Robert Williams hat acht Jahre als Buchhändler gearbeitet, bevor er seinen ersten Roman veröffentlicht hat: sein Debütroman “Luke und Jon” wurde vielfach ausgezeichnet. “Wo der Himmel aufhört” ist sein zweiter Roman und wurde von Brigitte Jakobeit ins Deutsche übertragen.
“Eine Zeitlang wusste ich nicht, ob an dem Tag wirklich etwas Schlimmes passiert war. Ich hatte den Verdacht, man wollte mich reinlegen.”
Donald Bailey ist acht Jahre alt, als sich sein Leben von einem Tag auf den anderen ändern sollte. Der Einschlag, der alles verändern sollte, kommt urplötzlich, ohne Vorwarnung. Und plötzlich ist nichts mehr so, wie es zuvor gewesen ist. Als Donald acht Jahre alt ist, geschieht ein tragischer Unfall, der nicht nur die Form seines Lebens für immer verändern sollte, sondern auch das seiner Mutter und das des kleinen Jungen, den er mit dem Fahrrad angefahren hat. Donald ist zu jung, um das zu verstehen, was um ihn herum geschieht. Die Polizei befragt ihn, immer wieder. Sie fragt nach Begriffen wie Absicht, nach Begriffen, die Donalds Vorstellungswelt sprengen. Sie fragt so lange, bis Donald irgendwann selbst nicht mehr weiß, ob er lügt oder die Wahrheit sagt.
“Ich glaube nicht, dass ich sie anlog, und sie logen mich auch nicht wirklich an, aber die ganze Wahrheit sagten sie mir zuerst nicht. Vermutlich wollten sie herausfinden, ob ich etwas verberge, wollten testen, wie viel ich wusste, aber selbst mit meinen acht Jahren war mir klar, wenn man zu viel sagt, handelt man sich Ärger ein.”
In einer Kleinstadt kann man nach einem solchen Unglück kaum unbehelligt weiter leben. Statt ihrem Sohn dabei zu helfen, die Geschehnisse aufzuarbeiten, flieht seine Mutter mit ihm aus der Stadt, in der es geschehen ist. Statt über den Unfall zu sprechen, wird aus ihm ein Geheimnis gemacht. Ein Geheimnis, das Donald die Luft abschnürt. Ein Geheimnis, das unausgesprochen und wie eine dicke und undurchdringliche Wolke über seinem zukünftigen Leben wabert. Die Mutter möchte mit dem Umzug in die neue Stadt alles zurücklassen, was in der alten Heimat geschehen ist. Doch Donald kann nichts von dem abschütteln, was ihn seit diesem Tag umtreibt und nun addiert sich auch noch die Schuld dazu, nicht nur das Leben eines kleinen Jungen zerstört zu haben, sondern auch das seiner Mutter.
“Dieses Wegtauchen in andere Welten hat mir immer gutgetan seit dem Vorfall. Es hat mir geholfen, den Kopf über Wasser zu halten, leichter zu atmen und dem kleinen Jungen zu entkommen.”
Der Leser lernt Donald kennen, als er acht Jahre alt ist. Später macht die Geschichte einen zeitlichen Sprung, wiederum um weitere acht Jahre. Donald ist ein hochgewachsener Teenager geworden, der für sein Alter erschütternd erwachsen geworden ist. Ein Junge, der erwachsen werden musste, um zu überleben. Beim Kampf gegen die Dämonen der Vergangenheit, die ihn immer wieder heimsuchen, ist die Mutter ihm keine Hilfe. Donald hat seine eigenen Techniken, zum Beispiel das Wegtauchen. Wenn die Gedankenraserei ihn übermannt, taucht er weg in andere Welten.
“Ich habe ihn nie vergessen, keine Sekunde lange, aber in den letzten acht Jahren gab es schlimme Zeiten und bessere Zeiten.”
Donald ist sechzehn, als er in seiner neuen Heimatstadt Jake kennen lernt, der acht Jahre alt ist – genauso alt, wie Donald damals, als dieser fürchterliche Unfall geschah. Jake ist ein Junge, der in seiner Klasse keinen Anschluss findet und von seiner Mutter vernachlässigt wird. Endlich ist da jemand, um den sich Donald kümmern kann. Endlich gibt es da jemanden, der beschützt werden muss, der Aufmerksamkeit und Pflege braucht. Gemeinsam verbringen sie viele Samstagnachmittage, sie sitzen gemeinsam in der Bibliothek, gehen auf den Spielplatz und verbringen ihre Zeit im “Geisterhaus”, einem verlassenen Haus, das Donald extra für seinen kleinen Freund hergerichtet hat. Als Jake sich von einem Tag auf den anderen von seinem älteren Freund abwendet, endet diese ungewöhnlich Freundschaft urplötzlich und ohne Vorwarnung …
“Ich konnte es nie vergessen. Immer wieder kehrte mein Gehirn zu jenem Morgen und seinen Folgen zurück, ich konnte die Sache nicht ruhen lassen, es war wie mit Wespen und Marmelade. Meine Finger kratzten am Schorf, bis die Haut platzte, und dann kratzte ich noch tiefer.”
Es gibt ein deutsches Sprichwort das lautet “Wo der Himmel aufhört, da fängt die Hölle an“. Für Donald hört der Himmel auf, urplötzlich, als er gerade einmal acht Jahre alt ist. Die Hölle ist ein Leben, in dem der Vorfall Donald ständig, wie dem eigenen Schatten gleich, begleitet. Die eigene Mutter zwingt ihn, die Tür zur Vergangenheit zu schließen, aber auch das, worüber nicht mehr gesprochen wird, ist immer da. Donald braucht lange, um zu erkennen, dass er sich erst von der Schuld seiner Vergangenheit befreien kann, wenn er über diese spricht. Erzählt wird diese bewegende Geschichte aus der Perspektive von Donald, der für sein Alter erschreckend abgeklärt und erwachsen wirkt. Die Sprache ist einfach, das Buch ist sicherlich ein all-age-Buch, das auch von Jugendlichen gelesen werden konnte. Trotz der einfachen Sprache entwickelt die Geschichte einen Sog, dem ich mich nicht entziehen konnte
“In schlechten Phasen bestehe ich nur aus Schuldgefühlen. Hände, Arme, Füße, Beine, Knochen – alles harte, feste Schuld. Schwer, schwarz, drückend.”
“Wo der Himmel aufhört” ist ein warmherziger Roman, mit dem Robert Williams erneut beweist, was für ein grandioser Erzähler er ist. Geschrieben ist das Buch im Stile eines Jugendromans, doch das nimmt der Geschichte nichts von seiner Tiefe und Wahrhaftigkeit. Robert Williams erzählt davon, wie wichtig es ist, miteinander im Gespräch zu bleiben – auch über Dinge, die man eigentlich lieber vergessen würde. Ich habe das Buch zugeklappt und wäre am Liebsten sofort an mein Bücherregal gerannt, um “Luke und Jon” hervorzuholen und gleich noch einmal zu lesen. Robert Williams ist ein toller Schriftsteller, der uns hoffentlich noch viele weitere Bücher schenken wird …