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Deutschsprachige Literatur

Die Listensammlerin – Lena Gorelik

Listen1981 wurde Lena Gorelik im heutigen St. Petersburg geboren, 1992 zog sie mit ihrer Familie nach Deutschland. Ihr Debütroman “Meine weißen Nächte” erschien bereits 2004, mit ihrem zweiten Roman “Hochzeit in Jerusalem” wurde die Autorin für den Deutschen Buchpreis nominiert. In diesem Literaturherbst erscheint mit “Die Listensammlerin” nun endlich ein weiterer Roman von Lena Gorelik.

“Man gewöhnt sich an alles, auch an die Angst. Großmutter hatte das einmal gesagt, als faktischen Nebensatz fallenlassen, nicht mit der Schulter gezuckt, keine Pause gemacht, einmal, als sie vom Krieg sprach.”

Im Zentrum von Lena Goreliks neuem Roman “Die Listensammlerin” steht Sofia. Sofia befindet sich in einer Phase der heillosen Überforderung. An die neue und ungewohnte Rolle als Mutter hat sie sich immer noch nicht gewöhnen können und dann hat ihre kleine Tochter Anna auch noch einen Herzfehler. Die lebensrettende Operation steht kurz bevor. Ehemann Florian, der von Sofia immer nur Flox genannt wird, ist nur bedingt eine Hilfe. Auch ihre eigene Mutter ist ihr keine Unterstützung, genauso wie ihre Großmutter, die an Demenz erkrankt in einem Pflegeheim lebt. Das einzige, was Sofia in dieser Situation hilft, häufig zum Unverständnis ihrer Mitmenschen, sind ihre Listen. Ihre Leidenschaft, zu allen möglichen Themen, Listen anzulegen, ist für Sofia eine Form der Beruhigung.

“Ich habe eine Liste mit Büchern, die mich zum Weinen gebracht haben, eine mit Büchern, die mich zum Lachen gebracht haben, eine Liste mit Büchern, die ich besser nicht gelesen hätte, eine mit Büchern, die ich noch einmal lesen will. Eine mit Büchern, die noch geschrieben werden müssen, eine mit Büchern, die ich gerne schreiben möchte.”

Ein Zettel und ein Stift und Dinge, die man in lange Listen ordnen kann – mehr braucht sie nicht, um zur Ruhe zu kommen, klare Gedanken zu fassen und wieder Kraft zu schöpfen.

“Die Listen gaben mir Kraft und Ruhe wie anderen das Gebet, Alkohol, Drogen, ein Therapeut, die Zigaretten und das Shoppen. Ich wusste, dass sowohl Drogen wie auch Psychotherapeuten gesellschaftlich weit anerkannter sind als Listen. Aber Listen, zumal solche Listen, sind rar, außer mir schreibt meines Wissens niemand so viele Liste, niemand ordnet, niemand pflegt sie. Es ist also in Ordnung, seinem Körper in gewissem Maße Alkohol und Nikotin zuzuführen, um abzuschalten oder auf andere Gedanken zu kommen. Aber jemand, der zu seiner Beruhigung und inneren Ausgeglichenheit nichts weiter als ein Blatt Papier und einen Stift braucht, gilt als sonderbar.”

Sofia, die Listenschreiberin und -sammlerin, glaubt lange daran, dass sie alleine ist mit diesen Leidenschaft. Welcher andere Mensch schreibt schon Listen, während er darauf wartet, dass die Tochter, die gerade am Herzen operiert wird, aus dem OP-Saal kommt? Die Listen haben Sofia bereits zu einem Therapeuten geführt, wo sie von ihrer besorgten Mutter hingeschickt wurde und auch mit Flox gab es wegen ihnen schon einige fürchterliche Streits. Doch dann macht Sofia in der Wohnung ihrer Großmutter eine überraschende Entdeckung: eine Sammlung von Listen, notiert in vergilbte Hefte und auf Notizzetteln, verfasst in kyrillischer Schrift. Die Schrift ist ein Hinweis auf die Herkunft von Sofias Familie, die die Sowjetuninion in den siebziger Jahren verließ – doch der Verfasser der Listen ist zunächst unbekannt. Doch Sofia findet nicht nur die Listen, sondern auch einen Hinweis auf einen gewissen Onkel Grischa, es ist ein Onkel, der aus dem Familiengedächtnis gelöscht und aus der Vergangenheit gestrichen wurde – gesprochen wurde über ihn nicht. “Er war eben der allseits beliebte, etwas sonderbare und verrückte, niemals erwachsene Märchenonkel.” Es sind die Listen, die Sofia das Gefühl geben, nicht alleine zu sein und durch die sie der bewegten Geschichte Grischas auf die Spur kommt. Es ist eine Geschichte, die im Untergrund spielt und die von einem ganz besonderen jungen Mann erzählt, der allen in seiner Familie Angst machte und doch sehr geliebt wurde. Mithilfe von Onkel Grischa, der Kopf einer Dissendentenbewegung in der Sowjetunion gewesen ist, taucht der Leser ab in eine Vergangenheit, die geprägt gewesen ist vom Widerstand, vom Untergrund und von Autoren, Künstlern und Wissenschaftlern.

“Nähme man Michel aus Lönneberga, Emil Tischbein und seine Detektive und Max und Moritz zusammen, hätte Onkel Grischa sie problemlos übertrumpft. Vier gebrochene Knochen, eine gebrochene Nase, mindestens siebenundvierzig dicke Beulen, eine Schramme auf der Stirn quer über der rechten Augenbraue, eine zehn Zentimeter lange am linken Schienbein, ein zickzackiges Brandmal auf der rechten Hand – und das alles schon vor dem ersten Schultag.”

Lena Gorelik lässt zwei Erzählstränge nebeneinander herlaufen und erzählt abwechselnd von Sofias Gegenwart und Grischas Vergangenheit. Voneinander abgegrenzt werden sie durch typographische Merkmalen. Es ist gerade auch bedingt durch dieses abwechselnde Erzählen, dass es der Autorin wunderbar gelingt aufzuzeigen, wie stark Gegenwart und Vergangenheit miteinander verschränkt sind. Grischas Geschichte liegt bereits viele Jahre zurück, von der Familie wurde sie ausgeklammert, beschönigt oder verschwiegen. Doch gut gegangen ist es niemanden mit diesem Schweigen, denn das Schweigen saß wie ein Knoten im Hals, der die Luft zum Atmen abschnürt. Sofia hat Grischa nie kennengelernt, aber durch den Blick in seine Vergangenheit erfährt sie gleichzeitig etwas über die Vergangenheit ihres Vaters, von dem sie immer annahm, dass er bei einem Autounfall starb, als sie sieben Monate alt war. Erst, wenn man bereit ist, nicht mehr zu schweigen, sondern zu sprechen, kann es gelingen, mit einer schwierigen Vergangenheit leichter umzugehen. Lena Gorelik gelingt es mit sehr viel Sensibilität und einer feinen Beobachtungsgabe aufzuzeigen, wie stark die Vergangenheit die Gegenwart einer ganzen Familie prägen kann.

Das Cover und der Titel des Romans suggerieren in ihrem Zusammenspiel einen heiter bis lustigen und unterhaltsamen Roman. Der Roman, oh ja, ist auch stellenweise von einer sanften Komik. Es gibt viele Passagen, über die ich schmunzeln musste. Dazu trägt vor allem Sofia bei, mit ihren liebenswerten Marotten und ihren Schwierigkeiten sich in die neue Rolle als Mutter hineinzufinden. Doch “Die Listensammlerin” ist kein leichter Roman, ganz im Gegenteil: Lena Gorelik hat einen schmerzhaft traurigen Roman geschrieben, durchzogen mit schwermütiger Melancholie und einem feinen Witz. Es ist ein großartiger und sehr lesenswerter Roman.

Café Saratoga – Malin Schwerdtfeger

Malin Schwerdtfeger, die 1972 geboren wurde, ist in Bremen aufgewachsen. Sie studierte Judaistik und Islamwissenschaft und arbeitete in einer Berliner Buchhandlung – heutzutage lebt sie als Schriftstellerin in eben dieser Stadt. Mit “Café Saratoga” debütierte die Autorin 2001 und wurde von der Kritik begeistert gefeiert. Erschienen ist das Buch nun erneut und zwar in der edition fünf, einem ganz besondern Buchverlag, der sich vergessenen und zu wenig beachteten Autorinnen widmet und den ich in mein literarisches Herz geschlossen habe. In der Flut der Neuerscheinungen, die uns heutzutage jedes Jahr wieder erschlägt, ist es so erfrischend, Bücher, die man auf den ersten Blick nicht entdecken konnte, auf den zweiten Blick entdecken zu können.

“Jeden Tag im Café Saratoga erklärte uns unser Vater die zwei Deutschlands. Er erklärte sie uns, wie er den Tod erklärte und die nächsthöhere Dimension: Nur durch das eine war das andere zu erreichen, das andere aber war gut. Sein Name war Bundes.”

In “Café Saratoga” erzählt Malin Schwerdtfeger eine Geschichte vom Erwachsenwerden und von zwei Mädchen, die zwischen zwei Welten aufwachsen: Sonja und Majka sind Schwestern, gemeinsam verbringen sie ihre Sommerferien auf der polnischen Halbinsel Hel. Es sind unbeschwerte Zeiten, in denen man Sonne und Sommerluft atmen kann. Das Café Saratoga befindet sich auf Hel, Tata, der Vater der beiden Mädchen hat es übernommen. Doch was Sonja und Majka nicht ahnen, ist, dass dies nur eine Zwischenstation sein soll: das endgültige Ziel der Familie ist Deutschland. Oder wie Tata sagt: “Bundes”. Was für die Mädchen eine idyllische Heimat ist, ist für den Vater nur Mittel zum Zweck: mit dem Café möchte er endlich genug Geld verdienen, um den Sprung nach Deutschland zu schaffen.

“‘Sehr euch euren Vater an!’, sagte sie, und immer wollte Mama, dass wir uns etwas ansähen, denn in Mamas Augen bestand die Welt aus guten und schlechten Beispielen und das schlechteste Beispiel war Tata.”

Als die Familie Hel endlich hinter sich lassen kann und nach Deutschland übersiedelt, ist dies für Sonja und Majka ein schmerzlicher Verlust der Heimat. Die beiden Mädchen befinden sich an der Schwelle zur Pubertät und sind diesen Irrungen und Wirrungen nun in einem für sie gänzlich fremden Land ausgeliefert. Einem Land, das für sie kein Zuhause ist und dessen Sprache sie nur langsam und mühsam erlernen. Befanden sie sich eben noch auf der idyllischen Halbinsel, werden die beiden schüchternen und zurückhaltenden Mädchen plötzlich in eine leuchtende und grelle Großstadtwelt gestoßen. Im Jahr 1987 beginnt für Sonja und Majka plötzlich und unfreiwillig eine neue Zeitrechnung.

“Im Jahr drei meiner Zeitrechnung war es geschehen: Eine ewig Linie löste sich auf. Sie hatte zwei Deutschlands getrennt, die zwei Deutschlands, die uns Tata und Bocian erklärt hatten, jeden Tag im Café Saratoga.”

Ähnlich wie Alice Pung in ihrem Roman “Ungeschliffener Diamant”, den ich vor einigen Wochen hier vorgestellt habe, beschäftigt sich auch Malin Schwerdtfeger mit dem Themenkomplex Heimat und Fremde. Die Bemühungen ihrer beiden stillen Heldinnen, sich in ihrem neuen Heimatland zurechtzufinden, werden von der Autorin frei von jeglichem Kitsch und Pathos geschildert: ihre Beobachtungen sind unprätentiös und durchzogen von einem feinen Humor. Sonja und Majka erleben nicht nur einen Bruch ihrer Biographien, ein Wegziehen und Ankommen, sondern werden davon mitten in ihrer beginnenden Pubertät konfrontiert. Die Kindheit endet mit den Sommerferien auf Hel und die Jugend beginnt mit dem Umzug nach “Bundes”. Viele von Malin Schwerdtfegers Beschreibungen muten auf den ersten Blick unterhaltsam und humorvoll an, dazu tragen besonders die exzentrisch gezeichneten Eltern von Sonja und Majka bei, doch hinter dieser humorvollen Oberfläche steckt eine bittere Wahrheit: für Tata ist Deutschland das Paradies und damit ein Ort, den er um jeden Preis erreichen möchte. Doch wo liegt für die beiden Mädchen das Paradies? Wo möchte man leben? Wo gehört man hin? Für die Mutter der beiden ist die erzwungene Auswanderung und die dadurch entstehende Lebensveränderung zu viel, um es noch ertragen zu können – statt ihren Kindern beizustehen, flüchtet sie in eine Depression.

“Café Saratoga” ist trotz allem Humor ein rauer und schonungsloser Roman, der sich auf eine manchmal schwer zu ertragende Art und Weise mit den Übeln und Begleiterscheinungen des Erwachsenwerdens beschäftigt. Malin Schwerdtfeger erzählt vom Auseinanderbrechen einer Familie und vom viel zu frühen Erwachsenwerden zweier junger Mädchen, doch tut sie dies auf so lakonische Art und Weise, dass dennoch und trotz allem Hoffnung erhalten bleibt. Es ist die Hoffnung, auch in diesen Verhältnissen überleben zu können. Malin Schwerdtfeger gelingt es, wunderbare und eindringliche Bilder für die Kindheit und Jugend ihrer Heldinnen zu erschaffen und dabei eine berührende Geschichte zweier Schwestern zu erzählen. “Café Saratoga” ist großartige und sehr empfehlenswerte Literatur, die alles enthält, was ein gutes Buch ausmacht: Melancholie und Tiefe, gepaart mit ganz viel Humor.

Alle Farben des Schnees – Angelika Overath

Angelika Overath, die 1957 in Karlsruhe geboren wurde, arbeitet als Reporterin, Literaturkritikerin, Dozentin und Schriftstellerin. Bisher hat sie bereits zwei Romane veröffentlicht, mit dem Buch “Flughafenfische” wurde die Autorin sowohl für den Deutschen als auch für den Schweizer Buchpreis nominiert. Angelika Overath lebt heutzutage in Sent, Graubünden.

“Das romanische Wort für Heimweh heißt: ‘increschantüm’. Heimweh haben: ‘as laschar increscher’, wörtlich: sich hineinwachsen lassen.”

“Alle Farben des Schnees” trägt den Untertitel Senter Tagebuch und ist der ganz persönliche Erfahrungsbericht von Angelika Overath, in dem sie ihren Umzug aus Tübingen nach Sent literarisch verarbeitet. Sent war schon lange das erklärte Ferienziel der Familie, doch Ferienorte sind nur vorübergehende Heimat. Wie fühlt es sich an, dort, wo man Urlaub macht, für immer zu bleiben? Kann es gelingen, aus dem flüchtigen Ferienort eine beständige Heimat zu machen? Angelika Overath hat ein Tagebuch über diese Zeit geführt, es ist ein Tagebuch der Eingewöhnung und Annäherung. Sie hat sich, gemeinsam mit ihrem Mann und dem jüngsten Sohn, entschieden, die Heimat zu verlassen und in Zukunft Tag für Tag dort zu leben, wo man bisher nur wenige Wochen im Jahr verbracht hat: die Familie zieht nach Sent, ins Unterengadin. In Zukunft leben sie auf einer Höhe von 1450 Metern, in einem Bergdorf mit ungefähr 920 Bewohnern.

“Warum zögere ich vor dem Wort ‘nach Hause’? Ich fahre dahin, wo mein Bett steht, mein Tisch, wo mein Mann liest und schreibt, wo unser jüngster Sohn zur Schule geht. Seit zwei Jahren leben wir in diesem Bergdorf, das wir nur aus den Ferien kannten.”

Es ist das Thema Heimat, das den Roman wie einen roten Faden durchzieht. Was ist eigentlich Heimat und wie gelingt es einem, sich dort, wo man hinzieht, heimisch zu fühlen? Wie macht man einen Ort, an dem man lebt, zu seinem Zuhause?

“Hier möchte ich Ferien machen, denke ich. Und dann erschrecke ich für einen Moment. Denn das ist vorbei.”

Ende Juli 2007 ist die Entscheidung gefallen, nicht nur in den Ferien ins Unterengadin zu fahren, sondern für immer nach Sent zu ziehen. Die Veränderungen, die sich durch diesen Umzug ergeben haben, hält Angelika Overath mit einer feinen Beobachtungsgabe fest. Sie beschreibt das Leben im Bergdorf, die neuen Mitmenschen, den neuen Alltag und die herrlichen Gerüche und Anblicke, die die Natur dort oben zu bieten haben – ihre Beschreibungen sind so intensiv, so punktgenau und detailliert, das ich beim Lesen das Gefühl habe, mit dabei zu sein.

“Herbstbäume wie große Früchte. Aprikosenlicht, Apfelglanz. Eine flammende Birke. Noch sind die Lärchen grün, aber bald brennen die Hänge bis hinauf ins Blau.”

Die Veränderungen sind für den jüngsten Sohn Matthias am gravierendsten, er ist gezwungen sich in einer neuen Klasse einzugliedern und eine fremde Sprache zu lernen. Doch anders, als seine Mutter, gelingt es dem Jungen viel schneller, sich mit den neuen Begebenheiten anzufreunden und die neue Sprache zu erlernen. Die Sprache, die für Angelika Overath immer noch etwas Fremdes und Unbekanntes im Mund ist, an der sie sich stößt und reibt, ist dem Sohn viel schneller Heimat geworden.  Das Romanische ist wie ein Sprachschild zwischen denen, die zu Besuch sind und denen die in Sent zu Hause sind, für Angelika Overath erscheint diese Kluft lange kaum überwindbar. Wie soll man heimisch werden, wenn einem die Sprache fehlt?

Freude und Familie bezweifeln, dass die Senter Schule den intellektuellen Ansprüchen der Eltern genügen könnte – in der Universitätsstadt Tübingen waren die Anforderungen und Erwartungen an die Kinder groß, in Sent wird Matthias in einer kleinen Schulklasse unterrichtet und lernt eine Sprache, die außerhalb des Unterengadins kaum noch jemand spricht. Und doch erscheint das Kind glücklicher als zuvor, die Schulzeit ist für ihn plötzlich wieder eine Zeit in der Gemeinschaft und nicht nur eine Zeit, in der Kinder schon für die zukünftige Karriere gedrillt werden. Das Leben in Sent erscheint rückwärtsgewandt, doch gleichzeitig umso bewusster, intensiver, tiefer.

“Sie wollen Ferien machen an einem Ort ohne Diskothek, ohne Nagelstudio, ohne Sushibar. Ohne Leuchtreklame und Animationen. Denn wo es das alles nicht gibt, haben sie die Chance, daß sich ihre Aufmerksamkeit ändert: auf einmal sehen sie wieder einen Nachthimmel, sie erfahren Stille und das Geräusch der Brunnen, den Geruch von Heu oder Schnee.”

Angelika Overath legt mit “Alle Farben des Schnees” einen erstaunlich ruhigen Erfahrungsbericht vor, der einem als Leser nicht nur tiefe Einblicke in ein Bergdorf ermöglicht, sondern der sich auch noch mit dem gewichtigen Thema Heimat auseinandersetzt. Den Wunsch, einen geliebten Ferienort zur neuen Heimat zu machen, den haben wahrscheinlich schon viele von uns gehegt, doch Angelika Overath hat sich getraut, diesen Schritt – gemeinsam mit ihrer Familie – auch wirklich zu gehen. In “Alle Farben des Schnees” schreibt die Autorin darüber, wie es sein kann, sich einen fremden Ort zum neuen Zuhause machen zu müssen. Erstaunlicherweise hat die Schriftstellerin und Frau der Worte am meisten mit der Sprache zu kämpfen, die Angst davor, nicht sprechen zu können, entfremdet sie von den Menschen, an die sie sich doch eigentlich gewöhnen möchte. Doch sie erzählt nicht nur vom Ankommen und Dableiben, sondern auch von der wunderbaren Naturwelt des Unterengadins. Das scheinbar rückwärtsgewandte Bergdorf, ist gleichzeitig ein Ort der Ruhe, ein Ort, an dem es keine Hektik und keinen Druck gibt; es ist eine Welt fern der Großstädte.

“Alle Farben des Schnees” ist ein berührender, poetischer und stellenweise auch melancholischer Erfahrungsbericht. Es ist ein Tagebuch, ein Reisebericht, eine Naturstudie – es ist eine Erzählung des Schnees und eine Wiederentdeckung der kleinen alltäglichen Freuden: vom Hundegang bis zum bewussten Atmen. Angelika Overath ist es gelungen, mich mit ihren Reflexionen nicht nur zu berühren, sondern mich auch nachdenklich zu stimmen. Ein wunderbares und sehr empfehlenswertes Winterbuch.

Atmen, bis die Flut kommt – Beate Rothmaier

Die 1962 in Ellwangen geborene Beate Rothmaier studierte deutsche und französische Literatur und lebt heutzutage als freie Autorin in Zürich. Im Jahr 2005 debütierte die Autorin mit ihrem Roman “Caspar”, 2010 folgte “Fischvogel” und in diesem Bücherherbst erschien ihr dritter Roman “Atmen, bis die Flut kommt”. Für ihr literarisches Werk wurde die Autorin bereits mehrfach mit Preisen und Stipendien ausgezeichnet.

Konrad hat den waghalsigen Beschluss gefasst, sein Studium aufzugeben und fortan Comics zu zeichnen. Er feiert bereits kleine Erfolge und zieht die ersten Aufträge ans Land. Er hat Wünsche, Hoffnungen und Träume. Doch dann tritt Paule in sein Leben und bringt all das, was er sich als zukünftigen Lebensweg für sich erträumte, ins Wanken. Paule ist eine unstete junge Frau; sie ist haltlos und schwankend in ihren Stimmungslagen. Für Konrad ist sie kaum zu fassen, sie ist konturenlos und so wechselhaft in ihrem Verhalten, dass sie für ihn, trotz der gegenseitigen Nähe, unergründlich bleibt.

“Im Ineinanderstürzen, im Aufruhr der Gegenwart, hatten wir Vergangenheit und Zukunft ausgelöscht.”

Begriffe wie Verantwortung oder Lebensplanung sind ihr fremd. Doch dann geschieht das, was nie hätte geschehen sollen: Paule wird schwanger. Konrad vermutet der Vater zu sein, sicher kann er sich jedoch nicht sein. Kurz nach der Geburt des Kindes verschwindet Paule aus dem gemeinsamen Leben, das sie sich wie in einem Provisorium errichtet hatten. Konrad bleibt mit dem gemeinsamen Kind zurück. Der junge Mann muss sich in einem Leben einrichten und zurechtfinden, das er für sich selbst so nie erdachte hatte: er ist plötzlich alleine für ein Kind verantwortlich, das auch noch anders ist, als andere Kinder.

“[…] nichts hatte mit einem Leben zu tun, wie ich es bis dahin gekannt hatte. Wie wir beide, Paule und ich, es bis dahin gekannt hatten. Paule hat sich in den wenigen Wochen, die sie noch bei uns war, unentwegt daran gerieben und gestoßen, sie hat sich verweigert und ist schließlich gegangen. Einfach so.”

Lio kommt mit einem seltenen Defekt auf die Welt und ihre besonderen Bedürfnisse bestimmen in den folgenden Jahren den Alltag und das Leben von Vater und Tochter. Lio raubt Konrad jegliche Freiheit, nimmt ihm alle Entscheidungs- und Entfaltungsmöglichkeiten und zwängt ihn in ein Lebenskorsett, das darauf ausgerichtet ist, alles am Funktionieren zu halten. Für etwas anderes bleibt auch kaum noch Platz.

“Ich lebte mit dem Kind in einem Provisorium, einem Übergang vom Ungewissen ins Unbekannte. Morgen, sagte ich mir jeden Tag, morgen fange ich an zu suchen. Doch stattdessen tat ich, was ich immer tat. Ich zeichnete. Ich scribbelte, malte, tuschte und kolorierte. Ich entwickelte Figuren, probierte mit Perspektive, Szenenwahl und Bildausschnitt herum, teilte die Seiten ein, legte die Panelgröße fest und fertigte ein grobes Layout an.”

Beate Rothmaier schildert mit viel Gefühl und Wärme die Tücken von Konrads neuem “Vaterkindalltag” als “Muttermann”: die Absurditäten, die Einschränkungen, die schönen und die schrecklichen Momente. Besonders erstaunlich dabei ist nicht nur, wie wunderbar es der Autorin gelingt, sich in die Gefühls- und die Gedankenwelt ihrer männlichen Hauptfigur hineinzudenken, sondern auch mit viel Liebe und Geduld Konrad sich seinen neuen Aufgaben annimmt. Es wird jedoch auch nicht verschwiegen, dass es Momente gibt, in denen auch endlose Liebe und eine nie enden wollende Geduld nicht mehr ausreichen können, dass es Momente gibt, an denen Vaterliebe auch zerbrechen kann. Momente, in denen Konrad verzweifelt sein altes Leben zurückhaben möchte und aus dem Leben voller Windeln, vollgepinkelter Laken und vollgespuckten Handtüchern ausbrechen will. Erst nach siebzehn Jahren fasst er den Entschluss, Lio weggeben zu wollen und hofft, dafür die Freiheit zurückzuerhalten. Gemeinsam mit Lio fährt er ans Meer, zurückkehren nach Hause möchte er aber alleine. Doch dann kommt alles anders als geplant …

“Ich stelle mir mein Leben ohne das Mädchen vor. Dass ich einzeln sein würde, dass ich in der Menge verschwinden würde. Ein vages Bild der Unscheinbarkeit. Ich werde den Fuß nicht mehr vom Gas nehmen, bis ich das Meer riechen kann.”

Beate Rothmaier ist mit “Atmen, bis die Flut kommt” ein hervorragender Roman gelungen, der auf mehreren Ebenen zu überzeugen weiß. Zum einen gelingt es der Autorin eine bewegende Geschichte ganz frei von jeglichem Pathos und Kitsch zu erzählen. Sie scheut sich nicht davor, wichtige und unbequeme Fragen zu stellen: es geht um Behinderung, es geht um den Umgang mit Behinderten, es geht um Ausgrenzung, es geht um die Frage, wann ein Leben lebenswert ist und wer darüber entscheiden darf, es geht um Elternliebe und das Recht auf ein eigenes Leben. Darf man sein behindertes Kind im Stich lassen, um endlich wieder die Freiheit und ein eigenes Leben zu haben? Der Vater hat ein Leben im Verzicht geführt, es war ein Verzicht auf die Liebe und auf die Erfüllung der eigenen Wünsche und Träume – doch wie lange kann man für jemanden anderen auf sich selbst verzichten? Konrad hat sich nicht für Lio entschieden, die Entscheidungen hat Paule getroffen, die schließlich auch entschied, zu gehen. Der Vater des Kindes lässt sich auf den neuen Alltag ein, auf dieses unbekannte Leben, das ihn – ohne, dass er dies zunächst bewusst merkt – vom Rest der Welt entfernt. Unausgeprochen ist in seinem Umfeld der Vorwurf, ob man einem Kind ein solches Leben hätte zumuten müssen. Lio ist anders als andere Kinder und das lassen ihn seine Mitmenschen spüren.

“Gemindert, verbreitert, auffällig, verformt, fehlerhaft, abnorm, übermäßig, verbogen, undifferenziert, abweichend war an der Äffin so ziemlich alles, wie ich jetzt erfuhr, und nur mir war es bislang nicht aufgefallen. Ich hatte einfach mit ihr gelebt und mich gewundert ab und zu.”

Daneben überzeugt der Roman aber auch auf sprachlicher Ebene: der Autorin gelingt es in wunderschönen Worten und Sätzen die Gedanken und Gefühle ihrer Figuren auf die Buchseiten zu überführen und erschafft dabei eine unheimlich dichte und atmosphärische Stimmung. Sprachlich befindet sich der Roman – vor allen Dingen auch aufgrund seiner Poesie – auf einem erstaunlich hohen Niveau. Besonders beeindruckend ist der dabei entstehende eigene Sound der Autorin, ihre Wortkompositionen und ihre feine Beobachtungsgabe, mit der sie Stimmungen und das Innenleben ihrer Figuren unheimlich detailgetreu einfängt und auf Papier bannt. Die Geschichte, die Beate Rothmaier erzählt, setzt sich zusammen aus vielen Rückblenden und ganz unterschiedlichen Figuren, die alle um dieses seltsame Vater-Tochter-Paar kreist.

“Atmen, bis die Flut kommt” ist ein bewegender Roman, der nicht nur berührt, sondern auch erschüttert und bestürzt. Die Autorin verzichtet auf jeglichen Pathos und jede Beschönigung. Nüchtern aber dennoch behutsam erzählt sie die Geschichte eines Vaters, der für seine Tochter sein eigenes Leben aufgibt. Beate Rothmaier gelingt es, eine einzigartige Geschichte zu erzählen, die mich berührt und nachdenklich zurückgelassen hat.

Nenn mich einfach Superheld – Alina Bronsky

Alina Bronsky, die 1978 in Russland geboren wurde und auf der asiatischen Seite des Ural-Gebirges aufwuchs, kam als Jugendliche nach Deutschland. Das nach ihrem Abitur begonnene Medizinstudium hat sie abgebrochen, stattdessen arbeitete sie als Werbetexterin und Redakteurin. Ihren größten Erfolg feierte die Autorin mit ihrem Debütroman “Scherbenpark”, der beim Publikum und bei den Kritikern ein großer Erfolg gewesen ist. Mittlerweile ist das Buch eine beliebte Schullektüre und wurde sogar verfilmt. In diesem Herbst erschien ihr neuester Roman “Nenn mich einfach Superheld”.

“Seit dem Rottweiler hatte ich niemanden mehr geküsst. Schon dafür gehörten alle Rottweiler dieser Welt bei lebendigem Leibe gehäutet.”

Im Zentrum des neuen Romans von Alina Bronsky steht Marek. Marek ist nach der Attacke eines Rottweilers entstellt, sein Gesicht sieht nicht mehr so aus, wie es mal ausgesehen hat. Für den Jungen, der es sich zur Angewohnheit gemacht hat, Hut und Sonnenbrille zu tragen, um sein Gesicht zu verstecken, aber auch. um seine Mitmenschen vor seinem Anblick zu schützen, ist das ein schwerer Schicksalsschlag. Er igelt sich in seinem Zuhause ein, kapselt sich von seinen ehemaligen Freunden ab und zieht sich zurück in eine Welt des Selbstmitleids und der medizinischen Fachbücher. Durch einen Trick gelingt es seiner verzweifelten Mutter, Marek in eine Selbsthilfegruppe für “Krüppel” zu lotsen. Als er bemerkt, wo er wirklich gelandet ist, möchte Marek stehenden Fußes wieder kehrt machen. Doch dann entdeckt er Janne.

“Meine eigene Mutter hatte wochenlang üben müssen, mir ins Gesicht zu gucken, und dieses Mädchen kannte mich noch gar nicht. Ich rechnete es ihr hoch an, dass sie nicht sofort kotzte.”

Janne ist das schönste Mädchen der Welt, “mit solch grünen Augen, rabenschwarzen Haaren” – und sie sitzt im Rollstuhl. In einem Rollstuhl, in dessen Speichen bunte Reflektoren leuchteten, die wie “Schmetterlinge und Butterblumen” geformt waren. Nachdem sich Marek ein Jahr lang  vor der Welt jenseits der Tür seines Kinderzimmers versteckt hat, ist er plötzlich zurück im Leben und mitten in der Selbsthilfegruppe.

“Wir waren zu sechst. Außer diesem Mädchen und mir waren es: ein langhaariger Typ mit einer Beinprothese, ein schwammiges, teigiges Etwas mit rötlichem Flaum auf dem Kopf und ohne sichtbare Behinderungen, eine sehr langbeinige Tunte mit nervös umherirrenden Blick und ein arrogant dreinblickender Schönling, der wie ich eine Sonnenbrille trug.”

Marek wird Teil einer Selbsthilfegruppe, die sein ganzes bisheriges Leben auf den Kopf stellen wird. Eine zart aufblühende Schwärmerei, eine gemeinsame Reise und ein plötzlicher Unglücksfall krempeln nicht nur das Leben von Marek um, sondern auch die Geschichte erhält eine überraschende Wendung, die den Roman nach der Hälfte beinahe noch einmal von vorne beginnen lässt. Statt mit Janne auf Landfreizeit findet sich Marek plötzlich in einem spießigen Frankfurter Vorort wieder, um seinen Vater zu beerdigen …

Alina Bronsky legt mit “Nenn mich einfach Superheld” einen höchst lesenswerten Roman vor: auf der einen Seite ist der Roman hochkomisch und pointiert, auf der anderen Seite ist er aber auch traurig und regt zum Nachdenken an. Der Autorin gelingt es durchweg, den richtigen Ton zu treffen – stellenweise gerät der Roman in die Gefahr, überzeichnet zu wirken, doch Alina Bronsky schafft es immer wieder, der Geschichte noch einmal Humor oder eine lesenswerte Wendung einzuhauchen. Es sind vor allen Dingen die Dialogszenen, die es in sich haben; die Mutter-Sohn-Gespräche haben mich das ein oder andere Mal laut auflachen lassen. Überhaupt sind die Figuren wunderbar lebendig, authentisch und lebensecht gezeichnet. Im Mittelpunkt steht natürlich Marek, aber auch seine Mutter und seine Freunde aus der Selbsthilfegruppe werden so gezeichnet, dass sie mir auch im Anschluss an die Lektüre noch lange im Gedächtnis geblieben sind. Besonders beeindruckt hat mich an diesem Roman die herrliche Mischung aus einem trockenen und bitterbösen Humor, der von einer ernsthaften Geschichte unterlegt ist. Die Grundidee – zwei Menschen mit Defekt lernen sich in einer Selbsthilfegruppe kennen – ist seit John Greens Roman “Das Schicksal ist ein mieser Verräter” nicht neu, Alina Bronsky setzt diese Grundidee aber mit sehr viel erfrischendem Charme und in einer wunderbaren Sprache um.

Am Ende des Romans wird der Leser mit vielen offenen und ungeklärten Fragen zurückgelassen. Offene Enden haben häufig ihre Tücken, denn sie fordern den Leser heraus, sich Gedanken zu machen und eigene Schlussfolgerungen zu ziehen. Mich haben diese ungeklärten Fragen und die absichtlich offen gelassenen Lücken nicht verärgert, sondern ganz im Gegenteil schon fast verzaubert – sie geben der eigenen Phantasie Raum und die Möglichkeit, sich zu entfalten. Bei mir hat das dazu geführt, dass dieser Roman um so länger und um so intensiver nachgewirkt hat.

Alina Bronsky ist mit “Nenn mich einfach Superheld” ein herrlicher und lesenswerter Roman gelungen, der alles zu bieten hat, was ein gutes Buch braucht: Humor und Tiefe. Es geht um Defekte, um Behinderungen und darum, Veränderungen – und seien sie noch so fürchterlich und schrecklich – im Leben anzunehmen und damit umgehen zu lernen. “Nenn mich einfach Superheld” ist ein überraschendes Buch, mit ungeahnten Wendungen und Volten, es ist unterhaltsam und verzückend und es ist zum Verrücktwerden, weil man glaubt zu wissen, wie es ausgeht und die Autorin einen dann doch an der Nase herumführt. Lest selbst! Ich kann diesen Roman nur empfehlen – ganz laut und eindringlich!

Mörikes Schlüsselbein – Olga Martynova

36095796zOlga Martynova wurde in Sibirien geboren und wuchs in Leningrad auf. Die 1962 geborene Autorin studierte russische Sprache und Literatur und zog 1991 gemeinsam mit ihrem Mann nach Deutschland; seitdem lebt das Paar in Frankfurt am Main. Bekannt geworden ist Olga Martynova für ihre Gedichte und Essays. Ihr Werk ist preisgekrönt, sie stand bereits auf der Longlist für den Russischen Preis sowie  auf der Longlist des Deutschen Buchpreis. Im vergangenen Jahr erhielt sie für einen Ausschnitt aus dem vorliegenden Roman den Ingeborg-Bachmann-Preis.

“Ein guter Roman muss heute eine mühsame Lektüre sein, unberechnet, vom Geschmack des Publikums nichts wissend. Das war nicht immer so. Aber vieles war früher nicht so.”

Bereits nach wenigen Seiten wird mir klar, dass der Klappentext des Romans mich arglistig getäuscht hat: während dieser von einem “liebevollen Familienroman” spricht, stößt die Autorin mich ohne Rettungsleine und doppelten Boden in eine verschachtelte und schwer zu entwirrende Geschichte. Im Zentrum dieser Geschichte stehen die russische Germanistin Marina und der deutsche Slavist Andreas. Beide bilden den Kern einer Patchworkfamilie, denn Andreas hat bereits zwei ältere Kinder, während Franziska gerade mit ihrem Kunststudium beginnt, geht Moritz noch zur Schule und träumt davon, Dichter zu werden. Doch das ist noch längst nicht alles, denn da gibt es noch ein weiteres Paar: den Dichter und Trinker Fjodor und seine deutlich jüngere Frau Natascha.

“Und was bitte wäre das dann? Merkwürdig, wie wenig Möglichkeiten du hast, etwas zu machen, was nicht zum Ablauf deines Lebens gehört, ohne das, was zum Ablauf deines Lebens gehört, zum Entgleisen zu bringen.”

Die Geschichte, die Olga Martynova erzählt, kreist um dieses Figurenensemble, das jedoch stetig um die eine oder andere Figur ergänzt wird: Ballerinas, Eisverkäuferinnen und Slawisten mit Geheimdienstvergangenheit haben ihre Auftritte. Olga Martynova agiert dabei wie eine Puppenspielerin und lässt die Lebensgeschichten und Lebensverläufe all ihrer träumenden, sehnsüchtigen und immer ein Stück weit seltsam flirrenden Figuren umeinander tanzen. Die Geschichte führt den Leser von St. Petersburg nach Tübingen, über New York bis zu einem Schamanen. Der Erzählbogen ist breit gespannt und die Episoden der Geschichte sind so zersplittert und fragmentarisch, dass es für mich als Rezensentin schwierig ist, einen roten Faden dort finden zu wollen, wo es keinen gibt.

“Die Mädchen, die einander gleichen, reihen sich die Museenwände entlang und lächeln unsicher, die Schultern hochgezogen, die Streifen ihrer Kleider sind mit den Namen ihrer Richter beschrieben. Und von uns bleibt nichts. Alle unsere Datenträger sind fragiler als Pergament, Papyrus und Papier, die schon viel anfälliger als Ton und Stein waren, dachte Moritz, stieg vom Rad und schrieb das auf, auf das graue handgeschöpfte Papier seines Notizbuchs.”

Der Nebel um den seltsam anmutenden Titel des Romans – “Mörikes Schlüsselbein” – lichtet sich bereits zu Beginn: die seltsam zusammengewürfelte Patchworkfamilie glaubt in einer Vitrine in Tübingen das Schlüsselbein des Dichters Eduard Mörike zu entdecken. Später entpuppt sich der drapierte Knochen jedoch als simpler Studentenscherz – bei dem pubertierenden Moritz löst der Knochen jedoch den Wunsch aus, zu dichten.

“Moritz lacht nicht mehr. Trunkene Schwäne, denkt er, trunkene Schwäne. Vertrunkene Schwäne. In Herbstes Wirtshaus vertrunkene Schwäne. Getrunkene Schwäne. Getrunkene Schwäne, klar im Neckar gespiegelt, auch die Stauden, doch kannst du dir nie das Wasser zusammen mit dem schöpfen, was du so deutlich siehst, keinen Schwan trinken, keinen sich küssenden Schwan trinken. Untrinkbare Schwäne.”

An dieser Stelle möchte ich das zuerst erwähnte Zitat aus diesem opulenten und vielstimmigen Roman von Olga Martynova noch einmal aufgreifen, denn dort versteckt sich die geheime Leseanweisung, die man für die Lektüre von “Mörikes Schlüsselbein” unbedingt benötigt. Die Lektüre des Romans ist eine mühsame Lektüre, es ist eine verschachtelte Lektüre, aber gleichzeitig auch eine unheimlich vielschichtige Lektüre. Der Roman besitzt unzählige Lesarten, er lässt sich auf der Oberfläche in der Tat als ein Familienroman lesen, als eine Geschichte des Dichtens und Sterbens. Diese Geschichte ist in ganz viele kleine Splitter und Erinnerungsfetzen unterteilt, die sich wiederum auch als eigenständige Geschichten lesen können. Darunter liegen jedoch viele weitere Schichten, die den Leser zum Entdecken einladen: dieses Entdecken mag mit einem mühevollen Anspruch verbunden sein, doch gleichzeitig habe ich beim Lesen des Romans gemerkt, dass ich diese unergründlichen Textschichten nicht nur lese, sondern, dass diese etwas mit mir machen. Sie haben etwas mit mir angestellt. “Mörikes Schlüsselbein” ist kein Roman, den man wie einen Film konsumieren kann – Olga Martynova hat einen Roman geschrieben, in den man sich hineinwühlen muss. Bereits bei der Gestaltung des Romans, bei der Wahl des Titels und den, den Kapiteln vorangestellten, Zitaten, offenbart sich eine schiere Flut an intertextuellen Anspielungen, die sich im Laufe der Erzählung weiter ausbreiten und fortsetzen. Damit möchte ich keinesfalls anklingen lassen, dass sich mir ein Großteil dessen erschlossen hat – “Mörikes Schlüsselbein” muss höchstwahrscheinlich mehrmals und immer wieder gelesen werden, bevor man als Leser in der Lage ist, sich in allen Schichten des Textes zu Hause zu fühlen. Dazu kommen Spielereien auf der Ebene des Textes: es gibt grau unterlegte Passagen, eingeklammerte Worte, Listen, Zeichnungen, Wortbilder.

Olga Martynova hat mit “Mörikes Schlüsselbein” ein im wahrsten Sinne des Wortes traumhaften Roman geschrieben. Um ihn wirklich beurteilen zu können, müsste ich ihn wahrscheinlich noch das ein oder andere Mal lesen, doch was ich beurteilen kann, ist der Mut der Autorin, aber auch des Verlages. “Mörikes Schlüsselbein” ist ein Buch, das gegen alle herkömmlichen Elemente eines gut zu verkaufenden Romans geschrieben ist: weder gibt es einen klaren Plot, noch einen roten Faden. Die Lektüre mag mühevoll und anstrengend sein, doch gerade deshalb ist sie auch unheimlich interessant und faszinierend. Olga Martynova hat ein Buch geschrieben, das mich bewegt, beschäftigt und verzaubert hat und das mich wohl noch lange begleiten wird.

Die amerikanische Fahrt – Patrick Roth

Patrick Roth wurde 1953 geboren und lebt heutzutage als freier Schriftsteller in Los Angeles und Mannheim. Neben dem Schreiben ist Roth aber auch im Bereich Film tätig – 2006 erschien sein letztes filmisches Werk “In My Life – 12 Places I Remember”. Für seine bisherigen literarischen Veröffentlichungen wurde der Autor bereits vielfach ausgezeichnet, zuletzt stand er mit seinem beeindruckenden Roman “SUNRISE” auf der Longlist des Deutschen Buchpreis 2012.

“Die amerikanische Fahrt” trägt den Untertitel “Stories eines Filmbesessenen” – es handelt sich in der Tat um zehn einzelne Kurzgeschichten, diese können jedoch auch als ein Gesamtgefüge betrachtet werden. Die zehn Stories sind in drei Abschnitte geteilt, in ein “Außen” und ein “Innen” und in “Tag”, “Abend” und “Nacht”. Wenn ich an mein Lektüreerlebnis zurückdenke, sind dies die entscheidenden Schlagwörter: “Die amerikanische Fahrt” ist eine Reise von Außen nach Innen, vom Hellen in das Dunkle und vom Tage in die Nacht.

“Drei Bilder würde ich Ihnen gerne näherbringen: Eine Autofahrt durch Los Angeles. Eine Hand, die rätselhaft auf etwas deutet. Und: ein einfacher Tisch.”

Patrick Roth erzählt in seinen “Stories” eine Geschichte, die im Jahr 1975 in Los Angeles beginnt. Es ist die Geschichte eines zweiundzwanzig Jahre alten Filmstudenten, der sein Zuhause verlässt, um nach Los Angeles zu gehen. Die Geschichte reicht bis in das Jahr 2012 hinein, als der Schriftsteller in seine Heimat zurückkehrt, um eine Bilanz seines Lebens zu ziehen. Bereits an diesen Eckdaten wird deutlich, dass Patrick Roth nicht nur die Geschichte irgendeines Filmstudenten erzählt, sondern auch seine eigene Geschichte und Autobiographie. Es wird jedoch nie ganz deutlich, was Fiktion und was authentische Biographie ist.

“Ich will von Bildern erzählen, die Ihnen einige meiner Stationen als werdender Schriftsteller vor Augen führen. Ich werde reden vom Wunsch, das Ferne nah zu bringen, von einer Sehnsucht mithin, der Einsicht auch, im Fernen immer wieder auch das Allernächste aufzufinden. Das Ferne war mir einst Amerika, jetzt ist es “nah”, und nah ist es, weil ich es über die Jahr immer wieder mit Nahem, Nächstem ergänzt habe. Ich habe mir das fremde Land durchs Eigenste, Nächste angeeignet.”

Angeeignet hat sich der junge Mann, der ungeheure Bilder im Kopf hatte, doch in diesem riesigen Land, fremd gewesen ist, Amerika, indem er sich eine Heimat in der Fremde geschaffen hat. Er hat sich seine Lieblingsautoren, “den Johann Peter Hebel, den Hölderlin, Joyce, Trakl, Nathanael West, Poe, Arno Schmidt und Celan”, auf Kassetten gesprochen. Er hat die Geschichten, in denen er sich heimisch fühlt, eingelesen und ihnen auf den langen und einsamen Fahrten auf den Boulevards durch Los Angeles gelauscht. Die erste “Story” der amerikanischen Fahrt trägt den Titel “Hebels Hollywood”, einen Titel, der auf den ersten Blick widersprüchlich anmutet, weil er zwei Dinge vereint, die kaum zusammengehören (ähnlich wie die Gegensatzpaare Tag und Nacht, sowie Außen und Innen), doch für den damaligen Studenten war genau dies, eine ganz wichtige Erfahrung: “Denn wenn ‘dichten’ vom lateinischen ‘dictare’ kommt, dann dichtete Hebel mir, ‘diktierte’ er mir die Heimat aufs Fremde. Ich stenographierte die vertrauten Wendungen der Geschichte mit, erkannte sie wieder, im Fremden einer fremden Welt.”

Die zehn Geschichten, die Patrick Roth in seinem Roman “Die amerikanische Fahrt” erzählt, führen den Leser in eine Welt des Films hinein. Endlos viele Stellen habe ich mir markiert, um anschließend Szenen, die im Text erwähnt werden, “nachschauen” zu können. Deutlich ist mir dabei geworden, dass Patrick Roth eine unglaubliche Fähigkeit zum Erzählen besitzt, denn es gelingt ihm nicht nur, Filmbilder in Worte zu verwandeln, sondern er lässt dabei eine ungeheure Kraft entstehen. Eine Kraft, die ich in den kleinen Filmszenen, die ich mir anschließend angesehen habe, selten wiedergefunden habe. Patrick Roth erzählt von einem Leben, das durch Filme geprägt gewesen ist, von seinem Job als Production Manager, von einem Drehtag im Hause von Marta Feuchtwanger. Es gibt ein fiktives Interview mit dem verstorbenen Regisseur John Ford und unter dem Titel “Lynch for Lunch” eine Auseinandersetzung mit dem streitbaren Regisseur David Lynch.

“Ich wollte einen Film, der mir erlauben würde, darin zu leben, das heißt, mich an seinem Feuer zu lagern, mich niederzulassen mit anderen, am Feuer zu dauern.”

Die entscheidenden Gedanken von Patrick Roth finden sich in den letzten drei Erzählungen, die ursprünglich Teil seiner Heidelberger Poetikvorlesung gewesen sind. Es sind vor allem diese drei Erzählungen, die gleichzeitig den Abschluss dieses Bandes bilden, in denen es dem Autor eindrücklich gelingt, von den Filmbildern abstrahierend über die Bilder zu sprechen, die in einem liegen und die in Texten und Filmen zum Ausdruck gebracht werden können. Hier gelingt es dem Autor am deutlichsten, nicht nur über den Film zu sprechen, sondern auch über die innere Gedankenwelt – es ist ein beeindruckender Erzählbogen von einem Außen nach Innen.

Patrick Roth legt mit seinem Erzählband “Die amerikanische Fahrt” ein Stück beeindruckender und wunderbarer Literatur vor. Die zehn in diesem Band versammelten Geschichten sind nicht nur Geschichten für Filmbesessene, sondern auch für all diejenigen, die Interesse daran haben, etwas über die künstlerische und persönliche Entwicklung eines Schriftstellers zu erfahren, der zu den bedeutendsten Stimmen unserer heutigen Zeit gehört.

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