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Zeitgenössisches

Wo der Himmel aufhört – Robert Williams

Robert Williams hat acht Jahre als Buchhändler gearbeitet, bevor er seinen ersten Roman veröffentlicht hat: sein Debütroman “Luke und Jon” wurde vielfach ausgezeichnet. “Wo der Himmel aufhört” ist sein zweiter Roman und wurde von Brigitte Jakobeit ins Deutsche übertragen.

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“Eine Zeitlang wusste ich nicht, ob an dem Tag wirklich etwas Schlimmes passiert war. Ich hatte den Verdacht, man wollte mich reinlegen.”

Donald Bailey ist acht Jahre alt, als sich sein Leben von einem Tag auf den anderen ändern sollte. Der Einschlag, der alles verändern sollte, kommt urplötzlich, ohne Vorwarnung. Und plötzlich ist nichts mehr so, wie es zuvor gewesen ist. Als Donald acht Jahre alt ist, geschieht ein tragischer Unfall, der nicht nur die Form seines Lebens für immer verändern sollte, sondern auch das seiner Mutter und das des kleinen Jungen, den er mit dem Fahrrad angefahren hat. Donald ist zu jung, um das zu verstehen, was um ihn herum geschieht. Die Polizei befragt ihn, immer wieder. Sie fragt nach Begriffen wie Absicht, nach Begriffen, die Donalds Vorstellungswelt sprengen. Sie fragt so lange, bis Donald irgendwann selbst nicht mehr weiß, ob er lügt oder die Wahrheit sagt.

“Ich glaube nicht, dass ich sie anlog, und sie logen mich auch nicht wirklich an, aber die ganze Wahrheit sagten sie mir zuerst nicht. Vermutlich wollten sie herausfinden, ob ich etwas verberge, wollten testen, wie viel ich wusste, aber selbst mit meinen acht Jahren war mir klar, wenn man zu viel sagt, handelt man sich Ärger ein.”

In einer Kleinstadt kann man nach einem solchen Unglück kaum unbehelligt weiter leben. Statt ihrem Sohn dabei zu helfen, die Geschehnisse aufzuarbeiten, flieht seine Mutter mit ihm aus der Stadt, in der es geschehen ist. Statt über den Unfall zu sprechen, wird aus ihm ein Geheimnis gemacht. Ein Geheimnis, das Donald die Luft abschnürt. Ein Geheimnis, das unausgesprochen und wie eine dicke und undurchdringliche Wolke über seinem zukünftigen Leben wabert. Die Mutter möchte mit dem Umzug in die neue Stadt alles zurücklassen, was in der alten Heimat geschehen ist. Doch Donald kann nichts von dem abschütteln, was ihn seit diesem Tag umtreibt und nun addiert sich auch noch die Schuld dazu, nicht nur das Leben eines kleinen Jungen zerstört zu haben, sondern auch das seiner Mutter.

“Dieses Wegtauchen in andere Welten hat mir immer gutgetan seit dem Vorfall. Es hat mir geholfen, den Kopf über Wasser zu halten, leichter zu atmen und dem kleinen Jungen zu entkommen.”

Der Leser lernt Donald kennen, als er acht Jahre alt ist. Später macht die Geschichte einen zeitlichen Sprung, wiederum um weitere acht Jahre. Donald ist ein hochgewachsener Teenager geworden, der für sein Alter erschütternd erwachsen geworden ist. Ein Junge, der erwachsen werden musste, um zu überleben. Beim Kampf gegen die Dämonen der Vergangenheit, die ihn immer wieder heimsuchen, ist die Mutter ihm keine Hilfe. Donald hat seine eigenen Techniken, zum Beispiel das Wegtauchen. Wenn die Gedankenraserei ihn übermannt, taucht er weg in andere Welten.

“Ich habe ihn nie vergessen, keine Sekunde lange, aber in den letzten acht Jahren gab es schlimme Zeiten und bessere Zeiten.”

Donald ist sechzehn, als er in seiner neuen Heimatstadt Jake kennen lernt, der acht Jahre alt ist – genauso alt, wie Donald damals, als dieser fürchterliche Unfall geschah. Jake ist ein Junge, der in seiner Klasse keinen Anschluss findet und von seiner Mutter vernachlässigt wird. Endlich ist da jemand, um den sich Donald kümmern kann. Endlich gibt es da jemanden, der beschützt werden muss, der Aufmerksamkeit und Pflege braucht. Gemeinsam verbringen sie viele Samstagnachmittage, sie sitzen gemeinsam in der Bibliothek, gehen auf den Spielplatz und verbringen ihre Zeit im “Geisterhaus”, einem verlassenen Haus, das Donald extra für seinen kleinen Freund hergerichtet hat. Als Jake sich von einem Tag auf den anderen von seinem älteren Freund abwendet, endet diese ungewöhnlich Freundschaft urplötzlich und ohne Vorwarnung …

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“Ich konnte es nie vergessen. Immer wieder kehrte mein Gehirn zu jenem Morgen und seinen Folgen zurück, ich konnte die Sache nicht ruhen lassen, es war wie mit Wespen und Marmelade. Meine Finger kratzten am Schorf, bis die Haut platzte, und dann kratzte ich noch tiefer.”

Es gibt ein deutsches Sprichwort das lautet “Wo der Himmel aufhört, da fängt die Hölle an“. Für Donald hört der Himmel auf, urplötzlich, als er gerade einmal acht Jahre alt ist. Die Hölle ist ein Leben, in dem der Vorfall Donald ständig, wie dem eigenen Schatten gleich, begleitet.  Die eigene Mutter zwingt ihn, die Tür zur Vergangenheit zu schließen, aber auch das, worüber nicht mehr gesprochen wird, ist immer da. Donald braucht lange, um zu erkennen, dass er sich erst von der Schuld seiner Vergangenheit befreien kann, wenn er über diese spricht. Erzählt wird diese bewegende Geschichte aus der Perspektive von Donald, der für sein Alter erschreckend abgeklärt und erwachsen wirkt. Die Sprache ist einfach, das Buch ist sicherlich ein all-age-Buchdas auch von Jugendlichen gelesen werden konnte. Trotz der einfachen Sprache entwickelt die Geschichte einen Sog, dem ich mich nicht entziehen konnte

“In schlechten Phasen bestehe ich nur aus Schuldgefühlen. Hände, Arme, Füße, Beine, Knochen – alles harte, feste Schuld. Schwer, schwarz, drückend.”

“Wo der Himmel aufhört” ist ein warmherziger Roman, mit dem Robert Williams erneut beweist, was für ein grandioser Erzähler er ist. Geschrieben ist das Buch im Stile eines Jugendromans, doch das nimmt der Geschichte nichts von seiner Tiefe und Wahrhaftigkeit. Robert Williams erzählt davon, wie wichtig es ist, miteinander im Gespräch zu bleiben – auch über Dinge, die man eigentlich lieber vergessen würde. Ich habe das Buch zugeklappt und wäre am Liebsten sofort an mein Bücherregal gerannt, um “Luke und Jon” hervorzuholen und gleich noch einmal zu lesen. Robert Williams ist ein toller Schriftsteller, der uns hoffentlich noch viele weitere Bücher schenken wird …

So wirst du stinkreich im boomenden Asien – Mohsin Hamid

Selbsthilfebücher gibt es wie Sand am Meer. Unter all den Ratgebern, die sich in Hülle und Fülle ganz unterschiedlichen Themen widmen, sticht der von Mohsin Hamid aber heraus, denn Ratgeber, wie man stinkreich im boomenden Asien wird, gibt es bisher wohl noch nicht all zu häufig. Geboren wurde Mohsin Hamid in Pakistan, studiert hat er in Amerika. Mittlerweile lebt er gemeinsam mit seiner Familie wieder in seinem Heimatland. Bisher erschienen von ihm bereits die Romane “Der Fundamentalist, der keiner sein wollte” und  “Nachtschmetterlinge”. “So wirst du stinkreich im boomenden Asien” erschien im vergangen Literaturherbst und wurde übersetzt von Eike Schönfeld.

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“Seien wir ehrlich, ein Selbsthilfebuch ist ein Widerspruch in sich, es sei denn, man schreibt selbst eines.”

Mohsin Hamid erzählt in “So wirst du stinkreich im boomenden Asien” die Lebensgeschichte seines namenlosen Protagonisten, der vom Autor immer nur mit einem Du angesprochen wird. Er wächst in einem asiatischen Land auf, das auch namenlos bleibt, jedoch an Pakistan  erinnert . Es ist die Lebensgeschichte eines Mannes, der vom kränklichen Jungen (einem kleinen, gelbsüchtigen Dorfjungen), der mit seinen Eltern und zwei älteren Geschwistern in der ärmlichen und bäuerlichen Provinz aufwächst, zu einem erfolgreichen Geschäftsmann und Großunternehmer aufsteigt.

“Dieses Buch ist ein Selbsthilfebuch. Sein Zweck ist, wie im Titel angegeben, dir zu zeigen, wie man stinkreich werden kann im boomenden Asien.”

Aufgebaut ist das Buch wie ein typisches Selbsthilfebuch, jedem Kapitel sind Tipps vorangestellt, wie man sie so oder so ähnlich auch in herkömmlichen Ratgebern finden dürfte. Es sollte nicht verwundern, dass der erste Ratschlag “Zieh in die Stadt” lautet, denn für den Protagonisten ist dies der erste Schritt auf dem Weg zu einem stinkreichen Geschäftsmann. Als er und seine Familie endlich die engen Grenzen des heimatlichen Dorflebens zurücklassen, öffnen sich für den Protagonisten ganz neue Welten. Zunächst arbeitet er noch als Fahrradkurier, der mitten in der Nacht DVDs ausliefert, doch es soll nicht lange dauern, bis er sein eigenes Unternehmen gründet. Ironischerweise baut er sich sein Imperium mit dem wichtigsten und knappsten Gut unserer heutigen Welt auf – er investiert in die Erstellung und den Verkauf von Tafelwasser.

“Die Straße zum Glück hält Gabelungen bereit, die nichts mit Wahl, Wunsch oder harter Arbeit zu tun haben, Gabelungen, die mit Zufall zu tun haben, und in deinem Fall ist einer davon der Zeitpunkt deiner Geburt.”

Es sind insgesamt zwölf Ratschläge, die dem Leser auf dem Weg dahin stinkreich im boomenden Asien zu werden, erteilt werden: sie reichen vom Hinweis darauf, sich Bildung zu verschaffen, bis zum Tipp nie Kriegskünstler zu fördern. Getrieben von dem Wunsch stinkreich zu werden, befolgt der Protagonist alle Ratschläge, doch er muss erkennen, dass Reichtum etwas Flüchtiges ist, das einem, auch wenn man glaubt, es in Händen zu halten, im nächsten Moment zwischen den Fingern zerrinnen kann. Reichtum macht vielleicht stinkreich, aber nicht unbedingt glücklich. Glücklich macht den Protagonisten nur das hübsche Mädchen, das er bereits als Junge kennen lernt, jedoch nicht festhalten kann. Doch die Lebenswege der beiden kreuzen sich immer wieder. Während der Protagonist ein erfolgreicher Vertreter von Tafelwasser wird, wird das hübsche Mädchen ein erfolgsverwöhntes Model.

“Du bist wie eine lebende Erinnerung, und sie, gegen Erinnerungen gnadenlos resistent, ist wegen dir durcheinander. Deine Sprechweise enthält, auch wenn sie sich in dem Jahrzehnt seit eurem letzten Gespräch weiterentwickelt hat, noch immer den Tonfall, in dem auch sie einmal gesprochen hat, mehr noch als den Tonfall die Perspektiven, die Ansichten des Viertels, dem sie einmal angehört hat, eines Viertels, dem entflohen zu sein sie froh ist und in das sie nicht zurück will, nicht einmal für einen Augenblick, nicht einmal flüchtig.

Der dritte Ratschlag des Buches ist kurz und prägnant: “Verlieb dich nicht”. Der Protagonist heiratet, doch es ist eine Heirat aus Vernunftsgründen, keine Liebesheirat. Er liebt ausschließlich das hübsche Mädchen, doch diese Liebe in ein gemeinsamen Lebensglück zu überführen, gelingt ihm nicht, doch es gelingt ihm, sich seine Liebe zum Leben, zum hübschen Mädchen und zu seinem Sohn zu bewahren. Mohsin Hamid begleitet den Weg der beiden bis zu ihrem Ende, er lässt beide namenlose Figuren immer wieder aufeinanderprallen; ihre Lebensläufe trennen sich, nur um sich wieder zu vereinen und wirft dabei gleichzeitig die Frage auf, wann man wirklich steinreich ist: wird Reichtum in Geld gemessen, oder in Glück und Liebe? Kann man auch als armer aber liebender Mann stinkreich sein?

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“Die Früchte der Arbeit sind köstlich, aber einzeln machen sie nicht besonders dick. Also teil deine nicht un beiß in die anderen, sooft du kannst.”

In “So wirst du stinkreich im boomenden Asien” begleitet man den Protagonisten ein ganzes Leben lang. Vom Anfang, bis zum Ende. Dies ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass das Buch lediglich 220 Seiten umfasst; in diesem Fall lässt sich wirklich von einem rasanten Erzähltempo sprechen. Mohsin Hamid parodiert natürlich die Selbsthilfebücher, die einer Flut gleich den Markt überschwemmen und doch finden sich auch in seinem Selbsthilfebuch zwischen all den anderen Sätzen kleine Satzjuwelen, die man sich ins Herz schreiben möchte.

“Denn es hat einmal einen Augenblick gegeben, in dem alles möglich war. Und es wird einen Augenblick geben, in dem nichts mehr möglich ist. Aber in der Zwischenzeit können wir gestalten.”

Mohsin Hamid gelingt mit “So wirst du stinkreich im boomenden Asien” eine scharfzüngige und intelligente Satire, die sich zum einen unserer globalisierten Welt widmet, die sich immer rasanter entwickelt, zum anderen aber auch einen Blick auf das wirft, was sich hinter dem Streben nach Reichtum verbirgt. Am Ende eines langen Lebens ist es bei manchen Menschen vielleicht einfach der Wunsch nach Wärme und Liebe. Ich habe selten zuvor einen Roman gelesen, der mir so sehr Selbsthilfebuch gewesen ist: Mohsin Hamid regt dazu an, sein eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen und das Beste daraus zu machen.

Schlaflos – Sarah Moss

Sarah Moss wurde 1975 in Schottland geboren; sie studierte und promovierte an der Oxford University und lehrt heutzutage an der University of Warwick. Sarah Moss hat bereits zwei Romane und ein Sachbuch veröffentlicht, “Schlaflos” ist der erste Roman von ihr, der auch auf Deutsch erscheint. Übersetzt wurde er von der freien Lektorin und Übersetzerin Nicole Seifert.

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“Ich kann das nicht, Mutter sein. Ich hätte keine Kinder bekommen sollen.”

Anna und Giles ziehen mit ihren Söhnen, dem siebenjährigen Raph und dem zweijährigen Moth, auf die karge schottische Insel Colsay, ein vom Meer umtostes Eiland. Giles arbeitet auf der Insel als Ornithologe, er beobachtet Papageientaucher. Anna möchte die Ruhe auf der Insel dazu nutzen ihr Buch fertigzustellen. Der Abgabetermin für das Buch, das den Titel “Wie gut war doch die Saatzeit meiner Seele”: Die Erfindung der Kindheit und das Aufkommen von Institutionen im England des späten achtzehnten Jahrhunderts” trägt, war letzten Monat. Doch das optimistische Vorhaben der leicht überforderten Mutter stellt sich schnell als schwieriger heraus, als gedacht. Die Lebensbedingungen auf Colsay sind nicht vergleichbar mit denen im heimischen Oxford, wo Anna Forschungsstipendiatin war: das Wetter ist miserabel, der Strom fällt in schöner Regelmäßigkeit aus und die Internetverbindung gleicht einer Glückslotterie. Doch wäre all das noch zu ertragen, bringen die beiden Söhne Anna an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Während Moth, der gerade einmal zwei Jahre alt ist, noch keine Vorstellung davon hat, dass Nächte da sind, um zu schlafen, macht Raph vor allem dadurch auf sich aufmerksam, dass er erschreckend frühreif ist. Seine Lieblingsbeschäftigung ist das Nachspielen von historischen Katastrophen, ebenso gerne beschäftigt er sich aber auch mit der drohenden Klimakatastrophe, Atomstrom und alternativen Energien.

“Die Singschwäne sind nah am Ufer, wie helle Scherenschnitte treiben sie vor den in der Dämmerung verschwimmenden Wellen dahin. Nachts raunen sie einander Oboenkläge zu, Holzbläser, die sich gegenseitig beruhigen. Gewöhnliche Schwäne, die Schwäne der Königin auf dem Fluss, an dem wir zu Hause Enten füttern, haben Gesichte, die aussehen wie von irgendeiner mittelalterlichen Krankheit gezeichnet, und sie schlafen auf einem Bein stehend, die Köpfe unter den Flügeln, wie kinderlose Passagiere auf Langstreckenflügen, die es unter Schlafbrillen aus Nylon Nacht werden lassen.”

Sarah Moss beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Gegenwart, sondern verknüpft mit dieser auch eine historische Vergangenheit: jedes Kapitel schließt mit einem Brief der Hebamme und ausgebildeten Krankenschwester May ab, die im 18. Jahrhundert nach Colsay geschickt wurde, um der verheerenden Kindersterblichkeit entgegenzuwirken. Durch einen hauchdünnen Faden werden Kapitel für Kapitel Gegenwart und Vergangenheit miteinander verknüpft. Seite für Seite verschränkt sich die Inselhistorie und die chaotische Gegenwart immer stärker miteinander und zwar so spannend, dass einen zwischendurch das Gefühl überkommen kann, keinen Eheroman zu lesen, sondern einen wahren Kriminalroman …

“Würde ich es wieder tun, nachdem ich weiß, was ich damals nicht wusste: dass es ein Leben und länger anhält, wenn man als Mutter versagt, dass alles, was meinen Kindern und den Kindern meiner Kinder geschieht, meine Schuld ist? Dass meine Gereiztheit und meine Gemeinheit in die Zukunft sickern werden wie radioaktiver Abfall in die Irische See? Nein. Nicht, weil ich meine Kinder nicht lieben würde – jeder liebt seine Kinder, auch Kinderschänder lieben Kinder -, sondern weil ich das Muttersein nicht mag, und das merkt man erst, wenn es zu spät ist. Liebe ist nicht genug, wenn es um Kinder geht. So einfach ist das wohl.”

Sarah Moss konnte mich mit ihrem Roman “Schlaflos” gleich auf mehreren Ebenen begeistern. Der Roman überzeugt nicht nur durch die traumhaft schönen Landschaftsbeschreibungen und die wunderbare Verknüpfung von Gegenwart und Vergangenheit, sondern darüberhinaus auch noch durch die humorvolle und diskussionswürdige Betrachtung des Mutterseins. Diesem Thema widmet sich die Autorin auf der einen Seite auf eine hochkomische Art und Weise. Anna ist wahrlich keine Mutter, die einem Bilderbuch entspringt. Aus ideologischen Gründen lehnt sie es ab zu putzen und um den Haushalt kümmert sie sich ansonsten auch nur widerwillig. Auch in der Küche hält sie sich lieber nicht länger als nötig auf.

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“Theoretisch bin ich gegen Kochen. Es ist kein Zufall, dass Fertigmahlzeiten und Supermärkte zur selben Zeit auftauchten wie die Gesetze zur Gleichstellung von Mann und Frau. Praktisch bedeutet Kochen, dass man sich in der Küche verstecken, das Messer schwingen und Radio Four hören kann und trotzdem noch eine gute Mutter ist […].”

Es gelingt Anna, vieles mit Humor zu nehmen, ihren eigenen Unzulänglichkeiten ist sie sich stets bewusst – doch unter dieser Fassade von Humor und Selbstironie blitzen auf der anderen Seite auch immer wieder Momente tiefer Verzweiflung und einer bodenlosen Überforderung auf. Anna findet keine Ruhe, um an ihrem Buch zu arbeiten und ihre eigene wissenschaftliche Karriere voranzutreiben. Ihr Mann entzieht sich der häuslichen Situation, um zu arbeiten, Anna bleibt mit dem Wunsch zurück, endlich wieder wissenschaftlich tätig zu sein und der frustrierenden Realität zwei nervende Kleinkinder um sich zu haben. Kleinkinder, die ihr nicht einmal mehr die Zeit zur Körperpflege lassen, geschweige denn zum Schlafen. Anna empfindet sich selbst als Mutter wider Willen, sie wünscht sich sehnlichst Erholungsurlaub und die Möglichkeit Kinder in den Winterschlaf versetzen zu können.

“Meine Hände zitterten am Gitter des Bettes. Ich darf ihn nicht angreifen. Darf ihn nicht anfassen, sonst lege ich meine Hände um seinen Hals und bringe ihn um. Ich kann nicht weggehen, denn dann würde ich nie wiederkommen, und ich kann nicht bleiben, denn ich bin kurz davor, ihn zu nehmen und seinen Kopf gegen die Wand zu schlagen, bis er aufhört, diesen unerträglichen Lärm zu machen.”

Sarah Moss ist mit “Schlaflos” ein sehr kluger Roman gelungen, der sowohl mit Tiefe als auch Humor zu überzeugen weiß. Die Autorin hinterfragt das Muttersein exemplarisch am Beispiel einer Akademikerfamilie, in der nur noch der Mann zum Zug kommt und die Frau mit den Kindern und den Trümmern ihrer längst verblassten Karriere zurückbleibt. Das ist zum einen unterhaltsam und hochkomisch, zum anderen aber auch bestürzend und erschreckend. “Schlaflos” ist ein Roman über Kinder und Karriere und eine unbedingte Leseempfehlung!

Im Licht von Apfelbäumen – Amanda Coplin

Amanda Coplin wurde in Wenatchee geboren;  mit “Im Licht von Apfelbäumen” legt sie ihren ersten Roman vor. Sie hat bereits zahlreiche Stipendien erhalten und war unter anderem als Writer in Residence am Ledig House in Upstate New York. Wer mehr über die Autorin erfahren möchte, sollte einen Blick auf die Homepage von Amanda Coplin werfen.

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“Das Leiden hatte ihn geformt, ihn schweigsam gemacht und vorsichtig, bedachtsam: tiefgründig. Großherzig, freundlich und rücksichtsvoll, obwohl er das auch vorher schon gewesen war. Mit jeder bedachtsamen Geste zielte er weit zurück und hoffte, seine Schwester zu erreichen, sie irgendwo aufzuspüren.”

William Talmadge lebt in einem abgelegenen und fruchtbaren Tal im nordöstlichen Teil von Washington. Im Sommer 1857 ist er gemeinsam mit seiner Mutter und seiner Schwester dorthin gezogen, damals war William Talmadge neun Jahre alt. Nicht einmal sieben Jahre später, bleibt Talmadge alleine auf der Farm zurück, die Mutter starb an einer Atemwegserkrankung seine Schwester Elsbeth ging in den Wald und kehrte nie wieder zurück. Die Jahre vergehen, doch seine geliebte Schwester kann Talmadge nicht vergessen, auch wenn er sich mit der Zeit an diesem abgeschiedenen Ort in seiner Einsamkeit eingerichtet hat. In Gedanken ist Elsbeth, wenn er die Apfel- und Aprikosenbäume erntet, immer bei ihm.

“Das Einzige, was – vielleicht – noch schlimmer war, als mit Sicherheit zu wissen, dass man sie verschleppt hatte, war, es nicht zu wissen. Das war die traurige Wahrheit. Und Talmadge lebte mit dieser Ungewissheit, er hatte sich darin eingerichtet, und es gab keine Möglichkeit für ihn, jemals wieder zur Ruhe – wirklich zur Ruhe – zu kommen.”

Eines Tages tauchen zwei junge Frauen auf, die Äpfel von den Bäumen stehlen. Talmadge lässt sie gewähren und die beiden kehren immer wieder zu der Plantage zurück. Die Frauen sind scheu und verängstigt, doch dieser alte und gutmütige Mann, macht sie auch neugierig. Sanft und ohne viele Worte nähern sich die drei an und Della und Jane, so heißen die beiden Frauen, werden Stück für Stück zu einem neuen Bestandteil von Talmadges Leben. Als er ihnen Zutritt in sein Leben als Einsiedler gewährt, kann Talmadge nicht ahnen, wie weitreichend diese Entscheidung sein restliches Leben verändern sollte und welches grausame Schicksal die beiden Frauen teilen …

“Freundlichkeit konnte sich mir nichts, dir nichts in ihr Gegenteil verkehren, konnte einem die Luft abdrücken oder mit dem Handrücken ins Gesicht schlagen.”

Amanda Coplin erzählt in ihrem Debütroman “Im Licht von Apfelbäumen” eine berührende Geschichte, eine Geschichte, in der Tragik und Hoffnung mit einem ganz zart schimmernden Faden miteinander verbunden werden. Verzaubern kann der Roman dabei nicht nur durch den Handlungsort, denn die abgelegene Plantage ist ein herrlich einsamer und in der Natur gelegener Ort und die Geschichte ist angefüllt mit traumhaften Landschaftsbeschreibungen, sondern auch durch die beschriebenen Figuren.

“Die Tage verschwammen, einer war weitgehend wie der andere. Es gab kaum Veränderungen. Vielleicht war die Zeit stehen geblieben; vielleicht hatte sie nie existiert. Es war nicht klar, was geschehen würde.”

Im Zentrum der Geschichte steht William Talmadge, der immer nur bei seinem Nachnamen genannt wird. Talmadge ist kein Mann, der vielen Worte. Geprägt wurde sein Leben durch den frühen Verlust seiner Schwester. Dieser Verlust hat ihn zu einem sensiblen Mann gemacht, der sich in seiner Einsamkeit und einem Leben, das aus Apfel- und Aprikosenbäumen besteht, eingerichtet hat. Die Begegnung mit Della und Jane gibt ihm zum ersten Mal in seinem Leben die Möglichkeit, etwas wieder gut zu machen, was er glaubt, bei seiner Schwester falsch gemacht zu haben. Della und Jane geben ihm die Möglichkeit, das drängende Gefühl der Schuld und Unzulänglichkeit abtragen zu können und zu mildern.

“Es war alles neu – die Gesellschaft, die Geräusche -, doch zugleich hatte er das Gefühl, als gehe es schon seit Langem so. Er war, dachte er – und die Erkenntnis erschütterte ihn -, glücklich.”

Auch die beiden Frauenfiguren werden von Amanda Coplin mit viel Wärme und Liebe gezeichnet, aber auch in all ihrer Zerrissenheit, in ihrer Orientierungslosigkeit, in ihrer Verzweiflung. Besonders die Lebensgeschichte von Della ist mir nahe gegangen; selten zuvor hat mich das Schicksal einer Romanfigur so im Innersten berühren können. An der Lebensgeschichte von Della wird deutlich, dass Erlebnisse in der Kindheit einen für immer prägen, aber auch zerstören, können. Caroline Middey, eine Ärztin, die mehrmals aus der Stadt anreist, um Talmadge zu unterstützen, fungiert als weise Stimme der Vernunft, die voller Ruhe und Gelassenheit Situationen bewertet und Ereignisse in die richtige Richtung lenkt.

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“Wer hat in dieser Gegend schon eine Kindheit?, sagte sie oft. Wenn man geboren werde, sei der Tod bereits im Zimmer, warte bereits auf einen.”

Die Geschichte, die Amanda Coplin erzählt fasst einen Zeitrahmen von mehreren Jahrzehnten ein: von der Mitte des 19. Jahrhundert an, bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts reicht die Erzählung, die sich auf die arme Bevölkerungsschicht von Amerika konzentriert, die darum bemüht ist, ihr Geld in der Landwirtschaft zu verdienen. Amanda Coplin erzählt eine herzergreifend Geschichte, bei der sie jedoch auf Kitsch und Sentimentalitäten verzichtet. Der Roman wird – ganz im Gegenteil – mit einer ungeheuer tiefen Kraft und einer außerordentlichen Ruhe erzählt.

“Im Licht von Apfelbäumen” ist ein Roman, der aus dem Leben von Menschen erzählt, die es nicht einfach haben. Von Menschen, die das, was sie erlebt haben, nicht mehr loslässt, die ein Leben führen, das bestimmt ist von dem, was ihnen widerfahren ist, deren Seelen Wunden tragen, die eitern statt zu heilen und die dennoch die Möglichkeit erhalten, ein ganz besonderes Gefühl zu entdecken: das Gefühl der gegenseitigen Liebe. Eine Liebe, die die Zeit überdauern kann. Amanda Coplin ist ein wunderbarer Roman gelungen, auf den letzten Seiten abgerundet durch ein großartiges Ende, das ich am Liebsten immer und immer wieder gelesen hätte.

Tolstoi und der lila Sessel – Nina Sankovitch

Nina Sankovitch wurde 1962 in Evaston als Tochter polnischer Einwanderer geboren und studierte Jura in Harvard. Von Oktober 2008 bis Oktober 2009 las die Ehefrau und Mutter von vier Söhnen täglich ein Buch und besprach es auf ihrem Blog. In “Tolstoi und der lila Sessel” erzählt Nina Sankovitch davon, wie diese Erfahrung ihr Leben verändert hat. Übersetzt wurde das Buch gemeinsam von Anke Carolin Burger und Susanne Höbel.

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“Ich habe überall nach Glück gesucht, aber ich habe es nirgends gefunden außer in einem Eckchen mit einem kleinen Büchlein.” – Thomas von Kempen

Im September 2008, während eines Urlaubs mit ihrem Mann in Long Island, fasst Nina Sankovitch einen Beschluss, der ihr Leben verändern sollte. Sie beschließt, ein Jahr lang jeden Tag ein Buch zu lesen. Ein Jahr lang jeden Tag ein Buch zu lesen, hört sich zunächst einmal anstrengend und stressig an und als würde so ein Leseprojekt die Gefahr bergen können, den Spaß am Lesen zu verlieren. Mit diesem Vorhaben verbunden ist jedoch erstaunlicherweise der Wunsch nach Ruhe und Erholung, der Wunsch danach, sich einfach einmal hinzusetzen und mit einem Buch andere Welten zu betreten. Drei Jahre zuvor ist ihre Schwester Anne-Marie gestorben. Zwischen der Diagnose Gallengangkrebs und ihrem plötzlichen Tod liegen nur wenige Monate. Statt sich der Trauer zu stellen und einen Weg zu finden, mit ihr umzugehen, verbringt Nina Sankovitch die nächsten Monate damit, “wie eine Wahnsinnige herumzurennen, mein Leben und das meiner ganzen Familie mit Aktivitäten und Plänen zu füllen.”

“Doch soviel ich auch in unser Leben hereinzwängte, sosehr ich mich abhetzte, der Trauer und dem Schmerz entkam ich nicht.”

Mit einer gehörigen Portion Humor und viel lockerer Leichtigkeit zeichnet Nina Sankovitch ihren Lebenslauf als begeisterte Leserin nach, die in allen Lebenslagen zu Büchern greift. Diese Liebe wird durch das Büchermobil bereits früh in ihrem Leben geweckt und in der Folge sind Bücher, die ihr Trost und Hoffnung spenden können, ein ständiger Begleiter durch ihr Leben. Drei Jahre nach dem schmerzhaften Verlust ihrer ältesten Schwester wendet sich Nina Sankovitch auf der Suche nach Antworten also fast zwangsläufig erneut der Literatur zu. Im Oktober 2008 beginnt sie mit ihrem Leseprojekt, bei dem sie sich zum Ziel setzt, jeden Tag ein Buch zu lesen. In den Büchern hofft sie Antworten zu finden auf ihre drängendsten Fragen: warum hat sie überlebt und wie soll sie ohne ihre Schwester weiterleben?

“Den Ausweg würde ich nur finden, wenn ich die Bücher ganz oben auf meine Prioritätenliste setzte. Es gibt immer Staub, der gewischt, und Wäsche, die zusammengelegt werden muss; immer muss Milch gekauft und Geschirr gespült werden. Doch ein Jahr lang würde mich nichts von alledem vom Lesen abhalten. Ich schenkte mir ein Jahr, in dem ich nicht rennen, nicht planen, nicht versorgen würde.”

Nina Sankovitch möchte nicht nur lesen, sondern auch über das Gelesene schreiben – sie tut das auf dem Blog, den sie dafür ins Leben ruft. Einen alten und stockfleckigen lila Sessel erklärt sie zu ihrem neuen Lesesessel, in dem sie in den kommenden 365 Tagen die ein oder andere Lesestunde verbringen möchte.

“Worte sind Zeugen des Lebens. Sie zeichnen auf, was geschehen ist, und lassen es lebendig werden. Worte erschaffen Geschichten, die in die große Geschichte eingehen und unvergesslich werden. Auch Romane bilden die Realität ab – gute Romane sind Wahrheit. Erzählungen von erinnertem Leben helfen uns, zurückzuschauen und weiterzugehen.”

In “Tolstoi und der lila Sessel” erzählt Nina Sankovitch von ihrem ungewöhnlichen Leseprojekt (das sie selbst als Jahr des magischen Lesens bezeichnet), von dem Verlust ihrer Schwester, von ihrer eigenen Biographie als Leserin und von den Erinnerungen an ihre Eltern und Großeltern. Sie erzählt aber auch von den gelesenen Büchern, in denen sie Anteilnahme und Orientierung findet, in denen sie Trost findet und Hoffnung darauf, dass ein glückliches Leben ohne den Verstorbenen möglich sein kann. In den Büchern, die sie liest, findet sie Anleitung für ihr eigenes Leben. Sie ist auf der Suche nach Antworten darauf, wie man mit einem schmerzhaften Verlust umgehen kann, wie man Erinnerungen am Leben erhält, ohne an ihnen zu ersticken und wie man gleichzeitig nach vorne und zurück blicken kann. Fragen nach Erinnerung und Trauer – aber auch nach Liebe und dem gemeinsamen Leben als Paar – werden Nina Sankovitch in Büchern beantwortet.

“Mein Pfad in die Zukunft lag deutlich vor mir: Es war ein Pfad, der von Worten erleuchtet war, die sich zu Sätzen und Absätzen, Kapiteln und Büchern verbanden. Mein Pfad war mit Büchern gepflastert.”

“Tolstoi und der lila Sessel” erzählt eine herzergreifende Geschichte und ist angefüllt mit so vielen literarischen Reflexionen und Zitaten, dass bibliophile Herzen bei diesem Buch höher schlagen müssen. Lesen als Lebenshilfe ist ein Gedanke, mit dem ich mich identifizieren kann. Auch für mich können Bücher gleichzeitig meine besten Freunde, Ratgeber und Seelentröster sein. Als Leser wird man Teil einer wunderbaren Reise quer durch die Literatur, die bei Nina Sankovitch ein Spektrum umfasst, das anspruchsvolle Bücher einschließt, aber auch triviale Kriminalliteratur, die die Autorin verspeist, als wäre es lebensrettende Schokolade. Die Leseliste, mit der das Buch auf den letzten Seiten abschließt, ist für mich eine Quelle der Inspiration und Neuentdeckung, genauso wie die bibliophilen Zitate, die jedem Kapitel vorangestellt sind.

“So viele Bücher warten noch darauf, gelesen zu werden, so viel Glück will noch gefunden werden, so viel zum Staunen will entdeckt werden.”

Nina Sankovitch hat ein Buch für Leseratten geschrieben, die ihre Bücher nicht nur im Regal stehen haben, sondern auch in ihrem Herzen. “Tolstoi und der lila Sessel” ist eine berührende und inspirierende Lektüre über das Glück des Lesens und über all das, was wir in Büchern finden und entdecken können …

Nina Sankovitch: Tolstoi und der lila Sessel. Roman. Graf Verlag, München 2012, 288 Seiten, € 16,99.

Nahe dem wilden Herzen – Clarice Lispector

Clarice Lispector wurde lediglich siebenundfünfzig Jahre alt. 1920 wurde sie in der Ukraine geboren und gelangte auf der Flucht vor Pogromen mit ihrer Familie nach Brasilien, wo sie später in Rio de Janeiro lebte. Trotz der ärmlichen Verhältnissen, denen sie entstammt, studierte sie später Jura und arbeitete als Journalistin. Sie veröffentlichte Romane, Erzählungen, Kinderbücher und literarische Kolumnen. Im Verlag Schöffling & Co. wird ihr Werk seit dem vergangenen Literaturherbst herausgegeben. Bisher erschienen “Der Lüster”, “Nahe dem wilden Herzen” und eine umfangreiche Biographie von Benjamin Moser. Weitere Werke sind bereits in Vorbereitung. Übersetzt ins Deutsche wurde Clarice Lispector von der mittlerweile verstorbenen Übersetzerin Ray-Güde Mertin, überarbeitet wurde die Übersetzung von Corinna Santa Cruz.

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“Er war allein. Er war verlassen, glücklich, nahe dem wilden Herzen des Lebens.” – James Joyce

“Nahe dem wilden Herzen” ist der Debütroman von Clarice Lispector gewesen, den sie damals mit gerade einmal dreiundzwanzig Jahren vorgelegt hat. In den Mittelpunkt dieses mutigen Romans, der radikal mit den damaligen gesellschaftlichen Konventionen bricht, stellt Clarice Lispector ihre junge Heldin Joana. Joana wächst mutterlos an der Seite ihres Vaters auf, als dieser stirbt, zieht das junge Mädchen zu ihrer Tante – die Zeit, die sie im Haus ihrer Verwandten verbringt, ist von einem tiefgreifenden Unglücklichsein geprägt. Von ihrer Tante wird sie schließlich auf ein Internat verbannt, ein einsamer Ort für ein junges Mädchen. In jungen Jahren heiratet Joana bereits den Rechtsanwalt Otávio, doch die gemeinsame Ehe zerbricht an Joanas Gefühlskälte und dem gegenseitigen Betrug.

“Die Maschine des Vaters hämmerte klack-klack … klack-klack-klack … Die Uhr erwachte ohne großes Aufheben mit tin-tan. Die Stille schleppte sich schschschschschsch dahin. Was sagte der Kleiderschrank? Kleider-Kleider-Kleider. Nein, nein. Zwischen der Uhr, der Schreibmaschine und der Stille hörte ein Ohr zu, groß, rosafarben und tot. Die drei Geräusche waren durch das Tageslicht miteinander verbunden und durch das Rascheln der kleinen Blätter am Baum, die sich leuchtend ein am anderen rieben.”

Das sind die Eckdaten von Joanas Leben, die im Text aufglimmen, wie Schlaglichter. Doch statt sich auf eine zusammenhängende Geschichte zu konzentrieren, rückt Clarice Lispector das Innenleben ihrer Heldin in das Zentrum dieses Romans. Die von mir aufgelisteten Schlaglichter der Handlung sind eingebettet in einen fortlaufenden Bewusstseinsstrom, der an James Joyce erinnert. In diesem Bewusstseinsstrom erschienen mir die Schlaglichter wie kleine beleuchtete Inseln, an denen ich mich festklammern konnte, um zwischendurch nach Luft zu schnappen, wenn ich Gefahr lief, den Überblick zu verlieren.

“Ach, es gab so viele Dinge, die einfach nicht zu erklären waren. Man konnte ganze Nachmittage darüber nachdenken. Zum Beispiel: Wer hatte wohl zum ersten Mal gesagt: niemals?”

Clarice Lispector lässt ihre Heldin sprechen und taucht mit Haut und Haaren in deren Seelenleben ein. Es ist ein Seelenleben, das geprägt ist von intensiven Stimmungen und Empfindungen, von Gefühlen und Gedanken, die mal hier und mal dorthin treiben. Es ist ein Seelenleben, das geprägt ist von Stimmungswechseln. Von einem Umschlagen der Stimmung, das manchmal noch im selben Satz stattfindet. Es ist ein Wechselbad der Gefühle, zwischen Euphorie und tiefer Traurigkeit. Joana glaubt, einen “Hang zum Bösen” zu haben und spürt in sich “ein vollkommenes Tier, durchdrungen von Ungereimtheiten, Egoismus und Vitalität.”

“Denn der beste Satz, und immer noch der jüngste war: Güte verursacht mir Brechreiz. Die Güte war lauwarm und leicht, sie roch nach rohem, lange gelagertem Fleisch. Das aber nicht ganz verdorben war. Ab und zu frischte man es auf, würzte es ein bisschen, gerade so viel, dass es als ein Stück lauwarmes und stilles Fleisch erhalten blieb.”

Bei der Erforschung von Joanas Seelenleben wechseln sich unverständliche Passagen, bei denen nur schwer zwischen Phantasie und Wirklichkeit zu unterscheiden ist, mit erschreckend hellsichtigen Abschnitten ab. “Nahe dem wilden Herzen” erscheint wie ein Gesteinsbruch, durch dessen Schichten man sich hindurch kämpfen muss: in diesen Schichten tauchen ab und an wahre Satzjuwelen auf, die Seite an Seite stehen neben humoristischen Einwürfen und wahren Gedankenspiralen, die an ein Delirium erinnern können. Die Gedanken kreisen dabei fortwährend um die Kindheit (“Ist es nicht das Schönste, eine Kindheit gehabt zu haben? Niemand kann sie mir wegnehmen …”), aber auch um die gescheiterte Ehe und den brennenden Wunsch danach, Freiheit spüren und empfinden zu können.

Collage Lispector 2

“Ich kann kaum glauben, dass ich Grenzen habe, feste Umrisse. Ich fühle mich wie in der Luft verstreut, als würde ich in anderen Lebewesen denken und in den Dingen außerhalb meiner selbst leben.”

Die ersten zwanzig Seiten des Romans habe ich Satz für Satz gelesen, manche Sätze habe ich wiederholt gelesen, um sie verstehen zu können. Ich habe Unterstreichungen und Notizen gemacht, versucht Zusammenhänge herzustellen und zu begreifen, doch dem Text kam ich dadurch an keiner Stelle wirklich nahe. Schließlich legte ich Stift und Notizzettel zur Seite, um mich rückhaltlos in den Text zu versenken. Ich habe die Worte und Stimmungen auf mich wirken lassen, mich im Bewusstseinsstrom treiben lassen, mal hier hin und mal dorthin und die Gedankenwelt von Joana aufgesaugt. Manchmal glaubte ich, den roten Faden gefunden zu haben, an anderer Stelle verlor ich ihn wieder. Je näher ich am Text kleben blieb, desto weniger habe ich verstanden. Erst als ich begann, ihn einfach auf mich wirken zu lassen, hatte ich das Gefühl, Joana wirklich näher zu kommen.

“Ich werde weitermachen, das eben gehört zu meiner Natur, mich nie lächerlich zu fühlen, ich wage immer etwas, ich betrete alle Bühnen.”

“Nahe dem wilden Herzen” ist ein Strom aus Worten, Bildern, Gedanken und Stimmungen. Es ist ein Strom, den man genießen kann, wenn man es wagt, sich auf die Stimme von Clarice Lispectors Heldin einzulassen. Es ist ein starker und kraftvoller Strom, voller Gedanken zur Freiheit und dazu, wie man als Frau selbstbestimmt leben möchte. Ich glaube, dass ich selten zuvor ein so mühevolles Lektüreerlebnis hatte, ich hatte aber auch selten zuvor ein so intensives.

Clarice Lispector: Nahe dem wilden Herzen. Roman. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2013, 272 Seiten, € 19,95. 

Halb so wild – David Baddiel

David Baddiel wurde 1964 in New York geboren und wuchs in London auf. Bekannt wurde er vor allen Dingen durch Film und Fernsehen – er war TV-Comedian und trat als erster britischer Komiker im Wembley-Stadion auf. Baddiel hat bereits als Talkshow-Moderator gearbeitet, eine Fußballhymne komponiert und ein Drehbuch  geschrieben. “Halb so wild” ist sein vierter Roman, ins Deutsche übertragen wurde er von Friedrich Mader.

Collage Halb so wild

“[…] die Welt dreht sch wie ein blöder Köter, der seinem eigenen Schwanz nachjagt.”

Eli Gold ist der größte Schriftsteller der Welt, den Pulitzer Preis hat er gewonnen, genauso wie den National Book Award. Den Nobelpreis für Literatur hat er abgelehnt. Geschrieben hat er über die Frauen, über die Ehe und die Unmöglichkeit der Liebe. Eli Gold war nicht nur Literat, sondern eine wichtige öffentliche Stimme – in Talkshows war er ein gern gesehener Gast. Doch von dem ehemaligen Ruhm ist nicht mehr viel übrig: Eli Gold ist mittlerweile nicht nur alt geworden, sondern auch noch schwer krank. In einem Zimmer im Mount Sinai Hospital liegt er im Sterben. Eigens für ihn bewacht ein Sicherheitsmann die Krankenhausflure, denn Bill Clinton und Philip Roth haben sich zwecks Besuchen bereits angekündigt. Während die Weltpresse vor den Krankenhaustüren darauf wartet, Elis Tod verkünden zu können, sucht Elis nahe Verwandschaft noch einmal das Sterbebett des berühmten Autors auf. Immer an Elis Seite sind seine fünfte und jüngste Frau Freda und die gemeinsame Tochter Colette, die acht Jahre alt ist.

“Schließlich bin ich Colette Gold und sage keine doofen Kindersachen, über die die Erwachsenen lachen, weil sie so süß sind.”

Colette ist nicht das einzige Kind von Eli, doch nur Harvey, ihr vierzig Jahre älterer Halbbruder, ist bereit, den gemeinsamen Vater zu besuchen. Aus dem Altersheim Redcliffe House heraus verfolgt Violet, die erste Ehefrau von Eli, den Medienrummel um den Mann, der sie vor vielen Jahren verlassen hat.

“Eli, den sie seit über fünfzig Jahren nicht mehr gesehen und gehört hat; ihr erster und einziger Ehemann; der einzige Mann, der ihren zarten Körper berührt hat.”

Eli Gold ist nicht nur ein weltberühmter Autor, sondern auch ein Mann mit einer bewegten Vergangenheit, die von einigen dunklen Flecken gezeichnet ist. Er hat in seinem Leben immer mal wieder verbrannte Erde hinterlassen und diese Tatsache holt ihn am Sterbebett ein. Die Liebe hat für ihn ein Verfallsdatum: sobald die Frauen anfangen alt zu werden, werden sie gegen eine jüngere Variante von ihnen ausgetauscht. Rücksichtslos und gefühlskalt hat er vier Ehefrauen zurückgelassen, eine von ihnen hat die Trennung nicht überlebt. Pauline und Eli hatten sich zum gemeinsamen Selbstmord entschlossen, doch der Autor überlebte. Nun sinnt Paulines Bruder, ein gläubiger Mormone, auf Rache an seinem ehemaligen Schwager.

“Halb so wild” wird abwechselnd aus der Perspektive von Elis Ex-Schwager, Elis Sohn Harvey, der ersten Frau Violet und der achtjährigen Colette erzählt. Alle vier haben ihre eigene Stimme, ihre eigene Sichtweise und ihre eigene Gefühls- und Gedankenwelt, in die sich der Autor wunderbar einfühlen kann. Am meisten mochte ich Colette, ein naseweises Kind, das wissbegierig und altklug ist und das, was um sie herum geschieht mit ganz viel Charme und kindlicher Naivität beschreibt. Colette hat eine Katze, die auf den Namen Aristoteles hört und glaubt, schon lange erwachsen zu sein, auch wenn sie nicht immer so ganz versteht, worüber die Erwachsenen sprechen. Violet ist eine liebenswerte alte Frau, die von ihrem ersten und einzigen Mann im Stich gelassen wurde. Harvey leidet unter dem Erbe seines Vaters oder unter dem, was er dafür hält: getrieben wird er von der zwanghaften Angst vor dem Älterwerden, nicht unbedingt vor dem eigenen Alter, sondern davor, dass seine geliebte Frau altert und gegen etwas Jüngeres ausgetauscht werden muss. Dieser Zwang hat Harvey, der herrlich naiv und leicht tollpatschig gezeichnet wird, bereits mitten hinein in eine tiefe Depression geführt. Wieviel von diesen Gefühlen gehört zu Harvey und wieviel davon wurde von seinem Vater in ihm hinterlassen?

Collage Baddiel

“In diesem Moment vollzog sich zum ersten Mal etwas, was sich in den kommenden Jahren endlos wiederholen sollte: ein fieberhaftes Überprüfen, ein äußert wachsames, heimliches Stöbern nach weiteren Falten und allen anderen möglichen Anzeichen wellender Jugend: raue und/oder hängende Haut, offene Poren, Halsschlaffheit, graue Haare, Besenreiser, deren spinnnenartiges Aussehen ihm besondere Angst einjagte.”

Keiner der vier Figuren hat viel Zeit mit Eli Gold verbringen können, doch alle vier wurden von ihm für ihr gesamtes Leben geprägt: Harvey hat nur wenige Jahre an der Seite seines Vaters gelebt und doch fühlt es sich für ihn so an, als hätte dieser etwas in ihm hinterlassen, was er nicht mehr loswird. Auch Elis Ex-Schwanger hat den berühmten Autor nur wenige Male getroffen und doch wird er von dem Gedanken de Rache verfolgt. Auch Violet waren lediglich zehn Jahre mit Eli Gold vergönnt, zehn Jahre, in denen sie unglücklich war, in denen sie nicht mit sich selbst im Reinen gewesen ist und nicht wusste, was sie in dieser Ehe zu suchen hatte: “Doch es sind die zehn Jahre, die … die den Schlüsselmoment meines Lebens ausmachen.” Bezeichnenderweise kreist der ganze Roman um einen Mann, der sich bereits auf der Schwelle des Todes befindet und im Wachkoma liegt.

David Baddiel legt mit “Halb so wild” einen herrlich bitterbösen Roman vor, unter dessen humorvoller und hochkomischer Oberfläche sich Tiefsinnigkeit und ein großartiger Familienroman verbergen. “Halb so wild” ist ein Roman über die Ehe und die Frauen – natürlich! Es ist aber auch ein Roman über das Älterwerden und das schwere Erbe, das einem Eltern manchmal hinterlassen können. Ich habe einen vielschichtigen Roman gelesen, der großartig und mitreißend erzählt wird und dem ich nur ganz viele Leser wünschen kann.

David Baddiel: Halb so wild. Roman. Karl Blessing Verlag, München 2013. 544 Seiten, € 19,99. 

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