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Deutschsprachige Literatur

5 Fragen an Patric Marino!

Patric Marino wurde 1989 in Bern geboren und lebt heutzutage in Münsingen. Er ist Absolvent des Schweizerischen Literaturinstituts und Mitbegründer des Literaturbüro Olten. Um für seinen Roman, der in Kalabrien spielt, zu recherchieren ist Patric Marino sechsmal zu seinen Großeltern nach Guardavalle gefahren.

1.) Warum wollten Sie Schriftsteller werden?

Ich wollte nie Schriftsteller werden. Ich habe einfach das Bedürfnis, Geschichten zu erzählen, Menschen eine Stimme zu geben, Erinnerungen und Momente festzuhalten. Deshalb schreibe ich und bin solange Schriftsteller, wie ich diese Notwendigkeit verspüre und etwas zu sagen habe.

2.) Gibt es einen Schriftsteller oder einen Künstler, der Sie auf Ihrem Weg besonders inspiriert hat?

Jedes Buch, das ich lese, gibt mir neue Worte, Inspiration, Gefühle, die mir beim eigenen Schreiben helfen. Nur wenige Bücher und Namen bleiben bewusst hängen, das sind dann wohl die Künstler, die man Vorbilder nennt: Pier Paolo Pasolini, Ignazio Silone, Tommaso di Ciaula, aber auch Beat Sterchi und mein Nonno.

3.) Wann und wo schreiben Sie am liebsten?

Wenn alle anderen Menschen schlafen, schreibe ich mit Kopfhörer am Schreibtisch und halte nur inne, wenn ich im Klappern der Tasten die Stimmen meiner Figuren oder das Meer höre.

4.) Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen?

Die «Briefe» von Robert Walser, und darin immer wieder die Briefe von Robert Walser an Therese Breitbach. Walser schreibt seinem Rheinländer Mädchen zarte, wohlklingende, feinsinnige und auch kalligraphisch wunderschöne Briefe, während er für sich nur unleserliche Mikrogramme schreibt. Die Lektüre dieser Briefe hat mich so beeindruckt, dass ich begonnen habe, Walser zurückzuschreiben.

5.) Was würden Sie einem jungen Schriftsteller raten?

Schreibt, was Ihr lebt; das habe ich im letzten Fragebogen auf diese Frage geantwortet. Man kann es auch umkehren: Lebt und erlebt, worüber Ihr schreiben wollt. Geht raus, seht Euch die Welt an und hört den Menschen zu, damit ihr etwas zu erzählen habt, wenn Ihr Euch an den Schreibtisch setzt.

Vielen Dank an Patric Marino für die Beantwortung meiner Fragen! 

Peehs Liebe – Norbert Scheuer

Norbert Scheuer wurde 1951 geboren und hat physikalische Technik und Philosophie studiert. Heutzutage lebt er in der Eifel und arbeitet als Systemprogrammierer. 2010 stand er mit seinem Roman “Überm Rauschen” auf der Shortlist des Deutschen Buchpreis. Für seine bisherigen Veröffentlichungen hat Norbert Scheuer bereits zahlreiche Preise erhalten.

“Peehs Liebe” ist ein ungewöhnlicher Roman, der sich aus unterschiedlichen Zeit- und Erzählebenen zusammensetzt. Im Mittelpunkt steht die Lebensgeschichte von Rosarius Delamot. Rosarius wurde 1938 geboren, kurz vor dem Krieg.

“Mein Name ist Rosarius Delamot. Ich bin mit dem Delamot verwandt, der in Kall ein Friseurgeschäft hatte. Kathy, meine Mutter, schickte mich alle zwei Monate zu ihm in den Salon.”

Rosarius hat fuchsrote Haare und weiß nicht, wer sein leiblicher Vater ist, aber er glaubt, dass dieser als Archäologe gearbeitet hat und die Familie verließ, weil er nach einer noch unentdeckten Straße suchte. Aufgewachsen ist Rosarius mit seiner Mutter Kathy.

“Kathy hatte mir den ausgefallenen Vornamen Rosarius gegeben, weil ihr Ururgroßonkel so geheißen hatte. Sie war stolz auf diesen Vorfahren gewesen, der Anfang des 19. Jahrhunderts durch die Eifel gezogen war, um Mausefallen und andere Haushaltsgegenstände zu verkaufen.”

In seiner Jugend ist Rosarius nicht nur kleinwüchsig, sondern kann auch nicht sprechen. Es dauert bis zu seinem dreiundzwanzigsten Lebensjahr, bis er sein erstes Wort spricht. Das einzige, was er kann, ist summen. Als Rosarius sein erstes wirkliches Wort spricht, beginnt er gleichzeitig auf magische Weise auch damit, weiterzuwachsen. Seine Sprachlosigkeit führte dazu, dass er von seinem Umfeld häufig als der Doofe abgestempelt wurde. Als der, der nichts kann, nichts mitbekommt und nichts versteht. Doch Rosarius versteht viel mehr, als alle glauben wollen: er nimmt wahr, was um ihn herum passiert, macht sich Gedanken und scheint sehr viel intensiver zu fühlen, als viele seiner Mitmenschen. In seiner Kindheit verliebt sich Rosarius in Petra, die er immer nur Peeh nennen kann. Es ist faszinierend, wie Rosarius seine Zuneigung zu Peeh selbst wahrnimmt: er möchte Peeh mit allen Sinnen der Wahrnehmung erleben und in sich aufnehmen.

“Ich wusste plötzlich, dass alle Dinge, die ganze Welt, Peeh und ich zusammengehörten. Ich bemerkte verwundert, wie schön sie war, und verliebte mich in sie. Sie war das, was mir immer gefehlt hatte, um all die verwirrenden Dinge auf der Welt besser zu ertragen.”

Die Handlung springt zwischen unterschiedlichen Ebenen hin und her: in der Gegenwart befindet sich Rosarius mit seinen vierundsechzig Jahren in einem Altersheim, in dem er liebevoll von Annie gepflegt wird, die ihn an seine große Liebe Peeh erinnert. Annie lässt diese Verwechslung zu und Rosarius damit in dem Glauben, dass sie Peeh sei. Rosarius hatte einen Schlaganfall und infolgedessen eine halbseitige Lähmung und kleinere Verletzungen des Gehirns,

“[…] weshalb Rosarius oft verwirrt war. Er schien dann nicht zu wissen, wo er sich befand, redete sehr langsam und leise, machte lange Pausen, schien nachzudenken, versuchte sich offenbar zu erinnern, wartete auf Wörter und Gedanken, die vielleicht in seinem Kopf wimmelten wie Millionen winzige blinde Tierchen, er summte dabei und murmelte, kaum hörbar, im Rollstuhl sitzend, vor sich hin.”

Er erinnert sich immer wieder zurück an seine Kindheit, erinnert sich daran, wie er aufgewachsen ist, erinnert sich an die Ausflüge mit seinem Stiefvater Vincentini, mit dem er umherreiste. Damals bereisten sie lediglich die Eifel, doch in seinen Träumen war Rosarius schon überall auf der Welt. Zusammengehalten werden die einzelnen Ebenen durch den Hyperion von Hölderlin, den Rosarius nicht nur liest und zitiert, sondern mit dem es ihm auch gelingt, seine Gefühle und Emotionen auszudrücken.

Norbert Scheuers Roman “Peehs Liebe” zeichnet sich durch eine unheimlich lyrische und poetische Sprache aus, die dieses schmale Bändchen zu einem reichhaltigen Leseerlebnis werden lässt. Handlungsort ist, wie in vielen seiner anderen Romane, die Stadt Kall in der Eifel. Der Ort, in dem Norbert Scheuer auch heutzutage lebt. Kall ist wie ein Mikrouniversum voller seltsamer und skurriler aber auch liebenswerter Charaktere, die wie aus der Zeit gefallen wirken.

Zu Beginn des Romans fiel es mir schwer, mich bei den vielen unterschiedlichen Ebenen und zeitlichen Sprüngen zurechtzufinden, doch mit der Zeit fügten sich die einzelnen Stränge und Puzzleteilchen dann zu einem stimmigen Gesamtbild zusammen. Der Roman überzeugt beinahe ausschließlich durch seine Sprache und seine punktgenaue Poetik, ohne größere Handlungshöhepunkte zu benötigen.

“Peehs Liebe” ist ein unaufgeregter und ruhiger Roman, der Gefahr läuft in der laut schreienden Masse an Neuerscheinungen fast schon übersehen zu werden. Ich kann nur dagegen anschreien und mit Vehemenz darauf hinweisen, dass es sich bei “Peehs Liebe” um ein wahres Kleinod handelt, um eine literarische Perle, die entdeckt und wie ein Schatz gehütet werden sollte.

Die Stimme versagt – Marica Bodrožić in Bremen

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© Peter von Felbert

Im Rahmen der LiteraTour Nord las Marica Bodrožić am gestrigen Sonntag im Café Ambiente aus ihrem neusten Roman “kirschholz und alte gefühle”.  Marica Bodrožić wurde 1973 in Kroatien, in der Nähe der Stadt Split, geboren. 1983 zog sie nach Deutschland, machte ihr Abitur in Hessen und studierte anschließend Kulturanthropologie und Slawistik. Heutzutage arbeitet sie als freie Schriftstellerin, darüber hinaus hat sie in das Filmgeschäft hineingeschnuppert und war als Gastdozentin für Creative Writing in den USA.

Zentrales Thema ihres neuen Romans “kirschholz und alte gefühle”, ist die Erinnerung und das Gedächtnis. Marica Bodrožić stellt in ihrem Roman die Erinnerung als etwas Flüchtiges dar, das bei jedem Rückblick eine andere Färbung erhält.

In seiner Einführung kündigt der Moderator Gert Sautermeister an, dass besondere Umstände es erfordern, dass die Lesung in verteilten Rollen stattfinden müsste. Marica Bodrožić erklärt krächzend, dass dies ein ganz schwerer Moment für sie sei, da sie ihre Stimme verloren hat, aber zur Lesung gekommen ist, um zu zeigen, dass sie willens ist. Morgens habe sie noch in Oldenburg gelesen, aber am Nachmittag sei ihre Stimme weggebrochen, trotz des Ingwertees, den sie getrunken hat. So sind wir Zuschauer in den Genuss einer ganz ungewöhnlichen Lesung gekommen, da zwei Stellvertreter gelesen haben, um die Autorin nicht weiter zu belasten: Gert Sautermeister und ein Zuschauer, der sich spontan bereit erklärt hat, haben jeweils einen Teil aus dem Roman übernommen.

Im anschließenden Gespräch, das aufgrund der krankheitsbedingten Umstände kurz gehalten wurde, konnte Marica Bodrožić einige kurze aber überaus interessante Antworten auf Fragen aus dem Publikum geben. Die belagerte Stadt, die im Buch namenlos bleibt, ist natürlich Sarajewo. Der Name wird nicht genannt, um deutlich zu machen, dass es auch anderswo Terror, Belagerung und Barbarei gibt, dass überall Menschen, die Shakespeare lesen, auch andere Menschen umbringen können. Marica Bodrožić macht in ihrem Buch deutlich, dass Kriege in Europa immer noch stattfinden, denn viele Menschen in Deutschland denken bei Krieg als erstes an den 2. Weltkrieg. Sie weist auf ihr Erstaunen über die Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten hin, der sagte, dass es seit 60 Jahren keinen Krieg mehr in Europa gegeben habe. Und was ist mit Jugoslawien, fragt Marica Bodrožić?

Die Figur aus ihrem Buch, die ihr am stärksten ans Herz gewachsen ist, ist der Jude Mischa, denn Mischa sei ein Mensch, der die Sprache seiner Kindheit nicht hassen kann. Stattdessen versucht er über die Liebe und Freude einen Weg zurückzufinden in ein besseres Leben. Im realen Leben ist ihr Hannah Arendt ein leuchtendes Vorbild, weil sie unbestechlich geblieben ist. Dies hat Hannah Arendt nicht immer sympathisch gemacht, aber genau das bewundert Marica Bodrožić,  dass man bereit ist, alles zu verlieren und nicht weiß, was man dafür bekommt. Eine ähnliche Figur, die sich aller Eindeutigkeit verweigert, ist Arik, die männliche Hauptfigur ihres Romans. Arik ist rätselhaft und nicht unbedingt sympathisch, aber die Erzählerin des Romans lernt so viel durch ihn: “Der Stein, über den ich stolpere ist der, von dem ich etwas lernen kann.”

Ich glaube, dass Marica Bodrožić selbst gestern Abend am stärksten unter ihrer Sprachlosigkeit gelitten hat: “Ich bin Löwin und rede sehr gerne. Ich leide, weil ich das heute nicht tun kann.” Dennoch habe ich gestern eine sympathische und überaus interessante Autorin kennengelernt, von der ich gerne noch mehr entdecken möchte.

5 Fragen an Britta Boerdner!

8414055708_5bdf4df592Britta Boerdner  wurde in Fulda geboren und hat nach einer Ausbildung zur Buchhändlerin Amerikanistik, Germanistik und historische Ethnologie studiert. Heutzutage arbeitet sie hauptberuflich als Texterin und Konzeptionerin. Außerdem schreibt sie Essays und Kurzgeschichten. “Was verborgen bleibt” ist ihr Romandebüt.

1.) Warum wollten Sie Schriftstellerin werden?

Schreiben ist für mich eine Möglichkeit, mir die Welt zu erklären. Ich habe immer schon geschrieben, auch als Kind. Ich möchte Situationen, Verhaltensweisen, Emotionen nicht so stehen lassen, wie sie sich von außen darstellen, sondern ich möchte sie von innen heraus verstehen. Das Schreiben zwingt mich dazu, nach der Quintessenz zu suchen, als Schriftstellerin habe ich einfach einen anderen Zugang zur Welt. Ich bin Beobachterin und Forscherin in eigenem Auftrag, das ist ganz wunderbar.

2.) Gibt es einen Schriftsteller oder einen Künstler, der Sie auf Ihrem Weg besonders inspiriert hat?

Oh, ja, immer wieder. Gute literarisch oder filmisch erzählte Geschichten sind stets große Impulse für mich. François Ozon ist zu nennen, und von den Schriftstellern Zeruya Shalev, John Banville, Paul Auster, Jean-Philippe Toussaint, James Salter, Richard Ford. James Salter haut mich immer wieder um, weil er es schafft, mit zwei, drei Sätzen einen ganzen Raum entstehen zu lassen, inklusive Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

3.) Wann und wo schreiben Sie am liebsten?

Ach, es wechselt. Es ist oft eine Qual für mich, den richtigen Ort zu finden. Am Besten schreibe ich tagsüber irgendwo in einem Café im dicksten Getümmel. Das zwingt mich, mich komplett abzuschotten und die inneren Bilder wachsen zu lassen. Nach zwei Stunden muss ich dann aber auch wieder raus. Dann mache ich Photo Walking durch die Stadt, sauge äußere Impulse auf und bin dabei immer noch ständig mit dem beschäftigt, woran ich gerade schreibe. Der stille Schreibtisch mit Blick in die Ferne kommt gar nicht in Frage, er lenkt meine Aufmerksamkeit zu sehr ins Außen. Aber auch spät Abends geht es gut, wenn nur noch die Schreibtischlampe leuchtet und der Rest im Dunkeln liegt. Klingt kompliziert, nicht wahr? Ist es manchmal auch.

4.) Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen?

Auf der Ecke meiner Badewanne (wahlweise auch neben dem Bett) liegt gerade Richard Ford, Eine Vielzahl von Sünden. Geschichten vom Seitensprung, die in ihrem klaren Erkennen von Strategie, Täuschung und Selbsttäuschung oft über die Schmerzgrenze hinausgehen.

5.) Was würden Sie einem jungen Schriftsteller raten?

Lass nicht nach, streng dich an, gib dich nicht mit dem Lob deiner Freunde zufrieden. Suche nach echter Kritik und Verbesserung. Und lies ganz, ganz viel.

Herzlichen Dank an die Autorin für die Beantwortung meiner Fragen!

Was verborgen bleibt – Britta Boerdner

Britta Boerdner  wurde in Fulda geboren und hat nach einer Ausbildung zur Buchhändlerin Amerikanistik, Germanistik und historische Ethnologie studiert. Heutzutage arbeitet sie hauptberuflich als Texterin und Konzeptionerin. Außerdem schreibt sie Essays und Kurzgeschichten. “Was verborgen bleibt” ist ihr Romandebüt.

“Kann man seine Heimat auch in einem Menschen finden?”

“Was verborgen bleibt” erzählt eine Geschichte über das langsame Zerbrechen einer Beziehung. Die Erzählerin des Romans bleibt namenlos. Sie folgt ihrer großen Liebe Gregor nach New York. Sie hatten sich gegenseitig ein Versprechen gegeben: wer es als erster von ihnen nach Amerika schafft, holt den anderen nach. Gregor hat es geschafft und sieben Monate später folgt die Erzählerin ihm.

“Drei Wochen werde ich bleiben, ein erster Besuch in Gregors neuem Zuhause, eine Annäherung an die Stadt soll es sein. Bald werde ich hier leben, mein Name wird auf dem Klingelschild stehen, jeden Morgen werde ich das Haus verlassen mit meinem eigenen Schlüssel in der Hand, werde ihn in meine Tasche fallen lassen und den Weg zur Arbeit antreten, wo immer sie auch sein wird.”

Doch niemand hat der Erzählerin gesagt, wie ein Neuanfang funktionieren kann und wie man sich verhalten sollte, um sich selbst und seiner Beziehung einen solchen zu ermöglichen. Sie kommt im kalten Februar nach New York und leidet unter der Kälte. Bereits mit der Begrüßung von Gregor beschleicht sie ein Gefühl der Beklommenheit. Zwischen den beiden scheinen nicht nur sieben Monate zu liegen, sondern Welten.

“Das Schweigen ist ein unerträglicher Zustand, wenn man in der Stimme des anderen ein Zuhause gefunden hat; mit dem Schweigen zogen die Fragen ein, mit den Fragen die Kritik und als Antwort darauf die aufgeschlagene Sonntagszeitung beim  Frühstückstisch. Eine Liebe im Schnelldurchgang, eine Nähe, die vor der Zeit altert, weil ihr das Thema verlorengegangen ist.”  

Die Erzählerin weiß nicht, wie sie Gregor begrüßen soll, sie findet keine Themen mehr, über die sie sprechen könnten. Gregor blüht in seiner Arbeit auf. Morgens verlässt er früh das Haus und abends macht er häufig Überstunden. Die Erzählerin ist sich selbst überlassen. Schnell muss sie erkennen, dass ihre Vorstellungen und Wünsche nicht mehr deckungsgleich mit der Realität sind. Gregor hat keine Zeit für gemeinsame Spaziergänge und Unternehmungen.

“Ich sehe ein Raster vor mir, in das mein Leben, meine Wünsche und geheimen Gedanken eingetragen sind, ein Quadrat nach dem anderen muss ich durchstreichen, ich weigere mich, so rational auf die Dinge zu schauen […].”

Gregors neues Leben hat ihn von der Erzählerin entfremdet. Sie erkennt ihn manchmal kaum wieder, er erscheint ihr fremd und unbekannt. Er lebt ein Leben, zu dem sie keinen Zutritt hat. Symbolisch dafür steht eine Katze, die Gregor morgens heimlich füttert, von der er der Erzählerin jedoch nichts erzählt.

“[…] es ist, als hätte ich bisher nur Teilbereiche seines Lebens wahrgenommen, die sich jetzt zu einem Ganzen formen, das ich noch nicht entschlüsseln kann.”

Die “alte Zweisamkeit” ihrer Beziehung hat noch nicht den Weg in Gregors neues Leben finden können. Die Geschichte der beiden, sollte eigentlich eine Geschichte des Neuanfangs werden: “Wer von uns zuerst da ist, holt den anderen nach, versprachen wir uns.” Doch die Erzählerin muss erkennen, dass es nicht so einfach ist, nachzukommen. Gregors neues Leben, seine Arbeit, sein neues Umfeld – die Erzählerin hat das Gefühl an Gregors Seite in einem Hochgeschwindigkeitszug zu sitzen. Sie findet keinen eigenen Stand, dafür fährt der Zug einfach zu schnell. Mit der englischen Sprache ist sie so unsicher, dass sie häufig nicht an Gesprächen teilnehmen kann, auch wenn Gregor sie zu Partys mitschleppt. Gregor ist in Amerika angekommen, die Erzählerin noch nicht. Sie wartet auf ihn, statt ihr eigenes Leben in die Hand zu nehmen. Die spürbare Entfremdung raubt ihr jede Energie, sich um eine Arbeitsstelle zu bemühen. Ihre Tage füllt sie mit einsamen Spaziergängen.

“Ab wann ist das Schwierige keine Phase mehr, sondern ein bleibender Zustand?”

Britta Boerdner beschreibt meisterhaft das langsame Zerbrechen einer Liebe und seziert die Unmöglichkeit, eine Beziehung durch einen Neubeginn in einer fremden Stadt kitten zu wollen. Gregor und die Erzählerin kennen Amerika bereits aus ihrem gemeinsamen Sommerurlaub. Doch von den Urlaubsgefühlen ist im kalten Winter von New York nichts mehr übrig geblieben. Nicht nur das Paar hat sich voneinander entfremdet, auch die Stadt erscheint der Erzählerin fremd und trostlos. Die Beschreibung der Erzählerin, die voller Mut und Vorfreude nach Amerika reist, ist unheimlich beklemmend. Bedrückend und von einer ungeheuren Traurigkeit ist ihre Erkenntnis, dass es nicht möglich ist, Heimat in einem anderen Menschen zu finden, dass sie und Gregor allein sind und “voneinander getrennt wie alle Menschen”.

“Gregor ist nicht mehr mein kleines, dunkles Mädchen, der Gedanke trifft mich genauso hart wie der Streif Sonnenlicht von einem Fenster gegenüber, das gerade geschlossen wird. Eigentlich weiß ich es seit meinem ersten Tag, seit der Minute, als ich ihn fragte, ob er einen Tag freinehmen kann, um mit mir herumzubummeln, genau hierher wollte ich mit ihm kommen, hier wieder entlanggehen. Du weiß doch, ich muss bei der Stange bleiben, Urlaub ist nicht drin, er sah mich an, als verstünde ich nichts von dem, was vor sich ginge.”

An einer Stelle fragt sich die Erzählerin, ob man “den Moment, in dem sich etwas zwischen zwei Menschen unverrückbar verschiebt” spüren könnte. Ich habe keine Antwort auf diese Frage, ich weiß nur, dass Britta Boerdner diesen Moment in ihrem Buch von der ersten bis zur letzten Seiten spürbar werden lässt: die Beklemmung, die Traurigkeit, das Gefühl, dass etwas endet. Britta Boerdner zeichnet sich dabei vor allem als genaue Beobachterin aus, der es gelingt, sogar leise Zwischentöne einzufangen und aufs Papier zu bannen. “Was verborgen bleibt” beschreibt und seziert diesen Moment, den Moment, in dem eine Beziehung zu Ende geht, den Moment, den man nicht mehr kitten kann, der nie mehr rückgängig zu machen ist. Zurück blieb ich als Leser mit dem Gefühl, ganz wund vor Traurigkeit zu sein.

“Was verborgen bleibt” ist ein beeindruckendes Romandebüt von einer Autorin, von der wir in Zukunft hoffentlich noch viel lesen werden. Der Roman hat mich nicht nur sprachlich überzeugt, sondern auch durch Britta Boerdners feine Beobachtungsgabe und ihre Kunst, mit Wörtern wunderschöne Bilder zu kreieren. “Was verborgen bleibt” ist ein beeindruckendes Porträt einer zerbrechenden Liebe und ein wunderbarer Roman über New York. Eine ganz große Leseempfehlung!

5 Fragen an Julya Rabinowich!

Julya Rabinowich wurde 1970 in St. Petersburg geboren und ist mit sieben Jahren nach Wien gezogen. Heutzutage arbeitet sie als Autorin, Malerin und Simultandolmetscherin. 2008 erschien ihr Debütroman “Spaltkopf”, 2011 folgte das Buch “Herznovelle”. “Die Erdfresserin” ist ihr neuester Roman.

1.) Warum wollten Sie Schriftstellerin werden?

Weil ich die leidige Konkurrenz um den Status des besten Künstlers in der Familie auf eigene Weise zu unterlaufen versucht habe, alle waren sie Maler, auch ich. Ich bin dann mal schnell abgebogen. Diese Wiese war tatsächlich grüner als die andere. Keine Einbildung. Außerdem veranstalte ich weniger reale Sauerei, wenn ich schreibe. Und aufräumen muss man auch nichts. Notebookdeckel zu und das wars. Notebookdeckel auf und man ist in seiner eigenen Welt.

2.) Gibt es einen Schriftsteller oder einen Künstler, der Sie auf Ihrem Weg besonders inspiriert hat?

Meine Art zu schreiben wurde sicherlich stark davon geprägt, dass ich von klein auf auf das Visuelle trainiert worden bin, insofern beeinflussten mich bildende Künstler, vor allem die alten Meister, z.b. beide Breughels, Dürer. Aber auch Kubin , Lucien Freud oder Damien Hirst. Und dann natürlich mein liebster Schriftsteller: Michail Bulgakow. Aber auch Houellebecq oder Rushdie.

3.) Wann und wo schreiben Sie am liebsten?

Am liebsten zu Hause, wenn da absolute Ruhe herrscht, spätnachts oder in der Früh, wenn der Hund Ruhe gibt. Aber auch sehr sehr gerne im Zug, etwas weniger gerne im Cafehaus, dann allerdings ist es am besten, wenn der Raum voll ist und einen beständigen Lärmpegel aufbaut, das kann mich gut davontragen.

4.) Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen?

Karte und Gebiet von Houellebecq.

5.) Was würden Sie einem jungen Schriftsteller raten?

Sich selbst zu vertrauen, aber besser nicht zu sehr. Zu versuchen, sich genau so intensiv in andere hinein versetzen, wie auch sich selbst genau zu spüren aber auch sehr distanziert beobachten zu können. Für mich ist die schriftstellerische Arbeit eine Schnittstelle zwischen Innen und Außen, in der beides die gleiche Priorität hat. Manche Kritik ernst nehmen. Manche Kritik an sich abperlen lassen, weil sie in die Irre führt. Meist spürt man selbst, was wahrhaftig ist und was nicht, wobei auch das Schmerzhafte sehr sehr wahr sein kann. Keine Angst vor dem Leben zu haben, aber eine gewisse Achtung davor mitzubringen. Und vor allem: ja nicht ans Geschäft denken, sondern an den Schöpfungsprozess. Mischt sich da die Angst oder die Gier nach Erfolg hinein, fährt man leere Kilometer. Das muss einem egal werden.

Herzlichen Dank an die Autorin für die Beantwortung meiner Fragen!

 

Die Erdfresserin – Julya Rabinowich

Julya Rabinowich wurde 1970 in St. Petersburg geboren und ist mit sieben Jahren nach Wien gezogen. Heutzutage arbeitet sie als Autorin, Malerin und Simultandolmetscherin. 2008 erschien ihr Debütroman “Spaltkopf”, 2011 folgte das Buch “Herznovelle”. “Die Erdfresserin” ist ihr neuester Roman.

“Mein Gesicht nähert sich der Oberfläche. Ich zwinkere mir zu. Dunkle Augen im dunklen Wasser. Dunkel wie Kaffee und viele durchwachte Nächte. Gezupfter hoher Brauenbogen. Der Atem rührt kleine Wellen auf, das Haar gerät in unruhige Bewegung, verwischt, setzt sich erneut zusammen. Dampf breitet sich darüber, ich verschwinde im Nebel.”

Julya Rabinowich erzählt die Geschichte von Diana, die im Osten Europas aufgewachsen ist. Diana ist jung, gebildet, kulturell interessiert. An der Universität hat sie Regie im Hauptfach studiert. Wenn sie das Haus verlässt, trägt sie meistens eine Ausgabe von Dostojewskis “Idiot” bei sich. Diana hat aber auch einen behinderten Sohn. Eine Schwester. Eine Mutter. Alle drei wollen versorgt werden. Ihr Sohn braucht Medikamente. Ihre Familie braucht Geld. Der Vater ist schon vor langer Zeit verschwunden, niemand glaubt mehr daran, dass er zurückkehren wird. Nur die Mutter schrubbt die Stufen vor der Eingangstür. Schrubbt und schrubbt. In der Hoffnung, ihr Mann stehe plötzlich wieder hinter ihr. Hinterlassen hat er seiner Familie eine Bibliothek. Als Kind fährt Diana am liebsten mit dem Roller hindurch, später beginnt sie die Bücher daraus zu lesen.

Um ihre Familie versorgen zu können, geht Diana immer wieder für einige Wochen nach Westeuropa. In Wien oder Prag verdient sie in wenigen Tagen so viel, wie sie in ihrer Heimat innerhalb eines Monats verdienen würde. Sie lässt ihren Sohn alleine, doch gleichzeitig übernimmt sie die alleinige Verantwortung für ihn und ihre Familie. Sie alle sind auf Diana und darauf, dass sie Geld verdient, angewiesen. Diana arbeitet buchstäblich bis zum Zusammenbruch. Sie lässt sich selbst ausbeuten.

Mich hat die Figur der Diana sehr beeindruckt. Sie fährt in fremde Länder, fern von ihrem Zuhause, um Geld zu verdienen. Geld, das sie nicht für sich selbst ausgibt, sondern zurückschickt in die Heimat. Diana ist stark, unbeugsam, eine mutige Kämpferin. Diana ist aber auch unbequem, hart, unnachgiebig. Manchmal ist es als Leser schwer, sie sympathisch zu finden.

“Wische den Schlamm von den Lippen wie viele, viele Worte zuvor, stehe auf und gehe weiter. Stehe auf und gehe weiter. Es gibt welche, die liegen bleiben. Ich gehöre zu denen, die aufstehen und weitergehen. Es ist eine Frage der Entscheidung. […] Und keinen Blick zurück. Den Blick zurück kann man sich erlauben, wenn man einen Ort erreicht, der nach dem Zurück liegt.”

Diana ist hin- und hergerissen zwischen der Verpflichtung ihrer Familie gegenüber, vor allen Dingen auch ihrem Sohn gegenüber und dem Wunsch danach, ein eigenes Leben führen zu können. Ihre Träume zu leben. Am Theater tätig zu sein, als Regisseurin zu arbeiten. Diese Spaltung macht Diana manchmal auch wütend, es gibt immer wieder Passagen und Abschnitte, in denen ihre Wut sich Bahn bricht. Die Tatsache, dass sie ganz allein die Verantwortung und finanzielle Versorgung ihrer Familie auf ihre schmalen Schultern nimmt, zehrt an den Kräften der jungen Frau. Sie macht es sich nie einfach, geht den schweren Weg, statt zu sagen “Ich bleibe hier”.

“‘Was machen Sie, wenn Sie das Gefühl haben, nichts geht mehr?’

‘Ich habe kein solches Gefühl.’

‘Waren Sie denn nie verzweifelt?’

‘Das muss man sich leisten können.'”

In Wien scheint es für sie dann doch endlich Hoffnung zu geben, als sie auf den abergläubischen und schwerkranken Polizisten Leo trifft. Für eine Weile kann sie ein sorgenfreies Leben führen, doch diese Entwicklung scheint kein Ausweg auf Dauer zu sein. Als Leo stirbt, löst er sich schließlich in Luft auf und Diana muss schon beinahe das Gefühl beschleichen, diese Form des Glücks nur geträumt zu haben, denn plötzlich passt der Schlüssel zu dem Leben mit Leo nicht mehr, als hätte es nie existiert. Seine Eltern haben nach seinem Tod einfach die Schlösser ausgetaucht.

Das Buch ist in zwei Teile geteilt, in ein Davor und ein Danach. Im zweiten Teil steuert das Leben von Diana langsam auf eine Katastrophe zu, auf einen Zusammenbruch. Der Schluss ist in seiner Dichte und Intensität sicherlich einer der Höhepunkte des Romans.

Mich hat “Die Erdfresserin” vor allem aufgrund der poetischen Sprache überzeugen können. Bei den Bildern und Stimmungen, die Julya Rabinowich in ihrem Roman erschafft, ist es sicherlich angemessen, beinahe schon von einer Sprachgewalt zu sprechen. Viele Passagen des Buches sind von Bildern geprägt, die sich mir eingebrannt haben, die ich auch nach Zuklappen des Buches noch in mir trage, die in mir aufsteigen, wenn ich die Augen schließe.

“Es ist nicht angenehm, hässliche Dinge aufzubewahren, das tun die hässlichen Dinge ganz von selbst, sie drücken sich ungefragt in unsere Erinnerungen wie heiße Brandsiegel, unauslöschlich. Mit der Zeit geraten sie aus der Form, wie alte Narben, während die Haut des Bewusstseins noch wächst, an Spannkraft verliert, an Formen die sie halten sollte, unmerklich ändern sich die Bilder, ändern sich die Geschichten, ändern sich die Menschen, bis sie sich ganz verloren haben und in ihren erdigen Betten angekommen sind.”

Julya Rabinowich ist ein beeindruckend poetischer Roman gelungen. Sie zeichnet das Bild einer starken und mutigen Frau und porträtiert gleichzeitig auch die Verhältnisse, in denen viele Menschen aus Osteuropa leben müssen. “Die Erdfresserin” ist kein leichtes Buch, es ist unbequem, viele Passagen musste ich mehrmals lesen, um sie zu begreifen und verstehen zu lernen. Ein Buch, für das man sich Zeit nehmen sollte, um es in all seinen Facetten entdecken zu können.

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