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Deutschsprachige Literatur

5 Fragen an Fee Katrin Kanzler!

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Die Schriftstellerin Fee Katrin Kanzler hat Philosophie und Anglistik in Tübingen und Stockholm studiert. 2001 war sie Teilnehmerin des Treffen junger Autoren, 2007 Stipendiatin des Klagenfurter Literaturkurses. Heutzutage lebt sie im Süden Deutschlands und unterrichtet Philosophie und Englisch. Sie betreibt eine sehenswerte eigene Homepage, die einen Besuch wert ist. “.

1.) Warum wollten Sie Schriftstellerin werden?

Ich wollte Schriftsteller werden, nicht Schriftstellerin. Ob mir das als weibliche Rolle überhaupt gefällt, weiß ich gar nicht. Eigentlich ist es eine Tätigkeit, keine Identität für mich. Ich schreibe eben, und beobachte ganz viel. Außerdem einer der wenigen Berufe, in denen ich im Alleingang relativ weit komme. Ich bin ein schlechter Teamworker und Kompromisse fallen mir schwer, für eine Band oder ein Filmteam fehlen mir die Nerven.

2.) Gibt es einen Schriftsteller oder einen Künstler, der Sie auf Ihrem Weg besonders inspiriert hat?

Achtung, das wird jetzt brutal grob. In der Schulzeit John Cage. Im Studium Nietzsche und Hölderlin. Letztens der Humor von Fran Lebowitz. Und auch wenn das überspannt hippiemäßig klingt, aber besonders inspirieren können mich auch der abblätternde Lack einer Parkbank, Quittengeruch oder eine Schildkröte im Zoo.

3.) Wann und wo schreiben Sie am liebsten?

Gleich nach dem Aufwachen, ohne gefrühstückt oder mich frisiert zu haben. An meinem Schreibtisch, mit einer Tasse Kaffee. Oder ganz tief in der Nacht, wissend, dass ich auch um sechs Uhr morgens noch schlafen gehen kann. Aber meistens läuft es anders. Da klopft immer die Welt mit ihrem eingefahrenen Rhythmus.

4.) Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen?

Rocko Schamonis “Dorfpunks” war meine letzte Lektüre. Ich könnte jetzt behaupten, ich hätte es ganz bewusst ausgesucht, weil ich selbst über eine Musikerin geschrieben habe. Aber das wäre gelogen. Es lag in einer Ulmer Kneipe im Büchereck und sah nach Spaß aus. War es dann auch. Davor unter anderem “Norwegian Wood” von Murakami. Das hat mich richtig mitgenommen.

5.) Was würden Sie einem jungen Schriftsteller raten?

Ein Glückskeks sagte mir neulich: Don’t have good ideas if you aren’t willing to be responsible for them. Das fand ich gut.

Herzlichen Dank an die Autorin für die Beantwortung meiner Fragen!

Die Schüchternheit der Pflaume – Fee Katrin Kanzler

Die Schriftstellerin Fee Katrin Kanzler hat Philosophie und Anglistik in Tübingen und Stockholm studiert. 2001 war sie Teilnehmerin des Treffen junger Autoren, 2007 Stipendiatin des Klagenfurter Literaturkurses. Heutzutage lebt sie im Süden Deutschlands und unterrichtet Philosophie und Englisch. Sie betreibt eine sehenswerte eigene Homepage, die einen Besuch wert ist. “Die Schüchternheit der Pflaume” ist ihr Romandebüt.

“Du kennst die mehlige Schicht, die eine frische Pflaume hat. Was sie matt macht und blassblau statt dunkel, diese dünne Schicht, dieses Anstandspuder überm tiefen Violett, die Schüchternheit der Pflaume. Wenn du die Pflaume anfasst, reibt sich diese Schicht ab, und die Pflaumenhaut beginnt zu glänzen.”

Fee Katrin Kanzler erzählt die Geschichte eines jungen Mädchens, die den ganzen Roman hindurch namenlos bleibt. Sie ist Musikerin, spielt zusammen mit ihrem Bassmann auf Konzerten, hat eine Platte veröffentlicht und ist sogar so erfolgreich, dass sie eines Tages in einem Café nach einem Autogramm gefragt wird. Die Welt nimmt sie aus einer ganz eigenen, sehr sinnlichen, Perspektive war: im Mittelpunkt stehen kleine Details, wie das Aussehen einer Pflaume, das Essen einer Tomate und das “saugende Geräusch beim Öffnen einer Kaffeepackung.

Die Erzählerin wohnt in der Goldlaube, gemeinsam mit Borg, Matti und der ledernden Lora. Ihr Leben wirkt wie einem Märchen entsprungen. Ihre Art zu erzählen und ihre Stimme haben mich sofort in einen Bann gezogen. Sie hat mich gefangen genommen, verzaubert, bezaubert. Wenn sie von ihrem Zwillingsbruder Moritz spricht, wird mein Hals eng und schnürt sich zu. Neben all dem sprachlichen Witz, glitzert auch immer wieder eine schwere und dunkle Traurigkeit hervor.

“Ich bin nur ein Notizblock für die Götter, sie benutzen mich, kritzeln mich voll mit ihren Ideen. Irgendwann werfen sie mich weg.”

Die Handlung ist schnell erzählt: die Welt der Erzählerin, für die Musik ein Lebenselixier ist, gerät aus dem Gleichgewicht, als sie zwischen zwei Männern steht. Fender und Blaum. Beide könnten nicht unterschiedlicher sein, bei beiden glaubt die Erzählerin zunächst die Beziehungsfäden in der Hand zu halten. Doch die Kontrolle entgleitet ihr zunehmend. Sie spielt mit beiden, doch muss irgendwann erkennen, dass Fender und Blaum sich nicht ewig Zeit nehmen, um auf sie zu warten. Fender zieht mit einer anderen Frau zusammen und Blaum faselt plötzlich von einer Doktorandin. Die Erzählerin muss erkennen, dass Liebe nicht immer ein Spiel sein muss und sie ertappt sich dabei, wie sie sogar eifersüchtig wird.

Doch in diesem Buch geht es gar nicht so sehr um die Handlung. Es geht um die Sprache, um Wortkreationen, die die Autorin mit einer ungeheuren Leichtigkeit erschafft. Es geht um Bilder, Sinneseindrücke, um eine sprachliche Wucht und eine literarische Hochgeschwindigkeitsfahrt, die bei mir den Wunsch geweckt hat, das Buch nicht mehr aus der Hand legen zu müssen. In kleinen Kapiteln, überschrieben mit wunderschönen Überschriften, taucht man in ein Paralleluniversum ab, das nur noch aus Sprache und Wörtern zu bestehen scheint. Verliebt in “Die Schüchternheit der Pflaume” habe ich mich bereits auf der ersten Seite. Verliebt habe ich mich in das Wort Quisquilie.  Verliebt habe ich mich in folgende Sätze:

“Mich begeistern Kleinigkeiten. Das Schöne ist überall, und wichtig. Wer es nicht sieht, geht unter. Zugegeben, wer es sieht, auch. Aber zusammen mit der Schönheit unterzugehen, das ist es, worauf es ankommt.”

Zusammengehalten wird die Geschichte von der Musik, die eine zentrale Rolle spielt. Die Musik der “Musiksüchtigen”, die Musik machen, aber nicht darüber sprechen kann, findet sich auch in der Sprache, die einen ganz eigenen Rhythmus hat.

“Hätte ich nur eine eigene Geschichte, denke ich, wie ich meine eigene Musik habe. Selten schreibe ich eine Seite auf. Früher hatte ich Tagebücher. Die habe ich nie mehr durchgelesen seitdem. Weil diese Geschichten tote Häute sind, in denen ich nicht mehr leben kann. Schon damals nicht leben konnte. Jetzt abgestreift. Ich erzähle mir meine Geschichte nur noch im Kopf. So dass sie verfliegen kann wie Musik.”

Auch wenn das Buch vieles zu bieten hat, merke ich, dass ich doch immer wieder zu sprachlichen Aspekten zurückkehre, da mich diese am meisten berührt und beeindruckt haben. Ich wünschte mir Worte und Sätze wie Perlen auf eine Kette aufreihen zu können, um mir diese um den Hals hängen zu können und immer bei mir zu tragen. Beim Lesen bin ich tief in diesen Text, in ein Reich der Worte, hinabgestiegen und reich beschenkt worden.

“Die Schüchternheit der Pflaume” hat mich verzaubert und von Beginn an überzeugen können. Fee Katrin Kanzler hat einen Roman für Leser geschrieben, die Spaß und Freunde an Worten haben, an einer besonderen Sprache, an Bildern und eigenen Wortkreationen. Neben der Sprache hat mich der Roman auch aufgrund seiner tollen Hauptfigur überzeugen können, die mich mit ihrer Stimme mitten ins Herz getroffen hat. Sie ist versponnen, verträumt, melancholisch und liebenswert. In ihrem Kopf beherbergt sie einen Gnadenhof für Sonderlinge und Musik ist für sie ein synästhetisches Wunderland.

“Hätte ich nicht als Kind gelernt, dass Klänge ohne Geruch und Geschmack sind, hätte ich keine Scheu sie mit Worten wie zitronig, fade oder süß zu beschreiben. Violettklänge sind oft bitter, Orangeklänge haben scharfe Kanten, auch modrige Klangfarben gibt es.”

“Die Schüchternheit der Pflaume” ist ein Buch, das nicht leicht zusammen zu fassen ist. Es liest sich stellenweise schon fast wie Poesie, wie ein langes Gedicht. Die Sprache ist unheimlich lyrisch und poetisch und am liebsten würde ich nicht nur ein paar einzelne Sätze zitieren, sondern ganze Passagen und Abschnitte, ganze Kapitel oder gleich das ganze Buch. Leider ist das nicht möglich, deshalb bleibt mir lediglich zu sagen: lest es selbst! Lest Fee Katrin Kanzler!

Bei der Klappentexterin gibt es übrigens nicht nur eine lesenswerte Rezension, sondern auch noch ein interessantes Interview.

Das Kind, das nicht fragte – Hanns-Josef Ortheil

Der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren. Er ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch Pianist und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Für seine Bücher hat er bereits zahlreiche Preise erhalten, u.a. den Thomas-Mann-Preis, den Georg-K.-Glaser-Preis und den Nicolas-Born-Preis.

An einem sonnigen Aprilmorgen kommt Benjamin Merz mit dem Flugzeug in Catania an. Benjamin Merz ist Ethnologe. Für sein neuestes Forschungsprojekt reist er in die sizilianische Küstenstadt Mandlica, um die Lebensgewohnheiten der Bewohner dort zu erforschen. Aus dieser Forschungsarbeit soll später ein Buch entstehen, Die Stadt der Dolci ist der Arbeitstitel, den Benjamin Merz aber noch geheimhält. Benjamin Merz ist erfolgreich in seinem Beruf, denn nur während seiner Arbeit  fühlt er sich sicher und wie ein souveräner Gesprächsteilnehmer. Das wichtigste Gesetz in seinem Beruf ist die Teilnehmende Beobachtung, das völlige Eintauchen des Forschers in die Untersuchungsregion, “bis zur Aufgabe seiner eigenen Identität”.

“Die großen Meister unseres Faches […] tauchen so tief in das fremde Leben ein, dass sie am Ende von Einheimischen kaum noch zu unterscheiden sind.”

Wer Benjamin Merz bei seiner Arbeit erlebt, kommt nicht sofort auf die Idee, dass dieser Mann außerhalb seiner beruflichen Rolle schüchtern sein könnte. Doch Benjamin Merz ist nicht nur der erfolgreiche Ethnologe, sondern auch das Kind, das nicht fragte. Er hat Hemmungen, fühlt sich häufig verlegen, befangen und er ist kaum in der Lage dazu, einen unbedachten Satz zu äußern. Alles, legt er sich zuvor in seinem Kopf zurecht und vieles davon wird dann doch nie geäußert. Es fällt ihm schwer, Kontakte zu knüpfen, außerhalb seiner Arbeit lebt er beinahe schon als Einzelgänger.

Benjamin Merz hat vier wesentlich ältere Brüder, seine eigene Existenz war eigentlich gar nicht mehr geplant gewesen, doch dann kam er doch noch. Benjamin Merz hat eine sanfte Natur, ist gerne zurückgezogen für sich und hat von Anfang an keine Chance, sich gegen seine älteren Brüder durchzusetzen. Am Essenstisch sitzt er zwischen seinen Eltern, seine Brüder bestimmen das Tischgespräch, schließen ihn aus. Als jüngster findet er keinen Zugang zu den Gesprächsthemen und er hat Angst davor, nachzufragen. Die Abläufe in seiner Familie und die Aufteilung unter den Brüdern ist so eingespielt, dass Benjamin keine Möglichkeiten hat, sich einen Platz zu erobern. Er bleibt der, der nachgekommen ist, der der eigentlich nicht mehr gewollt wurde.

“Georg ist Anwalt und führt im Kölner Stadtteil Lindenthal eine große Kanzlei in einer beeindruckenden Villa, in der er mit seiner Familie auch wohnt. Neben Georg habe ich noch drei ältere Brüder, Martin, Josef und Andreas, die ebenfalls alle in Köln mit ihren Familien leben. Martin arbeitet als Arzt an den Universitätskliniken, Josef hat eine Apotheke und Andreas ist Studiendirektor für Griechisch und Latein an einem Kölner Gymnasium.”

Der Vater von Benjamin Merz war Ingenieur und die Mutter arbeitete als Bibliothekarin, doch er selbst fällt von Beginn an aus dieser Familie heraus. Er wohnt alleine und bescheiden unter dem Dach, in einer Drei-Zimmer-Wohnung, im Haus, das er von seinen Eltern geerbt hat. Er ist an der Universität als Privatdozent angestellt, erhält jedoch – trotz einiger vielversprechender Veröffentlichungen – kaum ein nennenswertes Gehalt. Er ist der einzige seiner Brüder, der sich nicht selbstständig ernähren kann, sondern auf finanzielle Hilfe angewiesen ist. Um sich an der Universität durchsetzen zu können, haben ihm die Ellenbogen und das Selbstbewusstsein gefehlt.

“Ich habe über diese seltsamen Verhaltensweisen nie mit einem Menschen gesprochen, ja, ich habe über sehr vieles, was in mir so vorgeht und mich sehr beschäftigt, nie gesprochen. Ich muss zugeben, dass mich diese Zurückhaltung und dieses Schweigen sehr bedrücken, andererseits möchte ich aber auch ausdrücklich betonen, dass ich kein unzufriedener oder nörglerischer Mensch bin.”

Freude bereitet Benjamin Merz sein Beruf, seine Arbeit als Ethnologe. Den Kern dieser Arbeit, als Fragender und Zuhörer in eine andere Welt einzutauchen, beherrscht er wie kaum ein anderer. Auch in Mandlica knüpft er mit den ersten Gesprächspartnern schnell Kontakt und baut sich für seine Forschungen ein erstes Umfeld auf. Er erwirbt sich den Ruf von fast magischen Fähigkeiten, da es ihm immer wieder gelingt, Dinge im Gesprächen vorauszuahnen. Er nennt das seine Ahndungen. Er nächtigt in Mandlica in einer Pension, die von zwei Schwestern aus Deutschland betrieben wird: Maria und Paula. Paula ist verschwiegen, zurückhaltend, seltsam, doch Benjamin Merz reizt es, sie näher kennenzulernen. Schritt für Schritt erlebt der Leser mit, wie es Benjamin Merz in Italien langsam und vorsichtig gelingt, aus der Rolle des Ethnologen herauszutreten und sich auch außerhalb dieser Rolle traut, zu fragen und zu sprechen.

“Das Kind, das nicht fragte”, ist der erste Roman, den ich von Hanns-Josef Ortheil gelesen habe und es war ein ausgesprochen angenehmes, aber auch bewegendes Leseerlebnis. Der Roman besticht auf mehreren Ebenen: zum einen habe ich mich von Beginn der ersten Seite an unheimlich stark mit Ortheils Hauptfigur verbunden gefühlt. Ortheil gelingt es, ihn so sanft, feinfühlig und bewegend zu schildern, das ich ihn zwischendurch manchmal am liebsten in den Arm genommen hätte. Aber auch die Arbeit seiner Hauptfigur als Ethnologe wird sehr eindrücklich geschildert. Zum anderen überzeugt der Roman jedoch auch durch wunderbare Landschaftsbeschreibungen. Das Leben in Sizilien, die Beschreibungen der sizilianischen Landschaft und die besondere Atmosphäre in Mandlica sind wunderbar und unheimlich authentisch, so dass ich zwischendurch manchmal das Gefühl hatte, mich selbst in diesem kleinen sizilianischen Küstenstädtchen zu befinden.

“Jetzt erst spüre ich die angenehme Wärme, die weiche Frühlingswärme Siziliens, dichte, niemals schwüle, sondern vom Meerwind gesiebt wirkende Luft, eine Luft voller Aromen, ein Duft von Orangen, Zitronen und Kräutern. […] Kein mir bekanntes Land verströmt einen solchen Duft, er ist einzigartig […].”

“Das Kind, das nicht fragte” ist ein wunderbarer, sprachlich glänzender und atmosphärisch leuchtender Roman über die Liebe, die Kindheit und das Überwinden der Vergangenheit. “Das Kind, das nicht fragte” ist daneben aber auch ein beeindruckender Italien-Roman, der ein sizilianisches Dorf schildert, das beinahe wie einer schönen Phantasie entsprungen wirkt. Benjamin Merz wird in Mandlica für seine magischen Fähigkeiten bewundert, ich bewundere Hanns-Josef Ortheil für die Magie, die er mit diesem Buch geschaffen hat.

Wir sind doch Schwestern – Anne Gesthuysen

Anne Gesthuysen wurde 1969 in Veen geboren, einem kleinen Dorf am Niederrhein. Nach ihrem Abitur hat sie Journalistik und Romanistik studiert und arbeitet seit 1987 als Reporterin und Autorin von Dokumentationen für unterschiedliche Fernsehsender. Einem größeren Publikum bekannt wurde sie durch ihre Tätigkeit beim ARD Morgenmagazin, das sie seit 2004 moderiert. Mit ihrem Mann Frank Plasberg  lebt sie in Köln. “Wir sind doch Schwestern” ist ihr Romandebüt.

Anne Gesthuysen erzählt in ihrem Roman “Wir sind doch Schwestern” die Geschichte von drei Schwestern, die zusammen 298 Jahre alt geworden sind. Katty, Paula und Gertrud – sie treffen sich, um gemeinsam Gertruds Geburtstag zu feiern. Nicht irgendeinen Geburtstag, sondern den hundertsten Geburtstag. Katty ist Mitte achtzig und die jüngste der drei. Wenn es darum geht Feste zu feiern, ist sie immer noch eine der letzten, die geht. Paula ist achtundneunzig und beinahe blind. Gertrud hört dafür kaum noch etwas und baut auch sonst gesundheitlich ab. Trotz ihres Alters wohnt sie noch alleine, stürzte in den vergangenen Wochen jedoch mehrmals, so dass Katty sie gerne zu sich holen würde. Katty wohnt alleine auf dem Tellemannshof. Im Sommer vermietet sie einige Zimmer des Anwesens an Pensionsgäste.

Schnell wird jedoch deutlich, dass die Stimmung zwischen den drei Schwestern angespannt ist: Katty und Gertrud kommen beide gut mit Paula aus, nur miteinander können sie einfach nicht. Zu vieles zwischen den beiden ist ungesagt geblieben, runtergeschluckt worden. Katty hat sich von der ältesten Schwester schon immer schnell gemaßregelt und bevormundet gefühlt. Gertrud dagegen trägt ihr Geschehnisse aus der Vergangenheit nach.

“Paula war völlig unkompliziert. Katty liebte sie uneingeschränkt und hatte sie gerne um sich. Das Verhältnis zu Gertrud war von jeher schwieriger gewesen. Natürlich liebte sie auch die älteste Schwester, aber irgendwie gerieten sie immer aneinander.”

Mit leichter Hand verknüpft Anne Gesthuysen Fäden aus der Gegenwart mit Rückblicken in die Vergangenheit. Die Geschichten, die sie erzählt, umfassen eine Zeitspanne, die sich quer durch das 20. Jahrhundert zieht. Sie erzählt vom Aufwachsen der Geschwister und dem frühen Tod der Mutter. Sie erzählt von Paula, die ihren Mann Alfred an andere Männer verliert. Etwas, was zur damaligen Zeit undenkbar war und mit viel Scham und gesellschaftlicher Ächtung verbunden gewesen ist. Doch Paula hat sich ihre Gelassenheit und auch ihre Fröhlichkeit bis ins hohe Alter bewahren können, ohne daran zu zerbrechen. Es ist ihr sogar gelungen, freundschaftlich mit Alfred verbunden zu bleiben. Sie erzählt von Gertrud, die sich Hals über Kopf in Franz Hegmann verliebt und trotz aller Widerstände seine Verlobte wird, ihn dann jedoch während des Krieges auf tragische Weise verliert. Und sie erzählt von Katty, die in jungen Jahren als Hauswirtschafterin auf den Tellemannshof zieht. Die Stellung wurde ihr von dem verwitweten Heinrich Hegmann angeboten, dem Bruder von Franz, der sich an dessen Tod schuldig fühlt und die Familie versucht zu unterstützten. Die Verbindung zwischen Katty und Heinrich wird im Laufe der Jahre immer enger und als dieser nach dem Krieg als Politiker tätig ist, wird auch Kattys Leidenschaft für Politik geweckt, für das Organisieren und Planen. Heutzutage würde man Katty wohl als PR-Beraterin bezeichnen. Sie ist das Mädchen für alles an Heinrichs Seite, seine engste Vertraute. Zwischen den beiden herrscht ein so enges Vertrauensverhältnis, das kein Blatt zwischen sie passt und schon gar keine zweite Frau Hegmann an Heinrichs Seite.

Auch heute noch, nach so vielen Jahren sind viele dieser Themen zwischen den Schwestern ein Tabu. Vor allem die Rolle von Heinrich Hegmann ist vermintes Gelände. Gertrud gibt ihm lange die Schuld an Franz Tod, glaubt, dass Heinrich ihre Hochzeit verhindern wollte und seinen Bruder deshalb in den Krieg geschickt hat. Gertrud fällt es schwer, die Vergangenheit ruhen zu lassen, zu vergessen, zu verzeihen.

“Sprach man sich also besser noch mal aus, bevor es zu spät war, oder ließ man alles auf sich beruhen?”

Anne Gesthuysen erzählt in ihrem Roman “Wir sind doch Schwestern” von dem Schicksal der drei Schwestern, verwebt aber auch das Leben vieler anderer Personen in diese Geschichten mit hinein, beispielsweise die des Spions, den Gertrud eine Zeit lang in ihrem Haus versteckt. Obwohl die Schwestern zwei Kriege durchstehen müssen und geliebte Menschen verlieren, erzählt Anne Gesthuysen diese Geschichten frei von jeglichen Sentimentalitäten. Auf viele Ereignisse wird stellenweise sogar beinahe ein erheiternder Blick geworfen, so dass ich beim Lesen auch immer wieder schmunzeln musste. Die Schwestern erscheinen als mutige Frauen und als starke Persönlichkeiten, die es nicht immer leicht hatten im Leben. In den gemeinsamen Vorbereitungen auf die Geburtstagsfeier von Gertrud, beginnen sie jedoch sich wieder anzunähern und auch langsam aber sicher miteinander und aneinander Spaß zu haben. Anne Gesthuysens Roman ist ein Plädoyer für die Gegenwart, für den Genuss, für das Leben im Hier und Jetzt und dafür, dass es manchmal besser sein kann, alte Geschichten hinter sich zu lassen.

“Manchmal musste man die Vergangenheit ruhen lassen und die Gegenwart genießen.”

Exemplarisch dafür ist auch der Titel des Romans zu verstehen: was auch immer in der Vergangenheit geschehen ist, was auch immer der andere getan haben mag, Wir sind doch Schwestern.  Wir bleiben Schwestern.

Im Nachwort erfährt man, dass dem Roman von Anne Gesthuysen wahre Begebenheiten zugrunde liegen. Heinrich Hegmann hat es wirklich gegeben und Katty, Paula und Gertrud sind die Großtanten der Autorin. Dennoch ist der Roman kein “Dokument der Wahrheit, wohl aber ein wahrhaftiges Dokument der Familiengeschichten.”

Anne Gesthuysen ist ein leichter Familienroman gelungen, mit dem ich mich unheimlich wohlgefühlt habe und der mich ausgesprochen gut unterhalten hat. Sprachlich ist “Wir sind doch Schwestern” sicherlich nicht immer auf dem höchsten literarischen Niveau, doch Anne Gesthuysen versteht es zu erzählen. Sie erzählt von dem Schicksal ihrer Großtanten, die trotz allem doch Schwestern geblieben sind.

5 Fragen an Arezu Weitholz!

Die Schriftstellerin Arezu Weitholz wurde 1968 in Niedersachsen geboren. Heutzutage lebt sie in Berlin und arbeitet als Journalistin und Illustratorin. Sie hat für Herbert Grönemeyer, Die Toten Hosen, Udo Lindenberg, 2raumwohnung und Madsen als Textdichterin gearbeitet. “Wenn die Nacht am stillsten ist” ist ihr Romandebüt, zuvor hatte sie bereits zwei Lyrikbände veröffentlicht.

1.) Warum wollten Sie Schriftstellerin werden?

Die russische Dichterin Marina Zwetajewa hat das mal sehr schön ausgedrückt: „Man soll nur die Bücher schreiben, unter deren Nichtvorhandensein man leidet.“

2.) Gibt es einen Schriftsteller oder einen Künstler, der Sie auf Ihrem Weg besonders inspiriert hat?

Viele, aber leider schreibe ich nicht wie die. Ich mag die unheimliche Liebe zu Außenseitern in den Büchern von Michel Faber. Es gefällt mir, wie Scarlett Thomas und Jennifer Egan Geschichten bauen. Ich verehre die Autorin und Illustratorin Tove Jansson und liebe die backsteindicken Bücher von Neal Stephenson. Ich bin begeistert von Hillary Mantel, die gerade mit „Bring Up The Bodies“ zum zweiten Mal den Booker Preis gewonnen hat, eine Fortsetzung ihrer Thomas Cromwell Biografie „Wolf Hall”, man liest da nicht Geschichte, man kann sie atmen. Letztens habe ich – endlich – John Le Carré für mich entdeckt, in England stehen seine Bücher bei der Literatur, nicht bei den Krimis. Und all die oben genannten lese ich, wie die meisten, auf Englisch. Das ist auch so eine Sache. Wenn ich englische Bücher lese, vergeht mir nie die Lust, deutsch zu schreiben.

3.) Wann und wo schreiben Sie am liebsten?

Überall und andauernd. Ideen habe ich meistens unterwegs, aber ich schreibe sie daheim ordentlich auf. Ich habe gern eine Aussicht vor dem Fenster, und ich fühle mich wohl, wenn sich möglichst viele Bücher mit mir im gleichen Zimmer befinden.

4.) Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen?

„The House of Silk“ von Anthony Horowitz, einem Schriftsteller, der eigentlich Jugendbücher schreibt. Hier hat er eine „neue“ Sherlock Holmes Geschichte verfasst, und es ist kein Wunder, dass er die volle Unterstützung des Conan Doyle Estate hatte. Zauberhafte Lektüre, spannend und schlau.

5.) Was würden Sie einem jungen Schriftsteller raten?

Wenn man seinen Lebenspartner behalten will, sollte man ihn nie zwingen, die eigenen Manuskripte zu lesen. Sowieso: nicht zu vielen verschiedenen Leuten unfertige Sachen zeigen. Und fast noch wichtiger: Ein Ende finden.

Herzlichen Dank an Arezu Weitholz für die Beantwortung meiner Fragen!

Wenn die Nacht am stillsten ist – Arezu Weitholz

http://www.kunstmann.de/_images_global/cover/220b/840/9783888977756.jpgDie Schriftstellerin Arezu Weitholz wurde 1968 in Niedersachsen geboren. Heutzutage lebt sie in Berlin und arbeitet als Journalistin und Illustratorin. Sie hat für Herbert Grönemeyer, Die Toten Hosen, Udo Lindenberg, 2raumwohnung und Madsen als Textdichterin gearbeitet. “Wenn die Nacht am stillsten ist” ist ihr Romandebüt, zuvor hatte sie bereits zwei Lyrikbände veröffentlicht.

“Am Ende geht es um den Moment. Wie das Mondlicht durch die Ritze der Jalousie auf den Parkettfußboden fällt. Wie das Auto unten vorbeifährt. Wie still es wieder wird. Du atmest. Ich sitze an deinem Bett. Ich trage die Farbe, die dir an mir so gut gefällt.”

Arezu Weitholz erzählt ihr Romandebüt “Wenn die Nacht am stillsten ist” aus der Perspektive der jungen Frau Anna. Es geht um den Moment, den Augenblick, in dem Anna am Bett des Menschen sitzt, mit dem sie seit acht Monaten zusammen ist. Ludwig ist nicht nur ihr Partner, sondern auch ihr Arbeitskollege. Ihre Beziehung haben sie geheimgehalten, niemand sollte etwas merken. Doch dann kommt es zu dem Moment, der alles verändern sollte: Ludwig schmeißt Anna einfach raus. Raus aus dem gemeinsamen Leben, aus ihrer Beziehung. Anna soll gehen, Ludwigs Wohnung verlassen. Doch sie kehrt zurück, findet ihn leblos vor, nach dem Versuch sich selbst das Leben zu nehmen. Anna setzt sich zu ihm und erzählt. Erzählt von dem Leben, das sie bis jetzt immer geheimgehalten hatte vor Ludwig: von den Dämonen, den Brüchen, ihrem Scheitern. Von ihrer demenzkranken Mutter, die sie in einem Altersheim untergebracht hat und von ihrem Leben in Südafrika.  All das hatte zuvor nicht hinein gepasst in das Leben mit Ludwig. In Ludwigs Welt. Ludwig, der sagt: “Ich bekomme Angst, wenn einer was fühlt […].”

“Es waren nie die Orte, die mich nicht wollten. Nie die Leute, die mich ablehnten. Ich konnte mich nicht haben, ich suchte eine Antwort, die es nicht gibt. Deswegen habe ich dir nie von mir erzählt. Du hasst Geschichten, die keinen Sinn ergeben.”

Die Beziehung zwischen Ludwig und Anna ist ungewöhnlich: Ludwig ist verschroben, verkopft, verloren in einer theoretischen Welt der Bücher. Es ist für ihn nicht möglich in der Welt, in der er lebt, Gefühle zuzulassen. Seine Wohnung ist kahl, kalt, nüchtern und rein und so ist auch sein Leben. Ausgerichtet darauf, Erfolg zu haben. Ludwig, von dem alle dachten, er würde irgendwann mal Professor werden, arbeitet als Journalist für ein Musikmagazin.

Anna ist anders als Ludwig:

“Ich erinnere mich an eine Nacht im Herbst, als du mich gefragt hast, ob ich für das ganz Große sterben würde. Ich lief neben dir her, wir spazierten an der Elbe entlang, du wie immer mit verschränkten Armen, ich wie immer schweigend neben dir. Ich habe eine Antwort. Nein, das würde ich nicht. Ich würde dafür leben.”

Anna ist in einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Sie war die erste in ihrer Familie, die zur Oberschule gehen durfte. Bei ihnen zu Hause gab es “kein Urlaub, keine Etagenheizung” und auch keine Bild, keinen Spiegel. Anna fühlt sich nirgendwo dazugehörig, immer auf dem Sprung, ohne das Gefühl, jemals irgendwo wirklich ankommen zu können. Auch aus dem Grund, dass es zu vieles gibt, was sie in der Vergangenheit hält.

“Weißt du, wie das ist? Wenn man mit den schicken Leuten in New York in den Szenerestaurants sitzt und da ist, aber auch von dort wieder wegwill, weil man da genauso wenig hingehört wie in einen Vorlesungssaal […] oder in einen Londoner Privatclub oder auf laute Rockkonzerte, wo man vielleicht sein will, aber wieder wegmuss, ins Krankenhaus, weil Oma da liegt, oder in die Irrenanstalt, weil Mama dort ist, und dann ins Dorf, weil Opa wartet und weint und nicht weiterweiß. Und dann muss man arbeiten, aber Mama wird entlassen, und man fährt wieder in ein Krankenhaus und kümmert sich, und es geht eine Weile gut, und dann klingelt das Telefon, mitten in einer Konferenz, und man lässt wieder alles stehen und liegen, weil sie schon wieder einen Zusammenbruch hatte, und zum ich-weiß-nicht-wievielten Mal fährt man dann dahin, dieses Mal in ein anderes Landeskrankenhaus, und man raucht zu viel und fährt zu schnell, und dann redet man mit den Ärzten und sitzt an einem Bett, und immer sind es Schlaufen, diese scheißgrauen Schlaufen in dem dunklen Mittelgrau, mit denen sie Patienten fixieren.”

Mich hat “Wenn die Nacht am stillsten ist” begeistert und beinahe atemlos zurückgelassen. Zwischendurch fiel es mir schwer, das Buch aus der Hand zu legen. Die Geschichte ist schnell erzählt und einfach konstruiert und doch hat sie auf mich einen großen Sog ausgeübt, was sicherlich an der starken und eingängigen Erzählstimme von Anna lieg. Arezu Weitholz beschreibt die Welt der Medien, die Welt des schnelllebigen Journalismus. In ihrem Roman liest sich diese Welt wie eine Scheinwelt, die durchdrungen ist von dem Wunsch, Erfolg zu haben, erfolgreich zu sein, sich einen Namen zu machen. Koste es, was es wolle. Das ist die Welt, wie Ludwig sie tagtäglich lebt, leben muss. Anna ist anders, sie fällt raus und ist gleichzeitig gezwungenermaßen ein Teil dieser Welt.

“Wenn die Nacht am stillsten ist” ist ein großartiger Roman, der mich begeistert und berührt hat. Annas Stimme ist erfrischend ungewöhnlich und sie wird mir wohl noch lange im Gedächtnis bleiben und in mir nachhallen. “Wenn die Nacht am stillsten ist” erzählt die Geschichte einer ungewöhnlichen Liebe, zeichnet aber gleichzeitig auch ein kritisches Portrait unserer heutigen Mediengesellschaft. Beides ist der Autorin außergewöhnlich gut gelungen.

Das Lesen von “Wenn die Nacht am stillsten ist” ist wie das Hören eines Musikstücks. Um es – leicht abgewandelt – mit den Worten von Arezu Weitholz zu beschreiben, handelt es sich bei diesem Roman nicht um ein Technolied, sondern um gebrochene Akkorde. Die Musik spielt in diesem Roman eine zentrale Rolle, was sich nicht allein auf die Erwähnung von Musikern beschränkt, sondern auch auf die Stimme des Buches bezieht: Anna erzählt in einem ganz besonderen Rhythmus, spricht in einer Stimme, die ganz unterschiedliche Facetten hat. Als würde man beim Lesen ein Mixtape – voll mit großartigen Liedern – hören.

Adams Erbe – Astrid Rosenfeld

Die Schriftstellerin Astrid Rosenfeld wurde 1977 in Köln geboren und hat in diversen Jobs in der Filmbranche gearbeitet, unter anderem war sie als Casterin tätig. Heutzutage lebt sie in Berlin. “Adams Erbe” war ihr Debütroman und war sowohl beim Publikum als auch bei der Kritik ein großer Erfolg. Im Februar erscheint ihr nächster Roman “Elsa ungeheuer” im Diogenes Verlag.

“Fängt man an zu schreiben, weil es jemanden gibt, dem man alles erzählen will? Fängt man an zu erzählen, weil der Gedanke, dass alles einfach verschwinden soll, unerträglich ist?”

Astrid Rosenfeld erzählt in ihrem Roman “Adams Erbe” die Geschichte von Edward Moss-Cohen. Doch Edwards Geschichte ist nur ein kleiner Teil des Ganzen. Eigentlich wird die Geschichte Adams erzählt. Adam hat Edward “seine Augen, seinen Mund, seine Nase vererbt, und einen Stapel Papier, der seinen wahren Empfänger nicht erreicht hat”. Auf einem Dachboden haben sich die Geschichten der beiden ineinander verschlungen.

“An einem sonnigen Nachmittag im März presste Magda mich heraus und benannte mich nach einem der Protagonisten ihres Lieblingsromans von Jane Austen: Edward. An diesem Frühlingstag sah ich aus wie alle anderen Babys, aber mit jedem Jahr wuchs die Ähnlichkeit. Adams Augen, Adams Mund, Adams Nase.”

Edward hat keinen Vater und wächst alleine mit seiner Mutter und seinen Großeltern auf. Sein Großvater Moses wird mit den Jahren immer seltsamer, zieht sich auf den Dachboden zurück und spricht Edward mit dem Namen seines Bruders Adam an.

“Vor vielen Jahren hat hier schon mal ein Junge gesessen, der sah aus wie du. Er hatte keine Autos, sondern Zinnsoldaten. Er hieß Adam und war mein kleiner Bruder.”

Adam ist Edwards Großonkel, den er nie kennengelernt hat. Das schwarze Schaf der Familie, das einem Schatten gleich über Edwards Existenz schwebt. Familie Cohen wollte nach der Machtergreifung Hitlers nach England ausreisen, doch kurz vor dem Tag der Abreise verschwand Adam mit dem gesamten Familienvermögen. Seine Mutter und Großmutter entschieden sich in Berlin zu bleiben, sie haben ihr Leben lang auf Adams Rückkehr gewartet, der jedoch nie zurückkehren sollte.

An dem Tag, an dem Edwards Leben in tausend Teile zerbricht, betritt er zufällig den Dachboden seiner Großmutter und findet dort ein Stapel Papier, andressiert an Anna Guzlowski: Adams Erbe, sein Nachlass, die Geschichte, die er für einen ganz bestimmten Menschen zurückgelassen hat, die die Empfängerin aber nie erreicht hat.

Adams Geschichte beginnt im Jahr 1938 in Berlin. Adam wächst gemeinsam mit seiner exzentrischen Großmutter Edda Klingmann, seinem Bruder Moses und ihrer Mutter in Berlin auf. Er ist ein verschrobener Junge, der seinen Tagträumen nachhängt. Doch die Machtergreifung Hitlers liegt wie ein dunkler Schatten über seinem Leben, denn die Familie Cohen hat eine jüdische Herkunft. In dem Moment, in dem Adam auf das junge Mädchen Anna trifft, erfüllen sich alle seine bisherigen Träume und Wünsche.

“Anna, als dein Blick mich traf, war alles richtig. Ich habe die ganze Welt in mir getragen. Millionen Vögel sind in mir zum Himmel aufgestiegen. In meinen Adern das Rauschen von Meeren und Flüssen.” 

Halsüberkopf verliebt er sich in Anna und erlebt eine Gefühlswelt, die er sich zuvor nie hätte vorstellen können. Doch Anna verschwindet in der Nacht zum 9. November 1938 spurlos. Adam möchte sie wiederfinden und macht sich auf die Suche …

Edward erfährt beinahe sechzig Jahre später auf dem Dachboden sitzend als erster Adams Geschichte. Eine herzergreifende, rührende Geschichte, die von dem Leben eines jungen Mannes erzählt, der bereit ist, alles aufzugeben um die Liebe seines Lebens in Sicherheit zu wissen.

Astrid Rosenfeld ist mit “Adams Erbe” ein wirklich wunderbarer Roman gelungen, den ich förmlich verschlungen habe, da er mich bis spät in die Nacht hinein noch gefesselt hat. Besonders genossen habe ich die intensiven Beschreibungen der weiblichen Figuren, die diesen Roman für mein Empfinden prägen, auch wenn der Titel auf einen männlichen Charakter zurückgeht. Sowohl die Großmutter von Edward, als auch Edda Klingmann sind spröde und eigenwillige, aber gleichzeitig auch auf ihre ganz eigene Art und Weise liebenswerte Charaktere.

Edward und Adam sind zwei liebenswerte Tagträumer, die sich nicht nur aufgrund der Nase und des Mundes ähneln. Beide verkörpern ähnliche Charakterzüge und schließlich verschlingen sich ihre Geschichten auf dem Dachboden ineinander. Adams Geschichte hat mich tief berührt und aufgewühlt zurückgelassen. Viele Passagen aus dem Teil seiner Geschichte habe ich als unheimlich intensiv empfunden.

“Wir weinten um die unvollendeten Geschichten, um verpasste Chancen, um die Worte, die wir nie gesagt hatten, um alles, was wir niemals verstehen würde. Wir weinten um die Scham, um die Angst und um die Liebe. Wir weinten um uns selbst.”

Trotz des ernsthaften Themas, Adams Geschichte spielt während der Machtergreifung der Nationalsozialisten, ist die Erzählung an vielen Stellen von einer Leichtigkeit geprägt. Es gibt immer wieder Stellen, an denen ein ganz eigener Witz mitschwingt, eine wunderbare Ironie, die mich immer wieder zum Schmunzeln gebracht hat. Neben den herausragenden sprachlichen Aspekten, hat mich Astrid Rosenfeld aber vor allen Dingen auch mit der großartigen Komposition des Romans überzeugen können. Die Erzählung ist auf mehreren Ebenen miteinander verbunden, förmlich verschlungen, doch jede Ebene konnte mich gleichermaßen überzeugend erreichen.

Ich habe “Adams Erbe” mit einem Kloß im Hals, einer Träne im Augenwinkel und einem Lächeln auf den Lippen zugeklappt. Für mein Empfinden ist Astrid Rosenfeld ein großartiger Roman gelungen, der durch seine Poetik, seinen tiefsinnigen Witz und seine Komposition zu überzeugen weiß. Ich freue mich bereits jetzt sehr auf den neuen Roman der Autorin.

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