Brewster McCloud. Ich glaube, dass die Figuren eine der großen Stärken dieses Buches sind: Max, Mischa, Mordecai, Owen – sie haben alle ihre eigene Geschichte, sie bereuen und zweifeln, sie haben Ängste und unerfüllte Wünsche und versuchen dennoch so gut wie möglich weiterzuleben. Besonders ans Herz gewachsen ist mir Owen, der seine – sehr pazifistische – norwegische Familie verließ, um in den Vietnamkrieg zu ziehen. Wie lebt man mit einer solchen Entscheidung? Lässt sich jeder Bruch wieder kitten?

Ich kann immer noch nicht genau sagen, was Max, Mischa und die Tet-Offensive eigentlich ist. Manche der Sätze sind so lang, das sie über eine Seite hinweg gehen, bevor es Max gelingt, einen Punkt zu setzen. Es ist oft ein Gedankenstrom, der mich mitgerissen hat. Es ist alles zusammen: Liebesgeschichte, Bildungsroman, Künstlerbiographie. Wahrscheinlich ist es am ehesten ein Lebensbuch.

Ich besuchte sie nicht. Ich habe es später bereut, viele, viele Male. Es gibt Momente im Leben, die nachts blinken wie rote Lampen auf Hochhäusern in der Einflugschneise, kleine Augenblicke, in denen man alles ändern konnte. Aber wir sagen uns, dass es längst zu spät ist, dass es inzwischen zu unwahrscheinlich ist, zu lange her, zu riskant, nicht machbar. Man sagt, ich hätte zu gern und beendet den Satz mit einem aber jetzt geht es natürlich nicht mehr. Ich hätte hinfahren sollen, solange es noch ging.

Max, Mischa und die Tet-Offensive ist eines der größten, mitreißendsten, berührendsten Bücher, das ich seit langem gelesen habe. Es ist prall gefüllt und lebensklug und hat so eine ganz besondere Stimmung, die nur schwer zu beschreiben ist. Ich bin darin eingetaucht und wollte nicht, dass das Buch endet, weil ich einfach nicht wieder  da raus wollte. Für mich gibt es niemanden, der die Facetten des Lebens so gekonnt und präzise beschreibt wie Johan Harstad. Das Leben als Versuch etwas zusammenzuhalten, was schon längst auseinander gebrochen ist.

Ich weiß, ich weiß: es sind fast 1300 Seiten, aber ich wünschte mir, alle würden dieses Buch lesen. Und ich wünschte, alle würden Max kennen lernen – und Mischa, Mordecai und Owen. Das Buch und die Figuren waren für ein paar Wochen so etwas wie ein zweites Zuhause für mich.

Johan Harstad: Max, Mischa und die Tet-Offensive. Aus dem Norwegischen von Ursel Allenstein. Rowohlt, März 2019. 34€, 1240 Seiten.

Kurt – Sarah Kuttner

Ich weiß nicht, ob ich es hier schon einmal erwähnt habe, aber dafür sage ich es jetzt: Sarah Kuttner gehört zu meinen Lieblingsschriftstellerinnen. Ich habe alles von ihr gelesen und ich liebe ihre Geschichten, weil sie es schafft mit viel Humor und Leichtigkeit von den ernsten und schlimmen Dingen des Lebens zu erzählen. So ist es auch in ihrem neuen Roman Kurt, der mich eine schlaflose Nacht gekostet hat, weil ich ihn einfach nicht aus der Hand legen konnte.

Wir müssen hier weg. Bite bilden Sie eine Rettungsgasse.

Sarah Kuttner erzählt in ihrem Roman die Geschichte von Lena und den beiden Kurts. Mit dem großen Kurt hat Lena ein Haus mitten in Brandenburg gekauft – sie ziehen dorthin, um näher bei dem kleinen Kurt sein zu können, dem Sohn des großen. Der wohnt dort nämlich bei seiner Mutter. Plötzlich nicht mehr in Berlin zu wohnen ist eine ziemliche Umstellung und sich plötzlich um ein eigenes Haus kümmern zu müssen, eine ganz neue Herausforderung. Lena und Kurt nehmen beides auf sich, weil sie sich wünschen, ein Teil vom Leben des kleinen Kurts sein zu können – und weil sie eine kleine Familie sein wollen.

Kurt erzählt ganz wunderbar von den Hürden und Herausforderungen einer Patchworkfamilie, von den schwierigen Begegnungen mit Kurts Mutter und von unterschiedlichen Vorstellungen bei der Erziehung. Alles muss miteinander abgesprochen und verhandelt werden.

Kurt hat winzige Augen. Ganz zugeschwollen vom Schlaf und einem schönen Veilchen. Veilchen sollte man vielleicht gar nicht schön finden, zumindest nicht an kleinen Kindern, aber Kurt steht sein Veilchen, es passt zu dem Mund voller wackeliger Milchzähne und der winzigen Boxernase und lässt ihn viel verwegener wirken, als er eigentlich ist. Die Boxernase hat er vom großen Kurt.

Und dann kommt es ganz plötzlich zu einem Wendepunkt im Leben der Erwachsenen: der kleine Kurt stürzt vom Klettergerüst und stirbt. Ihr werdet jetzt vielleicht sagen: Halt, Moment mal – du darfst uns doch nicht alles verraten! Ich verrate nichts, was nicht auch im Klappentext steht. Der kleine Kurt stirbt. Und damit verschwindet von einem Moment auf den anderen der Grund für den Umzug, der Grund für das gemeinsame Haus und der Grund für dieses ganze Leben in Brandenburg. Der Klebstoff, der alles zusammenhielt.

Sarah Kuttner erzählt von der Trauer, die Lena und Kurt danach befällt. Eine Trauer, die ganz unterschiedlich ist. Kurt trauert um seinen Sohn – während Lena nach ihrer Rolle in diesem Familiengefüge sucht: wer war der kleine Kurt eigentlich für sie? Und was war sie für ihn? Die Trauer macht die Erwachsenen sprachlos, wütend, ratlos, einsam.

Kurt ist jemand, der die Dinge mit sich selbst ausmacht. Da sage ich dir sicher nichts Neues. Aber vor allem glaube ich, dass er einfach Zeit braucht. Es ist jetzt schon fast drei Monate her, aber das ist nichts im Zeitempfinden eines Menschen, der jemanden verloren hat. Vermutlich hat er die ganzen letzten Monate im Schock verbracht. Es wird jetzt erst langsam durchsickern, dass das hier die neue Realität ist.

Ich habe Kurt in einem Rutsch durchgelesen, weil ich einfach nicht in der Lage war, es wieder aus der Hand zu legen. Das Buch bietet alles, was eine gute Geschichte ausmacht: Sarah Kuttner erzählt von einem der schlimmsten Dinge, die einem im Leben widerfahren kann und tut dies mit sehr viel Ernsthaftigkeit, Zärtlichkeit und einer Prise Humor.

Wenn ihr in diesem Frühjahr ein Buch lesen wollt, dann lest bitte dieses hier und ihr werdet es – versprochen – nicht bereuen. Ich habe geweint, gelacht und das Buch am Ende berührt aber auch beglückt zugeklappt. Ich glaube, dass das ein Zeichen von guter Literatur ist.

Sarah Kuttner: Kurt. S. Fischer Verlag, März 2019. 20€, 239 Seiten.      

Frankreich – zu Gast auf der Frankfurter Buchmesse!

Wie in jedem Jahr ist auch 2017 ein Land auf der Frankfurter Buchmesse zu Gast: dieses Mal werden das die Autoren und Autorinnen aus unserem Nachbarland Frankreich sein und ich freue mich sehr darüber.

Französische Autoren und Autorinnen sind auf meinem Blog in den vergangenen Jahren zumindest schon hier und da vertreten gewesen: wenn ich mich durch mein Archiv klicke, dann stoße ich auf In diesem Sommer von Véronique Olimi, Autoportrait von Édouard Levé, Souvenirs von David Foenkinos, Kümmernisse von Judith Perrignon oder auch Viviane Elisabeth Fauvile von Julia Deck. 

Ich möchte aber natürlich nicht nur meine alten Rezensionen herauskramen, sondern auch etwas Neues lesen und entdecken. Was ist dieses Jahr Spannendes an französischer Literatur erschienen? Welche Bücher muss man unbedingt gelesen haben? Um mir einen Überblick zu verschaffen, habe mich in den vergangenen Tagen durch die Vorschauen der Verlage geklickt und präsentiere euch nun eine Auswahl meiner persönlichen Highlights:

Olivier Adam: Die Summe aller Möglichkeiten – Jean-Philipe Toussaint: MMMM – Ruth Zylberman: Vermisstenstelle – Annie Ernaux: Die Jahre – Édouard Louis: Im Herzen der Gewalt – Catherine Poulain: Die Seefahrerin – Jérôme Ferrari: Ein Gott ein Tier – Laurence Tardieu: So laut die Stille

Marie NDiaye: Die Chefin. Roman einer Köchin – Gaël Faye: Kleines Land – Emmanuelle Pirotte: Heute leben wir – Leïla Slimani: Dann schlaf auch du – Yasmina Reza: Babylon – Léonor de Récondo: Amours – Delphine de Vigan: Tage ohne Hunger – Virginie Despentes: Das Leben des Vernon Subutex

Dieses Jahr lohnt es sich übrigens nicht nur bei den belletristischen Neuerscheinungen zu schauen – daneben gibt es nämlich auch noch – mit Unerschrocken – eine wunderbare Graphic Novel und einige spannende Sachbücher, die mich neugierig machen:

Pénélope Bagieu: Unerschrocken. Fünfzehn Porträts außergewöhnlicher Frauen – Pascale Hugues: Deutschland à la française – Iris Radisch: Warum die Franzosen so gute Bücher schreiben – Didier Eribon: Michel Foucault. Eine Biographie

Wie sieht es denn bei euch aus? Welches Buch aus dem diesjährigen Gastland sollte ich unbedingt lesen? Welche Bücher habt ihr schon zu Hause? Woran führt kein Weg vorbei?

Weitere Empfehlungen zu Literatur aus Frankreich findet ihr bei meiner Buchblogkollegin Marina Büttner.

Hier bin ich – Jonathan Safran Foer

Jonathan Safran Foer hat sich fast zehn Jahre Zeit genommen, bevor er mit Hier bin ich wieder die literarische Bühne betreten hat. Ich habe seinen neuen Roman lange herbeigesehnt und kann bereits jetzt verraten, dass ich nicht enttäuscht wurde: Hier bin ich ist ein großer Familienroman – unterhaltsam, berührend und sehr lehrreich.

Schweigen kann genauso unbändig sein wie Lachen. Und es kann sich anhäufen wie federleichte Schneeflocken. Es kann eine Decke zum Einsturz bringen.

Jonathan Safran Foer erzählt in Hier bin ich eine jüdische Familiengeschichte, die sich über vier Generationen erstreckt und in Washington spielt. Im Zentrum stehen Jacob und Julia Bloch, er arbeitet als Schriftsteller, sie als Architektin. Beide sind seit 16 Jahren miteinander verheiratet und haben drei Söhne: Sam, Max und Benji. Die romantische Liebe wurde schon längst durch einen anstrengenden Alltag ersetzt. Die Erziehung der Kinder spaltet Jacob und Julia – während Jacob häufig ohne Nachzudenken seinen Söhnen alle Wünsche erfüllt, ist Julia diejenige, die das anschließende Chaos irgendwie wieder beseitigen muss. Gemeinsame Zeit ist bei ihnen rar gesät und wenn sie einmal einen Abend für sich haben, haben beide das Gefühl, als würden sie von einer unsichtbaren Wand voneinander getrennt werden. Der Alltag hat alle Leidenschaft aus ihrer Liebe herausgesaugt.

In Hier bin ich seziert Jonathan Safran Foer, wie sich die Liebe zwischen Alltag und Kindererziehung auflöst und schließlich verschwindet. Es geht darum, was man bereit ist aufzugeben, wie sehr man für seinen Partner da sein möchte und was man bereit ist zu verzeihen. Wie kann man ein Gespräch aufrechterhalten, wenn die gemeinsamen Tage daraus bestehen, zu klären welches Kind zum Sport und welches zur Theatergruppe gefahren werden muss? Wie findet man immer noch Worte füreinander, wenn die Kinder irgendwann das einzige Gesprächsthema sind? Der langsame Zerfall einer Ehe, die im Alltag erstickt, wird von Jonathan Safran Foer auf beeindruckende Art und Weise geschildert.

Sein Dad war besessen von behauptetem Optimismus, imaginärer Anhäufung von Besitz und Scherzen; seine Mom von Körperkontakt vor Abschieden, von Fischöl und Mänteln und “das Richtige tun”. Max war besessen von extremer Empathie und Entfremdung; Benjy von Metaphysik und physischer Geborgenheit. Und er, Sam, hatte immer Sehnsucht. Wodurch zeichnete sich dieses Gefühl aus? Durch Einsamkeit (seine und die anderer), durch Schuld (seine und die anderer), durch Scham (seine und die anderer), durch Angst (seine und die anderer). Aber auch durch sturen Glauben und sture Würde und sture Freude. Und trotzdem bestand das Gefühl weder aus einem dieser Aspekte noch aus allen zusammen. Es war das Gefühl, jüdisch zu sein. Aber was für ein Gefühl war das?

Parallel zur Ehe von Jacob und Julia bricht auch das Land zusammen, aus dem ihre Vorfahren stammen: ein Erdbeben der Stärke 7,6 erschüttert die israelische Siedlung Kalya und stürzt das Land in ein tiefes Chaos und einen verheerenden Krieg. Jacob feiert mit seiner Familie zwar immer noch die jüdischen Feiertage, doch ansonsten hat er sich nicht vieles aus seinem Heimatland bewahren können. Im Sommerurlaub reist er lieber nach Deutschland als nach Israel. Doch ist Amerika wirklich seine Heimat? Was bedeutet überhaupt Heimat? Und was ist Zugehörigkeit? Was sind die wichtigsten Bestandteile, aus denen sich eine Identität zusammensetzt?

Meine Probleme waren ein Witz. Ich hatte den größten Teil meines begrenzten Daseins damit verbracht, kleine Gedanken zu denken, kleine Gefühle zu hegen, mich in leere Zimmer zu schleichen. Wie viele Stunden hatte ich online verplempert, unzählige geistlose Videos geschaut, Listen von Häusern studiert, die ich niemals kaufen würde, eilige E-Mails von Leuten gecheckt, die mir nichts bedeuten? Wie viel von mir, wie viele Worte, Gefühle und Taten hatte ich gewaltsam unterdrückt?

Hier bin ich – der Titel des Romans – bezieht sich auf eine Bibelstelle: Abraham sagt Hier bin ich als er von Gott gerufen wird, er duckt sich nicht weg, versteckt sich nicht. Er ist ganz für Gott da, ohne Vorbehalte, Bedingungen, Einschränkungen oder Bedürfnisse. Hier bin ich – diese drei Worte sind das zentrale Thema des Romans, es geht um die Frage, für wen wir bedingungslos da sind. So bedingungslos, dass wir sagen würden Hier bin ich ohne zu fragen Was willst du? oder Was hast du angestellt? Wie lange ist man bereit Hier bin ich zu einem anderen Menschen zu sagen? Zu der eigenen Frau? Zu seinem Mann? Zu den eigenen Kindern? Beziehungen kosten Kraft und Arbeit, nicht jeder ist dazu in der Lage, dies zu investieren.

Das Leben ist kostbar, dachte Jacob, das ist der wichtigste und offensichtlichste Gedanke überhaupt und gleichzeitig entgleitet er einem am schnellsten. Mein Leben wäre ganz anders verlaufen, wenn ich auf diesen Gedanken gekommen wäre, bevor ich darauf gestoßen wurde.

Jonathan Safran Foer legt mit Hier bin ich keinen Schmöker vor, der sich mal eben auf dem Sofa weglesen lässt: die Lektüre kostet Zeit, Kraft, Durchhaltevermögen und Konzentration. Auf den ersten hundert Seiten habe ich gekämpft – Dialoge, Gedanken und Erzählungen wechseln sich rasant ab und ich habe gebraucht, bis ich in diesen Erzählfluss hineingefunden habe. Doch als ich die letzte Seite zugeklappt habe, hatte ich tatsächlich das Gefühl, ein Lebensbuch gelesen zu haben, aus dem ich viel Nachdenkenswertes mitgenommen habe und das mich noch lange begleiten wird.

Jonathan Safran Foer: Hier bin ich. Aus dem amerikanischen Englisch von Hennig Ahrens. Kiepenheuer & Witsch, November 2016. 699 Seiten, €26. Weitere Rezensionen auf: Schöne Seiten, Buchrevier und Leseschatz.

Straße der Wunder – John Irving

Auch wenn Straße der Wunder bereits in diesem Frühjahr erschienen ist, habe ich die Lektüre des Romans eine ganze Weile aufgeschoben. Die Angst davor, dass mich ein neuer Roman von John Irving enttäuschen könnte, war einfach zu groß. Ich kann verraten, dass ich keinesfalls enttäuscht wurde, auch wenn der Roman mich nicht restlos überzeugen konnte.

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„In Büchern und in der Welt deiner Phantasie gibt es ein eigenständiges Leben; da gibt es mehr als in der realen Welt, sogar mehr als hier.“

Im Zentrum von Straße der Wunder steht Juan Diego. Juan Diego hat mexikanische Wurzeln, ist vierundfünfzig Jahre alt und ein erfolgreicher Autor. Nicht alles ist jedoch so rosig wie es scheint: er leidet unter gesundheitlichen Problemen, muss Medikamente nehmen und auch sein Liebesleben ist schon länger nicht mehr wirklich vorhanden. Dafür hat er eine reiche Vergangenheit, von der er immer wieder träumt und dem Leser erzählt: Juan Diego wurde als Sohn einer Prostituierten in Mexiko geboren, aufgewachsen ist er mit seiner Schwester Lupe auf einer Müllkippe – zu Lupe hatte er immer ein besonders enges Verhältnis, da sich seine Schwester ausschließlich in einer Phantasiesprache verständigte, die nur er verstehen konnte. Doch auch wenn Lupe nicht sprechen kann, versteht sie doch alles und sogar noch viel mehr, sie kann nämlich Gedanken lesen.

Doch das ist noch längst nicht alles, nebenbei geht es auch noch um einen Jesuiten, der sich als homosexuell entpuppt und fortan mit einem Transvestiten zusammenlebt – bis beide von ihnen an HIV erkranken. Es geht um einen Zirkus, einen Löwenbändiger und bildhübsche Hochseilartistinnen.  Es geht um die katholische Kirche und religiöse Vorschriften, die ein Leben beschneiden können. Und es geht um eine Reise quer durch Asien, auf der Juan Diego von zwei mysteriösen Frauen begleitet wird, die nicht das zu sein scheinen, was sie vorgeben.

„Die Folge von Ereignissen, die Verbindungen in unseren Leben – das, was uns dahin führt, wohin wir gehen, die Wege, denen wir folgen, um unsere Ziele zu erreichen, was wir kommen sehen und was nicht -, all das kann rätselhaft sein oder schlicht nicht zu erkennen oder aber offensichtlich.“

Nach ungefähr 150 Seiten hatte ich das Gefühl, die Kritik an diesem Roman verstehen zu können: es fiel mir schwer einen Zugang zu der Geschichte zu finden. Was träumt Juan Diego? Was erlebt er wirklich? Was existiert nur in seiner Vorstellung? Was ist Wirklichkeit und was ist Phantasie? Und wo bitte ist der rote Faden der Geschichte? Ich habe dann etwas getan, was ich selten tue: ich habe das Buch für ein paar Wochen zur Seite gelegt. Als ich es schließlich wieder zur Hand nahm, habe ich gar nicht mehr versucht, alles verstehen zu wollen, sondern habe mich stattdessen einfach auf das eingelassen, was mir von John Irving präsentiert wurde. Plötzlich las ich die Geschichte rund um Juan Diego mit einem ganz anderen Gefühl und einer ganz ungeahnten Begeisterung.

Es ist so gut wie unmöglich, den gesamten des Buches irgendwie zusammenzufassen. Dafür ist er viel zu komplex und vielschichtig. John Irving erzählt in Straße der Wunder vom Leben und vom Tod, davon, dass das Leben, in das wir hineingeboren werden manchmal hart sein kann, manchmal auch unfair, kompliziert oder kaum zu ertragen. Trotz allem darf man aber nicht seine Freude verlieren, seinen Spaß. John Irving erzählt mit ganz viel Warmherzigkeit und Liebe von Menschen, die es nicht leicht haben und doch versuchen, das Beste daraus zu machen.

„So wird es sein, wenn ich sterbe, dacht Juan Diego – nur dunkler, pechschwarz. Kein Gott. Weder Gut noch Böse. Einfach gar nichts.“

Straße der Wunder hat mich stellenweise frustriert und verärgert, es hat mich aber auch glücklich gemacht und gut unterhalten. Am Ende hat sich dann doch auch hier – wie bei allen anderen Büchern von John Irving – einfach dieses wunderbar warme Gefühl des Nachhausekommens eingestellt. All die skurrilen Figuren, die ich beim Lesen kennengelernt habe, begleiten mich auch heute noch. Und ich habe auch etwas mitgenommen: auch wenn das Leben manchmal dunkel und kompliziert erscheint, es sind die Träume, die  Vorstellungskraft, die Phantasie, die Kraft der Worte und das Lesen von Büchern, was einen doch retten kann.

John Irving: Straße der Wunder. Diogenes Verlag, April 2016. 784 Seiten, €26. Weitere Rezensionen auf: Zweifragezeichen und Lesevergnügen.

Die Birken wissen’s noch – Lars Mytting

Lars Mytting legt mit Die Birken wissen’s noch ein wunderbares Buch vor, das eine Mischung aus Kriminalgeschichte, Liebeserzählung und Familienroman ist. Es geht um Identität, die Suche nach dem Sinn im Leben und die eigene Herkunft.

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“Ich bin es, der das hätte erzählen sollen, meine Familiengeschichte war es. Aber mein Leben war wie durchlöchert von Fragen, die ich nie gestellt hatte.”

Edvard wächst auf einem entlegenen Bergbauernhof im norwegischen Gudbrandstal auf. Den Hof bewohnt er gemeinsam mit seinem Großvater Sverre. Seit er denken kann, kümmert sich sein Großvater um ihn – nur erklärt hat er ihm nie etwas. An seine Eltern erinnert sich Edvard nur noch vage: als er drei Jahre alt war, ist er gemeinsam mit ihnen nach Frankreich gereist, wo beide ums Leben gekommen sind. Der kleine Edvard wurde Tage später in einer Arztpraxis aufgegriffen und von seinem Großvater nach Hause geholt. Es wurde nie darüber gesprochen, warum die Eltern genau starben, wo sie sich aufhielten, warum Edvard erst Tage später gefunden wurde. Seine Großeltern haben ihm zwar eine Heimat gegeben, doch keine Herkunft. Wer keine eigenen Erinnerungen an seine Wurzeln hat, ist auf Erzählungen angewiesen – im Haus seiner Großeltern wurde jedoch geschwiegen.

Wie wäre es nur, wenn ich jemanden hätte. Was für ein Mensch wäre ich geworden, hätte ich Eltern gehabt, vielleicht Geschwister, wenn ich von jungen Menschen umgeben gewesen wäre, von Verwandten, denen ich es wert war, Zeit auf mich zu verwenden. 

Der Roman beginnt mit dem Tod des Großvaters. Edvard nimmt den Verlust von Sverre zum Anlass, sich seiner Vergangenheit und all den offenen Fragen zu stellen. Dabei geht es vor allen Dingen um einen Sarg, in dem Sverre beerdigt werden soll und der  nur von Edvards Onkel Einar hergestellt worden sein konnte – doch eigentlich ist Einar schon vor vielen Jahren gestorben. Was stimmt eigentlich in der Familiengeschichte von Edvard? Wie hängt alles zusammen? Und warum nur schweigen sich alle an, wenn es um seine Herkunft geht?

Genau damit beginnt eine hochspannende und verschachtelte Familiengeschichte, die die eine oder andere überraschende Wendung bereit hält. Lars Mytting nimmt seine Leser mit zurück bis in den Ersten und den Zweiten Weltkrieg, es geht in die französischen Wälder und bis auf die äußersten Shetland-Inseln. Dort lernt Edvard Gwen kennen, eine undurchdringliche und mysteriöse Frau, die ihn auf der Suche nach seinem Familiengeheimnis begleitet. Doch geht es ihr dabei wirklich um Edvard, oder verfolgt sie ganz andere Ziele?

Vielleicht ist es mit der Lüge wie mit Schnaps, dachte ich. Du musst regelmäßig trinken, um vor dir selbst zu verbergen, dass du trinkst. Aber vielleicht hat auch die Wahrheit etwas davon an sich. Man muss die Flasche leeren bis zur Neige.

Lars Mytting gelingt mit Die Birken wissen’s noch ein Roman, der für meinen Geschmack genau die richtige Mischung hat: er ist spannend, tiefgründig, durchdacht und – ganz nebenbei – auch noch wunderbar erzählt. Wie es typisch ist für norwegische Literatur, ist nicht nur die Gegend ein wenig kahl und spröde, sondern auch die Figuren. Es ist alles ein wenig ruhiger und bedächtiger, aber genau das hat mir auch so gut gefallen.

Edvards Geschichte ist eine faszinierende Geschichte, die völlig ungekünstelt und ohne Klischees erzählt wird. Sein dringlicher Wunsch danach, endlich alle Puzzlestücke zusammen zu setzen hat mich gepackt und gefesselt. Edvard möchte endlich erfahren, was passiert ist – mit ihm und mit seiner Familie. Er möchte wissen, wo er herkommt, er möchte seine Wurzeln und seine Vergangenheit kennen. Im Laufe des Romans wird er erleben müssen, dass die Wahrheit weh tut, dass es aber noch schmerzhafter ist, sie nicht zu kennen.

Doch endlich begriff ich, warum die Fotografie von Vater und Mutter hier am Telefon stand. Das war nicht nur ein Foto. Das war eine Frage, die darauf wartete endlich gestellt zu werden: Ob ich bereit war, gegen den Strom zu schwimmen und herauszufinden, warum sie gestorben waren.

Die Birken wissen’s nicht ist eine berührende und bewegende Geschichte, die mich gefesselt und ziemlich gut unterhalten hat. Ich übertreibe nicht, wenn ich behaupte, dass das Erzählkunst auf höchstem Niveau ist. Ich wünsche Lars Mytting und seinem Buch ganz viele Leser, die sich ebenso verzaubern lassen wie ich.

Lars Mytting: Die Birken wissen’s noch. Suhrkamp Verlag, März 2016. 516 Seiten, 24,95€. Weitere Rezensionen bei: Zeichen und Zeiten, Momentaufnahme und Vanessas Bücherecke.

Elena Ferrante: auf den Spuren des großen Hypes

Wenn ich auf die vergangenen Lesewochen und -monate zurückblicke, dann muss ich feststellen, dass Meine geniale Freundin von Elena Ferrante zu den Büchern gehört, die mich am meisten beeindruckt haben. Die Geschichte von Lina und Elena hat mich sehr bewegt, über viele kleine Facetten dieser Geschichte musste ich auch noch lange nach dem Zuklappen der letzten Seite nachdenken. Als ebenso interessant empfinde ich die Diskussion, die um dieses Buch herum entstanden ist – ich habe es selten zuvor erlebt, dass Meinungen soweit auseinander gehen. Wie kann nur das, was ich so faszinierend fand, für andere belanglos und langweilig sein?

Ich habe mit Karin Krieger, der Übersetzerin von Meine geniale Freundin, und mit Frank Wegner, dem Lektor des Romans, gesprochen, um diesem literarischen Hype mal auf den Grund zu gehen.

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Liebe Frau Krieger, Sie sind die Übersetzerin von Elena Ferrante, was war für Sie als Übersetzerin das Besondere an der Arbeit mit “Meine geniale Freundin”?

Der sehr zurückgenommene, kontrollierte Stil der Autorin hat mir viel Disziplin abverlangt. Denn die Autorin beschreibt sehr beeindruckende, teils auch erschütternde Szenen aus dem Leben der beiden Protagonistinnen mit fast nüchternen Worten. Die Gefühlsintensität der Handlung nicht auch auf die Sprache zu übertragen, ist schwierig und für mich als Übersetzerin nicht leicht auszuhalten.  Aber gerade diese Nüchternheit in der Form, die uns eben nicht in eine bestimmte Richtung drängt, die uns eben nicht schon eine bestimmte Sichtweise aufzwingt,  ist ein wesentliches Kennzeichen der Erzählhaltung der Autorin. Sie muss  unbedingt respektiert werden.

Lina und Elena wachsen in einem ärmeren Viertel in Neapel auf, inwieweit war es schwierig für Sie, den Slang und die Sprache der beiden Mädchen ins Deutsche zu übertragen? Und wie sind Sie dabei vorgegangen?

Das war gar nicht schwierig, da die Mädchen bei Ferrante so gut wie keinen Slang sprechen. Nur sehr vereinzelt tauchen dialektale Wörter auf und immer nur bei Beschimpfungen. Die Autorin meidet den aggressiven, vulgären neapolitanischen Dialekt, als wollte sie ein großes  Entsetzen vermeiden. Für sie ist dieser Dialekt mit Gewalt verbunden, nie mit etwas Zärtlichem, was Dialekte sonst durchaus auch transportieren können.  Zwar erwähnt sie oft, dass im Dialekt (oder eben Italienisch) gesprochen wird, doch sie formt dies absichtlich nicht aus. Die italienische Sprache ist für sie eine Art Schutzschild – oder wie die „Unità“ schrieb: „ein Staudamm gegen den schlammigen, ungestümen Strom des Dialekts“.

Und allgemeiner gefragt: hat es Ihnen die Sprache von Elena Ferrante leicht gemacht, sie zu übersetzen? Haben Sie sich mit Ihrem Text wohl gefühlt oder spielen solche Aspekte für die Arbeit des Übersetzens keine Rolle?Ein Teil des großen Interesses an Elena Ferrante stammt auch daher, dass man nicht weiß, wer genau hinter dem Pseudonym steckt. Inwieweit hat dies Ihre Arbeit beeinflusst? Wie eng haben Sie überhaupt mit der Autorin zusammengearbeitet?

Ja, ich fühle mich sehr wohl mit Elena Ferrantes Sprache. Weil sie authentisch ist. Weil sie nicht manipuliert. Weil sie ausgerechnet heute, da wir durch die Medien, durch Politik und Werbung, mit Superlativen, mit künstlich aufgeblasenen Wörtern nur so überschüttet werden, angenehm ruhig, klar und durchdacht ist. Die Erzählerin dieser Bücher macht kein Hehl daraus, dass hier eine alte Frau erzählt – Elena – und dass alles, was wir über Lila erfahren, „nur“ ihrer Sicht auf die Dinge entspringt. Wir wissen nicht, wie Lila ist. Wir erfahren nur, wie Elena sie sieht.

Hand aufs Herz: Machen Sie sich Gedanken darüber, wenn Ihnen der (sachliche?) Wetterbericht im Radio „nur 10 Grad“ für den Tag ankündigt?

Immer und immer wird mit einer bestimmten Wortwahl, wird mit Sprache gelogen, verfälscht, diffamiert. Wie oft werden mehr oder weniger unauffällig Befindlichkeiten statt Fakten mitgeteilt. Dass Elena Ferrante dagegenhält, begeistert mich.

Und ja, sie ist ein Phantom. Ich kann sie nicht, wie ich es bei meinen anderen Autoren gern tue, bitten, eine Seite ihres Romans für mich zu lesen, damit ich ihren ganz persönlichen Ton erfassen kann. Aber ich habe ihre Bücher, ihre Texte. Die sind sehr stark.

Und ich kommunizierte per E-Mail mit ihr. Sie versteht meine Fragen sofort (ein seltenes Glück) und beantwortet sie umgehend und freundlich.

Im übrigen respektiere ich ihren Rückzug vor jeder Form von Öffentlichkeit. Er ist mir sehr sympathisch. Es geht nicht um Superstars, nicht um Eitelkeiten. Es geht um Bücher.

Mich hat beim Lesen von Meine geniale Freundin das Ferrante-Fieber schnell gepackt. Warum glauben Sie, dass es weltweit so eine große Begeisterung für diese Bücher gibt?

Wir können uns alle  – Männer wie Frauen – mit den Nöten, Ängsten, Entwicklungen, Verwicklungen und auch mit den Hoffnungen der dargestellten Figuren identifizieren, weil es keine Schwarz-Weiß-Malerei und auch keine moralisierenden Korsetts gibt. Neapel und die südländische leggerezza mögen ein schöner Sehnsuchtsort für die novembernieselregengeplagte deutsche Seele sein, aber die hier angesiedelten Themen sind darüber hinaus universal.

Elena Ferrante hat mich neugierig auf die italienische Literatur gemacht. Können Sie ein bisschen darüber erzählen, welcher italienischen Tradition die Autorin entstammt?

Für mich ist Elena Ferrante – eben Elena Ferrante. Sie ist originell. Nicht vergleichbar mit anderen Autoren.

Aber gewiss ist sie einer tapferen, realistischen Erzähltradition verhaftet, wie die italienischen Nachkriegsautoren von Morante bis Pasolini sie anstrebten. Das ist besonders faszinierend, weil sie in dieser Tradition erstmals die Zeit bis in unsere Gegenwart beschreibt. Das hat es so noch nicht gegeben.


frank-3George Bernhard Shaw hat einmal gesagt: Der Mensch lässt sich lieber durch Lob ruinieren als durch Kritik verbessern. Entspricht dieser Satz auch Ihrer Erfahrung als Lektor. Falls ja, wie gehen Sie damit um?

Das kann ich nicht bestätigen. Vielleicht arbeite ich unter glücksverwöhnten Bedingungen, aber in meiner Erfahrung sind alle Beteiligten stets gern bereit, die Kraft des besseren Arguments auf sich wirken zu lassen. Und in den seltenen Fällen, da man das bessere Argument einfach nicht hören und sein eigenes Ding durchziehen will, versucht man es mit höflicher Penetranz.

Sie waren verantwortlich für das Lektorat von Meine geniale Freundin – können Sie diesen Arbeitsprozess ein wenig beschreiben.

Die Redaktionsarbeit selbst hat etwa anderthalb Wochen gedauert, das fühlte sich an wie Bildungsurlaub, ich habe das sehr gründlich durchgesehen, dabei Original und Übersetzung Wort für Wort miteinander verglichen. Anschließend haben Karin Krieger und ich alles ausführlich miteinander diskutiert, es ging dabei um eine grundsätzlichere Frage – die nach angemessenen Registern – und um ein paar orthographische Details, das hat, glaube ich, noch einmal anderthalb Tage gedauert.

Das Buch zu akquirieren, im Haus zu positionieren, den Pitch zu justieren, die flankierenden Vermittlungsbotschaften zu überlegen, die ganze Kampagne zu entwerfen, die vielen, vielen Einzelmaßnahmen zu planen und zu implementieren etc. – das hingegen hat gut zwei Jahre gedauert. (Meine Frau und die Kinder dachten irgendwann, dass ich nicht mehr ganz intakt wäre, weil ich jeden Abend, auf ihre Frage, woran ich denn tagsüber im Büro so gearbeitet hätte, wahrheitsgemäß antwortete: „Ferrante!“)

Inwieweit hat es Ihre Arbeit beeinflusst, dass nicht bekannt ist, wer hinter dem Pseudonym Elena Ferrante steckt? Oder anders gefragt: wie betreut man einen Autor, der nicht erkannt werden will?

In vielen Hinsichten vollzieht sich hier die Betreuung genauso wie die von Autoren, die vollumfänglich am öffentlichen Leben teilnehmen. Es gibt immer ein paar zustimmungspflichtige Aspekte der Zusammenarbeit – das ist vertraglich vereinbart –, beispielsweise die Frage des Titels oder der Coverabbildung, für beides müssen die Autoren uns in der Regel grünes Licht geben, und das läuft nicht nur im Falle Ferrantes über die jeweils zwischengeschaltete Agentur. Verständigung in den wesentlichen technischen Fragen findet deshalb so oder so vermittelt statt.

Natürlich wäre es schön, ich könnte Elena Ferrante die Weihnachtskarte direkt schicken oder sie persönlich anrufen, um ihr zu sagen, dass ihr Buch auf Platz 1 der Bestsellerliste steht. Aber das wird sie dann eben auf anderen Wegen erreichen. Und offensichtlich braucht sie ja auch den unmittelbaren Kontakt zu ihrem deutschen Lektor nicht, um fantastische Bücher zu schreiben.

Es gibt schon jetzt eine große Begeisterung für die Romane von Elena Ferrante. Nach dem Erscheinen von Meine geniale Freundin wird sich das auch in Deutschland fortsetzen. Haben Sie eine Erklärung für dieses Phänomen?

Es gibt nach meinem Dafürhalten ein paar textimmanente und einige äußerliche Gründe, und daraus ergeben sich eine markante Merkmalskombination, mit der man produktiv umgehen, und eine Story, die man gut erzählen kann.

Das Frauenfreundschaftsthema wird eine tragende Rolle spielen – und die in diesen Romanen in aller Drastik beschriebenen Geschlechterrollenverhältnisse sind uns selbst ja leider noch nicht völlig unvertraut geworden –, das lebenspralle Neapel-Setting auch, das beeindruckende zeitgeschichtliche Panorama, das diese Bücher aufspannen, ebenfalls.

Ferrante ist eine versierte Erzählerin, sie hat einen einnehmenden Ton gefunden, und dramaturgisch ist das Ganze – ob es sich nun an den großen Fernsehserien der letzten paar Jahre oder bestimmten epischen Mustern des 19. Jahrhunderts orientiert – ziemlich raffiniert gebaut. Und Ferrante schreibt so, dass Leserinnen und Leser die in diesen Büchern verdichteten Erfahrungen unweigerlich auf sich selbst beziehen. Man kommt diesen Figuren also recht nah, und mit der Zeit stellt sich ein Vertrautheits-, geradezu ein Intimitätsgefühl ein.

Diese vier Bände, das ist ein Roman von 2000 Seiten, den man eben einfach prima wegschmökern kann. Zugleich kommen aber auch Leserinnen und Leser auf ihre Kosten, die stärkere literatur- oder kunstgeschichtliche Neigungen verspüren und in diesem diskreten Anspielungsreichtum schwelgen mögen, den Ferrante geschaffen hat. Mit anderen Worten: Meine geniale Freundin ist breit anschlussfähig.

Das Thema „Wer ist Elena Ferrante?“ spielt aufmerksamkeitsökonomisch offensichtlich eine Rolle, bemerkenswert, welches Ausmaß an Interesse das provoziert. (Ich persönlich finde die Frage, wer diese Bücher geschrieben hat, nicht sonderlich spannend oder weiterführend aufschlussreich.)

Der Vorlauf – Presse, Verkaufszahlen etc. – aus den USA, aus Italien, aus Skandinavien war spektakulär, das kommt uns sicherlich zupass, es gab ja hier bereits Monate vor Erscheinen des ersten Bandes große Hintergrundgeschichten, die das ´Phänomen Ferrante` beschrieben und damit natürlich wiederum potenziert haben.

Und nicht zuletzt vergrößern #ferrantefever und das, was da in den sozialen Medien zusammenschießt, die Bekanntheit des Ganzen auf erhebliche Weise.

Dadurch, dass die Autorin anonym bleiben möchte, wird es ja auch keine Lesereisen mit ihr geben. Sind Alternativen dazu geplant und wie könnten sie aussehen?

Das wäre dann eben – nach dem sehr erfolgreichen US-amerikanischen Vorbild der „authorless events“ – ein abgabefreies Veranstaltungsformat ohne Autorin. Veranstaltungen dieses Typs hätten den offenkundigen Vorteil, dass theoretisch zeitgleich fünfzehn an unterschiedlichen Orten stattfinden könnten. Dazu braucht es je eine oder zwei Personen: jemand liest vor und jemand erzählt etwas, das könnte aber natürlich auch beides von ein und derselben Person geleistet werden. Wir erarbeiten gerade eine Art Material- und Infobaukasten, den wir den Buchhandlungen im Falle ihres Interesses zur Verfügung stellen wollen.


Wie ergeht es euch mit dem #ferrantefever? Wer von euch hat den Roman mittlerweile gelesen? Wer hat sich ebenfalls infiziert? Und wer konnte so gar nicht mit dieser Geschichte anfangen?

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