Der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren. Er ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch Pianist und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Für seine Bücher hat er bereits zahlreiche Preise erhalten, u.a. den Thomas-Mann-Preis, den Georg-K.-Glaser-Preis und den Nicolas-Born-Preis.
An einem sonnigen Aprilmorgen kommt Benjamin Merz mit dem Flugzeug in Catania an. Benjamin Merz ist Ethnologe. Für sein neuestes Forschungsprojekt reist er in die sizilianische Küstenstadt Mandlica, um die Lebensgewohnheiten der Bewohner dort zu erforschen. Aus dieser Forschungsarbeit soll später ein Buch entstehen, Die Stadt der Dolci ist der Arbeitstitel, den Benjamin Merz aber noch geheimhält. Benjamin Merz ist erfolgreich in seinem Beruf, denn nur während seiner Arbeit fühlt er sich sicher und wie ein souveräner Gesprächsteilnehmer. Das wichtigste Gesetz in seinem Beruf ist die Teilnehmende Beobachtung, das völlige Eintauchen des Forschers in die Untersuchungsregion, “bis zur Aufgabe seiner eigenen Identität”.
“Die großen Meister unseres Faches […] tauchen so tief in das fremde Leben ein, dass sie am Ende von Einheimischen kaum noch zu unterscheiden sind.”
Wer Benjamin Merz bei seiner Arbeit erlebt, kommt nicht sofort auf die Idee, dass dieser Mann außerhalb seiner beruflichen Rolle schüchtern sein könnte. Doch Benjamin Merz ist nicht nur der erfolgreiche Ethnologe, sondern auch das Kind, das nicht fragte. Er hat Hemmungen, fühlt sich häufig verlegen, befangen und er ist kaum in der Lage dazu, einen unbedachten Satz zu äußern. Alles, legt er sich zuvor in seinem Kopf zurecht und vieles davon wird dann doch nie geäußert. Es fällt ihm schwer, Kontakte zu knüpfen, außerhalb seiner Arbeit lebt er beinahe schon als Einzelgänger.
Benjamin Merz hat vier wesentlich ältere Brüder, seine eigene Existenz war eigentlich gar nicht mehr geplant gewesen, doch dann kam er doch noch. Benjamin Merz hat eine sanfte Natur, ist gerne zurückgezogen für sich und hat von Anfang an keine Chance, sich gegen seine älteren Brüder durchzusetzen. Am Essenstisch sitzt er zwischen seinen Eltern, seine Brüder bestimmen das Tischgespräch, schließen ihn aus. Als jüngster findet er keinen Zugang zu den Gesprächsthemen und er hat Angst davor, nachzufragen. Die Abläufe in seiner Familie und die Aufteilung unter den Brüdern ist so eingespielt, dass Benjamin keine Möglichkeiten hat, sich einen Platz zu erobern. Er bleibt der, der nachgekommen ist, der der eigentlich nicht mehr gewollt wurde.
“Georg ist Anwalt und führt im Kölner Stadtteil Lindenthal eine große Kanzlei in einer beeindruckenden Villa, in der er mit seiner Familie auch wohnt. Neben Georg habe ich noch drei ältere Brüder, Martin, Josef und Andreas, die ebenfalls alle in Köln mit ihren Familien leben. Martin arbeitet als Arzt an den Universitätskliniken, Josef hat eine Apotheke und Andreas ist Studiendirektor für Griechisch und Latein an einem Kölner Gymnasium.”
Der Vater von Benjamin Merz war Ingenieur und die Mutter arbeitete als Bibliothekarin, doch er selbst fällt von Beginn an aus dieser Familie heraus. Er wohnt alleine und bescheiden unter dem Dach, in einer Drei-Zimmer-Wohnung, im Haus, das er von seinen Eltern geerbt hat. Er ist an der Universität als Privatdozent angestellt, erhält jedoch – trotz einiger vielversprechender Veröffentlichungen – kaum ein nennenswertes Gehalt. Er ist der einzige seiner Brüder, der sich nicht selbstständig ernähren kann, sondern auf finanzielle Hilfe angewiesen ist. Um sich an der Universität durchsetzen zu können, haben ihm die Ellenbogen und das Selbstbewusstsein gefehlt.
“Ich habe über diese seltsamen Verhaltensweisen nie mit einem Menschen gesprochen, ja, ich habe über sehr vieles, was in mir so vorgeht und mich sehr beschäftigt, nie gesprochen. Ich muss zugeben, dass mich diese Zurückhaltung und dieses Schweigen sehr bedrücken, andererseits möchte ich aber auch ausdrücklich betonen, dass ich kein unzufriedener oder nörglerischer Mensch bin.”
Freude bereitet Benjamin Merz sein Beruf, seine Arbeit als Ethnologe. Den Kern dieser Arbeit, als Fragender und Zuhörer in eine andere Welt einzutauchen, beherrscht er wie kaum ein anderer. Auch in Mandlica knüpft er mit den ersten Gesprächspartnern schnell Kontakt und baut sich für seine Forschungen ein erstes Umfeld auf. Er erwirbt sich den Ruf von fast magischen Fähigkeiten, da es ihm immer wieder gelingt, Dinge im Gesprächen vorauszuahnen. Er nennt das seine Ahndungen. Er nächtigt in Mandlica in einer Pension, die von zwei Schwestern aus Deutschland betrieben wird: Maria und Paula. Paula ist verschwiegen, zurückhaltend, seltsam, doch Benjamin Merz reizt es, sie näher kennenzulernen. Schritt für Schritt erlebt der Leser mit, wie es Benjamin Merz in Italien langsam und vorsichtig gelingt, aus der Rolle des Ethnologen herauszutreten und sich auch außerhalb dieser Rolle traut, zu fragen und zu sprechen.
“Das Kind, das nicht fragte”, ist der erste Roman, den ich von Hanns-Josef Ortheil gelesen habe und es war ein ausgesprochen angenehmes, aber auch bewegendes Leseerlebnis. Der Roman besticht auf mehreren Ebenen: zum einen habe ich mich von Beginn der ersten Seite an unheimlich stark mit Ortheils Hauptfigur verbunden gefühlt. Ortheil gelingt es, ihn so sanft, feinfühlig und bewegend zu schildern, das ich ihn zwischendurch manchmal am liebsten in den Arm genommen hätte. Aber auch die Arbeit seiner Hauptfigur als Ethnologe wird sehr eindrücklich geschildert. Zum anderen überzeugt der Roman jedoch auch durch wunderbare Landschaftsbeschreibungen. Das Leben in Sizilien, die Beschreibungen der sizilianischen Landschaft und die besondere Atmosphäre in Mandlica sind wunderbar und unheimlich authentisch, so dass ich zwischendurch manchmal das Gefühl hatte, mich selbst in diesem kleinen sizilianischen Küstenstädtchen zu befinden.
“Jetzt erst spüre ich die angenehme Wärme, die weiche Frühlingswärme Siziliens, dichte, niemals schwüle, sondern vom Meerwind gesiebt wirkende Luft, eine Luft voller Aromen, ein Duft von Orangen, Zitronen und Kräutern. […] Kein mir bekanntes Land verströmt einen solchen Duft, er ist einzigartig […].”
“Das Kind, das nicht fragte” ist ein wunderbarer, sprachlich glänzender und atmosphärisch leuchtender Roman über die Liebe, die Kindheit und das Überwinden der Vergangenheit. “Das Kind, das nicht fragte” ist daneben aber auch ein beeindruckender Italien-Roman, der ein sizilianisches Dorf schildert, das beinahe wie einer schönen Phantasie entsprungen wirkt. Benjamin Merz wird in Mandlica für seine magischen Fähigkeiten bewundert, ich bewundere Hanns-Josef Ortheil für die Magie, die er mit diesem Buch geschaffen hat.
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