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Deutschsprachige Literatur

Der Kommandant – Jürg Amann

Jürg Amann ist ein Schweizer Schriftsteller, es ist jedoch Zufall, dass ich nach “Zur falschen Zeit” von Alain Claude Sulzer erneut das Buch eines Schweizer Autoren lese. Das Buch “Der Kommandant” hat mich in meinem Vorhaben bestätigt, in Zukunft noch mehr Bücher aus unserem Nachbarland entdecken zu wollen. Für mich war dieses Buch die erste Begegnung mit dem Schriftsteller Jürg Aumann, der in den siebziger Jahren über Franz Kafka promovierte und heutzutage als Journalist und freier Schriftsteller arbeitet.

“Angesichts der Wirklichkeit ist alles Erfinden obszön.”

Diesen Satz setzt Jürg Amann an den Anfang seiner editorischen Notiz, die am Ende des Buchs zusätzliche Erklärungen und Informationen liefert. Die Grundlage für den Text von Jürg Amann bilden die Aufzeichnungen von Rudolf Höß, die dieser während seiner Zeit im Untersuchungsgefängnis in Krakau niederschrieb. Rudolf Höß war Lagerkommandant in Auschwitz und wurde 1947 zum Tode verurteilt. Hinterlassen hat er dreihundert engbeschriebene Seiten. Jürg Amann hat dieses umfassende, authentische Dokument strukturiert und verknappt; auf seine “Essenz hin zugespitzt”. Er bezeichnet seinen Text als Monodrama in sechzehn Stationen. Der Begriff Monodrama bezeichnet Texte in der Literatur, in denen nur eine einzige Person auftritt. Der Text von Jürg Amann entstand – laut eigener Aussage – als Replik auf “Die Wohlgesinnten” von Jonathan Littell, der die Verbrechen des Nationalsozialismus fiktionalisierte, ein Vorgehen, bei dem sich bei Amann die inneren Haare irgendwie gesträubt haben. Die These, dass alles Erfinden obszön ist, angesichts der Wirklichkeit, ist sicherlich eine kontroverse These, die einseitig formuliert ist, doch wenn man diesen Satz im Kontext von Jonathan Littells Roman liest, dann kann er Sinn ergeben. Jürg Amann hat sich entschieden, die Verbrechen der Nationalsozialisten nicht zu fiktionalisieren, sondern gibt dem Kommandanten und Kriegsverbrecher Rudolf Höß den Raum und den Rahmen, seine Geschichte und seine Erlebnisse mit seinen eigenen Worten zu schildern. Es fällt mir schwer zu beurteilen, inwieweit dieses Verfahren zulässig ist, geschweige denn zu beurteilen, inwieweit dieses Verfahren zulässiger ist, als die literarische Fiktionalisierung, wie Jonathan Littell sie betreibt. Jürg Amann entscheidet sich dazu, nicht zu fiktionalisieren, da er sich nicht in der Lage fühlt, sich in fiktiver Art und Weise einem Naziverbrecher zu nähern – er entscheidet sich dazu, auf historisches Material zurückzugreifen.

Beim Betrachten des Buchcovers fällt als erstes auf, dass die Schrift und Anordnung des Titels an die Inschrift vor dem Konzentrationslager in Auschwitz erinnert. Amanns Bearbeitung der Aufzeichnungen folgt der Chronologie des Originals:

“Ich, Rudolf Höß, Kommandant von Auschwitz, will im Folgenden versuchen, über mein innerstes Leben Rechenschaft abzulegen. Ich will versuchen, aus der Erinnerung wirklichkeitsgetreu alle wesentlichen Vorgänge, alle Höhen und Tiefen meines psychischen Lebens und Erlebens wiederzugeben. Um das Gesamtbild möglichst vollständig zu umreißen, muss ich bis zu meinen frühesten Kindheitserlebnissen zurückgreifen.”

Zunächst wird die Kindheit und das Heranwachsen von Höß thematisiert: er hat eine Leidenschaft für Pferde und verbringt die meiste Zeit mit Hans, einem “kohlschwarzen Pony mit blitzenden Augen und langer Mähne”. Höß entstammt einem katholischen Elternhaus, seinen Vater bezeichnet er als fanatischen Katholiken. Zu seinen Eltern hat er ein gutes Verhältnis, doch Zärtlichkeit spielt in seinem Elternhaus keine Rolle – weder gehen seine Eltern miteinander zärtlich um, noch legt Rudolf Höß selbst schon in seiner frühesten Kindheit wert auf Zärtlichkeitsbekundungen. Ein Gefühl wie “Elternliebe” ist ihm fremd.

Ein Ereignis prägt ihn und sein Leben mit dreizehn Jahren nachhaltig: genauso wie seine Eltern ist Höß als Kind tief gläubig und nimmt seine religiösen Pflichten ernst – wird dann jedoch von seinem Beichtvater, zu dem er eine enge Beziehung hat, verraten und sehr schwer enttäuscht.  Nur ein Jahr später verstirbt sein Vater und es bricht der Krieg aus. Mit nur fünfzehn Jahren zieht Höß in den Krieg, ist mit siebzehn Jahren jüngster Unteroffizier und bleibt dem Soldatenleben auch nach dem Kriegsende verbunden, als er den Freikorps eintritt. Für ein Verbrechen, das er während seiner Tätigkeit im Freikorps begeht, wird Rudolf Höß zu einer sechsjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Während seiner Zeit als Soldat erlebt Höß zum ersten Mal ein Gefühl der Geborgenheit, des Aufgehobenseins, etwas, das er in seinem Elternhaus nie erlebt hat.

“Ich fand wieder eine Heimat, ein Geborgensein, in der Kameradschaft der Kameraden.”

1934 entscheidet sich Rudolf Höß dazu, wieder in seinen Beruf als Soldat zurückzukehren – Heinrich Himmler hatte ihn dazu aufgefordert, in die SS, in die Wachtruppe eines Konzentrationslagers, einzutreten.

“[ich] hatte […] mir über den Nachsatz, über das Konzentrationslager gar keine Gedanken gemacht. Der Begriff war mir zu fremd. Ich konnte mir darunter gar nichts vorstellen. In der Abgeschiedenheit unseres Landlebens in Pommern hatten wir kaum von einem Konzentrationslager etwas gehört.”

Es folgen beklemmende, sehr schwer verdauliche, sehr schwer zu ertragende Passagen. Rudolf Höß gesteht an einer Stelle: “Und hier beginnt eigentlich meine Schuld”. Seine Schuld, sein Versagen sieht er darin, dass er seinen Dienst nicht gekündigt hat, angesichts der Tatsache, wie viel Mitleid er mit den Gefangenen hat. Er erklärt an mehreren Stellen, nicht mit allen Befehlen einverstanden gewesen zu sein und auch keinen Hass für die Juden empfunden zu haben, doch als “alter Nationalist” war er von der Notwendigkeit der Konzentrationslager überzeugt. Das, was in den Konzentrationslagern geschieht – zunächst ist Höß in Sachsenhausen tätig, später dann in Auschwitz – übersteigt jedes Vorstellungsvermögen. Sehr schwer erträglich wird es, als Höß den Befehl erhält, Massenvernichtungen durchzuführen. Lange überdenkt man, das richtige Verfahren, um möglichst effizient zu sein – ich habe es als kaum zu ertragen empfunden, wie immer wieder über das Leben von Menschen gesprochen wird. An einer Stelle spricht Höß von etwas “Ungeheuerem”. Selbst für den Massenmörder Höß ist das Ausmaß dessen, was passiert, scheinbar nicht mehr einzuschätzen und zu überblicken.

Jürg Amann, der selbst sagt, nicht für den Inhalt verantwortlich zu sein, sondern lediglich für die Form, ist durch seine Verknappungen und Reduzierungen ein düsterer und beklemmender Blick auf ein fürchterliches Verbrechen gelungen. Durch die Literarisierung der Aufzeichnungen, ermöglicht Amann einen interessanten Zugang und Einblick in die Gedankenwelt eines Massenmörders, der in der Untersuchungshaft sitzend darum bemüht war, sein Leben und seine Taten vor sich selbst zu rechtfertigen.

Kritisch hinterfragen und diskutieren kann man sicherlich die Anmerkungen von Jürg Amann aus der editorischen Notiz: “Angesichts der Wirklichkeit ist alles Erfinden obszön. Vor allem da, wo man die Wirklichkeit haben kann.” Welche Wirklichkeit vermittelt Amann in seinem Monodrama? Die Wirklichkeit eines einzelnen Täters, der sich kurz vor einem Prozess stehend, selbst rechtfertigt? Ist diese Wirklichkeit nicht zwangsläufig gefärbt, wenn nicht gar verdreht und zurecht gebogen? Und inwiefern ist diese Wirklichkeit wirklicher, als die Fiktionalisierung von Jonathan Littell?

Jürg Amann ist mit “Der Kommandant” ein interessantes Experiment eingegangen, das mich zum Nachdenken gebracht und mit einigen offenen und interessanten Fragen zurückgelassen hat.

Zur falschen Zeit – Alain Claude Sulzer

Alain Claude Sulzer ist ein Schweizer Schriftsteller, der schon zahlreiche Erzählungen und Romane in den vergangenen Jahren veröffentlicht hat. Für seine Texte hat er bereits eine Vielzahl an Preisen erhalten, zuletzt den Médicus étranger 2008 und den Hermann-Hesse-Preis 2009. Für mich ist der Roman “Zur falschen Zeit” die erste Begegnung mit diesem mir bis dahin unbekannten Schriftsteller.

Im Zentrum des Romans steht der siebzehnjährige Ich-Erzähler, der über das ganze Buch hinweg namenlos bleibt. Jahrelang steht das Foto seines verstorbenen Vaters in seinem Kinderzimmer im Regal. Unbeachtet. Der Erzähler lebt zusammen mit seiner Mutter und seinem Stiefvater Roland ein behütetes und ausgeglichenes Leben – bis zu dem Tag, an dem das Foto seine Aufmerksamkeit auf sich zieht.

“Das Foto war ohne Anfang und Ende. An jenem Mittwochnachmittag aber zeigte es mir etwas, was ich nicht kannte. Ich spürte den Verlust eines Menschen, dem ich nie begegnet war. Vielleicht hatte ich siebzehn Jahre alt werden müssen, um darauf zu stoßen, mit sechzehn hatte ich es nicht sehen können, mit achtzehn wäre ich womöglich schon wieder blind dafür gewesen.”

Erst spät also, erst mit siebzehn Jahren rückt das Foto wieder in den Mittelpunkt und damit auch die Geschichte, die Vergangenheit des Vaters. Die Mutter des Erzählers weigert sich über das, was geschehen ist, zu sprechen. Der Stiefvater ist zwar freundlich, zieht sich jedoch zurück, wenn es um die Vergangenheit geht. Der Erzähler ist mit vielen Fragen konfrontiert, bei der Beantwortung aber ganz auf sich allein gestellt. Das Einzige, was der Erzähler weiß, ist, dass sich sein Vater kurz nach seiner Geburt das Leben genommen hat. Er beginnt die Reise in die Vergangenheit seines Vaters damit, das Foto detaillierter, ausführlicher zu betrachten und auf kleinste Details zu untersuchen.

Ein Fotograf hatte sich entschieden, die Blende zu öffnen und zuschnappen zu lassen. Er hatte das Bild entwickelt und fixiert. Auf Fotopapier gebannt, hatte man es hinter Glas in einen Holzrahmen gesteckt, der so aussah, als habe es ihn schon lange vor meiner Geburt gegeben, als er mit seinen vier gewölbten Holzärmchen noch ein Aquarell oder eine Stickerei umfaßt hatte. Nun bewahrte er das Bild meines Vaters für die Nachwelt auf. Ich war die Nachwelt.”

Ein Detail, das auf dem Foto sofort auffällt, ist die Tatsache, dass der Vater eine Uhr trägt, eine Omega Seamaster – die Uhr ist scheinbar verschwunden. Auf der Rückseite des Fotos findet der Erzähler einen Hinweis darauf, bei welchem Fotografen es gemacht wurde. Mit diesen beiden Informationen begibt der Erzähler sich auf die Suche nach Erklärungen, nach Versatzstücken der Vergangenheit. Diese Reise führt ihn bis nach Paris, wo er seinen Patenonkel André aufsucht, von dem er sich Hinweise erhofft.

“Weil ich hoffte, er, André, könnte die Lücken füllen, die durch die zerronnene Zeit und das Schweigen entstanden seien. Das Schweigen, das sich meine Mutter auferlegt hatte und von dem ich wußte, daß sie es nicht brechen würde, solange man sie nicht dazu zwang.”

Je länger der Erzähler auf der Suche nach Hinweisen ist, desto mehr erfährt er über das Leben und die Vergangenheit seines Vaters. Von seiner Reise nach Paris kehrt er erwachsener zurück, er hat nicht nur die Uhr erhalten, sondern auch Eindrücke, ein Bild seines Vaters, das er so bisher nicht kannte. Vieles von dem, was sich hinter dem Selbstmord von Emil Ott, dem Vater des Erzählers, verbirgt, wird lange nur angedeutet, klingt zwischen den Zeilen an. Es geht um Abgründe, moralische Vorstellungen und darum, dass Emil Ott damals wohl “zur falschen Zeit” gelebt und geliebt hat. Ich hatte beim Lesen fast das Gefühl, dass mir die Zusammenhänge und Hintergründe früher klar geworden sind, als dem Erzähler – dieser gefühlte “Wissensvorsprung” ist ein faszinierender literarischer Schachzug von Alain Claude Sulzer.

Alain Claude Sulzer führt in “Zur falschen Zeit” unterschiedliche Zeitebenen zusammen, lässt die Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven erzählen, springt in die Vergangenheit und wieder zurück in die Gegenwart. Über allem steht die Stimme des Erzählers, der für einen siebzehnjährigen Jungen erstaunlich weise und abgeklärt spricht. Sulzer erzählt zunächst eine scheinbar  traurige Geschichte, die dann aber immer stärker tragische Züge bekommt. Er wirft einen Blick auf eine Zeit, die für einige Menschen, eine falsche Zeit sein konnte, da sie ausgegrenzt, diffamiert und als abartig betrachtet wurden. All dies tut Alain Claude Sulzer mit sehr viel Diskretion – “Zur falschen Zeit” ist ein stilles, ein ruhiges Buch, das unaufgeregt aber mit sehr viel Liebe zum Detail erzählt wird. Vieles an Sulzers Erzählstil hat mich stark an den Autor Peter Stamm erinnert, dessen schriftstellerischen Werdegang ich seit einigen Jahren verfolge. “Zur falschen Zeit” ist ein feines Buch, auf das man sich einlassen muss, um es schätzen zu können.

Mir hat “Zur falschen Zeit” ausgesprochen gut gefallen und es wird nicht das letzte Buch gewesen sein, dass ich von Alain Claude Sulzer gelesen habe.

Bugatti taucht auf – Dea Loher

Dea Loher ist eine der meist gespielten Dramatikerin Deutschlands, zuletzt wurde ihr Stück “Diebe” aufgeführt. Daneben arbeitet sie auch als Schriftstellerin und gewann vor drei Jahren bereits den Berliner Literaturpreis. “Bugatti taucht auf” ist ihr erster Roman, 2005 erschienen bereits die Erzählungen “Hundskopf”.

Hinter dem Titel “Bugatti taucht auf” verbirgt sich eine wahre Geschichte, die umso trauriger ist, weil sie trotz all ihrer Sinnlosigkeit passiert ist. Es geht um ein Auto, den Bugatti Typ 22, der seit den dreißiger Jahren auf dem Grund eines Sees lag. Um das Autowrack ranken sich schon seit vielen Jahren Gerüchte und Legenden. Und es geht um einen jungen Mann, im Buch wird er Luca genannt und in Wirklichkeit heißt er Damiano Tamagni. Der junge Offizier Tamagni wird mit gerade einmal dreiundzwanzig Jahren in einer Februarnacht während der Karnevalsfeierlichkeiten in Locarno totgeprügelt. Von drei Jugendlichen, die ohne Grund auf den am Boden liegenden Tamagni eintreten. Tamagnis Eltern gründeten nach seinem gewaltsamen und so plötzlichen Tod eine Stiftung, um ihrem Sohn ein Denkmal zu setzen. Gemeinsam entschloss man sich dazu, das Wrack des Bugatti Typ 22 zu bergen, um Geld für die Stiftung sammeln zu können. Daneben sollte dieser Einsatz als Andenken an den Hobbytaucher Damiano Tamagni auch ein symbolischer Akt sein. Das ist der Stoff, der die Grundlage für Dea Lohers Roman darstellt, der aufgrund seiner Detailtreue und Genauigkeit schon beinahe den Charakter eines Romans verliert und schon fast als Reportage oder Dokumentation eines schrecklichen und unfassbaren Verbrechens gelesen werden kann. Ergänzt wird der Roman durch Informationen und Hintergrundwissen zu der Familie Bugatti, das an mehreren Stellen im Text eingewoben wird.

Der Roman teilt sich in drei Abschnitte, die zwar miteinander verbunden sind, deren Zusammenhang sich aber erst beim Lesen erschließt. Er beginnt mit Aufzeichnungen aus dem Tagebuch von Rembrandt Bugatti, der zu der italienischen Autobaudynastie gehörte, aber einen anderen Weg als sein Bruder Ettore eingeschlagen hatte – er formt Tierskulpturen. Die Tagebuchaufzeichnungen umfassen die Jahre 1914 bis 1916 und reichen bis zum Selbstmord von Rembrandt Bugatti, der an Depressionen litt. In den Aufzeichnungen geht es um unglückliche Beziehungen, die er mit Frauen führt, um die zunehmende politische Bedrohung, der er in Antwerpen ausgesetzt ist und dem traumatischen Ereignis, als Freunde von ihm mit dem Auto einen Radfahrer überfahren. Die Aufzeichnungen von Bugatti sind von Dea Loher in einem eigenwilligen und ungewöhnlichen Stil gehalten, der mich jedoch begeistert und sehr berührt hat. Loher gelingt es schmerzhafte, aber authentische und intensive Worte zu finden für die Seelenqualen von Rembrandt Bugatti. Folgende Stelle hat mir aus den Aufzeichnungen am besten gefallen, es gibt noch viele andere, für die es hier keinen Platz gibt, um sie alle zitieren zu können.

“Ich bin müde. Ich wäre gern ein anderer.

An manchen Tagen nur Rauschen, lauter, leiser, höher, tiefer, Rauschen.

Es wird Meer um mich.

(unter Wasser)

Mein Leben ist nicht in Unordnung geraten. Es ist im Zerfallen. 

Es ist, als ob ich mich auflöste. Die Ränder meines Ichs sind verschwommen und weit weg; ich kann mich nicht mehr erkennen, nicht wiederfinden, es überrascht mich, dass andere in mir eine Person erkennen, die handelt, eine Meinung hat und zum Arzt geht. 

Ich existiere nur noch, wenn ich in die Kirche gehe und bete.”

Im zweiten Abschnitt von “Bugatti taucht auf” geht es um den Mord an Damiano Tamagni – im Buch wird er Luca Mezzanotte genannt. Luca wird während einer Februarnacht in Locarno von drei Jugendlichen totgeprügelt, Luca wollte dort Karneval feiern.

“Er war ein Junge, wie ihn sich alle Eltern wünschen, sagte sein Vater.”

Akribisch, detailliert und beinahe schon erschreckend nüchtern, werden die Vorkommnisse dieser Nacht von Dea Loher beschrieben. Sie nimmt dabei unterschiedliche Perspektiven ein, beschreibt wie der Abend für Luca verlaufen ist, was seine Mörder vor der Tat gemacht haben. Loher rekonstruiert, wie es zu dem Aufeinandertreffen zwischen Luca und den Tätern kommen konnte und wie die anschließende Auseinandersetzung und die Tat passiert sind. Einige Passagen lesen sich fast wie Zeugenaussagen, wie ein Gerichtsprotokoll. Viele Aussagen widersprechen sich gegenseitig, es gibt kaum eine Erklärung für das, was geschehen ist. Für das, was aus einer kleinen Auseinandersetzung – in die Luca nicht einmal direkt involviert war – entstehen konnte. Es klingt schrecklich banal, aber das, was passiert ist, hat keinen Sinn, es gibt keine Erklärung, keine Ursache, keinen Grund. Das empfinde ich beinahe als das Schrecklichste. Es gibt nichts, was man begreifen oder verstehen könnte.

“[…] weil es da diesen Tod gab, den Tod an dem einen Abend im Februar, den der Verstand nicht begreifen konnte, für den niemand eine schlüssige Erklärung hatte, der von drei jungen Männern einfach weggeschwiegen, vergessen oder in eine verwirrende und bewusst konfuse Erzählung umgeformt wurde, eine lückenhafte und widersprüchliche noch dazu, so dass jede Mühe der Rekonstruktion, und vor allem jede Mühe der Rekonstruktion, die auch eine Rekonstruktion der Gründe, des Anlasses und der Ursachen sein wollte, ins Leere, ins ewig und unaufhaltsam Leere verlief. Umberto [Anmerk.: Lucas Vater] blickte gewissermaßen ins Nichts, und dieses Nichts gab keinen Blick zurück.”

Im letzten Teil des Romans werden die beiden Erzählstränge zusammengeführt: Dea Loher erzählt aus der Perspektive von Jordi, einem entfernten Bekannten der Familie von Luca, was nach dem Mord geschehen ist. Jordi besucht Lucas Familie, erlebt die Trauer und Bestürzung seiner Eltern mit, die vor dem Nichts stehen. Vor etwas, das sich nie erklären oder begründen lassen wird. Jordi fühlt sich dazu verpflichtet, etwas für Luca zu tun, etwas für seine Familie zu tun. Vielleicht auch dazu, etwas für sich selbst zu tun. Er entscheidet sich dazu, das Wrack des Bugatti zu bergen, das auf dem Grund des Lago Maggiore vermutet wird, um Luca ein Denkmal zu setzen. Das ist der Punkt, an dem alle Teile der Geschichte zu einem Ende zusammengeführt werden.

Mir hat “Bugatti taucht auf” von Dea Loher ausgesprochen gut gefallen. Im Vordergrund dabei steht für mich eine atmosphärisch sehr dichte Sprache, besonders sticht dabei das mittlere Kapitel heraus. Dort gelingt es Dea Loher mit ihrem nüchternen, protokollartigen Stil, wirkliche Beklemmungen auszulösen. Dea Loher überzeugt in “Bugatti taucht auf” auch mit ihrem breitgefächerten Hintergrundwissen, das sie an vielen Stellen in die Geschichte einfließen lässt; bisher hatte es noch keine Autorin, kein Autor, geschafft, mich so für ein Automobilthema zu begeistern und zu interessieren. Dies ist aber auch nur ein Teil der Geschichte, genauso faszinierend ist auch der Einblick in das Leben von Rembrandt Bugatti. Und natürlich der Mord an Luca, der in seiner Beschreibung, in dem Schmerz, den Dea Loher durch ganz nüchterne, einfache Worte transportiert einige der eindringlichsten Passagen des Romans enthält.

Ein großartiger Roman, ein großartiges Debüt und einer der besten deutschsprachigen Romane, die ich seit langem gelesen habe. Ein Roman, den ich unbedingt weiterempfehlen möchte!

Geschwisterkinder – Hanna Lemke

Die Erzählung “Geschwisterkinder” ist schon die zweite Veröffentlichung der jungen deutschen Autorin Hanna Lemke. Für mich ist es die erste Erfahrung mit dieser Autorin, auf die ich zuvor noch nicht aufmerksam geworden war.

Hanna Lemke erzählt die Geschichte der Geschwister Milla und Ritschie. Wobei es da eigentlich kaum eine wirkliche Geschichte gibt. Vielmehr erzählt sie von den Alltäglichkeiten, die das Leben der beiden bestimmen. Milla arbeitet in einem Spielzeugladen und Ritschie in einer Zeitungsredaktion, dort hatte er schon während seines Studiums gejobbt und wurde schließlich irgendwann von seiner Chefin übernommen. Beide leben in Berlin, eigentlich gar nicht weit voneinander entfernt und doch hat sich im Laufe der Jahre eine tiefe Kluft zwischen ihnen gebildet. Gar nicht einmal, weil sie sich böse sind, sondern weil sie sich einfach nichts mehr zu sagen haben. Sie haben sich voneinander entfremdet. Beide haben verlernt über mehr zu sprechen, als die Banalitäten des Alltags. Nähe gibt es zwischen den beiden Geschwistern eigentlich kaum noch und in jedem – immer etwas holprigen – Dialog zwischen ihnen, wird diese scheinbar unüberbrückbare Kluft deutlich. Was bleibt, sind die Erinnerungen an eine gemeinsame Kindheit, an eine ferne Vergangenheit.

“Sie hätte nicht sagen können, welche ihrer Erinnerungen an Ritschie die erste war, die früheste. Sie hatte Bilder von ihnen beiden im Kopf, wie er ihr den Schnuller gab, mit ihr in der Badewanne saß; es waren Bilder aus dem Fotoalbum der Familie, und es schien ihr schwer, sich davon zu lösen.”

Erst durch den Besuch eines gemeinsamen Familienfreundes – Doktor Charles – beginnen die Geschwister damit, sich wieder anzunähern. Milla erfährt zufällig in einem gemeinsamen Gespräch mit Ritische und Doktor Charles, dass Ritschie mittlerweile eine Freundin hat. Ihr wird klar, dass – wenn es dieses zufällige Gespräch nicht gegeben hätte – Ritschie ihr wohl auch nicht dieses intime Detail aus seinem Leben erzählt hätte. Sie realisiert, wie wenig sie eigentlich weiß vom Leben ihres Bruders. Und auch Ritschie beginnt Milla – vor allem auch nach dem gemeinsamen Besuch einer Hochzeit von entfernten Bekannten – mit anderen Augen zu sehen.

“Milla wandte sich dem Gang zu, und er schaute auf sie herab, auf die Puffärmelchen, die ihre Schultern bedeckten, ihren gerade gezogenen Scheitel. Es war ihm selten so deutlich aufgefallen, dass sie nicht nur jünger, sondern auch kleiner war als er; meine kleine Schwester, dachte er. Er war überrascht, wie sehr ihn das rührte.”

Ganz langsam und Stück für Stück beginnen Ritschie und Milla damit, sich wieder anzunähern und eine Beziehung zueinander aufzubauen. Hanna Lemke erzählt von zwei Geschwistern, die nicht nur die Bindung zueinander verloren haben, sondern auch die Bindung zu sich selbst und ihrem eigenen Leben. Beide führen Beziehungen, die sie nicht glücklich machen und arbeiten in Zusammenhängen, die sie nicht zufrieden stellen.

“So war es ihr jedenfalls vorgekommen, obwohl sie immer noch spüren konnte, wie alles einfach weitermachte, Tiere und Bäume, dachte sie, Tag und Nacht, Türen gehen auf, der Mund geht auf, man spricht.”

Wie eine Maschine geht auch das Leben von Milla und Ritschie unaufhaltsam weiter, trotz all des Unglücks und der Einsamkeit, die sie empfinden. Doch zumindest kommen sie sich gegenseitig wieder näher …

Hanna Lemke erzählt sehr detailverliebt, auch banalste Begebenheiten des Alltags werden von ihr sehr intensiv betrachtet und ganz genau seziert. Ihre Protagonisten werden von ihr an keiner Stelle geschont, sondern mit all ihren Unsicherheiten und Schwächen gezeigt. Gestört haben mich die verwendeten Namen: Milla und Ritschie heißen mit bürgerlichen Namen  Milena und Richard und für mein Empfinden hätte es die amerikanisch anmutenden Abkürzungen nicht unbedingt gebraucht. Hanna Lemke legt mit “Geschwisterkinder” eine handwerklich gute Erzählung vor. Besonders in den Beschreibungen der zwischenmenschlichen Stimmungen überzeugt mich die Erzählung, da es der Autorin mit einer großen Genauigkeit gelingt, den Finger auf all das Ungesagte, auf all das, was zwischen den Charakteren steht, zu legen. Auch die Beschreibung der Stadt Berlin ist gelungen …

Handwerklich ist die Geschichte überzeugend erzählt, mir hat jedoch leider der letzte Funke gefehlt, um mich wirklich begeistern zu können. Dennoch eine sicherlich lesenswerte Erzählung einer jungen deutschen Autorin, die Hoffnung auf mehr macht!

Im Winter dein Herz – Benjamin Lebert

Lebert Im Winter dein Herz“Jeder Ort, an dem man für längere oder kürzere Zeit verweilt, der plötzlich, auf unerklärliche oder scheinbar ganz natürliche Weise wichtig ist, der fast zu so etwas wie einer Gemütsverfassung, einer Geisteshaltung wird oder vielleicht auch nur eine Station darstellt, die man schnell hinter sich lässt, jeder Ort, selbst wenn er einem vielleicht Angst macht, hat, so schien mir, eine kleine Öffnung, einen Riss, durch den jederzeit Liebe hineinsickern kann.”

“Im Winter dein Herz” ist der sechste Roman von Benjamin Lebert, der mittlerweile 30 Jahre alt ist. “Crazy”, sein Debüt und Überraschungserfolg als gefeiertes literarisches Wunderkind, liegt mittlerweile schon mehr als dreizehn Jahre zurück und ein bisschen hat mich zwischendurch immer mal wieder das Gefühl beschlichen, dass der bemitleidenswerte Benjamin Lebert seit Jahren diesem Erstlingserfolg hinterherschreibt. Hinterherschreiben muss. “Crazy” hatte ich damals ausgelassen, vielleicht war ich dafür noch zu jung, als es erschien. Mich hat Benjamin Lebert zum ersten Mal im Rahmen der Leipziger Buchmesse 2009 beeindruckt. Dort habe ich ihn in einem Interview mit anschließender Lesung erlebt und er hat mich mit seiner ruhigen, bedächtigen Art begeistert. Auf Fragen hat er wohlüberlegt und reflektiert geantwortet und ich hätte ihm wahrscheinlich noch stundenlang weiter zuhören können. Über seine literarischen Qualitäten sagt all dies natürlich nicht viel aus und in der Tat hat mich dann auch “Der Vogel ist ein Rabe”, das einzige Buch, was ich von ihm bisher gelesen habe, nicht vollends überzeugen können. Nun habe ich mich an sein neuestes – gerade erst erschienenes – Werk “Im Winter dein Herz” herangewagt. Neugierig hatte mich ein langes und umfangreiches Interview mit dem tollen Titel “Ins Unglücklichsein kann man sich verlieben” in “Die ZEIT” gemacht.

“‘Weißt du […] man muss im Leben oft schwere Wege gehen. Es hilft nichts. Aber immer, wenn wieder so ein Weg ansteht, dann denk dran: Reise bequem und am besten erster Klasse.”

Benjamin Lebert erzählt von dem jungen Robert, der sich selbst in Anspielung auf Franz Kafka als Hungerkünstler bezeichnet. Er ist dürr und kränklich, da er sich seit einiger Zeit weigert, zu essen oder das, was er isst, herunter zu schlucken. Er nimmt ausschließlich flüssige Nahrung zu sich. Sehr fein und sanft, in wenigen Sätzen, beschreibt Benjamin Lebert Roberts Leben und Nachbarschaft; Robert wohnt in einer kleinen Wohnung im Hamburger Gängeviertel. Man erfährt, dass er sich zu einem freiwilligen Klinikaufenthalt entschlossen hat, in einer therapeutischen Einrichtung in Waldesruh – unter der Auflage, Winterschlaf zu halten. Er fährt mit dem Zug von Hamburg nach Waldesruh, in der ersten Klasse – darauf bezieht sich das Zitat weiter oben, es ist ein Ratschlag, der von Roberts Vater stammt.

“Wege entstehen dadurch, dass man sie geht.”

Robert ist in Waldesruh, um sich zu erholen und zur Ruhe zu kommen. Dort schreibt er seine Geschichte auf, die in fünf sogenannte “Hefte” aufgeteilt ist. Der Leser lernt Anina und Kudowski kennen. Kudowski ist ein Mitpatient von Robert und Anina arbeitet in einer Tankstelle in der Nähe der Klinik. Alle drei haben sich geweigert, in diesem Jahr am Winterschlaf teilzunehmen und die Pillen, die für einen erfolgreichen Winterschlaf eingenommen werden müssen, einfach weggeworfen. An dieser Stelle erfährt der Leser auch endlich, was es mit diesem Winterschlaf auf sich hat, der in der von Benjamin Lebert geschaffenen Welt nicht nur unter den Tieren, sondern auch von den Menschen durchgeführt wird.

“Alles hatte damit begonnen, dass Arthur McFinnley, ‘Sleepy McFinnley’, wie er genannt wurde, sich intensiv mit den Siebenschläfern auseinandersetzte, die sich im Speicher seines Ferienhauses in Cornwall eingenistet hatten. Und in Roberts Kopf liefen jetzt nochmals einige Bilder der Fernsehsendung ab, die er ein paar Tage zu vor im Aufenthaltsraum der Klink angesehen hatte.”

Robert, Anina und Kudowski wollen während des Winters mit dem Wagen von Waldesruh nach München fahren. Dort möchte Robert seinen schwerkranken Vater besuchen. Benjamin Lebert zeichnet wunderschöne Bilder, die von großer Stille und Zurückgezogenheit geprägt sind: beinahe ausgestorbene, verlassen wirkende Dörfer, verschlossene Fenster, leere Autobahnen, verrammelte Schaufenster. Offene Gaststätten, die von Menschen betrieben werden, die sich auch weigern am Winterschlaf teilzunehmen, finden die drei passenderweise mit der Winter-App auf Kudowskis Iphone. Als sie in München ankommen, kommt ihnen die neu eingeführte 10%-Formel zugute:

“Erst im vergangenen Jahr hatte der Stadtrat von München für den Winterschlaf eine Zehn-Prozent-Formel entwickelt. Zehn Prozent der Straßen waren geräumt. Zehn Prozent der Krankenhäuser waren geöffnet, zehn Prozent der Polizisten hatten Dienst. München war die einzige Stadt, in der es schon geraume Zeit eine Nicht-Schläfer-Partei gab, die das ganze Jahr über versuchte, die Bedingungen für die Nichtschläfer zu verbessern.”

Schnell wird deutlich, dass jeder der drei im Auto seine eigene, nicht unbedingt leichte, Geschichte hat. Robert ernährt sich von Flüssignahrung, da er nicht mehr in der Lage ist, festes Essen zu schlucken. Er verweigert die Nahrungsaufnahme. Auch das Leben von Anina und Kudowski ist nicht immer wie gewünscht verlaufen. Besonders fasziniert hat mich die Geschichte von Anina, einem ungewollten Mädchen türkischer Eltern, die sich selbst einen deutschen Namen gegeben hat. Leider erfährt man nicht viel über sie, aber sie sagt einen sehr wichtigen Satz:

“Muslimin oder nicht. Ich glaube, eine der wichtigen und zugleich schwierigsten Aufgaben im Leben ist es, zu erreichen, dass das Wort ‘man’ einen nicht in die Knie zwingt.”

Es geht um verpasste Chancen, verpatzte Prüfungen, Lebensentwürfe, die in der Sackgasse verlaufen. Die drei Wachgebliebenen versuchen auf der Reise zu sich selbst zu finden, sich selbst wieder näher zu kommen. Am Ende jedes “Hefts” gibt es die “Momente der Geborgenheit”, alle drei erzählen von Momenten in ihrem Leben, in denen sie sich geborgen gefühlt haben. Zufrieden. Glücklich. Geborgen. Diese Passagen haben mich am stärksten beeindruckt.

Das Ende bleibt offen. Ich habe es als überraschend empfunden, doch ob das nun positiv oder negativ ist, weiß ich noch nicht einmal genau. Ist Roberts Geschichte Realität oder träumt er vielleicht nur während seines Winterschlafs? Was ist wahr und was nicht? Ich glaube, jeder Leser muss für sich selbst entscheiden, wie er die Geschichte interpretiert.

“Wenn ich mir ein Zuhause vorstelle, dachte er, muss es wie eine Muschel sein. Glatt, still, beschützend. Mit einem Innern, in dem ich ganz verschwinden kann. Vielleicht ist das, wovon ich träume, auch das Haus einer Schnecke. Einer schönen, großen Meeresschnecke.”

Das ist einer der Absätze, die der Grund dafür sind, warum mir dieser Roman gefallen hat. “Im Winter ist dein Herz” ist surreal und beruht auf der Grundlage einer absurden Idee – auch Menschen machen nun Winterschlaf. Um ehrlich zu sein, hatte ich mir nach dem Lesen des Klappentextes eigentlich etwas ganz anderes vorgestellt, aber nach anfänglichem Zögern habe ich es geschafft, mich auf Benjamin Leberts Idee einzulassen.

Benjamin Lebert gelingen einige fantastische Bilder, vor allem von der winterlichen, einsamen Landschaft. In wenigen Sätzen drückt er sehr vieles aus und lässt dabei auch immer wieder philosophische Gedanken anklingen. Gefallen haben mir auch die Anspielungen auf Franz Kafka. Ein besonderes Highlight sind die “Momente der Geborgenheit” am Ende jedes Hefts. Die Sprache ist poetisch, wunderschön an vielen Stellen – leider leidet eine etwas verkürzte, stark reduzierte Geschichte darunter, das vieles nur angerissen, aber nicht ausgeführt wird. Die Charaktere bleiben insgesamt leider etwas flach, vor allem von Anina hätte ich gerne noch etwas mehr erfahren.

Insgesamt dennoch ein sicherlich lesenswerter Roman eines mittlerweile gereiften Autoren. Wer sich auf “Im Winter dein Herz” einlässt, wird einem peotischen und rätselhaften Roman begegnen, der es wert ist, entdeckt zu werden und dem eine ausgereiftere Geschichte sicherlich gut getan hätte.

Ich nannte ihn Krawatte – Milena Michiko Flašar

“Heute begreife ich, dass es unmöglich ist, jemandem nicht zu begegnen. Indem man da ist und atmet, begegnet man der ganzen Welt. Der unsichtbare Faden hat einen vom Augenblick der Geburt an mit dem anderen verbunden. Ihn zu kappen, dazu  bedarf es mehr als nur eines Todes, und es nützt nichts, dagegen zu sein.”

In dem Roman “Ich nannte ihn Krawatte” schreibt die junge Autorin Milena Michiko Flašar über zwei Menschen, die sich zufällig auf einer Bank in einem japanischen Park begegnen. Es handelt sich um Ohara Tetsu, einen älteren Firmenangestellten – im Buch wird er als “Salaryman” bezeichnet – und den zwanzigjährigen Taguchi Hiro. Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht von Taguchi Hiro. Trotz des Altersunterschied verbindet beide Männer eine Tatsache: sie sind beide aus der sogenannten Norm gefallen, haben es nicht geschafft, dem Druck stand zu halten und verbringen ein Leben außerhalb der Gesellschaft. Es dauert einige Tage, bis die beiden anfangen sich anzunähern. Gegenseitig beginnen sie damit, sich von ihrem jeweiligen Leben zu erzählen. Erst noch sehr zögerlich, aber irgendwann wie ein stetiger, unaufhörlicher Fluss berichten sie sich von Ereignissen, Bildern, Gedanken.

“Vielleicht war das der Grund, warum wir aufeinandergetroffen waren. Um gleichzeitig und unabweisbar festzustellen: Dass es uns nicht möglich ist, nicht von hier, nicht von jetzt aus, das, was geschehen ist, rückgängig zu machen. Und vielleicht war deshalb seine Geschichte auch die meine. Sie handelte von dem, was er unterlassen hatte und was demnach nicht rückgängig zu machen war.”

Taguchi Hiro ist ein Hikikomori[1]. Dabei handelt es sich um ein in Japan weit verbreitetes Phänomen: als Hikikomoris werden überwiegend Jugendliche und junge Erwachsene bezeichnet, die sich in ihren Zimmern im Haus ihrer Eltern einschließen und dieses für einen längeren Zeitraum nicht mehr verlassen. Dieser Zeitraum kann zwischen mehreren Monaten variieren, aber auch bis zu einem ganzen Jahr und darüberhinaus andauern. Verantwortlich für dieses Phänomen wird vor allem der unmenschliche Leistungsdruck in Japan gemacht, unter dem die Jugendlichen leiden. Manche zerbrechen sogar daran.

“Ich bin kein typischer Hikikomori, fuhrt ich fort. Keiner, von dem in den Büchern und Zeitungsartikeln, die man mir dann und wann zur Lektüre auf die Schwelle legt, die Rede ist. Ich lese keine Mangas, ich verbringe den Tag nicht vor dem Fernseher und die Nacht nicht vor dem Computer. Ich baue keine Modellflugzeuge. Von Videospielen wird mir schlecht. Nichts soll mich ablenken von dem Versuch, mich vor mir selbst zu bewahren.”

Es gibt viele Hikikomoris, bei denen man versucht, sie wieder zurück in die Gesellschaft zu führen – sie wieder einzugliedern. Taguchis Familie hat seinen Zustand akzeptiert und versucht nicht, ihm wieder hinaus zu helfen – allein aus dem einzigen Grund, weil sie sich für ihren Sohn schämen.

“Das ist mein Glück. Teil einer Familie zu sein, die es mir gewährt, mich zu verschließen. Aus Scham, wohlgemerkt. […] Mein Dasein bestand darin, dass ich fehlte. Ich war das Sitzkissen, auf dem keiner saß, der Platz am Tisch, der leer blieb, die angebissene Pflaume auf dem Teller, den ich zurück vor die Tür gestellt hatte. Indem ich fehlte, hatte ich gegen das Gesetz verstoßen, das besagt, dass man da sein und wenn man da ist, etwas tun, etwas erreichen muss.”

Zu Beginn des Romans traut sich Taguchi zum ersten Mal seit langem wieder sein Zimmer und das zu Hause seiner Eltern zu verlassen. Er wagt sich nach draußen. Zunächst nur bis zur Parkbank, aber immerhin. Und dort trifft er auf  den Salaryman Ohara Tetsu. Zunächst nennt er ihn für sich nur “Krawatte”, da Ohara eine rot-grau gestreifte Krawatte trägt. Später stellen sie sich gegenseitig vor. Ohara und Taguchi erfahren, dass sie sich ähnlich sind – auch Ohara lebt ein Leben außerhalb der Gesellschaft. Ohara ist zwar kein Hikikomori, aber ein Lügner – er belügt seine Frau Kyoko.

“Kyoko weiß nicht, dass ich hierher komme. Ich habe es ihr nicht gesagt. Gedehnte Silben: Ich ha-be ihr nicht ge-sagt, dass ich mei-ne Ar-beit ver-lo-ren ha-be.”

Ohara leidet auch unter einer Krankheit, er leidet unter einer Illusion, die er um jeden Preis versucht aufrechtzuerhalten, um niemanden enttäuschen zu müssen. Um nicht zugeben zu müssen, alt zu sein und versagt zu haben.

Mit der Zeit, nähern sich Ohara und Taguchi auf ihre ganz eigene Weise an und erzählen sich abwechselnd von ihrem Leben, von dem was sie erleiden mussten. Man erfährt von Oharas Sohn, der behindert auf die Welt kam und den er deshalb nicht lieben lernen konnte. Man erfährt von seiner arrangierten Ehe. Taguchi erzählt von Freunden aus der Schule, die er im Stich gelassen hat. Die er verraten hat, um normal sein zu können. Am Ende hat er sich  damit selbst verraten und seine Freunde verloren.

Als Leser erhält man die Möglichkeit mitzuerleben, wie beide versuchen sich zusammen aus dem Loch, in das sie gefallen sind, hervorzukämpfen … und Taguchi dabei zu begleiten, kleine Schritte zurück in das Leben zu machen.

Mir hat der Roman von Milena Michiko Flašar sehr gut gefallen. Es gibt so viele Sätze, Passagen, ganze Abschnitte, die ich unterstrichen und markiert habe. Kaum eine Seite ist nicht mit einem Post-It beklebt worden. Flašar erzählt eine leise, unaufgeregte, aber sehr berührende Geschichte und lenkt den Blick auf die Menschen, die aus irgendeinem Grund aus der Norm fallen. Am Ende des Romans wird die Frage aufgeworfen, ob diese Menschen, die für eine Weile aus der Norm fallen, die für eine bestimmte Zeit nicht mehr mit der Welt verwoben sind, eine Chance haben, wieder zurückzukehren:

“Ich meine Leute wie uns, die vom Weg abgewichen, sich entzogen haben. Die keinen Abschluss, keine Ausbildung, keine Arbeit, nichts vorzuweisen, nichts gelernt haben außer dieses: Dass es sich lohnt, am Leben zu sein. Er macht mir Angst, der Gedanke, wir könnten jetzt, da wir es gelernt haben, immer noch lernen, nicht gebraucht werden. Immerhin sind wir gezeichnet. Wir haben einen Makel. Was, wenn man uns das nicht verzeiht? Was, wenn die Gesellschaft … uns nicht zurückhaben möchte?”

Ich hoffe und wünsche mir, dass auch diesen Menschen, den Menschen, die einen Makel zurückbehalten, weil sie nicht mehr Teil der Norm gewesen sind, eine Chance eingeräumt wird. Mich haben Ohara und vor allem auch Taguchi sehr beeindruckt. Beide zerbrechen an einem Druck, den sie sich selber auferlegt haben – aber sie versuchen sich wieder in das Leben zurückzukämpfen.

“Ich nannte ihn Krawatte” ist ein großartiger Roman und sicherlich einer der besten deutschsprachigen Romane, die ich seit sehr langer Zeit gelesen habe. Flašar überzeugt mich vor allem mit einer fantastischen Sprache und mit faszinierenden, feinfühligen, empfindsamen Bildern. Ein ungewöhnliches Buch, das ungewöhnliche Menschen beschreibt und mich mit seiner Schönheit, seiner poetischen Sprache, seiner Sanftheit bezaubert hat.

Ich wünsche “Ich nannte ihn Krawatte” möglichst viele Leser, die sich auch verzaubern lassen!

[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Hikikomori

Sturz der Tage in die Nacht – Antje Rávic Strubel

“Sie haben doch was miteinander. Sie und der Junge.”

“Wir haben alles”, hat sie geantwortet.

Antje Rávic Strubel erzählt in “Sturz der Tage in die Nacht eine vielschichtige Geschichte mit vielen unterschiedlichen Ebenen.

Oberflächlich betrachtet geht es um eine kleine Insel in der Ostsee. Ein einsames, beinahe unberührtes Naturschutzgebiet. Es geht um Erik. Erik ist fünfundzwanzig Jahre alt. Er hat sein Soziologiestudium abgebrochen. Vorher hatte er schon versucht Jura zu studieren. Auch das hat ihm nicht gefallen. Nach dem Sommer möchte er sich neu orientieren und dafür hat er sich an mehreren Universitäten für Politik und Wirtschaft beworben. Um dies in Angriff nehmen zu können, benötigt er zunächst eine Auszeit. Er reist nach Gotland. Macht einen Zwischenstopp in Visby. Übernachtet auf Zeltplätzen. Schließlich entscheidet er sich für einen Tagesausflug auf die Naturschutzinsel. Dort lernt er Inez kennen. Das “e” in Inez wird betont, was spanisch klingen soll. Inez ist studierte Biologin. Auf der Insel lebt sie, um für ein Projekt Daten zu sammeln und Vögel zu beobachten. Sie beobachtet Trottellummen. Wenn diese alt genug sind, müssen sie fliegen lernen und werden dazu einfach von ihren Eltern über eine Felskante in die Tiefe gestürzt. Inez ist sechzehn Jahre älter als Erik. Beide verlieben sich ineinander und Inez stellt Erik als Praktikant ein.

Das ist die Oberfläche. Dahinter verbergen sich Abgründe. Dunkle und tiefe Abgründe, von denen Inez und Erik selbst lange nichts ahnen.

“Erst jetzt, da ich versuche, alles in eine Ordnung zu bringen, fallen mir solche Details wieder ein, da ich alles so sehen will, als wäre es eine Geschichte mit Anfang und Ende und einer inneren Zwangsläufigkeit.”

Unter der Oberfläche geht es um eine lang zurückliegende Familiengeschichte und eine schwerwiegende und folgenreiche Entscheidung. Und es geht auch um Politik. Um politische Verstrickungen während der DDR. Um Stasitätigkeiten. Eine große Rolle spielt Felix Ton, der für den Bundestag kandidiert und dafür seinen Sohn wiederfinden möchte, den er nie kennengelernt hat. Und es geht um Rainer Feldberg, seinem treuen Freund und Stasi-Spitzel. Zu beiden hatte Inez schon vor sechzehn Jahren Verbindungen und beide kehren mit Erik zusammen in ihr Leben zurück. An dieser Stelle des Romans wechseln auch immer wieder die Erzählperspektiven und die Geschichte wird abwechselnd aus der Sicht von Erik, Inez, Rainer und Felix erzählt.

Am Ende zerstört das, was sich unter der Oberfläche befindet – was dort seit Jahren brodelt – beinahe das Leben aller beteiligten.

“Geständnisse und die Wahrheit und das, was dabei verlorengeht.”

Antje Rávic Strubel ist mit “Sturz der Tage in die Nacht” ein aufwühlendes, sehr vielschichtiges Buch gelungen, das Elemente vieler unterschiedlicher Genres enthält. Überzeugt hat mich vor allem die Sprache genauso wie die Beschreibungen der Insel, die eine ganz besondere Atmosphäre erzeugen. Auch die Art und Weise, wie es Antje Rávic Strubel gelingt, alle offenen Fäden in der Hand zu halten und am Ende zusammenzuführen, hat mich sehr beeindruckt.

Insgesamt ist “Sturz der Tage in die Nacht” ein sehr beeindruckender Roman, der gleichzeitig spannend, aber auch aufwühlend ist. Eine ganz klare Empfehlung!

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