Browsing Category

Deutschsprachige Literatur

Wünsche – Judith Kuckart

kuckart_wuenscheJudith Kuckart wurde 1959 in Schwelm geboren und lebt heutzutage in Berlin und Zürich. Sie ist als Autorin und Regisseurin tätig. Von Judith Kuckart, die mehrfach mit Literaturpreisen ausgezeichnet wurde, erschien zuletzt der Roman “Die Verdächtige”. Der Roman “Wünsche”, der in diesem Frühjahr im Dumont Verlag erschien, ist ihre neueste Veröffentlichung.

Judith Kuckart erzählt in ihrem Roman “Wünsche” die Geschichte von Vera. Vera arbeitet als Lehrerin und unterrichtet an der Berufsschule die Maler- und Lackiererklasse, manchmal auch die Installateure, Maurer und Schreiner. Sie lebt zusammen mit ihrem Mann Karatsch und dem gemeinsamen Sohn Jo. Karatsch heißt eigentlich Kreitel, Franz-Josef Kreitel, aber alle nennen ihn Karatsch. Jo ist neunzehn und studiert ab dem kommenden Semester Schiffbautechnik in Kiel. Vera und Karatsch führen auf den ersten Blick eine normale Ehe, erst auf den zweiten Blick fällt auf, dass Vera zwanzig Jahre jünger ist. Karatsch war ihr Pflegevater, bevor er nach dem Tod seiner Frau Suse zu ihrem Ehemann geworden ist. Eine seltsame Verbindung, ein seltsames Verhältnis; etwas, was jedoch nie thematisiert wird.

“Ja, die Zeit vergeht, der Film bleibt, und Karatsch ist wirklich ein Schwein. Den alten Film schaut er so inbrünstig an, weil er noch immer die Tochter Vera liebt, nicht seine Frau Vera. Wenn er mit ihr schläft, betrügt er Vera mit der Vera von früher, mit jenem mageren, hübschen, räudigen kleine Ding, das sie einmal war.”

Der spürbar feine und geschliffene Ton von Judith Kuckart Erzählstrom setzt am Silvestermorgen ein. An Silvester hat Vera Geburtstag – in diesem Jahr wird sie 46 Jahre alt. An Silvester laden Vera und Karatsch Freunde ein, immer dieselben Menschen, immer derselbe Ablauf, immer der gleiche  Film, den sie sich gemeinsam anschauen. Doch an diesem Silvestermorgen soll alles anders werden; Vera geht schwimmen und kehrt nicht mehr nach Hause zurück.

“Wie man es schaffen kann, dass man gern lebt, bis zum Schluss.”

Vera hat Erwartungen, Vorstellungen, Wünsche – sie möchte nicht immer den gleichen Trott erleben, sie wünscht sich Abwechslung. “So uralt wie das Bild, das Karatsch von ihr hat, kann sie eh nicht mehr werden.” Im Schwimmbad lässt sich Vera den Schrank einer anderen Besucherin aufschließen. Sie schlüpft nicht nur in fremde Kleidung, sondern auch in ein fremdes Leben; zieht dieses über, wie eine zweite Haut. Mit ihrem neuen Namen, Salomé Schreiner, reist Vera nach London. Kann sie in London endlich heraus finden, wer sie eigentlich ist und was sie vom Leben möchte? Kann sie in London endlich wieder anfangen zu leben und aufhören, sich selbst beim Älterwerden zuzuschauen?

“Und ebenfalls ab heute gilt: Es werden keine alten Filme mehr angeschaut, sondern ein neuer wird gedreht. Regie, Kamera, Hauptdarstellerin: ICH. Location: London. Verwendbares Material: das Gefühl des Augenblicks.”

Zeitgleich zu Veras Flucht nach London erfüllt sich Friedrich Wünsche einen Wunschtraum: er wagt mit fünfundvierzig Jahren einen Neuanfang und eröffnet das Warenhaus Wünsche. Seine Geschäftsidee ist es, mit Haus Wünsche zu dem Konzept der alten Tante-Emma-Läden zurückzukehren, doch gleichzeitig modernstes Management zu betreiben. Friedrich Wünsche wagt ein Risiko, denn ein Erfolg ist nicht garantiert.

Judith Kuckart legt mit “Wünsche” einen klug komponierten Roman vor. Insgesamt konzentriert sich die Autorin auf die Lebensverläufe von sechs Figuren, die im ersten und dritten Abschnitt gemeinsam betrachtet werden und denen im Mittelteil – einer Nahaufnahme ähnlich –  jeweils ein eigenes Kapitel geschenkt wird. Die Lebensverläufe der Figuren sind eng verknüpft und stellenweise schon fast auf magische Art und Weise verbunden. Es kommt so Begegnungen und Wiederbegegnungen; die Wege kreuzen sich.

Der Roman widmet sich auf knapp 300 Seiten mehreren Themen. Das Hauptthema klingt bereits im Titel an: es geht um Wünsche, um die Erfüllung von Wünschen und darum, wie sich ein wunschloses Leben anfühlt, in dem die Wünsche unter der Last des Alltags abgestorben sind. Gleichzeitig geht es um das Alter, das Älterwerden und darum, wie man damit umgehen kann. Karatsch resigniert an seinem Alter, das ihn zunehmend einschränkt. Vera möchte nicht alt werden, möchte die Jahre, die ihr verloren gegangen sind wieder einfangen und neu leben können. Doch die Erfüllung von Wünschen bedeutet häufig auch, dass man Mut haben muss, dass man etwas wagen muss, dass man sich trauen muss, etwas zu tun, auch wenn es das Risiko gibt, alles dabei zu verlieren. Das Verfolgen der eigenen Vorstellungen gleicht einem Verzicht auf Sicherheit und Geborgenheit – ist man bereit, dies aufzugeben?

“Denn Geborgenheit war auch Glück. Im Glück oder in der Geborgenheit eines kleines Lebens […].”

Auch das Leben in der Provinz wird in Judith Kuckarts Roman thematisiert. Vera lebt in einer Stadt, die so klein ist, “dass man sich immer zweimal am Tag traf.” Ein Leben in der Provinz führt dazu, dass man sich nicht verstecken kann, man wird  gesehen und nichts bleibt unbeobachtet. Jeder kennt jeden und alles bleibt gleich, in der Provinz kann man nur derjenige sein, der man immer gewesen ist und den alle kennen. Wer versucht, aus diesen Strukturen auszubrechen, bleibt häufig alleine zurück.

“In der Provinz zu leben ist wie Warten. Provinz liegt außerhalb der Zeit, nichts ändert sich, alles bleibt gleich und noch dazu im Schatten.”

Der Erzählton des Romans ist fein und geschliffen. Viele der Sätze von Judith Kuckart sind kleine Miniaturkunstwerke, denen jedoch stellenweise die Verbindung miteinander fehlt. Trotz aller Kunstfertigkeit ist die Sprache nicht unbedingt poetisch, sondern unterkühlt und nüchtern. Die Figurenzeichnung bleibt dabei manchmal auf der Strecke, denn trotz des intensiven Blicks, den Judith Kuckart auf ihre Figuren richtet, bleiben mir diese doch seltsam fremd und konturenlos.

Dennoch habe ich den Roman als lesenswert empfunden, denn die sprachlichen Bilder sind ein Lesegenuss und auch die Motive, die Judith Kuckart in ihrem Roman thematisiert, sind eindrucksvoll und es wert, darüber nachzudenken. Judith Kuckart erinnert in diesem Roman weniger an eine Autorin, als an eine Regisseurin, die Szenen erschafft, die kleinen Kunstwerken gleichen, denen jedoch ein verbindendes Element fehlt. “Wünsche” ist ein Roman, der mich zwiespältig zurückgelassen hat. Es ist ein sperriger Roman, aber es lohnt sich, sich mit diesem Text zu beschäftigen.

5 Fragen an Björn Bicker!

© Stephanie Füssenich

© Stephanie Füssenich

Björn Bicker wurde 1972 geboren und hat Literaturwissenschaft, Philosophie und Allgemeine Rhetorik in Tübingen und Wien studiert. Nach Stationen am Wiener Burgtheater und den Münchener Kammerspielen, arbeitet Björn Bicker seit 2009 als freier Autor, Projektentwickler und Kurator. Im selben Jahr erschien im Verlag Antje Kunstmann sein Debütroman “Illegal”. Der Autor lebt heutzutage in München und hat in diesem Frühjahr mit “Was wir erben” seinen zweiten Roman vorgelegt. Der Autor betreibt eine eigene Homepage.

1.)    Warum wollten Sie Schriftsteller werden?

Unter der (Berufs)bezeichnung Schriftsteller kann ich mir bis heute nichts richtiges vorstellen. Schriftsteller sind immer die anderen, die klugen, die konzentrierten, die, die den ganzen Tag am Schreibtisch sitzen und Wörter drehen.  Und durchgewetzte Ellenbogen haben. Aber ich doch nicht. Mittlerweile habe ich eine ganze Menge Theatertexte geschrieben, zwei Bücher, Hörspiele und Essays . Wahrscheinlich bin ich jetzt auch ein Schriftsteller. Aber wenn ich auf dem Amt in ein Formular schreiben soll, was mein Beruf ist, dann schreibe ich immer Autor. Niemals würde ich Schriftsteller schreiben. Warum eigentlich?

2.)    Gibt es einen Schriftsteller oder einen Künstler, der Sie auf Ihrem Weg besonders inspiriert hat?

Da gibt es viele. Wenn ich einen oder eine herausheben würde, wäre das falsch. Es sind so viele. Künstler, Schriftsteller, Theaterleute. Die letzten Jahre inspiriert mich am allermeisten die Wirklichkeit jenseits von Kunst und Literatur. Ich habe das große Glück am Theater immer wieder sogenannte Stadtprojekte machen zu dürfen. Dabei geht es meistens darum, politische und soziale Themen künstlerisch aufzubereiten und dabei stürzen meistens sämtliche Grenzen zwischen Kunst und Politik und Sozialarbeit ein. Das ist inspirierend. Für die Kunst. Und fürs Leben.

3.)    Wann und wo schreiben Sie am liebsten?

Ich schreibe entweder in meinem Büro. Alleine. Oder an einem Tisch in einer großen Bibliothek. Umgeben von Studenten, Wissenschaftlern und Verrückten. Ich sitze meistens oberhalb der Theologischen Wörterbücher. Neben mir in den Regalen Rechtswissenschaften.

4.)    Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen?

Teju Cole. Open City.

5.)    Was würden Sie einem jungen Schriftsteller raten?

Schreiben, schreiben, schreiben. Viel erleben. Über sich selbst nachdenken. Mutig sein. Sich vor allem nicht einschüchtern lassen von denen, die glauben zu wissen, wies geht.  Das ist ganz wichtig.  Und dann: Geduldig sein. Genau sein. Nicht zufrieden geben mit Ungenauigkeiten. Und dann: Ruhig über die Stänge schlagen. Und dann: über Politik nachdenken.

Vielen Dank an Björn Bicker für die Beantwortung meiner Fragen!

Was wir erben – Björn Bicker

Björn Bicker wurde 1972 geboren und hat Literaturwissenschaft, Philosophie und Allgemeine Rhetorik in Tübingen und Wien studiert. Nach Stationen am Wiener Burgtheater und den Münchener Kammerspielen, arbeitet Björn Bicker seit 2009 als freier Autor, Projektentwickler und Kurator. Im selben Jahr erschien im Verlag Antje Kunstmann sein Debütroman “Illegal”. Der Autor lebt heutzutage in München und hat in diesem Frühjahr mit “Was wir erben” seinen zweiten Roman vorgelegt. Der Autor betreibt eine eigene Homepage.

“Du willst wissen, wo Du herkommst. Du willst wissen, wer Dich gezeugt hat. Du willst wissen, wer Dein Vater war. Was er getan hat. Wie er gelebt hat. Ich frage mich: Kannst Du daraus irgendetwas ableiten, was Dich betrifft?” 

“Was wir erben” erzählt die Geschichte von Elisabeth. Elisabeth ist Schauspielerin am Theater und lebt mit ihrem Freund Holger, der Arzt ist, ein Leben ohne viele Höhen und Tiefen, gäbe es da nicht ihren seit Jahren unerfüllten Kinderwunsch. Doch eines Tages gerät das ruhige Leben Elisabeths aus dem Takt: ein Fremder ruft sie an und behauptet, ihr Bruder zu sein. Der Bruder, der schon vor Ort ist, möchte sich mit Elisabeth treffen.  Er bringt ihr ein Foto mit, ein Foto von seiner Mutter und von Elisabeths Vater. Ein Foto aus dem Jahr 1972, dem Jahr, in dem Elisabeth zur Welt gekommen ist. Der junge Mann hat abgesehen von dem Foto keine Erinnerungen, keinen Beweis, keine Informationen. Seine Mutter ist bereits verstorben, von Elisabeth wünscht er sich, mehr über den Mann zu erfahren, der ihrer beider Vater sein soll.

“Die Kindheit. Der Krieg. Die Enteignung der Familie. Die Flucht in den Westen. Das abgebrochene Studium. Der Eintritt in die neu gegründete Bundeswehr, um Frau und Kind zu versorgen. Die Trinkerei. Die Versetzung aufs Land. Die Abstinenz. Die Politik. Die Kirche. Der Tod. Ich habe Dir zu verstehen gegeben, dass es nicht leicht war mit dem Vater.”

Elisabeth ist überrumpelt. Über den Vater, mit dem sie gebrochen hat, hat sie schon lange nicht mehr gesprochen. Ihr Vater hat getrunken. So exzessiv, dass er seine Familie mit seiner Alkoholsucht zerstört hat. Elisabeth beginnt damit, ihrem Bruder, der doch nur ein halber Bruder ist, einen Brief zu schreiben. Einen Brief, über den Vater, über ihre Familie und über die damalige Zeit.

“Du willst wissen, was für ein Mensch Dein Vater war. Wenn ich das wüsste. Ich kann keine Schublade öffnen, keine Festplatte aktivieren und das, was war, einfach herausziehen oder hochladen. Alles, was ich dir bieten kann, sind meine durchlöcherten Erinnerungen.”

Es ist ein Zufall, der Elisabeth in die Geburtsstadt ihres Vaters führt und damit in eine Vergangenheit, die trotz allem, was zwischen Elisabeth und ihrem Vater liegt, immer noch präsent ist in der Gegenwart. Diese Vergangenheit ist das, “was wir erben“, was uns verfolgt und uns anhaftet, ob wir das wollen oder nicht.

“Alles hängt mit allem zusammen. Das Heute kann man nicht vom Gestern trennen. Wer etwas anderes behauptet, ist ein Lügner.”

Die Geburtsstadt von Elisabeths Vater liegt in der ehemaligen DDR und damit in einer Welt, die mittlerweile untergegangen ist und doch findet Elisabeth dort Spuren ihres Vaters, denen sie nachgeht und sie Stück für Stück zusammensetzt. Am Ende entsteht auf diesem Weg nicht nur ein Brief an den halben Bruder, sondern auch eine Reise in die eigene Vergangenheit, von der Elisabeth längst geglaubt hatte, sie überwunden zu haben.

“Ich bin mehr als mein Blut. Ich bin ein Mensch mit einer Geschichte. Entscheidend ist doch: Wer hat mich als Kind ins Bett gebracht, wer hat mich zum Schwimmen lernen ins Wasser geworfen, mit wem habe ich das erste Mal geschlafen, wer waren meine Lehrer, wer hat mich schlecht behandelt, wer nicht. Wir sind nur miteinander verwandt, wenn wir das wollen, nur dann. Ich habe versucht, gegen die Biologie anzureden.”

Björn Bicker ist mit “Was wir erben” ein unheimlich dichter Roman gelungen. Dazu trägt sicherlich die besondere Form des Romans bei, der aus der Sicht Elisabeths erzählt ist, die sich in einem Brief an ihren halben Bruder wendet. Getragen wird der Roman von seiner Hauptfigur. Elisabeth erscheint als starke und selbstbewusste Frau, die ein geordnetes Leben führt. Die Reise in ihre Vergangenheit und die Suche nach ihrem Vater, wird zu einer Suche nach sich selbst. Plötzlich gerät das geordnete Leben ins Wanken, denn Elisabeth weiß nicht mehr, “ob sie dieses Leben selbst lebt”. Sie versteht nicht mehr, “warum sie ist, wie sie ist”. 

“Ich bin wütend auf den Vater, weil er mich gemacht hat. Sein Leben hängt an mir dran wie eine zweite, zerfetzte Haut, die ich nicht loswerde. Ich kratze und ziehe und reiße, aber sie geht nicht ab. Sie wächst immer wieder nach. Hässlich. Wuchernd. Und sie vernarbt. An Stellen, die ich nicht vermutet hätte. An Orten, die man nicht einmal im Spiegel sehen kann.”

Der Roman lebt jedoch auch von den Nebenfiguren, besonders in Erinnerung geblieben ist mir Hofffmann, den Elisabeth in der Geburtsstadt ihres Vaters kennen lernt.

“Hofffmann mit drei f, wenn ich bitten darf. Das erste f steht für das vergangene Leben, das dritte f steht für das zukünftige Leben und das f mittendrin, na ja, das steht für das, was wir gerade erleben.”

Da gibt es aber auch noch seinen Hund RICO und Valon, der bei Hofffmann untergekommen ist, als seine ganze Familie ausgewiesen wurde. Die Figuren von Björn Bicker sind häufig berührende Gestalten, die eine bewegende Geschichte zu erzählen haben. Björn Bicker erzählt in “Was wir erben” auch eine politische Geschichte, die von der privaten kaum zu trennen ist, sich immer wieder vermischt und überlappt.

“Was wir erben” ist ein vielfältiger Roman, der von jedem Leser mit einem anderen Schwerpunkt gelesen werden kann: Björn Bicker erzählt eine Geschichte über Heimat und Familie, über Vergangenheit und Gegenwart, über das politische und private Leben, über Erinnerung und Vergessen, aber auch eine Geschichte über Sucht und deren fürchterlichen Folgen, nicht nur für den Betroffenen, sondern für die ganze Familie. “Wenn sich die Eltern zerstören, dann zerstören sie auch die Kinder.” Ich habe selten zuvor einen Roman gelesen, der sich so differenziert und einfühlsam mit der Thematik Sucht und deren Auswirkungen beschäftigt. Für mich war es vor allen Dingen dieser Aspekt, der beim Lesen heraus stach, für andere Leser, mögen es andere Aspekte sein.

Björn Bicker ist mit “Was wir erben” ein lesenswerter Roman gelungen, der mich nicht nur sprachlich überzeugen konnte, sondern dessen Geschichte und Figuren mich völlig gefangen genommen haben. Ein Buch, das aufgrund seiner Covergestaltung in der großen und bunten Masse an Neuerscheinungen möglicherweise etwas untergeht, das jedoch so viele Leser wie möglich verdient hat.

Der Schrecken verliert sich vor Ort – Monika Held

Monika Held, die 1943 in Hamburg geboren wurde, arbeitet als Autorin und Journalisten. Einer ihrer Themenschwerpunkte ist das Kriegsrecht in Polen und die Hilfstransporte zu den Überlebenden von Auschwitz. Für diese publizistische Arbeit wurde sie mit einer Dankbarkeitsmedaille ausgezeichnet. Heutzutage lebt die Autorin in Frankfurt. Im Eichborn Verlag sind von ihr bereits die Romane “Augenbilder” und “Melodie für einen schönen Mann” erschienen.

“Das Lager wollte er überleben, um Zeuge zu sein. Er hatte das Lager überlebt – wo war der Sinn?”

Monika Held erzählt in ihrem neuesten Roman “Der Schrecken verliert sich vor Ort”, der im Frühjahr dieses Jahres im Eichborn Verlag veröffentlicht wurde, die Geschichte einer schwierigen Beziehung. Lena und Heiner lieben sich und leben doch in getrennten Welten, denn Heiner wird die Schrecken seiner Vergangenheit nicht los. Eine Vergangenheit, die an ihm klebt, wie eine zweite Haut und auch Jahrzehnte danach immer noch alles beeinflusst, was er erlebt und wahrnimmt. Heiner ist im Konzentrationslager gewesen, in Auschwitz.

Als er nach dem Krieg in die verwaiste Wohnung seiner Eltern zurückkehrt, liegt auf dem Nachttisch in seinem Zimmer Senecas Buch “Vom glückseligen Leben”. Das Lesezeichen steckt immer noch in dem Kapitel “Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf”.

“Ein Unwetter droht, ehe es heranzieht; die Häuser krachen, ehe sie zusammenstürzen; der Rauch verkündet einen Brand voraus; aber plötzlich kommt das vom Menschen ausgehende Verderben und verbirgt sich umso sorgfältiger, je näher es herantritt. Du irrst, wenn du den Gesichtern derer traust, die dir begegnen. Sie haben die Gestalt von Menschen, aber die Seele von wilden Tieren …”

Es sind die Worte von Seneca, die so treffend, wie kaum eine andere Stelle im Buch, das beschreiben, was Heiner erlebt haben muss.  Als junger Mann und Kommunist wurde er verhaftet und in das Konzentrationslager in Auschwitz gesperrt. Jahre später sagt er in einem Kriegsverbrecherprozess gegen die Menschen aus, die ihn damals beinahe umgebracht hätten. Im Rahmen dieses Prozesses lernt Heiner am 5. Juni 1964 Lena kennen.

“Der Schrecken verliert sich vor Ort” ist in drei Abschnitte gegliedert. Im ersten Abschnitt schildert Monika Held die erste Begegnung von Heiner und Lena, die vorsichtige Annäherung und das Leben Lenas mit einem Versehrten. “Wer einen Mann wie Heiner heiratet, muss auf die Südsee verzichten.”

Im zweiten Abschnitt reisen Lena und Heiner an den Ort des Schreckens, nach Auschwitz. Sie besuchen andere Überlebende und das ehemalige Konzentrationslager, das heutzutage zu einem Museum geworden ist. Es sind vor allem die Begegnungen mit den anderen Überlebenden, mit den Freunden Heiners, zu denen er ein intensives Verhältnis hat, die in Lena ein Gefühl der brennenden Eifersucht wecken. Ihre eigene Beziehung erscheint zu gewöhnlich, als könnte sie eine ähnliche Intensität erreichen. Gleichzeitig fühlt Lena sich schlecht bei dem Gedanken, auf diese fürchterlichen Erinnerungen eifersüchtig zu sein. Im dritten Abschnitt leben Heiner und Lena an der Küste, das Klima dort soll Heiners Gesundheit helfen, die seit Auschwitz angeschlagen ist. Mittlerweile liegen bereits mehrere Jahrzehnte zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, doch Heiner trägt sie immer noch mit sich herum.

Monika Held hat mit “Der Schrecken verliert sich vor Ort” einen Roman vorgelegt, der nichts ausspart, nichts beschönigt. Der Leser erfährt alles über Heiners Leidenszeit im Konzentrationslager. Schwer auszuhaltende, schwer ertragbare Details. Es sind 1860 Menschen, mit denen Heiner auf den Transport nach Auschwitz geschickt wird – vier von ihnen haben überlebt.

“Heiner spuckte grünen Schleim. Es gab keinen Namen für diese Krankheit. Es war Verzweiflungskotzen. Panikkotzen. Schmerzkotzen, Mitleidskotzen. Wutkotzen. Er hielt sich die Ohren zu. Die Schreie der Opfer waren hoch und spitz, es zerriss ihm den Kopf. Wenn es im Himmel einen Herrgott gibt, muss er diese Schreie gehört habe.”

Die Autorin thematisiert durch die Schilderung des Kriegsverbrecherprozesses gleichzeitig aber auch die Rolle der Täter und die Frage, was Menschen damals dazu getrieben hat, zu Tätern zu werden.

“Die Täter waren nicht krank im Kopf, nicht verrückter als Sie und ich. Ohne den mörderischen Tummelplatz in Polen, wenn ich das mal so sagen darf, wäre Klehr Tischler geblieben und Kaduk Krankenpfleger. Oder Feuerwehrmann. Dirlewanger Jurist, der fette Jupp ein tumber Gangster, Palitzsch, wäre er nicht im Krieg gefallen, Polizeipräsident oder Minister und Boger Abteilungsleiter bei der örtlichen Krankenkasse. Oder Studienrat mit heimlich-geiler Lust beim Abstrafen der Kinder. Er hätte die Bogerschaukel nicht gebaut. Die Täter, Hohes Gericht, waren jung und ehrgeizig. Sie wollten ihre Sache gut machen, welche Sache, war egal. Sie verhielten sich wie Angestellte, sie waren hungrig nach Lob und Karriere. Das Gefährlichste ist nicht der Sadist. Das Gefährlichste ist der normale Mensch.”

Eine zentrale Position im Roman nimmt aber vor allem die Beziehung zwischen Lena und Heiner ein. Lena, die zehn Jahre jünger ist, teilt keine Erinnerungen mit Heiner. Zumindest keine Erinnerungen an den Schrecken der damaligen Zeit. Ihr Glaube, dass die Liebe, die Kraft dazu haben könnte, solche Erinnerungen überwinden so können, erscheint zugleich naiv und herzergreifend. Doch für Heiner funktioniert das nicht. Die Liebe zu Lena wischt die Erinnerungen an das Erlebte und Erlittene nicht weg, macht es nicht ungeschehen oder leichter zu ertragen.

“[…] es gibt Tage, an denen möchte ich nicht mit mir befreundet sein. Mir steckt das Lager in jedem Körperteil und die Forschung arbeitet, so viel ich weiß, nicht an einem Gegengift.”

Lena liebt Heiner, aber sie weiß nicht, “wie lange ihre Liebe für den Teil des Mannes reichte, der im Lager geblieben war.” Ein Teil von Heiner ist dort geblieben, dieser Teil überschattet alles, was er in der Gegenwart erlebt. An einer Stelle im Roman wird dies als “kranker Nebel der Vergangenheit” bezeichnet, der sich in sekundenschnelle über alles Schöne legen kann.

“Er besteht aus einem Leitmotiv mit endlosen Variationen. Was ich sagen will: Er sieht einen Backsteinschornstein und sagt: Schau, Lena, Birkenau. Er sieht dünnen, weißen Rauch aufsteigen und sagt: Sie haben dort nicht viel zu tun, sonst wäre der Rauch dick und schwarz. Weiß du, wie oft das Wort Rampe im Alltag vorkommt? Die Post hat eine Rampe, die Bahn hat eine Rampe, jedes Warenhaus hat eine Rampe und Heiner denkt nur an die eine. Du kaufst dir einen schönen Mantel und was sagt er: Schau. Lena, der Markenname ist Selection. Nichts ist ohne doppelten Boden und an jeder Ecke warten Erinnerungen.”

Bücher über den Holocaust, Bücher über Auschwitz und Bücher über den Zweiten Weltkrieg gibt es viele. Dieses sollte man jedoch gelesen haben. Monika Held gelingt es nicht nur, eine zutiefst rührende Geschichte zu erzählen, sondern sie wirft gleichzeitig auch wichtige Fragen auf: Fragen nach der Täterschaft, aber auch Fragen nach der psychologischen Verarbeitung von so tiefsitzenden Traumata. “Der Schrecken verliert sich vor Ort” ist ein wichtiges Buch, ein Buch, das sich in das Fleisch seines Lesers einschneidet und dort tiefe und markante Abdrücke hinterlässt.

Angesichts der Thematik des Romans ist es sicher schwer und auch nicht angemessen von Begeisterung zu sprechen. Der Roman hat mich gerührt, umgetrieben, beschäftigt und lange nicht mehr losgelassen.

Abgerundet wird die Lektüre von einem lesenswerten Nachwort von der Psychoanalytikerin, Ärztin und Autorin Margarete Mitscherlich, aus dem ich abschließend folgende Stelle zitieren möchte:

“Was geschehen ist, ist geschehen, ausgeübt von einem Kulturvolk. Und dass es geschehen ist, bedeutet, dass es wieder geschehen kann. Menschen, und zwar kultivierte, kluge Menschen, sind zu Taten fähig, die wir ihnen nicht zugetraut haben. Und wo es irgendein Anzeichen, einen Hauch davon wieder geben könnte, müssen wir eingreifen. Unsere gottverdammte Pflicht nach Auschwitz ist, das niemals zu vergessen. Es bleibt ein ewiges Thema. Ich glaube nicht, dass wir aufhören sollten, uns damit beschäftigen.”

Lektüretipp:

Der Mann, der sich selbst besuchte – Hans Sahl

Hans Sahl wurde 1902 in Dresden geboren. Bereits in den 1920er Jahren begann er damit Filmkritiken und erste Erzählungen zu schreiben. 1933 war er zur Flucht aus Deutschland gezwungen, zunächst reiste er nach Frankreich, später in die USA. Im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg war er als Kulturkorrespondent für mehrere Zeitungen tätig. 1993 starb Hans Sahl. “Der Mann, der sich selbst besuchte” versammelt die Erzählungen und Glossen des Autors und ist der vierte Band einer vom Luchterhand Verlag herausgegebenen Werkausgabe. Zuvor erschienen bereits: “Memoiren eines Moralisten / Das Exil im Exil”, “Die Gedichte” und der Roman “Die Wenigen und die Vielen”. Der Luchterhand Verlag bietet ein umfangreiches Special zu Hans Sahl an, das sich dazu eignet, sich in das Werk und das Leben des Autors einzulesen.

Die Herausgeber von “Der Mann, der sich selbst besuchte” haben sich dazu entschieden, die beiden zu Lebzeiten von Hans Sahl erschienenen Sammlungen “Umsteigen in Babylon” und “Der Tod des Akrobaten” in einem Band zu vereinen. “Der Mann, der sich selbst besuchte”, dessen Titel sich auf eine der Erzählungen aus dem Band bezieht, in der die Hauptfigur den Kontakt zu ihrer Umwelt einstellen möchte, teilt sich in zwei Abschnitte: die Erzählungen und die Glossen.

Bei den Erzählungen handelt es sich um kleine Meisterwerke, die auf wenigen Seiten manchmal absurde, manchmal traurige Geschichten erzählen. Was bei Hans Sahl nie zu kurz kommt, ist der Humor, mit dem er auch tieftraurige Situationen noch ausleuchten kann. Bei vielen der ausgewählten Erzählungen habe ich mich an den Erzählton von Franz Kafka erinnert gefühlt.

“Es geschah an einem schwülen Sommertag, dass der Bürovorstand Jakob Pilz den Friseurladen der Herren Aust & Co. betrat, um sich dortselbst seines Vollbartes zu entledigen. Dieser Entschluss war nicht von heute auf morgen gekommen. Schon längst hatte Pilz, bewegt und beunruhigt durch den Lärm, mit dem diese Zeit auf ihn eindrang, den Plan gefasst, irgendetwas in seinem Leben zu verändern. Aber womit sollte er beginnen, wo die Brücke finden zu der Gegenwart, die ihn von Tag zu Tag mehr bedrängte?”

Bei den Glossen handelt es sich schwerpunktmäßig um essayistische Werke, die sich überwiegend mit den Themen Literatur und Film beschäftigen. Es sind vor allem diese Glossen, die seit 1926 in ganz unterschiedlichen Zeitungen erschienen sind, die den “Der Mann, der sich selbst besuchte” zu einem außergewöhnlichen und lesenswerten Sammelband machen. Die literaturwissenschaftlichen Texte ragen dabei heraus, vor allem Hans Sahls Essay “Klassiker der Leihbibliothek”, in dem er sich bereits 1926 mit der Frage beschäftigt, in wie weit die Literatur ein Wegbereiter für den Aufstieg des Nationalsozialismus ist. In diesem Essay fallen Namen von längst vergessenen Unterhaltungsliteraten, die jedoch zu der damaligen Zeit eine nicht zu verachtende Rolle gespielt haben: Rudolf Herzog, Rudolph Stratz oder auch Fritz Skowronnek und Fedor von Zobeltitz.

“Bleibt als letzte Erkenntnis nach der Lektüre von Dutzenden der am meisten angeforderten Leihbibliotheksromane die keineswegs tröstliche Einsicht: Das deutsche Volk liest weniger Thomas Mann oder Hermann Hesse als die von Rassenwahn und Revanchekriegsgedanken verzerrten Elaborate einer Blut- und Bodenromantik, oder, was allerdings weniger besorgniserregend ist, den Gefühlskitsch einer sich in Bars und Hotelhallen langweilenden internationalen Halbwelt von Parvenues und Nichtstuern.”

Die Glossen von Hans Sahl, in denen er mit Kritik, beißendem Sarkasmus und Satire nicht spart, lassen sich allesamt sehr eindrücklich lesen. Entstanden sind sie in einer Zeitspanne zwischen 1926 und 1992. Stellenweise ist es beinahe erschreckend, dass die Themen von Hans Sahl, trotz der dazwischenliegenden Zeit, nicht an Aktualität verloren haben.

“Als im vorigen Jahr ‘Anna Karenina’ als Film gezeigt wurde, setzte automatisch die Nachfrage in allen Berliner Volksbibliotheken ein. Mit einem Schlage war ein bis dahin relativ wenig bekanntes Werk der Weltliteratur populär geworden. Diese Tatsache ist charakteristisch für den gegenwärtigen Lesetrieb. Nicht durch Vorträge, auch nicht durch eine sich noch so kulturell-aufklärerisch gebärdende Werbepolitik ist das Interesse am Buch in den Massen zu wecken. Hier hat vor allem die Tagespresse die Führung zu übernehmen, die Tagespresse, die jede Filmbagatelle mit Schlagzeilen bombardiert und für das Buch meist nur ein Eckchen über dem Inseratenteil zu reservieren pflegt.”

Die Aktualität, die mit diesen Worten verbunden ist und die sich in heutigen Diskussion rund um das Buch spiegelt, wird umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass dieser Essay von Hans Sahl bereits 1929 erschienen ist. Hans Sahl schließt seinen Essay mit dem flammenden Appell:

“Die Buchkritik darf nicht zu einer literarischen Totenfeier einfrieren. Sie ist die aktuelle Instanz, die einzige, an der sich das Publikum der Leihbibliothek orientieren könnte.” 

“Der Mann, der sich selbst besuchte” bildet den Schlusspunkt der vierbändigen Werkausgabe Hans Sahls, einem tiefsinnigen und hintergründigem Schriftsteller, der sich mit viel Humor mit dem Leben und dessen Begebenheiten beschäftigt. Die hier versammelten Erzählungen und Glossen haben es mir ermöglicht, interessante Einblicke in das Schaffen und in die Denkwelt dieses Schriftstellers erhalten zu können und ich hoffe, dass sich viele weitere Leser durch die schön gestaltete Werkausgabe davon inspirieren lassen, Hans Sahl kennen zu lernen.

Brüder und Schwestern – Birk Meinhardt

Birk Meinhardt wurde 1959 in Berlin geboren und arbeitete als Sportjournalist und Reporter. Er wurde bereits zwei mal mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnet und lebt als freier Schriftsteller in Berlin. 2007 erschien sein letzter Roman, “Im Schatten der Diva”. “Brüder und Schwestern” ist sein neuester Roman; veröffentlicht im Hanser Literaturverlag.

Spätestens seit dem Erscheinen von Uwe Tellkamps “Der Turm” sind Familiengeschichten, die in der DDR spielen, ein beliebtes literarisches Motiv. Birk Meinhardt legt mit “Brüder und Schwestern” einen ähnlich umfangreichen Familienroman vor, wie Uwe Tellkamp vor mehr als fünf Jahren.

Im Mittelpunkt des Romans steht die Familie Werchow, deren Familiengeschichte auf beinahe 700 Seiten erzählt wird. Birk Meinhardt konzentriert sich dabei auf eine Zeitspanne zwischen 1973 und 1989. Willy Werchow ist Drucker in der großen Druckerei “Aufbruch” – von seinen Angestellten wird er respektiert, jedoch nicht geliebt.

“Doch anscheinend sah das nicht jeder seiner Arbeiter, anscheinend dachte mancher, der da in dieser Position, das könnte ja wohl nur ein gehöriges Arschloch sein.”

Um erfolgreich bleiben zu können, ist Willy mehr und mehr dazu gezwungen, Kompromisse einzugehen. Er laviert sich durch sein Leben, immer in dem Bemühen Auseinandersetzungen und Konflikte zu vermeiden. Nur zu Hause fordert er von seinen Kindern ein genau gegenteiliges Verhalten ein: Ehrlichkeit als oberste Tugend. Doch für Willy ist Ehrlichkeit immer mit der jeweiligen Situation abzuwägen. Willys Leben ist nicht so eintönig, wie es auf den ersten Blick erscheint, denn er trägt ein Geheimnis mit sich herum. Ein Geheimnis, das eine solche Kraft hat, das es das gemeinsame Leben mit seiner Frau Ruth jeden Moment zerstören könnte.

Ruth und Willy haben drei Kinder: Matti, Erik und Britta. Die drei Kinder könnten unterschiedlicher nicht sein und spiegeln in ihren Biographien die unterschiedlichen Umgangsweisen mit dem Leben in der DDR wider. Britta und ihr Freund Jonas werden von der Schule relegiert, als Britta ein verbotenes Gedicht von Wolf Biermann an der Wandzeitung aufhängt.

“Ja was wird aus unseren Träumen 
in diesem zerrissenen Land? 
Die Wunden wolln nicht zugehn 
unter dem Dreckverband. 
 
Und was wird aus unseren Freunden, 
und was noch aus Dir, aus mir? 
Ich möchte am liebsten weg sein 
und bleibe am liebsten hier.”

Die Möglichkeit sich am nächsten Morgen in der Schulaula für den Aushang zu entschuldigen, schlägt Britta aus. Sie verzichtet für ihre Ideale auf einen Schulabschluss und auf ein mögliches Studium und schließt sich stattdessen einem Zirkus an.

Erik entscheidet sich früh dazu, in den Bereich des Außenhandels zu gehen und nimmt dafür auch eine Dienstzeit bei der NVA in Kauf, durch die er sich jedoch schneller als gedacht lavieren kann. Um sein Studium unbehelligt fortsetzen zu können, distanziert sich Erik “entschieden und zutiefst” von dem Verhalten seiner Schwester. Eine Entscheidung, mit der er seine eigene Zukunft sichert, doch seine Familie fühlt sich von ihm verraten.

“Matti hatte mit jeder Silbe recht! Man tat so etwas nicht! Nie hätte Erik das tun dürfen! Und doch traf ihn keine Schuld, denn letztlich war er, Willy selber, es gewesen, der ihn in langen Jahren dazu gebracht hatte, so zu handeln. Letztlich hatte er ihn gelehrt, wie man Kompromisse schloß. Geradezu vorgelebt hatte er es ihm doch. Willy begriff jetzt, daß Erik als einziges seiner Kinder ihm gefolgt war aufs Feld des Abzirkelns und Erwägens – und jetzt, da er es begriff, schoß plötzlich Ablehnung und sogar Verachtung in ihm auf.” 

Vor allem sein jüngerer Bruder Matti, dessen Ernsthaftigkeit häufig an Halsstarrigkeit und Idealismus erinnert, ist fassungslos. Matti, der sich dazu entscheidet Kahnführer zu werden, glaubt, dass er selbst nie dazu bereit wäre, sich zu verbiegen und seine Ideale zu verraten. Für Matti ist Erik “gestorben”. Alles, woran Matti geglaubt hat, wird später jedoch erneut schwer erschüttert, als sich seine erste große Liebe Hals über Kopf dazu entscheidet, die DDR zu verlassen.

“[…] der Zusammenhalt der Geschwister, der allen in der Familie immer wie eine Selbstverständlichkeit erschienen war und über den niemand von ihnen je nachgedacht hatte, war auf einmal dahin. Würde er sich wiederherstellen lassen, irgendwann?”

An den Biographien der drei Geschwister zeigt Birk Meinhardt literarisch wunderbar ausgefeilt den unterschiedlichen Umgang von Menschen mit dem Leben in einer Diktatur auf. Passt man sich an? Ist man bereit, Kompromisse einzugehen? Wie weit lässt man sich verbiegen? Oder begehrt man auf? Probt man den Widerstand? Tut man dies offen oder nur im Kreise der Familie? Für was für ein Leben entscheiden sich die Menschen? Britta, Matti und Erik sind Geschwister, sie sind miteinander verwandt, aber entscheiden sich dazu, ganz unterschiedliche Wege zu gehen. “Brüder und Schwestern” endet einem Paukenschlag gleich mit einem Todesfall und der Ankündigung “wird fortgesetzt” – man darf also gespannt sein, wie die Geschichte von Britta, Matti und Erik weitergehen wird.

Den unterschiedlichen Lebensverläufen der Geschwister zu folgen habe ich als unheimlich spannend empfunden. Die Schilderungen sind eindrücklich, aber auch immer wieder amüsant. Neben Britta, Matti und Erik lässt Birk Meinhardt auf knapp 700 Seiten eine Reihe weiterer Figuren auftreten. Leider gelingt es ihm nicht über den ganzen Roman hinweg, alle Fäden sicher in der Hand zu behalten. Stellenweise hätte “Brüder und Schwestern” eine Straffung und Kürzung gut getan. Dennoch halte ich den Roman, der in einem kraftvollen Ton gehalten ist, für lesenswert.

Schüchtern. Bekenntnis zu einer unterschätzten Eigenschaft – Florian Werner

Der 1971 geborene Florian Werner ist promovierter Literaturwissenschaftler und lebt als Autor, Journalist und Übersetzer in Berlin. Zuletzt erschien von ihm “Dunkle Materie: Die Geschichte der Scheiße”. Seine aktuelle Veröffentlichung “Schüchtern” erschien im vergangenen Jahr bei Nagel & Kimche.

In der heutigen Arbeitswelt sind immer häufiger offensive Verhaltensweisen gefragt: Eigenwerbung, Selbstdarstellung und das Talent sich gut verkaufen zu können. Schüchternheit ist da fehl am Platz und doch leiden immer mehr Menschen unter genau dieser Eigenschaft. In seinem Buch “Schüchtern”, das den Untertitel “Bekenntnis zu einer unterschätzten Eigenschaft” trägt, wagt Florian Werner den Versuch eines Exkurses zur Schüchternheit.

In acht Kapiteln widmet sich der Autor allen möglichen Facetten der Schüchternheit, wobei für mich die Grenzen zwischen Schüchternheit und einem Verhalten, das auch andere psychische Ursachen haben kann, über das Buch hinweg etwas schwammig blieben. Ergänzt wird die Lektüre durch eine umfangreiche Literaturliste, die Schüchterne dazu einlädt, sich weiter mit diesem Thema beschäftigen zu können.

Zu Beginn meiner Rezension möchte ich gestehen, dass die Auswahl dieses Buches nicht zufällig geschah. Auch wenn ich glaube, dass ich die schlimmste Phase meiner Schüchternheit bereits überwunden habe, treiben einfache Telefonate mir doch immer wieder Schweißperlen auf die Stirn. Dies sorgt bereits auf der ersten Seite des Buches, das insgesamt gerade einmal 170 Seiten schmal ist, für einen Wiedererkennungseffekt:

“Selbst die harmlosesten Gespräche – mit meinem Steuerberater, mit der Hausverwaltung, einem Handwerker – stellen eine schier unüberwindliche Herausforderung dar. Natürlich schiebe ich solche Telefonate so lange wie möglich hinaus, wodurch die emotionale Last, die auf dem Gespräch liegt, immer größer wird.”

Bereits am Anfang bringt Florian Werner seine Schwierigkeiten mit denen er im Alltag zu kämpfen hat, auf einen einfach Satz: “Ich bin ganz einfach schüchtern.”

“Ja, ich bin schüchtern, und es liegt in der Natur der Sache, dass mich selbst ein solch unspektakuläres Bekenntnis einige Überwindung kostet. Mit einem mir unbekannten Menschen ein längeres Gespräch zu führen, womöglich mit Blickkontakt, womöglich ohne Alkoholeinfluss, fällt mir unsagbar schwer.”

Die Schüchternheit führt bei Florian Werner sogar so weit, dass seine hochschwangere Frau vor der Geburt der Tochter selbst den Krankenwagen rufen musste, weil es ihm “unhöflich schien, die Rettungsstelle mit diesem Problem zu belästigen.”

Florian Werner, der von seinen Freunden den Spitznamen “Schildkröte” verpasst bekommen hat, nähert sich dem Begriff und dem Phänomen der Schüchternheit in seinem Buch aus unterschiedlichen Perspektiven: zum einen beschäftigt er sich mit der semantischen Ebene des Begriffs und dessen Wortherkunft, zum anderen zeigt er aber auch die geschichtliche Entwicklung des Begriffs auf. Er widmet sich auch der Genderfrage – ist Schüchternheit etwas, das vielleicht viel eher bei Mädchen akzeptiert wird, als bei Jungen? Einen großen Raum in “Schüchtern” nimmt auch die Frage ein, ob Schüchternheit genetisch bedingt ist oder durch “Erfahrungen, Erziehung, Kultur” bedingt wird. Florian Werner hat einen Zwillingsbruder, der alles andere als schüchtern ist.

“Während das 1907 erschienene Buch Schüchternheit, nervöse Angst= u. Furchtzustände sowie andere seelische Leiden und ihre dauerende Heilung noch vor allem individualpsychologische Gründe sowie Fehler in der Erziehung und Lebensführung für die Entstehung der Schüchternheit verantwortlich macht, wagt Die erfolgreiche Bekämpfung der Schüchternheit aus dem Jahr 1911 bereits eine gesamtgesellschaftliche Analyse.”

Das Buch kommt zu der Erkenntnis, dass die heutige Gesellschaft ruhig ein bisschen Mut zur Schüchternheit zeigen sollte: “Keine falsche Scham. Seien wir ruhig ein bisschen schüchtern.” Der Weg bis zur vollständigen Akzeptanz dieser häufig unterschätzten Eigenschaft ist wahrscheinlich noch weit, doch dieses Buch könnte ein erster Schritt sein. Denn was bedeutet Schüchternheit schließlich anderes als Bescheidenheit, Mitleid oder Feingefühl? Und das sind doch Eigenschaften, die man in unserer heutigen Gesellschaft gut gebrauchen kann.

Florian Werner ist mit “Schüchtern” eine lesenswerte Mischung aus Sachbuch und Erfahrungsbericht gelungen. Obwohl er viele seiner Ausführungen mit Fachbegriffen anreichert bleibt der Text doch auch für Laien lesbar und verständlich. Neben all dem fachlichen Ernst kommt aber auch der Humor nicht zu kurz, der das Buch zu einem amüsanten Leseerlebnis macht. “Schüchtern” ist ein kluges, amüsantes und wissenschaftliches Buch, das mir nicht nur ein spannendes Thema näher gebracht hat, sondern mich dabei auch noch unterhalten konnte.

%d bloggers like this: