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Deutschsprachige Literatur

Dea Loher las im Rahmen der Literatour Nord in Bremen

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Im Rahmen der diesjährigen Literatour Nord las die Autorin Dea Loher im Café Ambiente in Bremen aus ihrem Roman “Bugatti taucht auf”. Moderiert wurde die Lesung von Prof. Dr. Gert Sautermeister. In seiner Vorstellung der Autorin betonte Gert Sautermeister vor allem ihre herausragenden Leistungen als erfolgreichste deutsche Dramatikerin: insgesamt gibt es 300 Inszenierungen ihrer Stücke und 30 Übertragungen in fremde Sprachen. Sie hat bereits zahlreiche Preise erhalten, zuletzt den Berliner Literaturpreis. Um ihren ersten Roman “Bugatti taucht auf” zu schreiben, hat sich Dea Loher eine einjährige Auszeit vom Theater genommen.

Bevor Dea Loher anfing zu lesen, hat Gert Sautermeister die Handlung und den Aufbau des Romans kurz zusammengefasst, um in die Geschichte einzuführen. Dea Loher hatte sich dazu entschieden, Passagen aus dem zweiten und dritten Teil des Romans zu lesen. Die gewählten Passagen beschäftigten sich zum einen mit dem Ereignis, das zu der Tat – dem Mord an einem jungen Mann – führte und zum anderen mit der Frage, wie Freunde und Verwandte versuchen, mit der Tat klar zu kommen.

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Man merkte Dea Loher ihre Erfahrung an, sie war selbstsicher und hat sehr überzeugend gelesen. Besonders beeindruckend waren für mich die Passagen aus dem zweiten Teil. Durch das Vorlesen, die Vielzahl an Namen und unterschiedlichen Personen, die verwirrenden Handlungsabläufe und die widersprüchlichen Aussagen wurde die Sinnlosigkeit der Tat sehr intensiv gespiegelt.

Sehr interessant war auch das anschließende Gespräch zwischen dem Moderator und der Autorin, in dem Dea Loher sehr ausführlich Stellung zu ihrem Roman und ihrer Recherchearbeit bezogen hat. Für den beeindruckenden zweiten Teil des Romans hat Dea Loher nicht  nur in Zeitungen recherchiert, sondern sich auch Zugang zu den Gerichtsakten in Tessin verschafft. Zu ihrem Schreck waren die Gerichtsakten in einem “Juristen-Italienisch” und für sie vollkommen unverständlich. Sehr sympathisch habe ich in Erinnerung, wie die Autorin bei der Erinnerung daran lachen musste und den Satz sagte, den sie damals dachte: “Oh Scheiße, was mach ich denn jetzt?”. Insgesamt hat sie mehr als drei Monate und die Hilfe eines deutsch-italienischen Schauspielers gebraucht, um die Akten Satz für Satz, Zeugenaussage für Zeugenaussage durchzuarbeiten und zu übersetzen. Sie berichtet davon, dass diese Arbeit emotional sehr anstrengend gewesen sei, es war ein sich ständig wiederholendes Lesen des Tathergangs und sie musste bei ihrer Arbeit auch immer wieder Pausen einlegen, weil sie es nicht mehr ertragen konnte. Die Form des Kapitels ist aus der Essenz dieser Auseinandersetzung mit den Gerichtsakten entstanden und sollte das Kreisen um das warum abbilden, das keine Antwort gibt. Dea Loher hat bei der Recherche jedoch nicht nur auf die Gerichtsakten zurückgegriffen, sondern auch Interviews mit den Beteiligten geführt und vor Ort recherchiert. Eine ihrer wichtigsten Informationsquellen war der Unterwasserunternehmer, der im Buch Jordi heißt und den Anstoß für die Idee gibt, das Wrack des Bugattis zu bergen. Er war für Dea Loher der erste Anlaufpunkt und sie bezeichnet ihn als “völlig verrückten Typ”.

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Das geborgene Auto wurde übrigens von einem kalifornischen Millionär ersteigert, der sich dazu entschieden hat, das Wrack so zu lassen, wie es ist und nicht zu restaurieren. Ihm war von Anfang klar, dass der Bugatti auf ganz besondere Weise mit dem Mord an dem jungen Mann verknüpft ist. Heutzutage steht das Auto in einem extra dafür eingerichteten Raum in seinem Automobilmuseum in Kalifornien. An der Wand hängt ein großes Foto von Damiano Tamagni und der Geschichte seines Mordes.

Bei der Lesung von Dea Loher ist deutlich geworden, auf wie vielfältige Weise die Geschichten im Roman miteinander verknüpft sind und wie viel Herzblut und Recherchearbeit Dea Loher darin investiert hat. Während des Gesprächs über ihren Roman merkt man der Autorin mit jeder Faser ihre Begeisterung für ihren Stoff an – vom ersten Moment, als sie in einer Automobilzeitung über diesen Mord las, wusste sie, dass es sich um eine “irre Geschichte” handelt und sie unbedingt darüber schreiben muss.

Dea Loher ist eine interessante Schriftstellerin und ich habe diesen Lesungsabend sehr genossen. In Bremen wird im Moment ihr Theaterstück “Das Leben auf der Praça Roosevelt” aufgeführt, für das sie auch während der Lesung noch einmal sehr sympathisch geworben hat und das ich mir unbedingt anschauen möchte.

Mädchen IV mit Leguan – Alexandra Lavizzari

Die Schriftstellerin Alexandra Lavizzari wurde in Basel geboren und hat Ethnologie und Islamwissenschaft studiert. Seit 1999 lebt sie abwechselnd in Rom, in der Schweiz und in England. Sie hat bereits einige belletristische, kunstgeschichtliche und literaturkritische Werke veröffentlicht. Auf dem Blog “Lesewelle” gab es bereits letzte Woche einen Hinweis auf ihren biographischen Essay über Annemarie Schwarzenbach.

“Was nicht erzählbar ist, hängt an der Seele wie die wachsende Frucht an einem Baum. Irgendwann knickt die Seele unter der Last, wenn man sie nicht durch Sprechen befreit.”

“Mädchen IV mit Leguan” erzählt die Geschichte eines namenlosen Mädchens, das mit zehn Jahren in einen Steinbruch stürzt und schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert wird. Die körperlichen Schäden des Unfalls verheilen mit der Zeit, doch das Mädchen hat nicht nur ihre Erinnerungen an den Unfall und die vorherigen Monate verloren, sondern auch ihre Sprache. Sie hört auf zu kommunizieren.

“Dazu müsste ich den Mund auftun und einen Laut von mir geben. Was ich seit einer Woche und zwei Tagen nicht mehr tue. Es heißt, ich habe die Sprache verloren. Möglich, aber sicher bin ich nicht. Ich denke, wenn ich mich anstrenge, könnte ich Schwester Tina sagen oder Mama, nur strenge ich mich nicht an. Oder nicht genug.”

Sie verweigert sich allen therapeutischen Maßnahmen und auch ihre Eltern finden keinen Zugang mehr zu ihrer Tochter. Der Vater ist häufiger auf Geschäftsreise, als zu Hause und die Mutter versinkt immer wieder in ihre Beschäftigung mit der Kunst. Der Sturz in den Steinbruch scheint nicht nur ein unglücklicher Unfall gewesen zu sein. Das Mädchen empfindet ihn als tiefen Einschnitt, der ab jetzt das Leben vor und nach dem Unfall durch eine gewaltig klaffende Lücke voneinander trennt.

“Trotzdem sagen mir die Namen nichts. Sie haben nichts mit mir zu tun, weil ich nicht diejenige bin, für die man mich hält. Zwischen mir und der Welt, die Mutter ins Zimmer zaubert, gibt es einen Graben. Ich stehe allein auf meiner Seite. Wenn ich jedoch hinüberblicke, wo die anderen stehen, sehe ich mich dort auch.”

“Ich ziehe mich noch tiefer in meinen Körper zurück, um mich vor den Schmerzen davonzustehlen. Inzwischen kenne ich den Weg. Er ist nicht lang, er führt unter Ohrensausen in einen dunklen Raum, der sich auflöst, sobald ich mitten drin stehe. Der Boden ist weg und ich falle, falle, falle, bis ich an der erstbesten Erinnerung hängen bleibe. Niemand fängt mich auf und niemand ahnt, dass ich jetzt mit fremden Kindern ins Wasser tauche, auf dem die Asche der Toten schwimmt.”

Stumm kehrt das junge Mädchen in die Schule zurück, kapselt sich von ihren Mitschülern ab, beginnt immer häufiger Schulstunden zu schwänzen oder bei gemeinsamen Ausflügen zu fehlen. Sie findet erst langsam den Weg zurück in die Normalität, doch irgendwann beginnt sie schließlich doch wieder damit  zu sprechen. Mit der Sprache kommen auch Erinnerungsfetzen und Traumbilder zurück. Erinnerungen an den Unfall, der vielleicht gar kein Unfall gewesen ist. Bilder, die das junge Mädchen ängstigen und die aus den Monaten vor ihrem Sturz stammen. Erinnerungen und Bilder, die sie nicht einordnen kann, nicht zuordnen, doch die wie ein “Alp” auf ihrer Brust lasten.

Erzählt wird der Roman aus der Perspektive des mittlerweile erwachsen gewordenen Mädchens, die ihre Geschichte einem Unbekannten erzählt.

“Hauptsache, Sie unterbrechen mich nicht. Ich werde nämlich lange erzählen. Wie Scheherazade werde ich die ganze Nacht erzählen.”

Für den Leser setzt sich Seite für Seite, Stück für Stück ein Puzzle zusammen. Ein Bild entsteht, Erinnerungen und Eindrücke werden zusammengefügt.  Die Erzählung des Mädchens beginnt im Krankenhaus und endet mit dem Moment der Wahrheit, in dem sie alle Puzzlestückchen zusammengefügt hat.

Der seltsame Titel des Romans bezieht sich auf ein Bild, das ein mit der Mutter befreundeter Künstler von dem jungen Mädchen vor dem Unfall gemalt hat und das den Titel “Mädchen IV” trägt. Der ausgestopfte Leguan ist ein Geschenk ihres Vaters, während sie im Krankenhaus liegt. Sie tauft ihn auf den Namen Trauma und im Laufe der Jahre erzählt sie ihrem Leguan ihr Geheimnis. Sie öffnet die Naht an seinem Bauch und füllt ihren Leguan mit ihren Erinnerungen, mit ihren Ängsten, mit ihrer Scham. Mit diesem monströsen Es:

“Es. Das Wörtchen steht inzwischen für alles Unaussprechbare, Mutter führt es ständig im Mund. Es steht für meine Narben, meine Schmerzen, meine Alpträume, meine Stummheit und vor allem, mit großem E, für jenen Novembertag, der damit tot geschwiegen wird.”

Sie möchte, dass ihr Leguan genau so ist, wie sie: mit Wunden und einem Geheimnis.

Alexandra Lavizzari hat mich mit ihrem Roman “Mädchen IV mit Leguan” nicht nur überzeugt, sondern auch begeistert und tief beeindruckt. Der Roman lebt von seiner Hauptfigur: das junge Mädchen besitzt einen speziellen Ton, eine Stimme, die mich von Beginn an in einen Sog gezogen hat. Ihre Erzählung ist von Verzweiflung geprägt und diese Verzweiflung wird unheimlich roh und ehrlich, ungefiltert, geschildert. Ihre Gedanken und Gefühle haben mich verstört und erschüttert.

“Ich habe mich verändert, bin nicht mehr ich, oder ich bin ich und ein anderes Ich dazu, das in mir wächst und mir Gedanken eingibt, die nicht zu mir gehören.”

Es gibt auch Passagen, die in einem leicht selbstironischen Ton gehalten sind, über die man beinahe ein bisschen schmunzeln kann.

“Mein Trauma – denn es gehört mir, dieses rätselhafte Ding – erklärt und entschuldigt alles und mich selbst bringt es in den Genuss grenzenloser Nachsicht.”

“Mädchen IV mit Leguan” ist ein Buch, das in den Feuilletons der größeren Zeitungen leider noch kaum Aufmerksamkeit erregt hat, dabei hätte es dieser beeindruckende Roman mehr als verdient, besprochen und beachtet zu werden. “Mädchen IV mit Leguan” ist ein ungewöhnlicher Text, der mich sehr nachdenklich und verstört zurückgelassen hat. Alexandra Lavizarri gewährt dem Leser Einblicke in den Kopf eines traumatisierten Kindes, das sich allein gelassen fühlt mit sich, den Erinnerungen und der Angst. Ein Mädchen, das sich selbst als “Besudelte” bezeichnet, besudelt von Scham und Ekel, für die kein Platz ist in der perfekten Welt ihrer Eltern. Alexandra Lavizzari entlässt den Leser nicht mit einem Happy End, sie hat mich überrascht und verstört aus der Geschichte entlassen, mit einem Ende, über das ich wohl noch lange nachdenken muss.

Eine empfehlenswerte Lektüre, der ich viele Leser wünschen würde.

5 Fragen an Silke Scheuermann!

© Kirsten Bucher

© Kirsten Bucher

Die Schriftstellerin Silke Scheuermann wurde 1973 in Karlsruhe geboren und lebt heutzutage in Offenbach. Für ihre bisherigen Veröffentlichungen hat sie bereits zahlreiche Preise und Stipendien erhalten. Zuletzt erschien von ihr im vergangenen Jahr der Roman “Shanghai Performance”.

1.) Warum wollten Sie Schriftstellerin werden?

Hm. Das hat sich erfreulicherweise so ergeben. Ich schreib gern, denk mir gern was aus. Lüge gern, in gewisser Weise und versuche dadurch, an eine Form der Wahrheit heran zu kommen.

2.) Gibt es einen Schriftsteller oder einen Künstler, der Sie auf Ihrem Weg besonders inspiriert hat?

Das waren viele, aber allen voran wohl die Lyrikerinnen Inger Christensen und Sylvia Plath.

3.) Wann und wo schreiben Sie am liebsten?

Ganz schlicht: daheim an meinem Schreibtisch. Besonders gern sitze ich da, wenn der mal aufgeräumt ist, aber das ist selten…

4.) Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen?

Den dritten Teil dieses Murakami Sekten-Science-Fiction.

5.) Was würden Sie einem jungen Schriftsteller raten?

Lesen, lesen, lesen. Ruhig auch mal abseits der Bestsellerlisten.

Herzlichen Dank an Silke Scheuermann für die Beantwortung meiner Fragen.

Die Häuser der anderen – Silke Scheuermann

g-scheuermann-silke-die-haeuser-der-anderenDie Schriftstellerin Silke Scheuermann wurde 1973 in Karlsruhe geboren und lebt heutzutage in Offenbach. Für ihre bisherigen Veröffentlichungen hat sie bereits zahlreiche Preise und Stipendien erhalten. Zuletzt erschien von ihr im vergangenen Jahr der Roman “Shanghai Performance”.

“Die Häuser der anderen” setzt sich aus insgesamt 9 Szenen zusammen. Im Mittelpunkt dieser Szenen stehen die Bewohner der Straße Am Kuhlmühlgraben.

“Am Kuhlmühlgraben hieß die letzte, noch zum Stadtteil gehörende Straße im Osten, eine lange Reihe gepflegter frei stehender Einfamilienhäuser.”

In den einzelnen Szenen wirft Silke Scheuermann Schlaglichter auf die Bewohner der Straße.  Wir lernen zum Beispiel Luisa und Christopher kennen, ein junges Pärchen, das gemeinsam mit dem Mischlingshund Benno das dritte Haus in der Straße bewohnt – ein weißes Haus mit einem frisch bepflanzten Vorgarten.

“Vorn protzte man mit den Autos, hinten mit den Hunden – so war die Straße eben auch, und diese Ambitioniertheit gefiel Luisa und Christopher sehr gut, schließlich wollten sie genauso wenig auf der Stelle treten.”

Christopher ist studierter Biologe und schreibt an seiner Promotion, während Luisa – die Kunsthistorikerin ist – freischaffend tätig ist und immer mal wieder Lehraufträge erhält. Beide sind ehrgeizig, erfolgsorientiert und auf ihre Wirkung nach außen bedacht – wie viele andere Bewohner der Straße auch. Christopher und Luisa bemühen sich, ihre Beziehung und ihr gemeinsames Leben für die anderen sichtbar perfekt zu inszenieren. Mit der Zeit müssen sie jedoch feststellen, dass ihre Wunschträume der Wirklichkeit nicht immer standhalten können.

“‘Wieso hast du mich dann geheiratet?’ fragte sie, und so, wie die Frage im Raum stand, wurde ihr ganz seltsam zumute.

Er gab sich den Anschein, nachdenklich zu werden: ‘Ja’, sagte er langsam, ‘manchmal frage ich mich das auch’. 

Der Leser lernt das schwule Pärchen Herr Emmermann und Herr Eisen kennen, die ihre Hausgemeinschaft Am Kuhlmühlgraben 38 terrorisieren und ihre ganze Energie dafür einsetzen, Bewohner auf perfide Art und Weise wegzuekeln und dabei gar nicht in der Lage sind zu merken, dass sie miteinander überhaupt nicht mehr glücklich sind. Beide sehnen sich eigentlich nach einem anderen Leben. Man erhält Einblicke in das Leben von Gaby und ihrer Tochter Britney, die gar nicht in der Straße wohnen, aber alles dafür tun würden, in diese Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Ihre Träume bestehen aus dem Wunsch nach Anerkennung und Bekanntheit, danach die Fesseln der Vergangenheit, die Spuren eines einfachen Lebens abzuschütteln, um noch einmal neu zu beginnen. Doch wie weit geht man, um den Wunsch dazuzugehören zu verwirklichen? Was gibt man auf? Was nimmt man in Kauf? Und ist man – wenn man sein Ziel erreicht hat – überhaupt noch man selbst? Ist man dann noch glücklich? Am stärksten beeindruckt haben mich die Szenen aus dem Leben von Dorothee, die in kurzer Zeit sowohl ihren Mann Frank, als auch den gemeinsamen Hund Kitty verliert. In diesem Moment zerbricht ihre Welt, ihre Träume, ihr Leben. Als gebrochene Frau und schwere Alkoholikerin muss sie aus dem ehemals gemeinsamen Haus ausziehen und die Straße verlassen. Sie passt nicht mehr in das Bild der makellosen Perfektheit. Selbst Freunde wissen nichts mehr mit ihr anzufangen und schämen sich für Dorothee. Ihr Abstieg aus der Welt des Kuhlmühlgraben ist rasant und endet als tiefer Fall. Es bleibt ihr lediglich noch das Betrachten dieser Welt von außen:

“Die ganze Straße Am Kuhlmühlgraben, auch unser ehemaliges Haus, gehört zu denen mit der arroganten Schwärze. War das früher anders, als wir darin wohnten? Ich könnte nicht festmachen, was sich geändert hat. War ich eine andere? ich lasse den Gedanken fallen. Ich kenne die Mieter nicht, aber sie werden sein wie alle hier. Ehrgeizige Leute, nicht mehr ganz jung, die es geschafft haben. Die Bausparverträge haben es gebracht. Sie haben es gebracht. Oder sie haben geerbt.”  

Silke Scheuermann ist mit “Die Häuser der anderen” eine großartige Milieustudie einer Gesellschaft gelungen, die nur noch um sich selbst kreist. Sie wirft einen Blick in die Welt der ehrgeizigen und ambitionierten Bewohner der Straße Am Kuhlmühlgraben. Eine Straße, die wie eine eigene Welt erscheint. Eine Welt der Träume, der Symbole, des Wohlstands. Eine Welt, die von außen betrachtet den Anschein von etwas Perfektem und Glücklichem suggeriert. Silke Scheuermann arbeitet mit feinen Strichen, gestaltet sehr detaillierte Szenen, die den Eindruck erwecken, dass diese Welt vielleicht nicht unbedingt ein Trugbild sein muss, dass sie aber nicht zwangsläufig zu Glück und Zufriedenheit führt. Äußere Makellosigkeit ist bei vielen Bewohnern, die man als Leser kennen lernt, nichts als eine äußere Fassade.

“Wir vergessen unsere Träume – aber unsere Träume vergessen uns anscheinend nicht.”

Keiner der beschriebenen Figuren erweckt den Anschein von Glück: die einen leben ein Leben, das sie sich einst erträumt haben, doch das sich jetzt nur noch hohl anfühlt, die anderen träumen von einem Leben, das sie endlich glücklich machen soll, ohne sehen zu können, was sie eigentlich bereits besitzen.

“Die Häuser der anderen” ist ein Buch, das zwischen all den Neuerscheinungen dieses Jahres heraus sticht und viel mehr Aufmerksamkeit von Lesern verdient hätte. Es hat mich berührt, erschüttert, aber auch stellenweise immer wieder amüsiert. Trotz einem immer wieder ironischen Ton, wahrt Silke Scheuermann Respekt für ihre Figuren und deren Leben. “Die Häuser der anderen” ist ein beeindruckendes Buch, dem ich viele Leser wünsche.

5 Fragen an Martin Horváth!

© Reinhard Öhner

Martin Horváth wurde 1967 in Wien geboren und studierte dort Musik und darstellende Kunst. Seit 1988 lebt und arbeitet er als freischaffender Musiker. Er verbrachte mehrere Jahre in New York und arbeitete dort als Journalist und Übersetzer, nebenbei beschäftigte er sich mit einem Forschungsprojekt zur Geschichte der österreichisch-jüdischen Emigration in die USA. Er hat bereits zahlreiche Preise und Stipendien erhalten. “Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten” ist sein Romandebüt.

1.) Warum wollten Sie Schriftsteller werden?

Die Frage hat sich so nicht unbedingt gestellt. Ich schreibe, seit ich ungefähr sechzehn bin. Zuerst waren es Notizen für kürzere und längere Geschichten, mit ungefähr zwanzig hab ich die ersten kurzen Texte veröffentlicht. Lange Zeit war ich hauptberuflich als Musiker tätig, das Schreiben lief nebenbei. Irgendwann verschob sich das Interesse und das Schreiben stand im Vordergrund. Heute gelingt es mir, beides miteinander zu vereinbaren, und ich möchte weder auf das eine noch auf das andere verzichten.

2.) Gibt es einen Schriftsteller oder einen Künstler, der Sie auf Ihrem Weg besonders inspiriert hat?

Nicht wirklich. Aber es gibt natürlich zahlreiche Bücher, die eine große Inspirationsquelle waren und sind. Um nur einige wenige zu nennen:  Alejo Carpentier, Explosion in der Kathedrale. Guillermo Cabrera-Infante, Drei traurige Tiger. Gabriel García-Marquez, Hundert Jahre Einsamkeit. Günter Grass, Die Blechtrommel. Christoph Ransmayr, Die letze Welt. Ian McEwan, Ein Kind zur Zeit.

3.) Wann und wo schreiben Sie am liebsten?

An sich bin ich ein ausgeprägter Nachtmensch. Am Abend und in der Nacht (und wenn es gut läuft auch bis in den Morgen) kann ich mich am besten konzentrieren. Wenn man zu zweit lebt, geht das aber nicht auf Dauer, und so schreibe ich nur noch selten nachts.

Mein Schreibtisch ist oft vollgeräumt mit Stapeln von Papier und Büchern, bevor es mir zu viel wird und ich ihn wieder entrümple. Während der Arbeit steht meistens auch eine gusseiserne Kanne mit Grüntee darauf. Während der Jahre, die ich in New York verbrachte, hatte ich ein Stehpult; daneben stand ein bequemer Fauteuil für die Nachdenkpausen. Irgendwann werde ich mir mein Arbeitszimmer auch wieder auf diese Weise einrichten.

4.) Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen?

Ilja Ehrenburg, Das bewegte Leben des Lasik Roitschwantz. Ich bekam das Buch kürzlich von einem Freund geschenkt, der sich durch meinen Roman “Mohr im Hemd” an Ehrenburgs Werk aus dem Jahr 1928 erinnert fühlte. Es geht darin um einen einfachen jüdischen Schneider aus einer russischen Kleinstadt, der unfreiwillig zum unsteten Wanderer wird. Aufgrund seiner unverblümten Äußerungen gerät er ständig in Konflikt mit den jeweiligen Obrigkeiten und tritt einen tragikomischen Leidensweg kreuz und quer durch Europa an. Ein zwar schnell und manchmal schlampig geschriebener, aber trotzdem wunderbarer Schelmenroman, der durch seinen subversiven Humor viele Missstände der damaligen Zeit auf den Punkt bringt.

5.) Was würden Sie einem jungen Schriftsteller raten?

Lesen, lesen, lesen!!! Lesen ist für mich ein Dialog mit anderen Schriftstellern, und dieser Dialog ist meiner Meinung nach unverzichtbar, wenn man selbst schreiben möchte. Schreiben sollte man nur das, was man selbst nach eingehender Überlegung für wahr und richtig hält – ob es nun Erfolg verspricht oder nicht. Und Geduld und Durchhaltevermögen helfen auch …

Herzlichen Dank an Martin Horváth für die Beantwortung meiner Fragen!

Und wer Martin Horváth lesen sehen möchte kann dies hier tun:

Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten – Martin Horváth

51U56pDoTSL._SY344_BO1,204,203,200_Martin Horváth wurde 1967 in Wien geboren und studierte dort Musik und darstellende Kunst. Seit 1988 lebt und arbeitet er als freischaffender Musiker. Er verbrachte mehrere Jahre in New York und arbeitete dort als Journalist und Übersetzer, nebenbei beschäftigte er sich mit einem Forschungsprojekt zur Geschichte der österreichisch-jüdischen Emigration in die USA. Er hat bereits zahlreiche Preise und Stipendien erhalten. “Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten” ist sein Romandebüt.

“Damit Sie’s gleich wissen: Meine Haut ist braun. Dunkelbraun. Man könnte auch sagen kaffeebraun, was man natürlich in dieser Stadt der tausend Kaffeehäuser etwas präziser formulieren muss: Je nach Tageslicht und Laune zeigt sich mein schöner Teint nämlich einmal heller, einmal dunkler, schimmert morgens meist in feinem Melangebraun, gibt sich mittags kleiner- oder großerbraunerbraun, verfärbt sich nachmittags zu eleganten Einspännerbraun, um am Abend schließlich – Herr Ober, zahlen bitte – bei sattem Espresso- oder Mokkabraun zu landen.”

Martin Horváth erzählt in seinem Roman “Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten” die Geschichte von Ali. Ali ist – laut eigener Aussage – fünfzehn Jahre alt und lebt in einem Asylbewerberheim in Wien. Er isst am liebsten Mohr im Hemd, eine österreichische Süßspeise.

“Mein Name ist Ali und ich bin neu in dieser Stadt. Seit kurzer Zeit lebe ich in einem Heim unweit der Donau und kenne mittlerweile alle hundertdreißig Mitbewohnerinnen und -bewohner sowie alle Betreuerinnen und Betreuer beim Namen.”

Ali lebt mit seinen Mitbewohnern im obersten Stockwerk, im sogenannten Leo. Gemeinsam ist den Bewohnern des obersten Stockwerks, dass alle minderjährig sind und dass sie aus ihrem Heimatland fliehen mussten. Sie kommen allein, häufig auf Irrwegen, mit eigentlich anderen Zielen, in Wien an. Ihre Familien müssen sie zurücklassen. Sie kommen aus afrikanischen Ländern, aus osteuropäischen Staaten. Sie entfliehen Krisenregionen und landen in einem Land, dessen Sprache sie nicht beherrschen. Manche von ihnen fahren zum ersten Mal Rolltreppe oder wissen nicht, was eine Ampel ist.

“Was all diese Menschen, seien es Kinder, Jugendliche oder Erwachsene, miteinander verbindet: Sie warten. Geduldig oder ungeduldig, ängstlich oder zuversichtlich, apathisch oder voller Tatendrang warten sie auf Papiere. Papiere mit Stempeln, Papiere, die ihnen erlauben, ihre Flucht zu beenden und anzukommen in diesem Land, Papiere zum Arbeiten, zum Leben, zum Hoffen, Papiere, auf denen ihr Menschsein amtlicherseits bestätigt wird: Eine Unterschrift hier und dann noch eine da, und nun der Nächste, dalli, dalli!”

Fliehen ohne Anzukommen. Mit der ständigen Furcht zu leben, irgendwann wieder gehen zu müssen. Vielleicht, irgendwann. Ali scheint mit dieser Unsicherheit gut zurecht zu kommen, besser als andere. Ali weint nicht, lieber flirtet er mit seinen Betreuerinnen. Ali schreit auch nicht im Schlaf und wenn doch, liegt da ein Irrtum vor. Ali hat seine Augen und Ohren überall, er kann sich unsichtbar machen und Gespräche auch durch geschlossene Türen mitanhören. Irgendwo findet sich immer ein Loch, durch das er lauschen kann. Ali möchte nichts von seiner Geschichte erzählen, doch die Geschichten seiner hundertdreißig Mitbewohnerinnen und Mitbewohner möchte er sich einverleiben, sie in sich aufnehmen. Das ist Alis Aufgabe.

“[…] meine Aufgabe ist es, den Geschichten meiner Mitbewohner hinterherzuspüren. Es sind Geschichten mit vielen exotischen Namen, die schwer zu merken sein mögen, Geschichten, so sei ausdrücklich gewarnt, in denen eindeutig die dunklen Kapitel überwiegen. Dunkel, weil viele Bewohner dieses Hauses Schlimmes erlebt haben; dunkel, weil manche nichts von sich preisgeben wollen; dunkel aber auch, weil nicht immer klar ist, ob sie die Wahrheit sagen oder sie zurechtbiegen und Dunkles erfinden, um sich zwecks Erlangung von Asyl in ein besseres Licht zu rücken. Ich, ich bin jedenfalls hier, um die Geschichten aufzuspüren, sie der Finsternis zu entreißen, um solcherart Licht ins Dunkel zu bringen, und zwar in jeder Hinsicht.”

In einem Interview bezeichnete Martin Horváth seine Hauptfigur Ali als Hofnarr, eine Bezeichnung, die in Teilen sicherlich stimmig ist: Ali ist lustig, unterhaltsam, schelmisch, närrisch. Aber unter dieser humoristischen Schicht liegt sehr viel mehr. Sehr viel Wahrheit, sehr viel Weisheit. Ali ist ein Narr, der jedoch auf seine närrische Art Dinge anspricht und erkennt, die viel Mut erfordern.

“Es geht ein Mi-Ma-Muselmann in eurem Land herum, fidibum, er zündet viele Häuser an und legt die Leute um. Er rüttelt sich, er schüttelt sich, er wirft ein Bömblein hinter sich, es geht ein Mi-Ma-Muselmann in eurem Land herum, bumm!”

Im Laufe des Romans verwischen die Grenzen zwischen der Realität und Alis Narrenwelt immer stärker. Ali verliert sich in einer Traumwelt und irgendwann ist nicht mehr ganz klar, was Realität ist und was nur noch in Alis Kopf geschieht. Martin Horváth scheint Gefallen an dem Spiel mit Realitäten zu haben, an Dingen, bei denen man nicht genau sagen, was sie eigentlich sind und ob sie überhaupt da sind. Als literarische Vorbilder nennt er in einem Interview passenderweise eine Reihe von lateinamerikanischen Autoren, in dessen Zentrum ein “Nebeneinander von Realität und Mythos steht”. 

Immer präsent bleibt den ganzen Roman hindurch die schwierige politische Situation der Asylbewerber. Das Warten ohne zu wissen, ob man jemals ankommen darf. Die unmenschliche Bürokratie. Aber auch die Ablehnung, die den Bewohnern von der Bevölkerung entgegenschlägt, die Vorurteile, mit denen sie zu kämpfen haben. Das Ende des Romans – Martin Horváth bezeichnet dieses als Epilog – ist sicherlich ungewöhnlich, wenn auch nicht überraschend.

“Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten” ist ein lustiger und unterhaltsamer Schelmenroman, dessen Lesevergnügen vor allem auch in der tollen Hauptfigur Ali begründet liegt. Daneben überzeugt aber auch die Sprache des Romans: Martin Horváth zündet in seinem Text ein Feuerwerk an gelungenen Sprach- und Wortspielen, die mir ausgesprochen gut gefallen haben. Ich habe in den vergangenen Jahren kaum ein vergleichbares Buch gelesen, das so offensiv und alternativ mit Sprache und Worten operiert, jongliert, spielt. Ein wahres Lesevergnügen!

Hundskopf – Dea Loher

9783892448655lDea Loher wurde 1964 in Traunstein geboren und studierte Germanistik und Philosophie in München. Sie ist eine der erfolgreichsten und meistgespielten Theaterautorinnen Deutschlands. Vor einigen Monaten habe ich ihren Roman “Bugatti taucht auf” gelesen, mit dem sie auch auf der Longlist des Deutschen Buchpreis stand. Ich freue mich übrigens sehr darüber, dass Dea Loher im Rahmen der Literatour Nord nächsten Monat hier in Bremen lesen wird. “Hundskopf” ist das Prosadebüt der Autorin und erschien im Jahr 2005.

“Wir waren schief in die Welt gekippt worden, und die Welt würde nie mehr gerade sein.”

“Hundskopf” besteht aus acht kleinen Erzählungen und umfasst insgesamt nur knappe 110 Seiten. Im Zentrum der Erzählungen steht das ganz alltägliche Leben – der banale Alltag, wenn man so will – und das Auseinanderbrechen dieses Gefüges. Kleinste Erschütterungen, feinste Risse – mehr braucht es nicht, um die Zerbrechlichkeit und Brüchigkeit des Lebens zu zeigen. Die Figuren, die im Zentrum der Erzählungen stehen, wirken vertraut und unscheinbar. Das etwas nicht stimmt, wird häufig erst auf den zweiten Blick bewusst.

In der Auftaktgeschichte “Honeymoon” steht das junge Pärchen Anna und Johann im Mittelpunkt, das sich gerade auf Hochzeitsreise in Amerika befindet. Anna musste in ein Krankenhaus, da sie sich nicht gut fühlt, doch die Ärzte können keine Ursache für ihr Unwohlsein finden. Es scheint viel tiefer zu liegen: wenige Tage zuvor hatte sie im Koffer ihres Mannes Drogen gefunden, die Drogen von denen Johann eigentlich schon lange clean sein wollte.

“Johann kann den Anblick von Nadeln nicht ertragen, ohne sie anfassen zu wollen, ohne sie in der Haut, ohne sie in der Vene haben zu wollen.”

Nach dieser Entdeckung herrscht zwischen Anna und Johann Sprachlosigkeit, ein meterdickes Schweigen, das nicht zu durchdringen ist. “Er machte keinen Versuch, sich zu verteidigen, zu entschuldigen. Er erklärte nichts.” Und Anna fordert keine Erklärung, wagt es nicht das zerbrechliche Glück der beiden durch falsche Fragen zu zerstören. Das scheinbare Glück des Titels der Geschichte – “Honeymoon” – steht konträr zum Inhalt. Die Geschichte endet mit einer erstaunlichen – schon beinahe körperlich spürbaren – Kälte zwischen den beiden, die Anna und Johann selbst gar nicht zu bemerken scheinen. Man wirft Worte hin und her, ohne eigentlich miteinander zu kommunizieren.

“‘Wenn sie dich operiert hätten-‘, sagt er. ‘Die Probezeit ist noch nicht zu Ende.’ Er sieht geradeaus durch die Windschutzscheibe. ‘Ich hätte alleine zurückfliegen müssen.’ Anna sieht ihn von der Seite an. ‘Ja’, sagt sie, ‘ich weiß.'”

Diese Unerklärlichkeiten zeichnen alle acht Geschichten von Dea Loher aus: sie beschreibt nüchtern Zustände. Erklärungen bleiben aus. Begründungen finden sich häufig nicht. Es ist vor allem genau diese Tatsache, die dafür sorgt, dass sich beim Lesen von “Hundskopf” ein Gefühl der Beklemmung und Bedrohung entwickelt.

Die Titelgeschichte ist die längste der acht Geschichten und nimmt eine fast zentrale Position in dem Erzählband ein. In dieser Geschichte wird das Auseinanderbrechen einer scheinbar stabilen Realität am deutlichsten. Richard, Besitzer einer Kneipe, bekommt ein außergewöhnliches Angebot, das er zunächst für einen Scherz hält: er wird um einen Auftragsmord gebeten.

“Er starrte seine Hände an, die die eines Fremden waren, […]. Sie gehörten nicht mehr zu ihm, er war in eine Welt eingetaucht, in der alles, auch das Vertrauteste, nie gesehen und fern erschien; jede Bekanntschaft mit jedem Ding, mit dem Sofa, seinen Schuhen, dem billigen Teppich darunter, musste aufs Neue geschlossen werden; es galt, andere Gesetze zu verstehen.”

In dieser Geschichte zeigt Dea Loher, wie bereits eine Kleinigkeit dazu führen kann, ein ganz anderes Leben führen zu wollen. Wie nah diese beiden Leben beieinander liegen. Die Figur von Richard ist mit sehr viel Identifikationspotential gezeichnet, so dass ich fast schon gezwungen war, mir beim Lesen immer wieder vorzustellen, was ich tun würde, würde ich in eine ähnliche Situation geraten. Die eigentlich abwegige Möglichkeit wirkt plötzlich zum Greifen nahe.

Das Verhältnis von Dea Lohers Figuren ist durch eine schon fast erdrückende Sprachlosigkeit geprägt. Ihre Figuren sind unscheinbar, auf der anderen Seite aber auch häufig in irgendeiner Form exzentrisch. Dabei denke ich besonders an Tante Agnes, aus der gleichnamigen Geschichte, die mich sicherlich am meisten berührt hat.

Dea Loher zeigt in dem Erzählband “Hundskopf”, dass sie die hohe Kunst der Verknappung meisterlich beherrscht. Verknappt und nüchtern bietet sie kleine Ausschnitte, wirft Schlaglichter, öffnet kleine, schmale Fenster und konzentriert sich dabei immer auf sehr reduzierte Szenen. Vieles bleibt beim Lesen dem Leser überlassen, diese Arbeit habe ich aber gerne geleistet und viele Erzählungen beschäftigen mich auch jetzt – nach der Lektüre – immer noch. Die Zerbrechlichkeit des Lebens, die “Risse im Gefüge” und wie schmal der Grat zwischen einem heilen und einem zerbrochenen Leben sein kann, wie schnell – ganz unbemerkt – Risse entstehen können, wird von Dea Loher meisterlich erzählt.

Ich freue mich bereits jetzt auf weitere Bücher von ihr und ihre Lesung im Rahmen der Literatour Nord.

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