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Deutschsprachige Literatur

Ralph Dohrmann und sein Roman “Kronhardt”

DSC_6038Der Bremer Schriftsteller Ralph Dohrmann las gestern in der Thalia Buchhandlung in Bremen. Moderiert wurde die Lesung von Dr. Ruth Fühner, der man von Beginn an ihre Begeisterung über den Roman – den sie gerne auf der Longlist des Deutschen Buchpreises gesehen hätte – angemerkt hat. Auch anwesend war die Lektorin des Romans, Ulrike Ostermeyer. Ralph Dohrmann wurde 1963 in Bederkesa geboren und wuchs in Bremen auf. Im Herbst 2012 erschien sein Roman “Kronhardt”. Angekündigt wurde er gestern vom Bremer Buchhändler Volker Stuhldreher mit den Worten: “Endlich ein Bremer Autor, der schreiben kann.”

Ralph Dohrmann erzählt in seinem aus drei Teilen bestehenden 920 Seiten starken Roman “Kronhardt” die Geschichte der Maschinenstickerei “Kronhardt&Sohn” und von Willem, dem einzigen Kind der Firmenerbin. Willem wird von seinen Eltern bereits früh in eine Rolle gedrängt, die er nicht ausfüllen kann und es fällt ihm schwer, seine eigene Identität zu finden. Ruth Fühner moderierte durch den Abend und es wechselten sich in der Folge kurze Gesprächssequenzen zwischen ihr und Ralph Dohrmann mit einigen vorgelesenen Passagen ab.

DSC_6043Das Gespräch zwischen Autor und Moderatorin vermittelte viele interessante Eindrücke in den Roman, aber auch über Ralph Dohrmanns eigenen Schreib- und Rechercheprozess. Obwohl auch “Kronhardt” die Geschichte eines Familienunternehmens erzählt, möchte Ralph Dohrmann nicht, dass es als Anspielung auf den berühmten Roman “Die Buddenbrooks” von Thomas Mann gelesen wird, den er selbst auch gar nicht gelesen hat. Im Vorfeld hat er sich keine Gedanken über mögliche Ähnlichkeiten gemacht. Die Frage von Ruth Fühner, ob auch “Kronhardt” eine Untergangsgeschichte sei, verneint der Autor: “Die Firma ‘Kronhardt&Söhne’ floriert, aber die Persönlichkeit des Einzelnen geht unter.”

Ralph Dohrmann hatte bereits im Jahr 1998 ein Stipendium für diesen Roman erhalten, ihn aber erst dieses Jahr fertigstellen können. Obwohl er fast vierzehn Jahre lang an der Geschichte geschrieben hat, stand der Plot für ihn von Beginn an fest. Die Aufforderung von Frau Fühner, diesen in einem Satz zusammenzufassen, bereitet ihm dennoch ein wenig Kopfzerbrechen:

“Die Aussage des Romans ist die Entwicklung des Einzelnen und die Schwierigkeiten, mit denen der Einzelne zu tun hat.”

Willem hat es aufgrund der Erwartungen und Anforderungen seiner Familie schwer, sich eigene Freiräume zu schaffen, seine einzige Möglichkeit ist es, sich Freiräume nach innen zu schaffen – er sucht beispielsweise immer wieder die Natur rund um Bremen auf. Überhaupt sind die Landschaftsbeschreibungen des Romans sehr detailliert und besonders für mich, da ich aus Bremen stamme, sehr spannend zu lesen und nachzuvollziehen.

Dank der sehr guten Moderation von Dr. Ruth Fühner, hatte ich gestern einen angenehmen, unterhaltsamen und informativen Abend mit einem norddeutsch zurückhaltenden, aber sehr sympathischen Autor.

5 Fragen an Eva Lohmann!

Eva-LohmannEva Lohmann wurde 1981 geboren und lebt heutzutage als Inneneinrichterin und Autorin in Hamburg. Bekannt wurde sie durch ihren Debütroman “Acht Wochen verrückt”, der ein Erfolg bei Presse und Publikum war. “Kuckucksmädchen” ist ihr zweiter Roman.

1.)    Warum wollten Sie Schriftstellerin werden?

Ich habe es nicht geplant, es ist eher zufällig passiert. Vorher war ich Inneneinrichterin. Aber da ich am liebsten alleine zu Hause bin und Wörter hin und her schiebe, passt es ganz gut. Okay, das ist untertrieben. Es ist großartig.

2.)    Gibt es einen Schriftsteller oder einen Künstler, der Sie auf Ihrem Weg besonders inspiriert hat?

Ich mochte schon als Kind Erich Kästner. Viele wissen nicht, dass er nicht nur tolle Kindergeschichten, sondern auch wunderbare Gedichte für Erwachsene geschrieben hat. Diese Mischung aus Melancholie, Sachlichkeit und Frivolität, die viele seiner Texte ausmachen, hat mich immer beeindruckt und vielleicht ein bisschen geprägt.

3.)    Wann und wo schreiben Sie am liebsten?

Im Bett. Ich wünschte, es wäre anders. Ich versuche es immer mal wieder im Cafe, auf Parkbänken oder im Zug, aber es funktioniert nicht – ich lande immer wieder im Bett…

4.)    Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen?

Jetzt, kurz nach der Buchmesse, stapeln sich die Bücher von Kollegen auf meinem Nachttisch. Gerade lese ich „Reise nach Kalino“ von Radek Knapp. Davor war es „Glückskind“ von Steven Uhly, sehr empfehlenswert.

5.)    Was würden Sie einem jungen Schriftsteller raten?

Das kommt darauf an, was sie wollen. Wenn es darum geht, sich weiterzuentwickeln, würde ich sagen: Lesen, lesen, lesen. Und dann verschiedene Sachen ausprobieren. Wenn es darum geht, zu veröffentlichen, scheint momentan das Bloggen gut zu funktionieren. Wer viele eigene Follower hat und dazu auch noch gut schreibt, macht schnell Verlage auf sich aufmerksam.

Herzlichen Dank an Eva Lohmann für das Beantworten meiner Fragen!

Kuckucksmädchen – Eva Lohmann

Eva-Lohmann-KuckucksmaedchenEva Lohmann wurde 1981 geboren und lebt heutzutage als Inneneinrichterin und Autorin in Hamburg. Bekannt wurde sie durch ihren Debütroman “Acht Wochen verrückt”, der ein Erfolg bei Presse und Publikum war.

“Wann genau haben wir eigentlich damit angefangen, abends zu kochen statt zu vögeln? In den ersten Monaten einer Beziehung musste man früher aufpassen, dass man sich zwecks Nahrungsaufnahme zweimal am Tag voneinander löste.”

Wir, das sind Wanda und Jonathan. Wanda und Jonathan sind seit fast drei Jahren ein eigentlich glückliches Paar, wenngleich Wanda die sich einschleichende Routine in ihrer Beziehung immer stärker als erdrückend, als einengend empfindet. Wanda versucht auf ihre eigene Art und Weise auszubrechen und schreibt sich mit ihrem Ex Max schmutzige SMS, glücklich macht sie das jedoch auch nicht wirklich.

“Zwei Jahre lang tanzten wir so vor uns hin, und alles war irgendwie gut und okay – bis Jonathan fand, man könne doch jetzt mal zusammenziehen, und das war der Moment, in dem der Beziehungsbeat ins Stocken kam.”

Eine gemeinsame Wohnung für die beiden gibt es bereits, die Wohnung von Wandas verstorbenen Großeltern. Doch dann geht es Wanda plötzlich zu schnell. Sie fühlt sich noch nicht in der Lage dazu, eine Entscheidung zu treffen, die für sie eine solche Tragweite hat. Jonathans Vorstoß bringt ihre ganze Selbstsicherheit ins Wanken, führt ihr ihr Alter vor Augen. Ein Alter, in dem man irgendwann von sich selbst erwartet, sichere und auf die Zukunft ausgerichtete Entscheidungen zu treffen.

“Aber jetzt ist da plötzlich dieses Gefühl, dass man sich sehr genau überlegen muss, welchen Mann man mit dreißig noch verlässt. Welcher Spielverderber hat eigentlich das Karussell angehalten? Wahrscheinlich die gleich Spaßbremse, die mir auch die Falten in die Augenwinkel gemalt und an den Brüsten gezogen hat. Die Zeit. Rennt und rennt und läuft und läuft, während man selbst faul herumsteht und darauf wartet, dass das Leben beginnt. Also das echte. Bisher hat man ja praktisch nur geprobt.”

In dem Moment, in dem Jonathan von ihr erwartet, sich festzulegen, schaut Wanda lieber zurück in die Vergangenheit. Sie macht sich auf die Suche nach ihren Ex-Freunden, um sie in ihrem heutigen Leben zu besuchen. Ihr Ziel ist es, einen Blick in die Vergangenheit und in die Gegenwart, die  mittlerweile ohne sie stattfindet, zu werfen. Wanda möchte sehen, was sie verpasst hat, was ihr vielleicht auch erspart geblieben ist, was sie jetzt hätte haben können und sie möchte herausfinden, ob Jonathan wirklich der Richtige ist oder lediglich “unter all den Nicht-wirklich-Richtigen […] noch der am wenigsten Falsche”. Wanda besucht ihre Ex-Freunde zu Hause, in deren – mehr oder weniger – gemachten Nestern.

“Du bist wohl eher ein Kuckucksmädchen. Fliegst von Nest zu Nest. Beobachtest, wie die anderen sich eingerichtet haben. Fragst dich, ob du noch reinpasst. Ob es dir zu eng, zu groß, zu schön oder zu verlogen ist. Ob du dir vorstellen könntest, deine Kinder dort großzuziehen.”

“Kuckucksmädchen” ist der erste Roman von Eva Lohmann, den ich gelesen habe. Beim Lesen habe ich mich an die Romane von Sarah Kuttner, stellenweise auch an Kathrin Weßling erinnert gefühlt. Wenn man so will, kann man sicherlich hier von einer Traditionslinie sprechen, in die sich Eva Lohmann – in ihrem ganz eigenen Stil – einreiht.

Mit knappen 170 Seiten ist “Kuckucksmädchen” ein schmales Lesevergnügen, dem Roman angeschlossen ist noch ein kurzes, ergänzendes Nachwort, das ich als sehr interessant empfunden habe. Mich hat der Roman vor allem sprachlich überzeugt: Eva Lohmann erzählt sehr flüssig und mit sprachlicher Raffinesse. Fasziniert haben mich vor allem die in den Text immer wieder eingeschobenen Dialoge zwischen Wanda und ihrem Herzen.

Dennoch fällt mir eine Bewertung des Romans überraschend schwer: sprachlich hat mir “Kuckucksmädchen” zwar gut gefallen, doch im Gegensatz zu Ida Schuhmann aus Kathrin Weßlings Debütroman “Drüberleben” hatte ich Schwierigkeiten Sympathie oder durchgehendes Verständnis für Wanda, die Hauptfigur von Eva Lohmann, aufzubringen. Wandas Unfähigkeit Entscheidungen zu treffen, gepaart mit der Tendenz Dinge immer wieder hinterfragen, sezieren und auseinander nehmen zu müssen, hat mich manchmal fast frustriert das Buch zur Seite legen lassen. Diese Entscheidungsschwierigkeiten von Wanda konnte ich nur schwer nachvollziehen und habe sie stellenweise beinahe schon als etwas banal empfunden. Ich wollte Wanda schütteln und sie anschreien “Jetzt nimm ihn doch endlich, den Jonathan!” und Jonathan hätte ich am liebsten gesagt “Jetzt lass dir von der blöden Kuh doch nicht alles bieten!”. Für mich war es sehr schwer zu ertragen, wie Wanda ihr Leben selbst verkompliziert.

Entscheidungen gehören zum Leben dazu. Entscheidungen sind in den meisten Fällen nicht immer eindeutig richtig oder falsch. Doch auch wenn man eine Entscheidung trifft, legt man sich nicht zwangsläufig für den Rest des Lebens fest. Ich glaube, dass es immer besser ist eine klare Entscheidung zu treffen, möge sie auch die falsche sein, als in Gedanken immer weiter in der Vergangenheit zu leben oder sich vorzustellen, wie das Leben  jetzt wäre, wenn man drei Abzweigungen früher in eine andere Richtung abgebogen wäre. An einer Stelle schreibt Eva Lohmann sehr schön: “This is no video game.”

Trotz meiner Vorbehalte Wanda gegenüber, ist “Kuckucksmädchen” für mich ein guter Roman, den ich gerne weiterempfehlen möchte. Ich glaube, dass ich Wandas Verhalten möglicherweise auch in einer anderen Lebensphase anders beurteilen würde. “Kuckucksmädchen” hat mich nicht kaltgelassen, hat in mir viel angestoßen, viele Gedanken geweckt, Gefühle freigesetzt – ich habe mir zwischendurch einfach gewünscht, Wanda mehr mögen zu können.

Wie geht es denn euch bei der Lektüre von Büchern: müssen euch die beschriebenen Figuren sympathisch sein oder findet ihr ein Buch auch dann gut, wenn euch die Figuren wütend gemacht oder verärgert haben?

Ich weiß, ich war’s – Christoph Schlingensief

Christoph Schlingensief wurde 1960 in Oberhausen geboren und hat als Film-, Theater- und Opernregisseur gearbeitet. 2008 wurde bei Christoph Schlingensief Lungenkrebs diagnostiziert und er thematisierte seine Krebserkrankung in dem Tagebuch “So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein”. In diesem Buch gelingt es Schlingensief auf beeindruckende Art und Weise, der Sprachlosigkeit, die einer Krebsdiagnose folgt, wieder eine Sprache zu geben; die Ohnmacht in Worte zu kleiden. “So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein” ist ein beeindruckendes und gleichzeitig auch ein schrecklich schwer auszuhaltendes und vor allem auch ein erschütterndes Buch, das dennoch sehr viel Mut machen kann. In den folgenden zwei Jahren, bis zu seinem Tod am 21. August 2010, arbeitete Schlingensief überwiegend an der Realisierung seiner Idee für ein “Operndorf Afrika”, bei dessen Grundsteinlegung im Februar 2010 in Burkina Faso er noch dabei sein konnte.

Christoph Schlingensief war ein vielseitiger und auch streitbarer, kontroverser Künstler, der sich immer wieder selbst ausprobiert hat. “Ich weiß, ich war’s” hat im Gegensatz zu “So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein” keine klare Struktur oder Chronologie. Es ist zusammengesetzt aus Notizen, Aufzeichnungen, E-Mails oder auch Interviewausschnitten, die von Christoph Schlingensief zwischen den Jahren 2009 und 2010 gesammelt wurden und für eine Veröffentlichung vorgesehen waren. Ursprünglich hatte Christoph Schlingensief vor, eine Autobiographie zu veröffentlichen, dazu ist es leider nicht mehr gekommen. Christoph Schlingensiefs langjährige Lebensgefährtin und Frau Aino Laberenz hat seine Notizen geordnet, zusammengestellt und herausgegeben und ihrem Mann damit ein würdiges und eindrucksvolles Denkmal gesetzt.

Vorweg ein Wort zum Cover: Die Figur des Hasen, die sich auch auf dem Buchcover wiederfindet, hat in Schlingensiefs Produktionen immer wieder eine wichtige Rolle gespielt.

“Wo man auch hinkommt, spielt der Hase in Mythen und Geschichten eine wichtige Rolle. Es gibt ihn in Asien als Hase im Mond, es gibt ihn bei Fibonacci, diesem mittelalterlichen Mathematiker, der mit einer Zahlenreihe das Wachstum einer Hasenpopulation beschrieb, es gibt ihn bei Beuys. Und es gibt ihn in Afrika […].”

In dem Vorwort, das dem Buch vorangestellt ist, beschreibt Aino Laberenz die Entstehung von “Ich weiß, ich war’s”. Bereits kurz nach der Veröffentlichung von “So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein” hat Christoph Schlingensief wieder damit begonnen, seine “Gedanken, Erinnerungen und Erlebnisse” auf Tonband festzuhalten.

“Christophs Absicht war es nicht, Resümee zu ziehen oder schleichend Abschied zu nehmen. Er wollte sich ins Leben zurückkatapultieren, sich erinnern, um zu vergessen – und um wieder anzufangen.”

“Ich weiß, ich war’s” – der Titel spielt darauf an, dass Chrisoph Schlingensief immer die volle Haftbarkeit […] in seiner Arbeit und in seinem Leben von sich verlangte” – ist vieles: Biographie, Werkschau, Rückblick und auch ein Blick in die Zukunft von einem Menschen, der lange glaubte noch eine Zukunft zu haben. Aino Laberenz fasst an einer Stelle in ihrem Vorwort die Themen des Buches so wundervoll zusammen, dass mir eigentlich nichts anderes zu sagen übrig bleibt:   

“Er erzählte von Kindheit und Kinomanie, von Kunst in Berlin und Containern in Wien, schlug Bögen vom Wohnzimmer seiner Eltern zum Bayreuther Festspielhaus, von der Faszination für Kameratechnik zur Vorliebe für die Drehbühne, von ersten Filmversuchen in Oberhausen zum Operndorf in Burkina Faso – ein unerschöpfliches Geflecht aus Lebenslinien, Zufällen und logischen Konsequenzen.”

Den besonderen Ton von Christoph Schlingensief, der sein Krebstagebuch so intensiv und lesenswert macht, findet man auch in “Ich weiß, ich war’s” von Beginn an wieder. Schlingensief beginnt am 31. Juli 2009 wieder damit in “seine Maschine” zu sprechen.

“Es wächst immer mehr diese komische Angst, dass doch alles nur eine zeitlich begrenzte Angelegenheit ist, und zwar nicht eine von zwanzig Jahren oder dreißig Jahren, sondern eine Zeitbegrenzung, die mir einfach nur Kummer bereitet. Weil ich denke, es könnte auch sein, dass man schon nächstes Jahr weg ist. Also dass ICH schon nächstes Jahr weg bin.”

Diese Worte lösen Gänsehaut bei mir aus, vielleicht auch gerade deshalb, weil Christoph Schlingensief tragischerweise Recht behalten sollte: etwas mehr als ein Jahr später ist er verstorben.

“Oft heule ich schon beim Aufwachen. Ich kann nicht so einfach Abschied nehmen, will es auch nicht. Auch wenn ich das Gefühl nicht loswerde, dass es doch so sein wird. Irgendwann sowieso, aber im Moment zersprengt es alles.” 

Auf den folgenden Seiten erzählt Christoph Schlingensief mitreißend über seine unterschiedlichen Kunstprojekte. Da ich zum Zeitpunkt von vielen seiner Aktionen noch relativ jung gewesen bin, waren seine Schilderungen neu für mich: er schreibt über die Partei, die er gegründet hat, und seine Idee das Ferienhaus von Helmut Kohl zu fluten, die grandios gescheitert ist. Er berichtet über eine Kunstaktion mit einem Container in der berühmtesten Einkaufmeile Wiens, mit der er auf die unhaltbaren politischen Zustände in Österreich aufmerksam machen wollte und er schreibt über seine vielfältigen Tätigkeiten in der Film-, Theater- und Opernwelt.  Bewundernswert finde ich an seinen Aufzeichnungen, dass Schlingensief immer wieder bereitwillig auch Fehler eingesteht und sich und seine Aktionen im Rückblick selbstkritisch hinterfragt.

“Ich habe also den Hintergedanken, dass es ein zweites Buch gibt. Weil ich glaube, dass es kein gutes Ende nimmt. Und wenn, dann kann ich mich nicht damit begnügen, eine kleine Fahrstrecke beschrieben zu haben. sondern dann, finde ich, ist es auch richtig zu sagen: Ich bin irgendwann im Eis stecken geblieben, ich bin nicht zum Nordpol gekommen, ich habe nicht den Mond erreicht, ich habe meine politischen Ansichten nicht durchsetzen können, ich habe auch keine Massenbewegung erzeugt, ich habe keine Kunst kreiert, die sich durchsetzen wird.” 

Was alle Projekte von Schlingensief gemeinsam haben, ist die Tatsache, dass er sie immer mit ganzem Herzen und vollem Einsatz betrieben hat. Am Ende des Buches beschreibt Schlingensief sein wohl wichtigstes Projekt, dass zum Zeitpunkt seines Todes noch im Entstehen gewesen ist: das “Operndorf Afrika” in Burkina Faso. Dieses Projekt, verbunden mit seinem Engagement für die Bevölkerung in Burkina Faso, hilft Christoph Schlingensief dabei leichter Abschied nehmen zu können.

“Ich weiß, ich war’s” ist ein intensives Zeugnis eines beeindruckenden Künstlers. Eines Künstlers mit vielen Gesichtern: bitterböse, harmoniesüchtig, ängstlich und doch immer auch hoffnungsfroh. “Ich weiß, ich war’s” ist gleichzeitig auch ein unheimlich beklemmendes Leseerlebnis: anders als in Schlingensiefs Krebstagebuch überwiegt hier an vielen Stellen die Hoffnung, der Lebenswille, alles in Christoph Schlingensief ist auf die Zukunft ausgerichtet, an die er bis zuletzt geglaubt hat. Passenderweise endet “Ich weiß, ich war’s” mit einem Drehbuchentwurf, den Schlingensief kurz vor seinem Tod schrieb.

Mich hat “Ich weiß, ich war’s” sehr beeindruckt zurückgelassen. Nach der Lektüre habe ich mich durchlässig gefühlt. Der Fluss der Worte, die diese ganze besondere literarische Stimme von Christoph Schlingensief in mir erzeugt haben, hat mich sehr berührt. Es ist eine interessante, aber keine leichte Lektüre. Man muss vieles aushalten können und doch ist es ein Buch, das ich nur weiterempfehlen kann.

Meine Rezension abschließen möchte ich mit einigen Worten von Christoph Schlingensief, die sich relativ am Ende des Buches finden:

“Das Geschäft läuft gut und Krebs zieht. Das habe ich gemerkt. Ich habe aber auch gemerkt, dass ich keinen Bock mehr habe auf die Nummer, dass die Leute sagen, ah ja, der hat Krebs und jetzt sehe ich erst mal, was der da macht, jetzt sehe ich das mit ganz anderen Augen, der Junge ist viel sensibler, als ich dachte, und hör mal, was der mit der Musik macht, der fühlt jetzt plötzlich auch mehr und der ist ja sowieso bald weg. Alle sind jetzt so zärtlich zu mir und dann kann ich nur sagen: Wer mich heute Abend noch mal umarmt, dem schlag ich in die Fresse! Dem schlag ich wirklich in die Fresse! Das geht so nicht weiter. Bloß weil man Krebs hat. Ich habe immer das Gleiche gemacht. Ich habe mein Leben lang das Gleiche gemacht, ich habe mich noch nie verändert in meinem Leben.”

Deutscher Buchpreis 2012

Die Gewinnerin des Deutschen Buchpreises 2012 ist Ursula Krechel. Sie wird für ihren Roman “Landgericht” ausgezeichnet, der im Verlag Jung und Jung erschienen ist.

„Ursula Krechel erzählt in ihrem Roman Landgericht die Lebensverwicklung des aus dem Exil zurückkehrenden Richters Richard Kornitzer. Er ist vom Glauben an Recht und Rechtsstaatlichkeit durchdrungen und zerbricht, als er in der Enge Nachkriegsdeutschlands den Kampf um die Wiederherstellung seiner Würde verliert. Die Sprache des Romans oszilliert zwischen Erzählung, Dokumentation, Essay und Analyse. Bald poetisch, bald lakonisch, zeichnet Krechel präzise ihr Bild der frühen Bundesrepublik – von der Architektur über die Lebensformen bis hinein in die Widersprüche der Familienpsychologie. Landgericht ist ein bewegender, politisch akuter, in seiner Anmutung bewundernswert kühler und moderner Roman.“

So begründet die Jury ihre Entscheidung.

Ursula Krechel hat sich als einzige Frau auf der Shortlist gegen die Schriftsteller Ernst Augustin, Wolfgang Herrndorf, Clemens J. Setz, Stephan Thome und Ulf Erdmann Ziegler durchgesetzt. Sie erhält ein Preisgeld von 25.000 Euro; die fünf Finalisten erhalten jeweils 2.500 Euro.

Auch wenn ich Stephan Thome die Daumen gedrückt habe, freue ich mich sehr darüber, dass Ursula Krechel mit ihrem Roman, den ich unbedingt noch lesen möchte, diesen Preis gewinnt.

Wie jedes Jahr wurde der Preis und die Jury auch dieses Jahr wieder kritisiert. Insgesamt empfand ich die Entscheidungsfindung rund um den Deutschen Buchpreis in diesem Jahr als etwas undurchsichtig. Ich habe das Gefühl, dass die Verleihung mehr und mehr zu einem Politikum wird, weniger zu einer Kür wirklich guter und entdeckungswürdiger Literatur. Was ich sehr schade finde.

Fliehkräfte – Stephan Thome

Stephan Thome wurde 1972 in Biedenkopf/Hessen geboren. Er studierte Philosophie, Religionswissenschaft und Sinologie. Zehn Jahre lang arbeitete er in Ostasien. Mit seinem zweiten Roman “Fliehkräfte” steht Stephan Thome auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Bereits 2009 fand er sich dort – damals mit seinem Romandebüt “Grenzgang” – wieder.

Stephan Thome erzählt in “Fliehkräfte” die Geschichte von Hartmut Hainbach. Hartmut ist Ende fünfzig und Professor für Philosophie an der Universität in Bonn. Er ist seit zwanzig Jahren mit seiner portugiesischen Frau Maria verheiratet. Die gemeinsame Tochter Philippa studiert und ist inzwischen von zu Hause ausgezogen. Doch Hartmut ist schon lange nicht mehr glücklich: die Arbeit an der Universität gleicht immer mehr einem Gerangel um Reformen. Statt um Inhalte geht es um Module und Credit Points. Mit Maria führt er nur noch eine Wochenendbeziehung, da sie aus beruflichen Gründen in Berlin lebt. Auch seine Beziehung zu seiner Tochter Philippa ist brüchig geworden im Laufe der Jahre, er fühlt sich immer häufiger nur noch als geduldeter Gast in ihrem Leben.

“Entgleitet seine Tochter ihm oder leidet er am typischen Phantomschmerz des Vaters, dessen Rolle auf eine Art Bereitschaftsdienst reduziert wurde?”

Harmut leidet unter der zeitweisen Trennung von seiner Frau. Mittlerweile sieht er Maria meistens nur noch am Wochenende, trifft sich mit ihr in Zügen oder in Restaurants. Wenn man sich sieht, scheinen gemeinsame Gesprächsthemen von Minenfeldern besetzt zu sein. Man schleicht umeinander herum, um nicht die nächste Detonation auszulösen.

“‘Was geschieht mit uns?’ Ihre Stimme klang fester als erwartet. ‘Was meinst du?’ ‘Was geschieht mit uns? Warum können wir nicht mehr reden?’ ‘Wir reden schon eine ganze Weile.’ ‘An einander vorbei. Um einander herum. Was auch immer.'”

Auch an der Universität findet Hartmut nur noch selten Glück und Befriedigung. Der einzige Kollege, mit dem er befreundet gewesen ist, hat die Universität bereits vor langer Zeit verlassen, um in Frankreich ein Weinlokal zu betreiben. Hartmut – der sich selbst als “Autodidakten” bezeichnet – wurde von einem Bildungshunger angetrieben, dessen Motivation auf seine Herkunft aus einfacheren Verhältnissen zurückzuführen ist.

“Ich hab Stiller gelesen und jeden zweiten Satz unterstrichen. Dann kamen die Bergman-Filme. Das Schweigen war wie eine Offenbarung, nicht nur wegen der Liebesszenen. Später Jazz, alles Neuland für mich. Wenn ich meine Tochter anschaue, denke ich, sie wächst auf in einer Welt, in der alles schon da ist außer dem nächsten Handy. Für mich war’s eine Entdeckungsreise.”

“Ich komme aus einem Haus ohne Bücher und wollte Professor werden. Sobald es möglich war, bin ich nach Amerika gegangen, wo mein Doktorvater mir gesagt hat, worüber ich promovieren soll. Es war wichtig für mich, ihn nicht zu enttäuschen. So bin ich zu meinem Fachgebiet gekommen. Irgendwann ist man drin und tut seine Arbeit. Wenn ich zurückblicke, bin ich nicht sicher, ob ich je Illusionen hatte.”

Hartmut hat seiner universitären Karriere sein ganzes Leben untergeordnet, doch in den letzten Monaten fühlt er sich immer öfter müde. Die Reformen haben ihn resignieren lassen. Er beginnt zu zweifeln und sich selbst zu hinterfragen. Hartmut spürt eine Erschöpfung von der er fürchtet, dass sie ihn nie wieder verlassen wird.

“Eigentlich hätte ich Verwaltungsangestellter werden sollen, am Ende bin ich Professor geworden. Ich könnte stolz darauf sein, und ich bin stolz, aber außerdem würde ich gerne zufrieden sein, und das bin ich nicht. Verstehst du? Wenn es bloß Arbeit war, warum habe ich ihr alles andere untergeordnet? Und andererseits: Wenn ich so viel reingesteckt habe, kann ich jetzt einfach aussteigen?”

Als Hartmut überraschend ein Jobangebot in Bonn erhält, möchte er endlich Klarheit: über sein Leben, seine Arbeit an der Universität, seine Beziehung zu seiner Frau und sein Verhältnis zu seiner Tochter. Hartmut  macht sich auf zu einer Reise in die Ferne, um zurückblicken zu können: auf sein Leben, seine Beziehungen und die Entscheidungen, die er getroffen hat.

Hartmuts Reise in die Vergangenheit – die ihn über Frankreich bis nach Lissabon führt und zugleich zurück in die Vergangenheit – wird von Stephan Thome sehr eindrücklich und detailliert geschildert. Die Zutaten für den Roman wirken auf den ersten Blick simpel und ein bisschen klischeehaft: ein Philosophieprofessor auf Sinnsuche. Doch dahinter verbirgt sich eine Geschichte des Suchens und Weglaufen, eine Geschichte über Ehrgeiz, Liebe, Sehnsucht und Lust.

Sehr sympathisch fand ich die vielen “küchenphilosophischen Anmerkungen”, kleine Aphorismen, die mich beim Lesen zum Schmunzeln gebracht haben:

“Man kann vor sich selbst davonlaufen – aber nur solange man läuft.”

“Manchmal ist es sogar besser, den falschen Schritt zu tun, statt grübelnd auf der Stelle zu treten.”

“Prinzipientreue ist die Tofuwurst unter den Tugenden. Fleischlos und fade.”

Überhaupt spielt Stephan Thome immer wieder mit unterschiedlichen sprachlichen Elementen. Eine zentrale Rolle im Roman spielt passenderweise ein Witz, der das Rahmengerüst für die Geschichte bildet.

Stephan Thome hat mich mit “Fliehkräfte” nicht nur überzeugen, sondern auch begeistern können und als ich das Buch zugeklappt habe, hätte ich mir gewünscht, Hartmut und Maria noch weitere vierhundert Seiten begleiten zu dürfen. Angesiedelt in einem universitären Kontext, zeigt der Roman viele unterschiedliche Facetten: trotz einer tendenziell melancholischen Grundstimmung, die den Roman durchzieht, habe ich mich auch immer wieder gut unterhalten gefühlt. Die Figurenbeschreibungen sind sehr fein und detailliert, die Sprache wirkt dabei beinahe ruhig und unaufgeregt, doch die Dialoge haben es in sich. Begeistert haben mich daneben vor allem auch die interessanten Frauenfiguren, die von Stephan Thome um die Hauptfigur Hartmut Hainbach herum orchestriert werden.

Der Roman schließt zwar mit einem offenen Ende und doch habe ich das Buch mit dem Gefühl beendet, dass Stephan Thome viele Fragen anhand seiner Geschichte beantwortet hat, die er erzählt. Für mich ist “Fliehkräfte” ein Anwärter auf den Gewinn des Deutschen Buchpreis und ein Roman, der zurecht auf der diesjährigen Shortlist steht.

5 Fragen an Kathrin Weßling!

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© Thomas Duffé

Kathrin Weßling wurde 1985 geboren und schreibt Prosastücke und Geschichten. In diesem Jahr hat sie mit “Drüberleben” ihren Debütroman veröffentlicht. Sie lebt als freie Autorin und Texterin in Hamburg und Berlin und führt einen sehr lesenswerten Blog.

1.)    Warum wollten Sie Schriftstellerin werden?

Das war keine Entscheidung, kein Ergebnis eines Berufswahltestes, kein Moment, in dem ich entschieden hätte, dass das mein Beruf sein soll. Im Grunde wäre die ehrlichste Antwort: Weil ich das machen wollte, von dem ich glaubte, es am Besten zu können. Ich habe vieles ausprobiert, war Regie-Assistentin am Theater, Souffleuse, Texterin, Studentin. Aber am Ende habe ich für keinen Job mehr gebrannt als für das Schreiben. Und dass ich das zu meinem Beruf machen konnte liegt eher an Entscheidungen anderer, eben jener, die meine Bücher kaufen, sie finanzieren, sie mögen.

2.)    Gibt es einen Schriftsteller oder einen Künstler, der Sie auf Ihrem Weg besonders inspiriert hat?

In den letzten Jahren: Jonathan Franzen. Er hat für mich einen neuen Maßstab gesetzt, den ich an jedwede Form der Literatur anlege. Aber auch Siri Hustvedt und Juli Zeh. Am wichtigsten war jedoch vor über einem Jahrzehnt die Lektüre von „Soloalbum“ von Benjamin Stuckrad Barre: danach wusste ich, dass Literatur auch jenseits von Thomas Mann und Goethe existiert, dass Schreiben auch wild, zügellos und schnell sein kann (und darf!).

3.)    Wann und wo schreiben Sie am liebsten?

Nachts. Alleine. Ohne Musik, ohne ein Wort. Ich brauche die Stille auf eine sehr physische Art. Wenn ich schreibe dann ziehe ich mich in meinen Kopf zurück, dann lebe ich einige Stunden in einem Raum, der mit dem Außen nichts mehr zu tun hat. Jedes äußere Geräusch stört mich dann und jede Störung kann mich dann aus dem Rhythmus bringen. Um diesen Zustand zu halten hat sich nur die Nacht bewährt, wenn der Verkehr ruhiger wird, das Telefon nicht mehr klingelt und es nichts zu tun gibt, das noch heute dringend erledigt werden will.

4.)    Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen?

Ich lese gerade sehr viel, mindestens drei Bücher in der Woche, deshalb sind es eher mehrere, die da zu nennen wären. In der letzten Woche waren das „Vielen Dank für das Leben“ von Sibylle Berg, „Der Mann schläft“ von eben jener, „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ von John Green und gerade aktuell „Sunset Park“ von Paul Auster.

5.)    Was würden Sie einem jungen Schriftsteller raten?

Zunächst: Lesen! Es gibt meiner Meinung nach kaum etwas Wichtigeres für einen Schriftsteller (neben dem Schreiben an sich selbstverständlich), als zu lesen. Ich merke einem Buch sofort an, ob der Autor viel gelesen hat oder nicht. Alles andere ist leider eine Sache von Zeit, Glück, Talent und Durchhaltevermögen. Es gibt unheimlich gute Schriftsteller, die erst Jahrzehnte nach ihrem Debüt erfolgreich waren. Andere erst nach ihrem Tod. Es kann also nicht schaden sich darauf einzustellen, dass es ein bisschen dauern kann, bis man erfolgreich vom Schreiben leben kann (wenn überhaupt). Darüberhinaus glaube ich zwar nicht an den Mythos, dass ein/e Schriftsteller/in jeden Tag schreiben muss, um im Fluss zu bleiben, aber sich täglich ein paar Notizen zu machen, Gedanken und Ideen festzuhalten ist in jedem Fall existentiell wichtig. Und am Ende (und das ist ein Rat, der meiner Meinung nach zu selten gegeben wird): Sei mutig, probiere Neues aus, sei wild und frei in deinem Schreiben, reglementiere dich nicht, probiere aus, was für dich richtig erscheint.

Vielen Dank an Kathrin Weßling für die Beantwortung meiner Fragen! 

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