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Deutschsprachige Literatur

Nie mehr Nacht – Mirko Bonné

g-Bonne-Mirco-Nie-mehr-NachtMirko Bonné wurde 1965 in Tegernsee geboren und lebt heutzutage in Hamburg. In der Öffentlichkeit bekannt wurde er nicht nur durch seine schriftstellerischen Veröffentlichungen, sondern auch durch sein Werk als Übersetzer. Bisher hat er unter anderem Texte von Sherwood Anderson, E. E. Cummings und Emily Dickinson übertragen, der Autor und Übersetzer schreibt auch selbst Gedichte, Für seine Veröffentlichungen wurde Mirko Bonné bereits mehrfach ausgezeichnet. Mit seinem aktuellen Roman “Nie mehr Nacht”, der bei Schöffling & Co. erschienen ist, steht er auf der Shortlist des Deutschen Buchpreis.

In “Nie mehr Nacht” erzählt Mirko Bonné die Geschichte von Markus Lee und seinem fünfzehnjährigen Neffen Jesse. Beide werden verbunden durch den Verlust eines geliebten Menschen: Ira. Sie hat sich das Leben genommen. In ihrem Auto, in der Garage vor ihrem Haus. Ira war die Schwester von Markus und die Mutter von Jesse. Was Onkel und Neffe nun zusammenhält sind die Erinnerungen an eine geliebte Bezugsperson und ein Verlust, der sich nur schwer in Worte fassen lässt. In den Herbstferien reisen beide gemeinsam in die Normandie: Markus soll im Auftrag eines Kunstmagazins Brücken zeichnen, die bei der Landung der Alliierten im Sommer 1944 eine entscheidende Rolle gespielt haben. Jesse kommt mit, da die Familie seines besten Freundes in der Nähe ein verlassenes Strandhotel hütet. Die Reise ist geprägt von dem, was geschehen ist, Iras Selbstmord liegt einem Schatten gleich über Markus und Jesse, deren gemeinsame Zeit vor allem durch eine tiefgreifende Sprachlosigkeit geprägt ist. Wie soll man auch über einen so schweren Verlust sprechen? Wie kann man sich in seiner Trauer verständlich machen und mitteilen?

“Ich glaubte keinen Augenblick lang, je über Iras Tod hinwegkommen zu können, und wollte es auch gar nicht.”

Im verlassenen Strandhotel L’Angleterre, in dem auch ein Zimmer für Markus frei steht, entsteht eine ganz besondere Atmosphäre – es ist vor allem Melancholie und Traurigkeit, entfacht von den leerstehenden Räumen und der verwunschenen Stimmung, die sich wie eine dicke Schicht um Markus legt. Ein Aufenthalt, der eigentlich eine Woche dauern soll, wird für Markus Lee zum Wendepunkt und zu einem Start in ein neues Leben. Aus den Herbstferien wird ein monatelanger Ausstieg aus dem alten Leben. Dieser Ausstieg und die gleichzeitige Abgrenzung von allem, was vorher war, ist vor allem auch eine Suche nach sich selbst und eine Suche nach Antworten. Antworten auf Fragen, die Markus Lee nach dem Tod seiner Schwester, nicht mehr loslassen: wie kann man das jahrelange Leben mit einem tiefgreifenden Geheimnis unbeschadet überstehen und wie kann man sich, wenn man alleine zurück bleibt, von diesem Geheimnis lösen, um weiterleben zu können?

Mirko Bonné umkreist in seinem Roman “Nie mehr Nacht” mehrere Themen: da ist zum einen Ira, die plötzlich aus dem Leben scheidet. Ira war immer anders. Während Markus gesellig ist und noch nie alleine gelebt hat, sucht Ira die Einsamkeit. Zehn Jahre lang reist die junge Frau durch die Welt, ohne eine Heimat finden zu können. Geprägt wurde ihr Alltag von Angst; ihr Haus bezeichnet sie als “Versteinerungszustand”. Ihre ewige Angst vor der dunklen Nacht hat Ira ausgelöscht, in dem sie in eben jene gegangen ist. Für immer. Geahnt, dass seine Schwester ihr eigenes Leben beenden könnte, hat Markus dennoch nicht. Wie schuldig kann man an dem Selbstmord eines anderen Menschen sein? Wie schuldig kann man daran sein, den Augenblick nicht erkannt zu haben?

“Wie den Augenblick, da das Blatt sich wendete, wie den Moment erkennen? War man denn in der Lage, einen Augenblick zu erkennen? Das hieße doch, sich auf den Zeitpunkt gefasst zu machen, da nichts mehr blieb, wie es eben noch war.”

Aber auch die Vergangenheit wird thematisiert: die Brücken in der Normandie stehen teilweise noch heute für das, was im Juni 1944 passiert ist, als die alliierten Streitkräfte in der Normandie gelandet sind. An den Brücken entzündeten sich die damaligen Begegnungen zwischen den Deutschen, den Kanadiern, den Briten und den Franzosen.

“Ich weiß nicht genau, wie viele es waren, aber es müssen Zigtausende gewesen sein, die ihr Leben gelassen haben, um eine dieser uralten Stahlkonstruktionen entweder halten, sprengen oder erstürmen zu können […].”

Markus Lee reist in die Normandie, um diese Brücken zu zeichnen, um etwas von ihrer Präsenz einzufangen, in dem Versuch abzubilden, was damals für ein Kampf an den Brücken getobt hat – heutzutage verbinden sie als ruhende Stahlkolosse zwei Ufer miteinander, damals ging es für die Soldaten um den Kampf um Leben und Tod. Doch als Markus die Brücken besichtigt, gelingt es ihm nicht, seine Eindrücke auch auf Papier zu bringen.

“Eine Zeichnung entstand, während ich das Gesehene in Bewegung übertrug. Was mich bewegte, ließ meine Hand den Stift übers Papier führen. Oder nichts entstand. Dann lag die Hand nur da, so regungslos auf dem Zeichenblock, wie ich im Innern fühllos blieb.”

Die Reise in die Normandie scheint für Markus,  dem Erzähler des Romans, auch eine Art Reise zu sich selbst zu sein, denn plötzlich ist er mit sich konfrontiert und mit seinem Leben. Mit seiner Einsamkeit, mit seiner Trägheit und mangelnden Zielstrebigkeit, mit dem Verlust seiner geliebte Schwester. In der Normandie kehrt Ira zurück, in Gestalt eines Fotos, das Markus in einem Geschäft in der Innenstadt sieht und auf dem er glaubt, seine tote Schwester zu erkennen. Sein ganzes Denken kreist um die Frage, warum Ira ein Doppelleben in Frankreich hätte führen sollen – doch ist das wirklich Ira oder nur ein Hirngespinst und der Wunsch, nicht ohne sie weiterleben zu müssen. Es ist die falsche Ira, die Markus wieder zurückholt unter die Lebenden. Mirko Bonné zeichnet den Weg von Markus in aller Konsequenz zu Ende; er lässt ihn zum Aussteiger werden, der sich aus seinem alten Leben verabschiedet und mit dem Nötigsten und auf sich selbst zurückgeworfen in einem leerstehenden Hotel zurückbleibt.

“Jede Zeichnung erzählt eine komplizierte Geschichte, in dem sie extrem vereinfacht, dachte ich. Aber die Vereinfachung ist nur ein Durchgangsstadium. Sie muss viel weiter gehen, immer weiter. Nicht nur was und wie ich zeichne, auch ich selber muss immer einfacher werden. Zeichne auf immer weniger Blättern immer weniger Linien. Werde unscheinbarer, Strich für Strich. Ja genau: Zeichne dich ins Verschwinden hinein!”

Das Thema des Romans, das über allen anderen schwebt – unsichtbar und doch zum Greifen nah – wird immer wieder angedeutet, es gibt zahlreiche Hinweise und Anspielungen. Am Ende wird es noch einmal deutlich ausgesprochen. Diese Enthüllung gleicht einem fulminanten Paukenschlag, einem Paukenschlag, der für mein Empfinden nicht nötig gewesen wäre, da er den Roman auf die Enthüllung reduziert und ihm damit ein Stück weit seiner Ernsthaftigkeit beraubt.

Mirko Bonné hat mit “Nie mehr Nacht” einen wunderbar poetischen und tief melancholischen Roman geschrieben, der eine Vielzahl an Themenkomplexe umkreist,  die mich auch nach dem Ende des Romans lange nicht loslassen wollten. “Nie mehr Nacht” ist ein Roman über Einsamkeit, Trauer und Schuldgefühle und über den Wunsch, noch einmal neu anfangen zu dürfen.

[5 lesen 20] Der wahre Sohn – Olaf Kühl

Olaf Kühl wurde 1955 geboren und ist nach einem Studium der Slawistik, Osteuropäischer Geschichte und Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin heutzutage überwiegend als Übersetzer tätig. Für sein polnisch-deutsches Übersetzerwerk wurde er mit dem Karl-Dedecius-Preis ausgezeichnet. Seit 1996 ist er außerdem als Russlandreferent des Berliner Bürgermeisters tätig. Vor zwei Jahren erschien sein Debütroman “Tote Tiere”. Mit seiner aktuellen Veröffentlichung “Der wahre Sohn” wurde Olaf Kühl für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Konrad Krynitzki ist achtunddreißig Jahre alt und schlägt sich mit einer eher ungewöhnlichen Tätigkeit durch sein Leben: Versicherungen bezahlen ihn dafür, als gestohlen gemeldete Autos ausfindig zu machen und nach Deutschland zurück zu überführen. Als Quereinsteiger ist er in diesen Job reingerutscht, nachdem er ohne einen Abschluss zu erwerben sein Studium abgebrochen hatte.

“Er hat ihr nie gesagt, was er genau tut. Recherchieren, das klingt gut. Für wen, für eine Zeitung? Nein, für ein großes Unternehmen in Westdeutschland. Das erzählt er auch Freunden, das leuchtet am ehesten ein. Wenn er ehrlich ist, hat es weniger mit Diskretion zu tun als mit Scham. Denn gestohlene Autos zu suchen, dieser Job ist ihm peinlich, wenn er an die Pläne und Visionen der Studentenzeit denkt.”

Ein neuer Auftrag von seinem Chef Wolfgang Muschter, Leiter der Kfz-Schadensregulierung, kommt nun gerade zur rechten Zeit, denn bei Konrad geht gerade so viel schief, dass er sich freut, für eine Weile aus Deutschland, aus seiner Beziehung und aus seinem Leben fliehen zu können. Der Auftrag führt ihn nach Kiew, in die Hauptstadt der Ukraine.

“Er hat im Laufe der Jahre verschiedene Fluchten gewagt. Er wollte sich auf die Kehrseite des Lebens verdrücken. Hat lange als Nachtwächter gearbeitet. Ist für ein paar Wochen zu Günter gezogen, nach Prenzlauer Berg, tief in den Osten, hat sich dort versteckt. Es half alles nichts.”

Auf den ersten Blick scheint die Aufklärung des Falls auf der Hand zu liegen: Konrad soll aus Kiew eine verschwundene Luxuslimousine nach Deutschland zurückbringen, da die Versicherung einen Betrug vermutet. Doch als Konrad nach Kiew reist, muss er feststellen, dass der neue Halter des Mercedes ein hoher Beamter gewesen ist, der aber bereits seit einigen Monaten tot ist. Auf der Suche nach dem Auto verstrickt sich Konrad immer stärker in ein altes Familiengeheimnis: er lernt Svetlana kennen, die Witwe des Halters, die sich ebenso anziehend wie eigentümlich verhält. Seine Ermittlungen führen ihn bis in die psychiatrische Klinik in Kiew, in der Arkadij, der dreiundsechzig Jahre alte Sohn von Svetlana lebt. Ein erwachsener Mann, der doch nie ganz erwachsen geworden ist – er ist hochbegabt, aber auch schwer gestört und verbringt seine Tage in der Vergangenheit lebend. In einer Vergangenheit, die vor allem durch die Präsenz seiner Kinderfrau Olha geprägt gewesen ist, zu der er bis zu ihrem Verschwinden ein enges Verhältnis hatte.

“Nach meiner Erfahrung steht ein Auto selten für sich allein. Es bezieht seine Bedeutung aus einem Gespinst von zahlreichen, mehr oder weniger deutlichen, oft schwer erkennbaren Verbindungen zu seinem Besitzer, aber auch zu dessen ganzer Familie. Ein Auto zu suchen, bedeutet zuallererst, sich aufs engste auf die Menschen in der Umgebung dieses Autos einzulassen.”

 

Konrad Krynitzki begibt sich bei seinen Ermittlungen hinein in einen dunklen Strudel aus Familiengeheimnissen, Verrat und einem undurchdringlichen Gespinst von Lügen und Halbwahrheiten und muss feststellen, dass das Schicksal von Olha und der Verbleib des Autos enger miteinander verknüpft sind, als er sich das jemals hätte vorstellen können …

Die Geschichte, die Olaf Kühl in “Der wahre Sohn” erzählt, spielt in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Der Autor beschreibt die osteuropäische Welt so lebendig und authentisch, wie ich das selten zuvor in einem Roman gelesen habe. Doch nicht nur das gegenwärtige Leben in der Ukraine spielt eine Rolle, sondern auch die von Gewalt geprägte ukrainische Geschichte. Der Krieg und die Hungersnot, Soldaten, Besatzer, Babi Jar – all das, wird thematisiert. Es ist vor allem Arkadij, den die Vergangenheit nicht los lässt und der in der Geschichte gräbt, um seine eigene Identität entdecken zu können.

“Er sagte, er wolle verschiedene Schichten untersuchen. Er wollte durch die scheinbaren Dinge, durch die Oberfläche zur Wahrheit vordringen, zum Grund. Und irgendwann taucht dann in den Protokollen dieser Begriff auf – der ‘Punkt des größten Bösen’, wie er das nannte.”

Olaf Kühl hat mit “Der wahre Sohn” einen Roman geschrieben, der, trotz der spannenden Elemente und der Jagd nach einem Auto, weniger Kriminalroman ist, als ein großer Familienroman, der einen Blick in die Abgründe der Familie und der ukrainischen Geschichte wirft. Es geht um Sehnsucht und darum, dass Sehnsucht sich irgendwann nicht mehr heilen lässt, wenn sie zu lange besteht. Es geht um Lücken, die sich nicht mehr schließen lassen. Es geht um traumatische Erlebnisse in der Kindheit, die man aufarbeiten muss, um weiterleben zu können. Es geht um Lügen und Verrat, Geheimnisse und Unwahrheiten. Es geht um die Rolle der Mutter, die hier in allen Facetten ausgeleuchtet wird. Die Geheimnisse der Familie von Svetlana und Arkadij hatten Jahrzehnte bestand, so lange, bis Konrad Krynitzki kommt und eher durch Zufall in eine ungeheure Geschichte hinein gerät und sich in dieser so tief verstrickt, dass er irgendwann nicht mehr weiß, wie er herauskommen soll … Das Ende des Romans ist fulminant, die Grenzen zwischen Wahrheit und Erfindung lösen sich auf den letzten Seiten immer stärker auf – es ist nicht immer leicht, diesem plötzlich rasanten Erzähltaumel zu folgen.

Olaf Kühl legt mit “Der wahre Sohn” einen vielschichtigen Roman vor, der vor allem durch eine unbändige Erzähllust und eine spannende Geschichte besticht. Literarisch konnte der Roman mich dagegen nicht durchgehend überzeugen, denn sprachlich wirkt der Erzählstil von Olaf Kühl doch häufig etwas holprig und ungelenk – die großartige Geschichte, die er erzählt, von der Gegenwart tief hinein in die ukrainische Vergangenheit, vermag aber darüber hinwegtrösten.

[5 lesen 20] Berlin liegt im Osten – Nellja Veremej

1924285668Nellja Veremej wurde 1963 in der Sowjetunion geboren. Nach einem Studium der Russischen Philologie in Leningrad, lebt die Autorin seit 1994 in Berlin. Beim Literaturwettbewerb Wartholz hat sie 2010 den Newcomer-Preis und den Publikumspreis gewonnen. Außerdem publiziert sie Artikel in der Wochenzeitschrift “Freitag”.

“Mit dem Alter jedoch rückt die Vergangenheit immer näher: Der lange Weg liegt nun hinter ihr, der große Bogen ist geschlagen und schließt sich da, wo er seinen Anfang nahm: an der Türschwelle zum schwarzen Abgrund.”

In “Berlin liegt im Osten” erzählt Nellja Veremej eine Geschichte, die rund um den Alexanderplatz spielt. Es ist die Geschichte von Lena, die einst mit ihrem Mann, dem gemeinsamen Kind und großen Hoffnungen aus dem kleinen kaukasischen Dorf Kema über Leningrad nach Berlin kam. Übrig geblieben ist davon nur ihre Tochter Marina, mit der sie eine kleine Wohnung bewohnt. Sowohl der Mann, als auch die Hoffnungen sind Lena, die als Altenpflegerin arbeitet, im Laufe der Zeit abhanden gekommen.

“Wir vergessen unsere Träume, schieben sie in eine entlegene Ecke, vernachlässigen sie, um sie zu bewundern und zu beweinen, wenn ihre Haltbarkeitsfrist abgelaufen ist.”

Lena erzählt von ihrem neuen Leben in Deutschland und von ihrem damaligen Leben in einem russischen Dorf, in dem sie in so ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen ist, das Geld kaum eine Rolle gespielt hat – es gab einfach keines. Der Vater ist gestorben, als Lena im “Schulalter” gewesen ist, mit ihrer Mutter zieht sie zur Großmutter, doch Lena stellt schnell fest, dass sie aus diesen engen Strukturen ausbrechen möchte. Ihre einzige Chance auf ein anderes Leben, liegt darin, die Verhältnisse in denen sie lebt, hinter sich zu lassen. Sie geht weg, um nicht wie ihre Mutter zu werden – doch kann das überhaupt funktionieren? An der Universität in Leningrad lernt sie Alexander kennen, der von allen nur Schura genannt wird – sie wird schwanger und gemeinsam mit ihrer Tochter Marina zieht es die beiden nach Berlin. Doch die Verbindung hält nicht lange, Schura ist unbeständig und kann nicht mit Geld umgehen. Er hat immer neue Geschäftsideen, mit denen er jedoch in schöner Regelmäßigkeit scheitert.

“Ich setze die neue bunte Mütze auf und gehe raus, in die Stadt, die mir immer Zuflucht vor Kummer und Spleens bietet. Sie ist für mich das, was für die Romantiker Gebirge und Wälder waren. Die Häuser sind meine Felsen, die Menschen eigenartige Bäume, de Straßen eigensinnige Flüsse.”

In ihrer Tätigkeit als Altenpflegerin lernt Lena immer wieder andere Menschen und deren Lebensgeschichten kennen, die sie sich nicht nur anhört, sondern die sie in sich aufsaugt und dem Leser davon erzählt, als seien es ihre eigenen Geschichten. Seit sieben Jahren betreut Lena Ulf Seitz, der zu Beginn der Betreuung noch am Stock gehen konnte, doch mittlerweile im Rollstuhl sitzt. Ulf ist ein Übriggebliebener, denn der Rest seiner Familie lebt schon lange nicht mehr. “Hat er seine Familie verlassen, hat sie ihn verlassen, haben sie alle sich gegenseitig fallen gelassen?” Der mittlerweile gealterte Mann, der zwei Diktaturen erleben musste, erzählt Lena seine bewegte Lebensgeschichte, beginnend in der Kindheit, die er in der Zeit des Nationalsozialismus verbracht hat. Er erzählt von seiner Frau Dora und wie schwer es für ihn in der DDR gewesen ist, einen Platz für sich und sein Leben zu finden. Die Geschichte von Herrn Seitz schleicht sich in das Buch hinein und nimmt bald allen Raum ein, bis Lena die Nähe zu ihrem Klienten zu eng wird.

“Unsere Zweisamkeit lässt sich schwer einordnen, unsere Freundschaft hat vage Konturen, wie aufeinandergestapelte Dias: Samariterin und Verwundeter, Vater und Tochter, Deutscher und Russin, Siegerin und Besiegter – zwischen uns liegen Welten, Jahrzehnte, Flüsse, Gräber, Meilen, und die Seilbrücke über diesen Abgrund ist gespannt wie eine Saite, die seltsame und nur für uns wahrnehmbare Töne hervorbringt.”

Nellja Veremej verarbeitet in ihrem Roman eine Vielzahl an Themen, die sich überschneiden, überlappen und ineinander fließen. Eines der zentralen Themen ist das Leben von Menschen, die auswandern – von Menschen, die sich entscheiden, ihre Zelte in ihrem Heimatland abzubrechen und an einem neuen fremden Ort wieder auf zu stellen. Damit verbunden ist in den meisten Fällen die Hoffnung darauf, dass das Leben besser werden wird, als es bisher gewesen ist.

“[…] und sie sehnten sich aus unserem Fernen Osten nach Westen, wo man, wie sie meinten, nicht sät, nicht sichelt, nicht kränkelt und nicht stirbt. Da muss man sich nicht dutzendmal hinknien, um ein Bündel Kartoffeln aus der Erde zu gewinnen […] – das Paradies lag immer westwärts. Und der Westen fing für uns damals schon am Fuße der verwitterten Kette des Ural-Gebirges an.”

Bei Lena und Schura dauert es nicht lange, bis sich die freudigen Erwartungen und Traumbilder, in Luft aufgelöst haben. Als sie ankommen, sind sie “heimatlos, besitzlos, leicht und neugierig schwebend”, doch bereits nach kurzer Zeit legt sich eine bleierne Schwere über ihr Leben, die Mut und Euphorie im Keim erstickt. Lena ist dort, wo sie immer hinwollte, doch statt Glück darüber zu empfinden, sucht sie immer wieder das russische Lädchen von Larissa auf, um gemeinsam über die Tücken ihrer neuen Heimat und des deutschen Alltags zu lästern. Was ist Heimat und kann man diese überhaupt woanders finden, als in sich selbst?

“Wie viele Wörter gibt es, die ich mit niemandem teilen kann – ich bin voll davon.”

Eine wichtige Rolle spielt auch die Stadt, in der die Handlung angesiedelt ist: die Beschreibungen Berlins sind so lebendig und authentisch, dass man beinahe mit dem Buch in der Hand in diese flirrende und große Stadt reisen könnte, um die Wege Lenas nach zu gehen. Immer mit dabei ist Alfred Döblin, dessen Roman “Berlin Alexanderplatz” mehr als einmal erwähnt wird und die Protagonistin auf ihren Spazierwegen begleitet.  Neben der Immigration wird auch das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschland thematisiert, genauso wie die Zeit des Krieges und die Nachkriegszeit eine Rolle spielt.

Nellja Veremej legt mit “Berlin liegt im Osten” einen beeindruckenden und sehr lesenswerten Debütroman vor, der nicht nur sprachlich überzeugen kann, sondern auch durch die intensive und bewegende Geschichte, die er erzählt. “Berlin liegt im Osten” ist ein Roman über Heimat, die Sehnsucht danach, anzukommen und Hoffnungen. Hoffnungen, die manchmal erfüllt und manchmal enttäuscht werden. Ich habe einen Roman gelesen, der mit Fug und Recht als neuer großer Berlin-Roman bezeichnet werden kann und der einen Platz auf der Shortlist mehr als verdient hätte.

[5 lesen 20] Carambole – Jens Steiner

Jens Steiner wurde 1975 geboren, hat Germanistik, Philosophie und Vergleichende Literaturwissenschaft in Zürich und Genf studiert und arbeitete nach dem Studium als Lehrer und Lektor. Er fand sich bereits 2011 mit seinem Romandebüt “Hasenleben” auf der Longlist des Deutschen Buchpreis wieder und ist in diesem Jahr erneut mit seinem Roman “Carambole” vertreten. Für das Romanmanuskript wurde er bereits im vergangenen Jahr mit dem Preis “Das zweite Buch” der Marianne und Curt Dienemann-Stiftung ausgezeichnet. Der Autor betreibt eine aufwendige und schön gestaltete Homepage – ein Besuch lohnt sich.

“Trost hat er in der Philosophie gefunden, Platon, Cicero und Epiktet sind heute seine Patchworkfamilie.”

“Carambole”, der Titel des Romans, ist ein Brett- und Geschicklichkeitsspiel, das sich vor allen Dingen in Indien und Pakistan großer Beliebtheit erfreut und dort so etwas wie eine Volkssportart ist. Hierzulande ist das Spiel auch unter den Namen Carrom oder Fingerbillard bekannt.  Mit “Carambole” legt Jens Steiner einen Roman in zwölf Runden vor, vom “Anspiel” bis zum “Aus. Dass der Autor sich genau für diesen Titel entschieden hat, ist sicherlich kein Zufall und liegt nicht nur daran, dass in diesem Buch auch drei Herren eine Rolle spielen sollen, die genau dieses Spiel spielen.

Jens Steiner beschreibt das Leben in einem namenlosen Dorf in der Schweiz. Es ist Sommer; noch zwei Wochen bis zu den Schulferien. Über dem Dorf scheint eine bleierne Schwere zu liegen, die alles einhüllt und erstarren lässt. Da sind die drei Freunde Fred, Manu und Igor, die ihre Zeit gemeinsam verbringen und Pläne schmieden, aus denen sowieso nichts wird. Jeder von ihnen ist mit eigenen Problemen beschäftigt, darüber sprechen können sie miteinander nicht. Die Sommerferien stehen vor der Tür und alle drei wissen, dass wieder nichts passieren wird und alles immer gleich bleibt – wo ist die Veränderung? Wo ist der überraschende Moment? Da ist das Ehepaar, das sich in einem gemeinsamem Schweigen eingenistet hat, doch wohl fühlt sich keiner der beiden mit der Situation. Der Mann geht in den Schuppen, um zu weinen, die Frau verliert ihre Sprache, weil sie niemanden mehr hat, an dem sie sie ausprobieren könnte. Den Kontakt zu ihrer Tochter hat sie schon lange verloren, Renate ist erst vierzehn, aber bereits in einem Alter, in dem ihre Eltern ihr peinlich sind.

“”So, wie war’s?’ ‘War was?’ ‘Na, die Probe?’ ‘Welche Probe?’ ‘Na, die vom Theater, mit den Kostümen. Oder ging es um Requisiten?’ ‘Keines von beiden.’ ‘Oh. Worum denn?’ ‘Gar nichts. Wie kommst du auf Probe?’ ‘Ich weiß nicht. Hast du nicht heute Morgen gesagt …’ ‘Ich habe nichts gesagt.’ ‘Wirklich?’ ‘Ich sage am Morgen nie etwas.’ ‘Ach. Ja. Du hast recht.'”

Die Gespräche zwischen Mutter und Tochter sind von einem tiefen gegenseitigen Nichtverstehen geprägt, einem Nichtverstehenwollen. Die Mutter glaubte immer, Teil einer normalen Familie zu sein und doch funktionieren sie plötzlich nicht mehr. “Doch was ist das für eine Kraft, die uns auseinanderreißt?’. Da ist Freysinger, der seinen Tag anhand seiner Biertermine strukturiert, die er in der Dorfgaststätte wahrnimmt.

“Denn irgendwo, das habe ich in meiner vermurksten Laufbahn gelernt, irgendwo muss man sich festhalten, in dem ganzen Nichts braucht man zwei Griffe, die einen daran hindern, zu Boden zu gehen.”

Da ist der Mann, der seine Nachmittage im Garten verbringt, um ein Schwimmbassin zu bauen und beim Graben auf Fels stößt. Ein Fels, den er wegsprengen müsste, um weiter graben zu können. Ein Fels, der beinahe schon metaphorisch steht für das Leben dieses Mannes, das geprägt ist, von seinen Kindern, die mittlerweile erwachsen sind, aber immer noch nicht auf eigenen Füßen stehen können. Er arbeitet sich krumm, aber am Felsen kommt er einfach nicht vorbei. Da ist der Mann, der seine Tage hinter einem Fernglas verbringt. Er ist gelähmt und verantwortlich für einen fürchterlichen Unfall – wie soll man mit einer solchen Schuld leben und wie kann man gleichzeitig mit dem Bedürfnis umgehen, Rache für das üben zu wollen, was einem geschehen ist?

Auch Jens Steiner scheint seine Figuren wie durch ein Fernrohr zu beobachten: er holt sie an den Leser heran und beschreibt sie in scharfen und intimen Details, die einen ganz genauen Blick erfordern. Er beschreibt nicht nur das Dorf und seine Bewohner, sondern seziert diese schon beinahe. Es sind beklemmende Geschichten, die der Autor erzählt. Am stärksten berührt hat mich die Geschichte der verfeindeten Brüder, die nach einem Streit um das Erbe des Vaters, nie wieder miteinander gesprochen haben, obwohl sie beinahe Tür an Tür leben.

“Der jüngere Bruder blickt zum Balkon hinauf, der ältere Bruder blickt hinunter. Und sie können beide nicht mehr wegsehen. Die alte, fast vergessene Geschichte, das Erbe des Hausvaters, der Verrat der Schwester, der Streit, all dies hängt zwischen Straße und Balkon und erlaubt den beiden kein Wegsehen mehr.”

Der Titel des Romans spiegelt sich auch in den Erzählungen des Autors wider: die Figuren, die er beschreibt und deren Lebenswege, kreuzen sich immer wieder. Wie Spielsteine auf einem großen Spielbrett stoßen die Figuren gegeneinander, kommen sich näher und stoßen sich wieder von einander ab. Die Figuren sind dabei weniger handelnde Menschen, als willenlose Spielfiguren, denen jegliche Motivation, jegliche Interessen und eigene Wünsche abhanden gekommen zu sein scheinen. Willenlos lassen sie sich hin- und herschieben, alle Bedürfnisse, die über das alltägliche Leben hinausreichen, scheinen sie irgendwo verloren zu haben. Unterwegs vergessen und nie wieder gefunden – das Dorf und seine Bewohner erscheinen wie unter einer großen Käseglocke lebend, abgeschnitten vom Rest der Welt und in den eingerichteten Lebensentwürfen erstarrt und festgelegt. Jeder geht seinen Weg – lauter “Einzelgänger in Einergruppen”. Erst eine Explosion in einer Fabrik in der Nähe des Dorfes, ein lauter Knall und ein donnerndes Grollen, führt schließlich dazu, dass die Wege mehrere Dorfbewohner sich kreuzen und Bewegung in die Erstarrung kommt …

Jens Steiner ist mit “Carambole” ein wunderbarer Roman gelungen, der nicht aus zwölf Geschichten besteht, sondern aus zwölf Miniaturkunstwerken. Sprachlich ist der Roman nüchtern gehalten, aber dennoch stellenweise poetisch. Dem Autor gelingt es wunderbar, in seiner Sprache die Apathie und Schwere der Dorfbewohner zu transportieren. “Carambole” ist ein Roman, der möglicherweise zu still und ruhig sein könnte, neben all den Konkurrenten auf der Longlist, der aber einen Platz auf der kurzen Liste mehr als verdient hätte.

Die Laute – Michael Roes

Michael Roes wurde 1960 in Rhede in Westfalen geboren. Mehrjährige Aufenthalte im Jemen, in Israel und in Amerika sind ein wichtiger Fundus, aus dem er Inspiration für seine Bücher schöpft. Für sein vielfältiges Werk wurde der Autor bereits vielfach ausgezeichnet, zuletzt stand er im vergangenen Jahr mit dem vorliegenden Roman auf der Longlist des Deutschen Buchpreis.

In “Die Laute” erzählt Michael Roes die Geschichte des Jungen Asis, der im Jemen aufwächst. Es ist ein Aufwachsen in einem Land, das als unruhig bezeichnet werden kann. Zwei Ereignisse prägen die Kindheit dieses Jungen: der schmächtige Asis wird mit gerade einmal dreizehn Jahren von einem Blitzschlag getroffen, auf dem Weg vom Sportplatz zur Telefonzelle, von wo aus er seiner Mutter Bescheid sagen möchte, dass es später wird. Asis überlebt, er hat das Glück, das sich ein Arzt in der Nähe befindet, der ihn sofort reanimieren kann. Doch die Folgen dieses Zwischenfalls, den Asis bereits schnell wieder vergessen hat, sind erstaunlich. Denn plötzlich öffnet sich sein Gehör für die Musik, plötzlich hört er Töne, die er zuvor nicht wahrgenommen hat. Es ist vor allem die traditionelle Lautenmusik, die ihn wie einen Blitzschlag ins Herz trifft – eine Musik, die er nie zuvor gehört hat.

“Er bleibt vor dem Laden stehen, lauscht der ‘Ud und fühlt die Töne in sich eindringen, dass es ihm schier das Herz zerreißt. Tränen treten ihm in die Augen, es ist lächerlich, er hat seit Jahren nicht mehr geweint, und ein Schmerz sprengt seine Brust, der mit nichts zu vergleichen ist.”

Es ist der Ruf der Laute, der Ruf der Musik, der Asis von einem Moment auf den anderen packt. Von seinem Retter, der ihm nach dem Blitzschlag zurück ins Leben holte, erhält der Junge eine Laute geschenkt und beginnt darauf zu spielen. Die Laute steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem zweiten Ereignis, das Asis’ Kindheit prägen sollte. Für ein Nachbarmädchen, in das er sich verknallt hat, spielt er auf seinem neuen Instrument – so lange, bis er den Zorn ihrer Brüder auf sich zieht. Bei einem brutalen Übergriff der Brüder wird er so schwer verletzt, dass er sein Gehör verliert.

Was bedeutet es für einen Jungen, in so jungem Alter die Fähigkeit zu hören zu verlieren? Was bedeutet dies für einen Jungen, der gerade seine Begeisterung für musikalische Töne entdeckt hat? Was bedeutet dies für einen Jungen, der in ärmlichen Verhältnissen im Jemen aufwächst? Asis’ Vater ist ein einfacher Schuhmacher, seine Mutter durfte nie eine Schule besuchen und kann weder lesen noch schreiben. Sie können ihrem Sohn mit seiner Behinderung nicht helfen, sie können ihm nichts mehr mitteilen, denn aufschreiben können sie ihre Worte nicht und lesen, was ihr Kind schreibt, können sie auch nicht. Sie geben Asis weg, nach Aden, in eine Schule für Gehörlose.

“Welches Gesetz zwingt Menschen, die sich so fremd sind, einen Großteil ihres Lebens aneinandergefesselt zu verbringen?”

Doch Asis’ Weg ist in Aden noch nicht zu Ende; der Weg für ihn führt weiter, nach Polen. In Now Huta arbeitet er am Flughafen in der Packhalle. Immer dabei ist seine Begeisterung für die Musik, die er sich erhalten hat und die auch nach dem Gehörverlust nicht abgenommen hat. Wenn er von der Arbeit nach Hause zurückkehrt, komponiert er in seiner Freizeit eine Oper. Es ist die Liebe zur Musik, die sein weiteres Leben bestimmen wird ….

Michael Roes legt mit “Die Laute” ein vielschichtiges und vielstimmiges Buch vor, in dem eine ganze Bandbreite an Themen verarbeitet wird, ohne das es Gefahr läuft, überfüllt zu wirken. Eines der zentralen Themen klingt bereits im doppelbödigen Titel an: die Laute ist zum einen das Musikinstrument, durch das Asis erst seine Liebe zur Musik entdeckt, zum anderen sind mit dem Begriff aber auch all diejenigen Laute gemeint, die Asis mittlerweile nicht mehr hören kann, die er nur noch fühlend wahrnehmen und erahnen kann. Nach dem brutalen Überfall gibt es zunächst noch akustische Gehörreste, die ein Hörgefühl suggerieren, doch die Hörerinnerungen verblassen mit der Zeit – neue Eindrücke sind schnell nicht mehr mit Geräuschen verknüpft. Die Frage, wie man einen ausfallenden Sinn, mit anderen Sinnen ersetzen kann, ist einer der Aspekte, die bei Michael Roes im Mittelpunkt stehen. Auch in dem Begriff lautlos steckt ein Laut, doch wie kann man diesen wahrnehmen und wie können sich gehörlose und hörende Menschen verständigen?

Die Thematik des gehörlosen Komponisten wirkt beinahe klischeehaft, doch Michael Roes gelingt in seinem Roman sehr viel mehr als die simple Fortschreibung der Geschichte Ludwig van Beethovens. Der Roman erzählt die Geschichte eines beeindrucken Jungen, von Freundschaften, die vergänglich sind, vom Wachsen am eigenen Selbst und dem Entwachsen von Verhältnissen – es ist ein beeindruckendes Themenspektrum, das Michael Roes in seinem Roman zu einer großartigen Komposition vereinigt.

“Die Laute” ist ein anspruchsvoller und experimenteller Roman, der viel von seinem Leser fordert, ohne sich dabei jedoch zu intellektuell, fremd oder abgehoben zu geben. Im Vordergrund stehen spannende Gedanken und Bilder zum Thema des Hörens und Verstehens – ergänzt werden diese Gedanken durch eine poetische Sprache, die vor allen Dinge in den Passagen, die im Jemen spielen, beeindruckende Bilder und atmosphärisch dichte Schauplätze erschafft.

Workuta – Horst Bienek

Horst Bienek, der 1930 geboren wurde und 1990 starb, war Schriftsteller, Künstler und Filmemacher. Nach einer Tätigkeit beim Hessischen Rundfunk und als Lektor bei dtv, lebte er ab 1968 als freier Schriftsteller in München. Für seine Veröffentlichungen erhielt er unter anderem den Wilhelm-Raabe-Preis sowie den Jean-Paul-Preis. Herausgegeben und mit einem lesenswerten Nachwort ergänzt, wurde “Workuta” von Michael Krüger, der viele Jahre lang Horst Bieneks Lektor und Verleger gewesen ist. Die Aufzeichnungen, die diesem Buch zugrunde liegen, hat Michael Krüger nach dem Tod seines Freundes in dessen Unterlagen gefunden und macht sie mit dieser Veröffentlichung zum ersten Mal einem breiteren Publikum zugänglich.

Mit gerade einmal 21 Jahren gehörte Horst Bienek bereits zu den Meisterschülern von Bertolt Brecht am Berliner Ensemble, doch 1951 war auch das Jahr, in dem der Autor vom Staatssicherheitsdienst verhaftet wurde. Verurteilt wurde er in einem Schauprozess, zu Last gelegt wurde ihm “antisowjetische Hetze” – 20 Jahre Zwangsarbeit lautete der Schuldspruch für den jungen Mann. Horst Bienek wurde nach Workuta gebracht, einem Arbeitslager, in dem er unter Tage im Kohlebergbau arbeiten musste. Das Lager in der russischen Stadt Workuta, die nördlich des Polarkreises gelegen ist – “etwa dort, wo das Eismeer mit dem Nordural zusammenstößt” –, gehörte zum sogenannten Gulag. Vier Jahre lang musste der Autor es dort unter zum Teil nur schwer vorstellbaren Bedingungen aushalten, bis er 1955 endlich frei gekommen ist.

“Ich war wie aus Blei. Ich konnte nicht sprechen. Mein Blut pulsierte nicht. Ich konnte mich kaum bewegen. Erst nach zwei Tagen flutete wieder Wärme in meinen Körper. Ich fing an zu heulen.”

Trotz der prägenden Erfahrungen, die Horst Bienek im Laufe dieser vier Jahre gemacht hat, hat er nie über Workuta geschrieben. Erst ein einschneidendes Erlebnis während einer Lesung, hat bei ihm zum ersten Mal den Wunsch ausgelöst, über diese Erinnerungen zu schreiben. Ein grauhaariger Mann meldet sich bei der Diskussion mit dem Autor zu Wort, spricht über seine eigenen Erfahrungen, für die er vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben Worte findet und endet mit einem Gesicht, das ganz nass war (“Ich weiß nicht, hatte er geweint oder war er verschwitzt.”) und mit der Frage, warum Bienek selbst nie über Workuta geschrieben hat.

“Ich bin nach Haus gefahren. Ich habe mich an den Schreibtisch gesetzt. Es waren 35 Jahre seitdem vergangen. Und seit 35 Jahren war mir das nicht mehr so nahe gewesen. […] Ich wußte, jetzt mußte ich darüber schreiben.”

Horst Bienek schreibt über die Verhöre, die er über sich ergehen lassen musste und die in seiner Beschreibung beinahe schon kafaesk anmuten. Nacht für Nacht wird er erneut befragt, immer und immer wieder; schnell verliert er den Glauben daran, an seiner Situation noch etwas ändern zu können. Die Verhandlung seines Strafmaßes dauert gerade einmal 15 Minuten. Angeklagt ist er wegen Paragraph 58,6 (Spionage), 58,10 (Antisowjethetze) und 58,11 (Bandenbildung). An heutigen Maßstäben gemessen wirken die Vorwürfe absurd und schon beinahe lächerlich.

“Vielleicht habe ich Glück und kriege nur fünf Jahre, dachte ich. Aber fünf Jahre, das wäre viel zu lange. Die Welt draußen würde sich verändern und ich nicht mehr zu ihr gehören, nach fünf Jahren.”

Die anschließende Haftstrafe ist für den Autor ein entsetzlicher Schlag, es geht von Zelle zu Zelle, bis er schließlich auf einen Transport nach Workuta geschickt wird – die Reise geht bis nach Sibirien. Die Zustände werden schlimmer, Betten voller Wanzen werden zur Normalität, Bienek ist nicht mehr nur gefangen, sondern auch zur Zwangsarbeit verurteilt – verurteilt zu einer unmenschlichen Arbeit, für die sich sonst niemand hergeben würde.

“Es war ekelhaft. Aber solche Gefühle wie Ekel hatten wir schon gar nicht mehr.”

Obwohl der Autor seine Aufzeichnungen nicht abschließen konnte, der Tod kam dem schwer an AIDS erkranktem Horst Bienek zuvor, besitzen seine Erinnerungen eine unheimliche Kraft und einen sehr berührenden Ausdruck. An seinem Bericht wird erkennbar, dass er zuvor noch keine Sprache für das, was er erlebt hat, gefunden hatte. Vieles wirkt fragmentarisch, holprig. Vieles wirkt so, als würde Horst Bienek gerade erst anfangen, Worte für Workuta zu finden und dabei noch ab und an stolpern, den Faden verlieren oder neu ansetzen müssen. Doch es ist gerade und vor allen Dingen auch diese Form, die beim Lesen so sehr beeindruckt. “Workuta” ist ein Erinnerungs- und Gedankenfragment, das auch noch unvollendet ist, doch es gibt einen unverstellten Einblick in das Erleben eines Menschen, der zu einer unverhältnismäßig harten Strafe verurteilt wurde. Zum Abschluss des Fragments äußert sich Horst Bienek auch zu der Rolle von Bertolt Brecht, seinem eigentlichen Mentor, der sich jedoch nicht für die Freilassung des Autors eingesetzt hatte.

“Workuta” ist ein persönliches und bewegendes literarisches Zeugnis. Ein Zeugnis eines unfassbaren menschlichen Einzelschicksals, aber auch ein Zeugnis davon, wie ungerecht und menschenverachtend die damalige Zeit gewesen sein muss. Horst Bienek hat ein schmales Buch geschrieben, dem man anmerkt, dass hier ein Autor erst noch seine Sprache finden muss und doch ist das Buch gleichzeitig unheimlich groß und wichtig – ich kann “Workuta” nur möglichst viele Leser wünschen.

Elsa ungeheuer – Astrid Rosenfeld

Die Schriftstellerin Astrid Rosenfeld wurde 1977 in Köln geboren und hat in diversen Jobs in der Filmbranche gearbeitet, unter anderem war sie als Casterin tätig. Heutzutage lebt sie in Berlin. “Adams Erbe” war ihr Debütroman und war sowohl beim Publikum als auch bei der Kritik ein großer Erfolg. In diesem Frühjahr erschien im Diogenes Verlag ihr zweiter Roman “Elsa ungeheuer”.

Astrid Rosenfeld erzählt in “Elsa ungeheuer” die Geschichte der zwei Brüder Brauer. Lorenz ist ein aufgehender Stern in der Kunstszene, mit einem ungewöhnlichem Projekt zieht er die Aufmerksamkeit auf sich und findet seinen Namen nach kurzer Zeit in jeder Kunstzeitschrift wieder. Schneller als ihm lieb ist, muss er jedoch die Erfahrung machen, dass der Kunstbetrieb einem Haifischbecken gleicht und dass sein Wohl und Wehe mehr von den Racheplänen zweier einflussreicher Frauen abhängt, als von seinem künstlerischen Talent. Karl, der jüngere Bruder von Lorenz, lebt dagegen ein ruhigeres Leben – immer an der Seite und im Schatten seines Bruders. Wenn er die Bilder seines Bruders sieht, erkennt er welchen Ursprung sie haben – er schaut sie an und befindet sich wieder in ihrer Kindheit.

“Für manche Menschen scheint die Erde einfach nicht der rechte Ort zu sein, und meine Mutter Hanna war so ein Mensch:”

Karl und Lorenz verbringen ihre Kindheit in einem kleinen oberpfälzischen Dorf. Ihre Mutter Hanna springt mit einer rosa Unterhose auf dem Kopf vom Balkon und nimmt sich das Leben. Der Vater Randolph, der eine Ferienpension betreibt, zerbricht beinahe am Schmerz über den Verlust seiner Frau. Die meiste Zeit weiß er weder, dass er Besitzer einer Ferienpension ist, noch, dass er Vater von zwei Jungen ist, die ihn nun mehr bräuchten, als je zuvor.

“Lorenz war zwei Jahre älter als ich, einen Kopf größer und viele Kilos leichter. Er war mein Beschützer, mein Freund, mein Vorbild. Ein fetter Junge wie ich, der seine Fettheit weder mit Kraft noch mit einem besonderen Talent wettmachen konnte, war das geborene Opfer für den Zorn und die Langeweile der Dorfkinder.”

Ihre Kindheit wird von seltsamen und skurrilen Gestalten geprägt, von der harschen Haushälterin Kratzler und von Herrn Murmelstein, einem ewigen Dauergast im Ferienhaus. Dann taucht auch noch ein junges Mädchen auf – so tritt Elsa plötzlich in das Leben der beiden Brüder. Elsas Eltern wollen um die Welt segeln, ihr Kind jedoch zu Hause lassen. “Was soll denn die kleine Elsa auch auf so einem Schiff?” Elsa ist schon elf Jahre alt und ein eigenwilliges und seltsames Mädchen. Sie kleidet sich ohne Sinn und Verstand und weigert sich standhaft, sich irgendwo einzufügen. Von anderen wird sie häufig nur als “Ungeheuer” bezeichnet. Alle drei verbringen einen herrlichen Sommer miteinander, voller Verrücktheiten. Doch Elsa, das Mädchen mit den Streichholzarmen, drängt sich schnell zwischen die Jungs. Sie treibt keinen Keil zwischen sie, doch Karl muss schnell erleben, dass da etwas zwischen Elsa und Lorenz vorgeht, an dem er keinen Anteil mehr hat. Als der Sommer endet, erstickt die Freundschaft der drei plötzlich am Ernst des Lebens und nicht nur die Abende mit Elsa verschwinden, sondern irgendwann auch Elsa selbst …

Genauso eigenwillig wie Elsa ist auch dieser Roman, den Astrid Rosenfeld vorlegt. Die Gestalten, die sie beschreibt sind skurril, voller Leben und Lebendigkeit, stellenweise aber auch in ihrer Außergewöhnlichkeit überzeichnet. Alles Schräge und Abseitige versammelt sich auf den wenigen Seiten dieses Romans, angefangen mit der Mutter der beiden Brüder, die vom Leben überfordert den Verstand verliert. Skurrilität und eine Existenz abseits der normalen Gesellschaft ziehen sich wie ein roter Faden durch das Leben von Karl und Lorenz: in der Szene, in der sie sich aufhalten, werden nicht nur Drogen konsumiert, sondern man prügelt sich auch und schläft miteinander, es wird philosophisch schwadroniert und nicht gerade wenig Alkohol getrunken. Das Leben der Brüder Brauer ist so bunt und lebensprall, das Elsa, das Mädchen ihrer Kindheit, fast in Vergessenheit gerät und doch geht sie vor allen Dingen Karl nicht aus dem Kopf. Er krankt an der unerfüllten Liebe zu Elsa, die er nicht vergessen kann, seitdem sich ihre Wangen zum Abschied streiften.

“Nicht Trauer, sondern Ohnmacht übermannte mich. Ein Leben ohne sie überstieg einfach meine Vorstellungskraft. Man kann über die Liebe eines kleinen, dicken Jungen lachen. Aber man sollte es nicht.”

Astrid Rosenfeld ist mit “Elsa Ungeheuer” ein lesenswerter Roman gelungen, der jedoch nicht dieselbe Kraft und denselben Sog entfaltet, wie “Adams Erbe”, das beeindruckende Debüt der Autorin. Sowieso ist es schwer, Romane an ihren Vorgängern zu messen, gerade dann, wenn der Vorgänger ein über alle Maßen berührendes und gelungenes Buch gewesen ist. “Elsa ungeheuer” führt den Leser in ein Welt ein, wie man sie von John Irving kennt: voller Skurrilitäten und Absurditäten. Die Figuren haben jedoch die Tendenz überzeichnet zu erscheinen, es mangelt ihnen an Glaubwürdigkeit, geschweige denn an Identifikationspotential. Karl, die heimliche Hauptfigur, ist viel zu unscheinbar und passiv – ein Mensch, der seine eigenen Pläne für seinen Bruder sterben lässt, von heute auf morgen und ohne zu zögern. Auch Lorenz, der das hehre Ziel hat, die Ewigkeit zu malen, wird so unklar gezeichnet, das er beim Lesen beinahe verschwimmt. Das eigentliche Thema des Romans, die unerfüllte Kindheitsliebe zwischen Elsa und Karl, verbleibt unausgearbeitet und wird irgendwann zu einer Randerscheinung, dabei hat gerade dies Thema doch eigentlich so viel Potential. Elsa, die Karl “Schwert, Schild und Panzer” war und Karl, der sich von einer einmaligen Berührung, ein Streifen der Wangen, nie wieder erholen sollte.

“Elsa Ungeheuer” ist ein lesenswerter Roman, denn die Autorin besticht auch in diesem Roman wieder mit einer wunderbaren Sprachgewalt und Sprachkraft, mit ihrem Wortwitz, mit Poesie und ganz viel Gefühl. Man kann über die Liebe eines kleinen, dicken Jungen lachen. Aber man sollte es nicht. Es ist dieser Satz, der für mich der Kern der Erzählung ist und der darauf hindeutet, mit wie viel Warmherzigkeit Astrid Rosenfeld eine kraftvolle Geschichte erzählt, deren Kraft sich leider nicht immer überall ganz entfalten kann.

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