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Deutschsprachige Literatur

Ausnahmezustand. Reisen in eine beunruhigte Welt – Navid Kermani

Der 1967 geborene Autor Navid Kermani lebt als freier Schriftsteller in Köln. Kermani hat Orientalistik, Philosophie und Theaterwissenschaft studiert und sich im Bereich Islamwissenschaft promoviert und habilitiert. Für seine bisherigen Veröffentlichungen wurde der Autor bereits vielfach ausgezeichnet. Im Jahr 2011 erhielt er den Hannah-Arendt-Preis. Sein Roman “Dein Name”, der im Hanser Literaturverlag erschien, war 2011 für den Buchpreis nominiert. Doch der Autor ist nicht nur für seine Romane bekannt, sondern auch für seine Reportagen und wissenschaftlichen Werke, mit denen er auch immer wieder politisch Stellung bezieht.

Das Buch “Ausnahmezustand”, das den Untertitel Reisen in eine beunruhigte Welt trägt, versammelt Reportagen von Navid Kermani, die in gekürzter Fassung in den letzten Monaten bereits in einigen Zeitungen erschienen sind. Navid Kermani nimmt den Leser mit auf eine Reise, eine Reise durch neun Länder, die ganz unterschiedlich sind, doch eines gemeinsam haben: in ihnen herrscht ein Ausnahmezustand, der die Menschen zur Verzweiflung bringt. Es sind Länder, in die kein Übertragungswagen von CNN fährt, doch Navid Kermani hat sich aufgemacht, um genau diese Schauplätze zu besuchen und in zehn lesenswerten und mitreißenden Reportagen vorzustellen.

Die Reise führt den Leser über Kaschmir und Dehli nach Gujarat, über Pakistan nach Afghanistan, von Teheran nach Syrien, von Palästina nach Lampedusa. Navid Kermani reist als westlicher Beobachter in Länder, in die es nur selten Besucher verschlägt. Die Reportagen von Kermani sind keine nüchternen Kriegsberichterstattungen – dem Autor gelingt es stattdessen, einen ganz persönlichen Blick auf die Länder zu werfen, die er besucht. Seine Beobachtungen erwecken den Eindruck, als würde er die Gebiete, die er bereist, ganz unvoreingenommen bereisen. Offen, fragend und interessiert begegnet er der zivilen Bevölkerung, aber auch den politisch Beteiligten. Kermani beobachtet nicht nur, sondern befragt die betroffene Bevölkerung – es sind vor allem die Zitate der Menschen, die im Ausnahmezustand leben, die das Buch und die Reportagen so beeindruckend und lesenswert machen.

Besonders im Gedächtnis geblieben ist mir Kermanis Reise nach Kaschmir. Kaschmir ist “eine Stadt im Krieg”. Während der Begriff Ausnahmezustand eigentlich einen vorübergehenden und plötzlichen Zustand suggeriert, hat sich Kaschmir bereits seit zwanzig Jahren in diesem Zustand eingerichtet.

“Die Teilung des indischen Subkontinents hat viele Wunden gerissen, eine Million Menschen, die starben, sieben Millionen, die ihre Heimat aufgeben mußten.” 

Aber auch die Reisen nach Afghanistan, über die es zwei Reportagen gibt, sind lesenswert, wenn auch zugleich erschreckend. Darauf deutet bereits der Titel der zweiten Reportage über Afghanistan hin: “Grenzen des Berichtbaren”. Es gibt Grenzen des Berichtbaren, in Afghanistan wird das, worüber berichtet werden kann, zusätzlich durch die Tatsache eingeschränkt, dass weite Teile des Landes so zerklüftet sind, dass sie kaum noch zugänglich sind. Doch Navid Kermani berichtet, er berichtet eindringlich und schmerzhaft von dem, was er sieht und erlebt. Er berichtet über Nur Agha, der auf einem Friedhof lebt. Er hat seine ganze Familie verloren.

“Als der Krieg vor zwanzig Jahren in die Straßen Kabuls schwappte, Kampf um jedes Haus und von den Bergen Raketen, fuhr er nach Jalalabad voraus, um der Familie eine Zuflucht zu besorgen. Nach Kabul zurückgekehrt, um die Familie abzuholen, hatte eine Bombe sein Haus zerstört, die Frau, alle fünf Kinder und eine Schwester tot.”

Kermani reist im September 2012 nach Syrien, besucht Orte, an denen keine fünfhundert Meter entfernt, der Krieg tobt und doch eine beinahe schon erschreckende Normalität herrscht. Auf diese Normalität trifft der Autor auch in Lampedusa, einem italienischen Ort an der Küste, in dem Flüchtlinge ankommen – zum Zeitpunkt der Reportage waren es bereits beinahe 20.000. 20.000 Flüchtlinge in nicht einmal einem Jahr – 20.000 Menschen, die ihr bisheriges Leben aufgeben, um in eine Zukunft zu reisen, von der sie nicht einmal erahnen können, wie diese aussehen wird. Trotz der existenziellen Situationen dieser Flüchtlinge, die Tag für Tag in Lampedusa eintreffen, hat die Stadt den Flair eines Urlaubsortes nicht verloren.

“Auf der ganzen Welt haben die Reichen ihre Methoden verfeinert, mit denen sie die Wirklichkeit aussperren, haben Zäune gebaut, Mauern, Feindbilder, um das Elend nur ja nicht zu sehen, aber daß es ihnen sogar auf Lampedusa gelingt, bei 19 820 Flüchtlingen allein in diesem Jahr und einer Bevölkerung von fünftausend, stellt jede gated community in den Schatten.” 

Beinahe genau so schlimm, wie die Zustände, die Navid Kermani beschreibt, ist die Tatsache, dass all dies in Regionen und Gebieten stattfindet, die von dem Rest der Welt vergessen scheinen. Die Welt kümmert sich nicht mehr um Kaschmir – berichtet wird erst, wenn es zu Anschlägen mit mehr als acht Toten kommt, vorher ist eine Meldung für die Medien weder interessant, noch relevant.

“[…] daß die Welt sich überhaupt nicht um Kaschmir kümmert, sich allenfalls noch dunkel an die Enthauptung eines westlichen Touristen erinnert.”
Navid Kermanis Buch “Ausnahmezustand” versammelt zehn Reportagen, die eindringlicher nicht sein könnten. In klarer Sprache und deutlichen Worten nähert sich Kermani Ländern, die von niemandem sonst mehr bereist werden wollen. Es gelingt ihm, den nüchternen Zahlen, die einem in den Medien präsentiert werden, ein Gesicht zu geben, einen Namen, eine Geschichte und einen Hintergrund. Statt kalt und nüchtern wirken seine Beschreibungen erschreckend authentisch. Auch wenn er die Länder als unvoreingenommener Beobachter und Berichterstatter bereist, scheut er sich nicht davor, auch seine eigenen Überzeugungen zu formulieren.

“Ausnahmezustand” ist ein mutiges Buch, eines mutigen Autors, dem es durch seine eindringlichen Worte hoffentlich gelingen wird, Leser und Leserinnen auf Orte unserer Welt aufmerksam zu machen, die drohen, aus dem öffentlichen Bewusstsein zu verschwinden. “Ausnahmezustand” ist ein politisches Buch, ein wichtiges Buch und gleichsam ein sehr persönliches Buch, dessen Lektüre ich nur empfehlen kann. Eine sehr lesenswerte Besprechung findet ihr auch bei Kai.

Eskimo Limon 9 – Sarah Diehl

Bei Fixpoetry findet ihr heute meine Besprechung zu “Eskimo Limon 9” von Sarah Diehl. Sarah Diehl wirft in “Eskimo Limon 9” einen Blick auf Selbst- und Fremdzuschreibungen und auf die Konstruktion von Identitäten und tut das in einer höchst charmanten und lesenswerten Art und Weise.

Das fremde Meer – Katharina Hartwell

Katharina Hartwell wurde 1984 in Köln geboren. Nach ihrem Abitur folgte ein Studium der Anglistik und Amerikanistik, das sie mit Auszeichnung abschloss. Im Anschluss ging sie an das Deutsche Literaturinstitut nach Leipzig, wo sie seit 2010 studiert. Bisher erschien von der jungen Autorin, die bereits mit Preis und Stipendium dekoriert ist, der Erzählungsband “Im Eisluftballon”. “Das fremde Meer”, dass in diesem Büchersommer im Berlin Verlag erschienen ist, ist ihr erster Roman.

“Unsere Geschichten sind auch die Geschichten unserer Eltern, die Geschichten unserer Großeltern. Selbst wenn wir keine Väter haben oder keine Großeltern, keine Schwestern und keine Brüder, sind die Geschichten dieser Abwesenden auch und vor allem unsere Geschichten.”

Marie und Jan. Jan und Marie. Die Geschichte der beiden bildet die Rahmenerzählung des Romans. Marie ist ein ängstlicher Mensch und gehört zu denjenigen, “die glauben, dass sie sich schützen können, wenn sie mit dem Schlimmsten rechnen”. Sie hat Angst vor Katastrophen, doch glaubt, sich auf sie vorbereiten zu können. Unter ihrem Bett liegt nicht nur Pfefferspray, sondern auch ein Brotmesser und doch ist es die Furcht vor Einbrechern, die Marie nachts wach liegen lässt. Marie ist eine Außenseiterin, nach dem Umzug vom Dorf in die Stadt findet sie keinen Anschluss und keine Freunde. Sie studiert, schreibt ihre Magisterarbeit, beginnt eine Promotion – und doch bleibt sie bei allem, was sie tut, alleine.  Marie erwartet nicht mehr viel vom Leben, doch statt des großen Zusammenbruchs, der im Dunkeln darauf lauert, Marie endlich in die Finger zu kriegen, kommt Jan. Es ist ein Zufall, es ist der Sturz aus einem Paternoster in der Bibliothek, der beide zusammenführen sollte. Doch was zusammengeführt wird, kann auch wieder getrennt werden, denn Marie weiß: “Man kann alles trennen, teilen und spalten, sogar ein Atom.” Die Angst vor Einbrechern wird abgelöst von der Angst, Jan wieder verlieren zu können.

“Ich wünschte, du wärest so klein und leicht, dass ich dich zusammenfalten und bei mir tragen könnte. Ich wüsste sicher, dass du gut verwahrt bist und geschützt vor der Welt. Den Schlag deines stecknadelgroßen Herzens, ich hätte ihn immer im Ohr. Wir wären nie getrennt.”

Marie und Jan. Jan und Marie. Jan, der so anders ist als Marie, so still, so schweigsam und unscheinbar, so, als könnte er jeden Moment verschwinden und sich in Luft auflösen.

“Ich will nicht mit jemandem zusammen sein, den ich nicht kenne, sage ich einmal und halte vor Schreck den Atem an, denn ich möchte ja mit niemandem anderen als dir zusammen sein.”

Von Jan und von der Beziehung zu ihm, kann Marie jedoch nur stückchenweise erzählen, es sind kleine Bröckchen und Häppchen, die dem Leser entgegenstolpern.  Erst am Ende des Buches findet sie Worte für ihre gemeinsame Geschichte.

“Heute Nacht nehme ich dich mit auf eine Reise, auf hundert Reisen nehme ich dich mit, und vielleicht sind wir dorthin unterwegs, wo du noch nie hinwolltest, wo keiner zu Hause sein möchte.”

Es ist die Geschichte ihrer Beziehung, für die Marie nur schwer Worte findet, deshalb erzählt sie sie in neun Varianten. Neunmal von vorne, neunmal wieder auf null, neunmal Neuanfang und Wiederbeginn, neunmal Marie und Jan, – bevor sie in der zehnten Geschichte Worte findet für das, was passiert ist. Es sind neun Märchen, in denen die Motive ihrer Beziehung aufgegriffen, verwandelt, weitererzählt werden. Es sind neun Märchen, die die Geschichte von Jan und Marie erzählen, auch wenn die Figuren Moira und Jonas heißen, Miranda und Julian, Yann und Milan, Mare und Jasper, Jonathan und Muriel.

“Das alles, verstehe ich, wächst aus dieser unerzählten Geschichte, diesem mir unbekannten Verlust, der dich fern von mir hält und mich dir nah sein lässt.”

Die Geschichten führen den Leser in die Wechselstadt, in der ganze Gebäude an andere Plätze gebeamt werden können, doch niemand weiß, was mit den Menschen in diesen Gebäuden geschieht. In die Salpêterie und in den Winterwald, in dem das ganze Jahr über Winter ist. Zum fremden Meer, das Menschen verschluckt und nie wieder hergibt.

“In dem fremden Meer gibt es bloß das Fremde. Das, was keinen Namen hat und nur des Nachts und nur im Dunkeln aus den Fluten steigt.”

Der Leser wird an Bord eines Luftschiffts geführt und auf das Deck der Evicon 23, einem Schiff, auf dem es keine Menschen gibt, sondern nur noch körperlose Hüllen. Und in einen Zirkus, in dem der Ghostboy auftritt und Abend für Abend zum Vergnügen der Zuschauer stirbt. Die Geschichten sind fantastisch, doch in all ihrer Fantastik greifen sie Bilder und Motive der Rahmengeschichte auf, der Geschichte von Jan und Marie, um die herum sich das ganze Buch spinnt. Es ist eine Liebesgeschichte, doch fast jede Liebesgeschichte hat auch ihre Schattenseiten.

“Und dann, die Liebe. […] Nichts daran ist nett, daran ist nichts Pralinen und Rosen und zuversichtliches Händchenhalten. Falls rote Herzen, dann nur solche, die zu schnell schlagen und zu laut, solche, die uns von innen her zu sprengen drohen, über deren Klopfen und Pochen wir uns selbst nicht mehr denken hören können.”

Ich könnte immer so weiter schreiben und schreiben über diese wunderbare Geschichte, über diese wunderschön erzählten neun Geschichten, zu denen zwangsläufig noch eine zehnte gehören muss. Katharina Hartwell erzählt ihren Roman mit ganz leisen und zarten Tönen und schreibt sich mit ihren Worten direkt hinein in das Herz des Lesers.

“Das Fremde Meer” ist einer der ungewöhnlichsten Romane, die ich in den vergangenen Jahren gelesen habe. Ein Stück weit verweigert er sich jeglicher Kategorisierung. Die Geschichten sind fantastisch, die Liebe zwischen Jan und Marie ist es jedoch nicht – es gibt sie wirklich. So gehört das Buch zu einem der großartigsten und ungewöhnlichsten Liebesromanen, den ich seit langem gelesen habe. Bei all seiner Ungewöhnlichkeit ist der Roman vor allen Dingen auch mutig, denn die Konstruktion des Buches ist sicherlich ein Exemperiment, ein Wagnis, das auch scheitern kann. In diesem Fall kann man von einem Scheitern jedoch nicht sprechen, denn dieser Roman ist herrlich erfrischend, weil so anders, als vieles andere, was man heutzutage in den Buchhandlungen ausliegen sieht.  Katharina Hartwell ist mit ihrem Debütroman ein tragischer Roman gelungen, den ich mit einem Kloß im Hals und Tränen in den Augenwinkeln zuklappe, in dem ich mich jedoch auch warm und geborgen gefühlt habe.

Das Buch liegt immer noch hier auf meinem Nachttisch, die zahllosen Post-its werfen einen bunten Schatten. Ich nehme es immer noch gerne in die Hand, blättere hindurch und versinke in der Welt der Worte. Es sind wunderschöne, zarte und hochpoetische Worte. Es sind Worte, die ich am liebsten einstecken und unter meiner Jacke verschwinden lassen würde, um sie bei mir tragen zu können, so wie es an einer Stelle im Buch, einer der Figuren von Katharina Hartwell formuliert:

“[…] und möchte jedes einzelne der acht Wörter einstecken, möchte es unter seiner Jacke verschwinden lassen und dicht bei sich tragen, um es jederzeit wieder hervorholen zu können, um es an sein Ohr zu halten und sich die Worte durch den Schädel rauschen zu lassen, so lange und so oft, bis er ihren Klang immer in sich trägt.”

Schneckenmühle – Jochen Schmidt

Jochen Schmidt wurde 1970 in Berlin geboren und arbeitet heutzutage als Autor und Journalist. Er schreibt unter anderem für die Süddeutsche Zeitung und die taz und veröffentlichte zuletzt “Schmidt liest Proust” und “Dudenbrooks”. “Schneckenmühle” ist seine neueste Veröffentlichung und erschien in diesem Frühjahr im C.H.Beck Verlag.

Jens ist vierzehn Jahre alt und darf zum letzten Mal in das sächsische Ferienlager Schneckenmühle mitfahren. Es ist der Sommer 1989; die DDR gibt es noch, doch es wird deutlich, dass in diesem Sommer nicht nur die Kindheit von Jens zu Ende geht, sondern auch der Staat, in dem  er lebt.

“Es ist etwas, was ich überall beobachte, das Leben wird immer schwieriger und anstrengender.”

Schneckenmühle ist ein Ferienlager im sächsischen Mittelgebirge und für Jens ist der Aufenthalt dort beinahe wie der Besuch in einer anderen Welt. Er erlebt dort Dinge, von denen seine Eltern und seine älteren Brüder keine Ahnung haben. Es ist für Jens die letzte Verschnaufpause auf einem Weg, der ihm sicher und unausweichlich vorgezeichnet erscheint. Noch vier Jahre zur Schule gehen und danach in die Armee, anschließend “muß man studieren”, auch wenn Jens noch keine Idee davon hat, was er eigentlich studieren möchte.

“Irgendwie wird sich bis dahin herausstellen, wofür ich mich interessiere, bis jetzt ja eigentlich nur für Fernsehen und Geschenke auspacken.”

In Schneckenmühle spielt Jens mit den anderen Jungs Skat, hat aber immer Angst davor, mit Mischen dran zu sein, denn er mischt noch wie ein Kind – nach der Methode von Oma Rakete. Auch die Mädchen werden natürlich immer interessanter und wichtiger, doch Jens hat Angst davor zu tanzen. Wenn die Musik einsetzt, weiß er sich einfach nicht zu helfen – was soll man denn nur mit diesen ganzen Körperteilen anstellen und wie machen das die anderen? Jens tanzt zwar in diesem Sommer nicht, aber dafür fährt er zum ersten Mal Auto und das mit gerade einmal vierzehn Jahren. Aber wem soll man das erzählen können? Von den politischen Veränderungen in Deutschland bekommt man im Ferienlager wenig mit, auch wenn die Betreuer des Ferienlagers sich einer nach dem anderen auf und davon machen – über die Grenze und in den Westen.

“Ich hatte das Gefühl, daß meine Eltern gar nicht wußten, wer ich war, weil sie die letzten Wochen nicht miterlebt hatten. Es hatte gar keinen Sinn, ihnen davon zu erzählen, weil es nicht möglich war, alles genau so zu beschreiben, wie es gewesen war.”

Als sich Jens mit Peggy, dem einzigen Mädchen im Ferienlager, das aus Sachsen stammt und komisch spricht, anfreundet, spitzt sich die Entwicklung langsam zu und gipfelt in einem beinahe schon surrealistischen Höhepunkt, den Jens als Bruch empfindet. Als Wende der Kindheit, in der sich die politische Wende, die es wenig später geben sollte, spiegelt. Es ist das Ende der Kindheit, das Ende der Unschuld und eine Zeit, über die Jens nur schwer sprechen kann. Er hat zu viel ohne seine Eltern erlebt, um das Erlebte noch teilen zu können. In Schneckenmühle hat er seine ersten Schritte gemacht in ein Leben als Jugendlicher und wurde gleichzeitig vertrieben, vertrieben aus der eigenen Kindheit. Dass er auch aus dem Leben vertrieben wird, das er bis dahin kannte, wird Jens erst sehr viel später bewusst werden …

“Es ist so traurig, daß mich zu Hause keiner versteht, sie wissen ja nicht mal, daß ich Auto fahren kann.”

Jochen Schmidt hat seinen Roman “Schneckenmühle”, der 220 Seiten schmal ist, in drei Abschnitte und 35 Kapitel eingeteilt. Die häufig kurzen Passagen erinnern an Erinnerungssplitter. Die Splitter folgen keiner Chronologie, sondern Jens springt in seiner Erzählung zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit hin und her. Zu Beginn ist es nicht immer ganz einfach, diesem wechselhaften Gedankenstrom zu folgen, doch mit der Zeit ist es mir gelungen, mich in den Tonfall und die Gedankenwelt von Jens hineinzulesen. Jens ist ein sympathisches Kind, das für seine vierzehn Jahre – vor allem auch im Vergleich zu der heutigen Generation – noch sehr naiv und unschuldig erscheint. Er ist nachdenklich und betrachtet die Welt aus einem ganz besonderen Blickwinkel. Vieles, über das er sich ernsthafte Gedanken macht, wirkt beim Lesen eher belustigend und lädt dadurch zum Schmunzeln ein.

“Schneckenmühle” hat mich an Klaus Modicks Roman “Klack” erinnert, auch wenn die Bücher zu unterschiedlichen Zeiten spielen. Beide Bücher sind Erinnerungsbücher, dank denen man zurückreisen kann in die Vergangenheit. Jochen Schmidt beschreibt eine Vergangenheit, die ich selbst nicht erlebt habe, die aber durch die Erlebnisse von Jens plastisch und begreifbar wird. Besonders gelungen ist dabei die Verschränkung von persönlicher und politischer Geschichte. Jens ist noch zu unwissend und zu verhaftet in seiner kindlichen Welt, um die politischen Hinweise und Andeutungen, über die er im Ferienlager stolpert, zusammenzusetzen zu können, doch als Leser begreift man bereits ein bisschen mehr von dem, was in diesem Sommer geschieht.

“Schneckenmühle” ist eine Reise in die Vergangenheit und ein Roman, der durch eine Vielzahl an Erinnerungssplittern tiefe Einblicke in die damalige DDR gibt. Jochen Schmidt ist ein lesenswerter Roman gelungen. “Schneckenmühle” ist ein Roman für Menschen, die selbst in der DDR aufgewachsen sind und sich mithilfe dieses Buches zurückerinnern können, aber das Buch ist auch für jüngere Menschen geeignet, die Interesse daran haben, sich mit der Gegenwartgeschichte auseinanderzusetzen. “Schneckenmühle” ist ein wunderbar geschriebener Roman, der in meinen Augen aus den jährlichen Neuerscheinungen deutschsprachiger Autoren und Autorinnen heraus sticht und viele Leser verdient hat!

5 Fragen an Zdenka Becker!

3.

© Alexandra Einzinger

Zdenka Becker wurde 1951 in Eger geboren. Die Autorin ist in Bratislava aufgewachsen, wohnt aber seit den siebziger Jahren in Österreich. Sie schreibt in deutscher Sprache und hat bereits einige Bücher veröffentlicht, für die sie mit Preisen und Stipendien ausgezeichnet wurde. “Der größte Fall meines Vaters” ist ihre neueste Veröffentlichung und im Frühjahr im Deuticke Verlag erschienen.

1.)    Warum wollten Sie Schriftstellerin werden?

Ich erzähle gern Geschichten und weil ich sie nicht jedem einzelnen persönlich erzählen kann, schreibe ich sie auf. Daraus hat sich der Beruf ergeben.

2.)    Gibt es einen Schriftsteller oder einen Künstler, der Sie auf Ihrem Weg besonders inspiriert hat?

Es waren in verschiedenen Lebensetappen sehr viele. Zuerst Märchenerzähler, dann Jugendautoren, später Romanschriftsteller und Dramatiker. Und ich staune immer wieder, wenn ich neue Autoren entdecke, die so fesselnd schreiben, dass ich das Buch in einem Zug durchlesen muss. Milan Kundera, Ján Johanides, Dominik Tatarka, Philip Roth, Siri Hustvedt… die Liste wäre lang.

3.)    Wann und wo schreiben Sie am liebsten?

Meistens schreibe ich am Vormittag am Schreibtisch, aber ich liebe auch das Schreiben im Garten unter unserem Nussbaum, auf der Couch oder im Bett. Das einzige, was ich brauche, ist gutes Licht und Ruhe.

4.)    Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen?

“Böse Schafe” von Katja Lange-Müller.

5.)    Was würden Sie einem jungen Schriftsteller raten?

Lesen, schreiben, verschiedenes ausprobieren. Und vor allem: keine Angst vor dem weißen Blatt Papier.

Herzlichen Dank an die Autorin für das Beantworten meiner 5 Fragen

Der größte Fall meines Vaters – Zdenka Becker

Zdenka Becker wurde 1951 in Eger geboren. Die Autorin ist in Bratislava aufgewachsen, wohnt aber seit den siebziger Jahren in Österreich. Sie schreibt in deutscher Sprache und hat bereits einige Bücher veröffentlicht, für die sie mit Preisen und Stipendien ausgezeichnet wurde. “Der größte Fall meines Vaters” ist ihre neueste Veröffentlichung und im Frühjahr im Deuticke Verlag erschienen.

“Mein Papa ist jemand. Mein Papa war jemand. Er war Polizeipräsident, jemand, der es gewohnt war, dass ihm die Menschen Respekt entgegenbringen. Mein Vater, Teodor Mudroch trug zeit seines Lebens, zuerst als Leutnant, Oberleutnant und Kapitän, am Ende seiner Laufbahn als Major, Oberst und Landespolizeipräsident, eine unsichtbare Uniform. Aber seit er im Rollstuhl sitzt, braucht er die richtige, die ihm die fehlende Würde verleiht.”  

Laras Vater ist mittlerweile neunzig Jahre alt und die Last des Alters lässt den Mann, der früher Polizeipräsident gewesen ist, eine gebückte Haltung  einnehmen. Seit zwei Jahren kann der Vater nicht mehr gehen, abgesehen von kurzen Strecken. Er sitzt im Rollstuhl. Mit viel Liebe und Geduld pflegt die Tochter ihren gealterten Vater. Jeden Samstag besucht sie ihn und badet ihn, manchmal fahren sie gemeinsam zum Friedhof, um die verstorbene Mutter zu besuchen.

“Wenn man mir vor Jahren gesagt hätte, dass ich meinen Vater eines Tages wie ein kleines Kind behandeln würde, hätte ich ihn ausgelacht. Heute ist es für mich die normalste Sache der Welt, ihn im Rollstuhl zu fahren, ihn zu füttern und zu baden. So wie meine Eltern mich in der Kindheit mit dem Kinderwagen spazieren fuhren, mich fütterten und badeten, so fahre ich ihn spazieren, füttere und bade ihn.”

Trotz der eingeschränkten Mobilität, geht dem Vater immer noch vieles durch den Kopf; es gibt vieles, das ihn beschäftigt und umtreibt – aber auch da ist er zunehmend auf die Hilfe anderer angewiesen. Von seiner Tochter, die Schriftstellerin ist und gerade an ihrem neuen Buch arbeitet, wünscht sich der Vater, dass sie doch einmal etwas “Vernünftiges” schreibe: “Schreib über mein Leben als Polizist. […] Schreib einmal etwas über einen echten Kriminalfall. Ich werde dir dabei helfen.” Lara soll für ihn so etwas wie eine Gedankenstütze sein und die Erinnerungen des Vaters sortieren, festhalten und zu Papier bringen. Lara ist von dieser Idee zunächst nicht begeistert, doch ihr Vater ist so, wie er immer gewesen ist: hartnäckig. Und irgendwann kann sich die Tochter seinen Erzählungen und Erinnerungen nicht mehr entziehen.

Teodor Mudroch erzählt seiner Tochter von seinem wichtigsten Fall, von dem Fall, der der einzige Mordfall seiner Karriere seien sollte. Er erzählt und erzählt und Lara stolpert durch die Erinnerungen ihrer Kindheit. Schon damals hat sie den Fall mitverfolgt – trotz ihres jungen Alters. Sie hat heimlich in den Ermittlungsakten gelesen und in den Unterlagen ihres Vaters gestöbert. Doch das Geschehen, das längst Jahrzehnte zurückliegt, hat sie damals lediglich aus einer kindlichen Perspektive wahrgenommen, aus einem eingeschränkten Blickwinkel. Durch die Erzählungen ihres Vaters setzt sie nun fehlende Puzzleteilchen zusammen und bekommt zum ersten Mal einen wirklich Überblick über das, was damals geschehen ist, über den Fall, der ihre Familie fast zerstören sollte.

“Mein Bruder nannte ihn den Winter der Katastrophen – die Morde, Vaters Unfall, die Ehekrise der Eltern und schließlich mein Nervenzusammenbruch.”

Die Geschichte, die Zdenka Becker erzählt, spielt in der damaligen Tschechoslowakei. Am 6. Dezember 1964 wird in der Toilette eines Schnellzuges ein abgetrennter männlicher Kopf in einem Jutebeutel gefunden. Als man herausfindet, wer der Tote gewesen ist – ein gewisser Lukás Podhajský – gerät schnell seine Lebensgefährtin Irma Sládeková unter Verdacht. Teodor Mudroch ermittelt und muss feststellen, dass die rätselhafte Verdächtige mehr verbirgt, als er sich je hätte vorstellen können.

Zdenka Beckers Romanhandlung ist an einen Kriminalfall angelehnt, den es wirklich gegeben hat, die Rahmenhandlung ist jedoch fiktiv. Diese Mischung sorgt für ein spannendes und aufregendes Leseerlebnis. “Der größte Fall meines Vaters” zeichnet sich dabei vor allen Dingen durch eine ungeheure Vielfältigkeit aus: hinter dem Titel verbirgt sich nicht nur ein spannender Kriminalfall, sondern auch eine berührende Vater-Tochter-Geschichte. Für jeden Leser kann der Text dadurch ganz unterschiedliche Anknüpfungspunkte bieten. Ein zentrales Thema ist darüber hinaus auch die Frage, warum Frauen ihre Männer ermorden. Was macht Ehefrauen zu Täterinnen und inwiefern unterscheiden sie sich von männlichen Tätern?

“Warum hat sie sich nicht wie Millionen anderer Frauen einfach scheiden lassen? Hat sie ihre Männer nur deswegen umgebracht, weil sie eine ehrbare Frau bleiben wollte? Das kann doch passieren, dass man sich in den Falschen verliebt oder dass sich die Liebe irgendwann verabschiedet. Warum verharren Frauen in Beziehungen mit schlagenden Ehemännern? Und warum bringen sie sie manchmal um?”

Der Fall, der in Zdenka Beckers Buch beschrieben wird, liegt mehr als fünfzig Jahre zurück. Das Phänomen der Männer mordenden Ehefrau gibt es jedoch immer noch. Auch die Wissenschaft beschäftigt die Frage nach der Motivlage von weiblichen Täterinnen.

In “Der größte Fall meines Vaters” erzählt Zdenka Becker eine wunderbare Vater-Tochter-Geschichte, die den Leser nicht nur berührt, sondern die dabei auch zu unterhalten weiß. Zdenka Becker gelingt es flüssig und mitreißend zu erzählen, ihr Ton ist dabei häufig humorvoll, es fehlt aber auch nicht an Liebe und Warmherzigkeit. Für mich ist “Der größte Fall meines Vaters” nicht nur eine der Entdeckungen dieses Bücherfrühjahrs, sondern eine rundum gelungene Mischungen aus Kriminalroman und Familiengeschichte!

Der Komet – Hannes Stein

Hannes Stein wurde 1965 in München geboren und arbeitet heutzutage als Autor und Journalist. Er ist in Österreich aufgewachsen, lebt jedoch seit einigen Jahren in Amerika. Als Journalist ist er für unterschiedliche Medien tätig, unter anderem für die Literarische Welt. Sein Roman “Der Komet” wurde in diesem Frühjahr im Galiani Berlin Verlag veröffentlicht.

Die Welt wie wir sie kennen und die Geschichtsschreibung der letzten 100 Jahre werden in Hannes Steins Roman “Der Komet” auf den Kopf gestellt. “I bin doch ned deppat, i fohr wieder z’haus” ist der entscheidende Satz des Romans. Gesprochen wird er von Franz Ferdinand, der sich entscheidet, rechtzeitig aus Sarajewo abzureisen und damit dem geplanten Attentat auf ihn entgeht. Was folgt daraus? Der Erste Weltkrieg fällt aus und auch der Zweite Weltkrieg findet nicht statt. Den Holocaust gibt es nicht und Auschwitz geht nicht als Ort des Schreckens in die Geschichte ein, sondern die polnische Stadt ist lediglich ein Bahnknotenpunkt. Wien wird zur Welthauptstadt und statt Coca Cola trinken die Menschen Almdudler. Anglizismen sind verpönt und Amerika ein Dorf voller zurückgebliebener Hinterwäldler, einen Mondflug hat das Land natürlich auch nie zu Stande bringen können.

“Amerika war ein wüstes weites freies Land, wo jeder Bürger nicht nur das Stimmrecht besaß, sondern eine Waffe besitzen durfte. […] nur eine Kultur hatten sie dort drüben selbstverständlich nicht. Aber daraus konnte man den Amerikanern keinen Vorwurf machen, schließlich hatten sie keinen Victor Léon, keinen Eric Charell, keinen Oskar Hammerstein, der ihnen leichtfüßige Operetten geschrieben hätte […].”

Mit viel Liebe zum Detail entwirft Hannes Stein ein faszinierendes Szenario: er beschreibt eine Welt, wie sie ohne die Schrecken zweier unfassbarer Kriege hätte sein können. Er beschreibt eine Welt, in der Stefan Zweig in den sechziger Jahren als alter Mann in Salzburg stirbt und sich nicht dazu gezwungen sieht, sich 1942 das Leben zu nehmen. Er beschreibt eine Welt, in der Anne Frank nicht als junges Mädchen im Konzentrationslager stirbt, sondern stattdessen eine berühmte Schriftstellerin wird und sogar den Literaturnobelpreis erhält. Eine Welt, in der Deutschland von Peenemünde aus die ersten Raketen auf den Mond schickt und diesen gleich kolonialisiert. Dort oben stirbt Albert Einstein an einem Aneurysma und wird auf dem Mond beerdigt.

“Die Deutschen hatten also einen alten Menschheitstraum wahr gemacht, waren als Pioniere zum Mond geflogen und hatten ihn danach mit preußischer Gründlichkeit in Beschlag genommen und kolonisiert […].”

Der Roman von Hannes Stein hat keine Hauptfigur, sondern heftet sich sich an die Fersen von ganz unterschiedlichen Personen und folgt deren Spuren. Da gibt es zum einen den jungen Mann Alexej von Repin, der noch nie mit einer Frau zusammen gewesen ist und sich rettungslos in Barbara Gottlieb verliebt, eine grande dame der Gesellschaft.

“Alexej war hässlich (“schiech” sagen die Österreicher). Sein Haar lockte sich dünn und rötlich über der Stirn, im Gesicht störte ihn empfindlich das Fehlen eines Kinns, sein Mund war viel zu schmal; er hatte eine Hühnerbrust und war ein wenig verwachsen.”

Barbara und Alexej beginnen eine romantische Affäre, just zu dem Zeitpunkt, als sich Barbaras Mann David, der von allen nur Dudu genannt wird, auf dem Mond aufhält. Denn trotz der ausgebliebenen Kriege und der spürbaren Harmonie, droht der Welt eine Katastrophe: ein Komet bewegt sich auf die Erde zu, auf einer Flugbahn, die nicht verändert oder beeinflusst werden kann. Wenn der Komet auf die Erde trifft, ist ein Ende der Welt unausweichlich. Dudu erfährt auf dem Mond als einer der ersten von diesem drohenden Weltuntergangsszenario. Diese beiden Handlungsfäden – die Affäre zwischen Barbara und Alexej und der immer näher kommende Komet – bilden das Grundgerüst der Erzählung.

Doch wichtiger als die Handlung des Romans, sind die detaillierten Beschreibung der neuen Welt, wie sie Hannes Stein in “Der Komet” entwirft. Es ist eine Welt, wie sie hätte sein können. Eine Welt, in der nicht viel an das erinnert, was in Wirklichkeit geschehen ist und im Rückblick das 20. Jahrhundert prägen sollte. “Stacheldraht” und “Panzer” sind Begriffe, die mit der Welt, die Hannes Stein beschreibt, nichts zu tun haben und doch tauchen sie immer wieder auf. Sie tauchen auf in den Träumen eines Patienten.

“‘Im Traum habe ich geglaubt: Was dort angerichtet worden ist, das kann kein Mensch wiedergutmachen. Und Gott auch nicht’, sagte August Biehlolawek.”

August Biehlolawek lässt sich von dem berühmten Analytiker Dr. Anton Wohlleben behandeln. Der Mann wird von furchtbaren Albträumen gequält, von Albträumen, in denen er Panzer sieht, Leichenberge, Stacheldraht. Die Träume dieses Mannes sind so ungewöhnlich, dass Dr. Wohlleben die Vokabel “Stacheldraht” erst einmal nachschlagen muss.

“Dies klang nach etwas aus einem utopischen Roman von H. G. Wells (aber in seinem berühmten Krieg der Welten hatte Anton Wohlleben nachgesehen und nichts Vergleichbares gefunden).”

Für den Psychoanalytiker sind die Träume seines Patienten unvorstellbar, es ist unvorstellbar für ihn, dass Deutschland die Verbrechen verüben könnte, von denen August Biehlolawek Nacht für Nacht träumt.

“Ein Volk, das solche Genies, solche Musik hervorgebracht hat, wäre doch zu einer echten Bestialität gar nicht fähig.” 

Die Geschichte, die Hannes Stein erzählt, spielt im Jahr 2000 – dennoch glaubt man beim Lesen immer wieder, dass man sich noch mitten im vorherigen Jahrhundert befinden könnte. Die Welt hat sich ganz anders entwickelt, als sie uns heutzutage bekannt ist, doch alles, was Hannes Stein beschreibt, ist an reale Ereignisse und Figuren angelehnt, an technische Innovationen und künstlerische Entwicklungen, die alle auch in eine andere Richtung hätten laufen können, wenn … ja, möglicherweise wenn Franz Ferdinand in Sarajewo rechtzeitig abgereist wäre. Ist die Geschichte der Welt, die Geschichte der letzten 100 Jahre also vielleicht einfach nur ein Zufall? Ein Zufall, der von einer einzigen Person abhängen kann? Beruht die Entwicklung der Menschheit also lediglich auf Zufällen und anders geartete Zufälle hätten uns in eine andere Welt geführt, möglicherweise in eine Welt, wie sie Hannes Stein beschreibt? Kann das wirklich sein? Oder gehören – neben dem Zufall – nicht auch noch andere Faktoren zu der Geschichtsschreibung dazu?

Hannes Stein ist mit “Der Komet” ein spannendes Gedankenexperiment gelungen. Er beschreibt die Welt, wie sie hätte sein können – es ist eine harmonische Welt, in der die Menschen friedlich zusammenleben können. “Der Komet” ist ein witziges und unterhaltsames Buch, voller skurriler Ideen. Es ist aber auch ein trauriges und bedrückendes Buch, da es schmerzlich bewusst macht, wie unsere Welt auch hätte werden können.

Eine etwas weniger euphorische Besprechung findet ihr bei Mariki im Bücherwurmloch.

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