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Zeitgenössisches

Meine geniale Freundin – Elena Ferrante

Niemand weiß, wer Elena Ferrante ist. Das Geheimnis und die Spekulationen rund um die Autorin haben viel zu ihrem Ruhm beigetragen. Doch eigentlich sollte es doch gar nicht so wichtig sein, wer diese Bücher schreibt, sondern wie sich diese Bücher lesen lassen.

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“Wir dachten, wenn wir viel lernten, könnten wir Bücher schreiben und die Bücher würden uns reich machen.”

Meine geniale Freundin erzählt die Geschichte von zwei Freundinnen, die in den fünfziger und sechziger Jahren in ärmlichen Verhältnissen zusammen in Neapel aufwachsen. Gewalt und Armut beherrschen das Viertel, in dem sie groß werden. Es ist eine Gegend, in der ein Vater, der seine Tochter vor Wut aus dem Fenster wirft, kaum Aufmerksamkeit erregt. Obwohl Lina und Elena aus einfachen Haushalten stammen, tun sich beide in der Schule aufgrund ihrer Intelligenz hervor. Während Lina wenig für ihre Klugheit tun muss, zeichnet sich Elena durch einen unglaublichen Fleiß und Ehrgeiz aus. Gegen den Willen ihrer Eltern und mit viel Überzeugungskraft ihrer Lehrer gelingt es Elena, eine weiterführende Schule zu besuchen. Linas Bildungsweg wird dagegen irgendwann abrupt unterbrochen: sie muss ihrem Vater in der Schuhfabrik helfen. Während sich Elena die Chance bietet, dank Bildung ihrer Herkunft zu entfliehen, bleibt Lina in den Verhältnissen, in die sie hineingeboren wurde, gefangen.

Obwohl sie und ich auch weiterhin im selben Rione wohnten, obwohl wir dieselbe Kindheit gehabt hatten, obwohl wir beide in unserem sechzehnten Lebensjahr waren, lebten wir plötzlich in zwei verschiedenen Welten.

Elena Ferrante lässt Meine geniale Freundin aus der Perspektive von Elena erzählen, die zurückblickt auf ihre frühesten Erinnerungen an eine ganz besondere Freundin und die gemeinsame Geschichte verfolgt, bis beide sich an der Schwelle zum Erwachsensein befinden. Es ist eine faszinierende Freundschaft, weil beide Mädchen sich lieben und sich gleichzeitig beneiden – Elena neidet Lina ihr gutes Aussehen und ihre Intelligenz, Lina neidet ihrer Freundin die Möglichkeit, weiterhin zur Schule zu gehen. Dieser Neid, diese Eifersucht, werden immer wieder deutlich. Überhaupt ist Meine geniale Freundin ein beeindruckendes Zeugnis, nicht nur einer Freundschaft, sondern auch des Aufwachsens. Der Leser erlebt, wie Elena und Lina langsam älter werden, in die Pubertät kommen, die ersten zarten Bande mit Jungen knüpfen. Die Verwirrung, die Bedürfnisse und die Schmerzen der Pubertät, wurden mir eindrucksvoll in Erinnerung gerufen.

Ich war mit diesen Jungen aufgewachsen, hielt ihr Benehmen für normal, ihre grobe Sprache war meine. Doch ich ging seit nunmehr sechs Jahren einen Weg, über den sie nichts wussten, den ich jedoch so hervorragend meisterte, das ich die Beste war. Bei ihnen konnte ich nichts von dem anwenden, was ich Tag für Tag lernte, ich musste mich zurücknehmen, mich gewissermaßen herabsetzen. 

Was gleich zu Beginn des Romans auffällt ist übrigens das riesige Figurenensemble – im Personenverzeichnis, das dem Buch angefügt ist, werden mehr als vierzig Figuren erwähnt, die mehr oder weniger zentrale Rollen in dem Buch spielen. Es ist nicht immer ganz einfach, die Übersicht zu behalten: wer ist eigentlich Nino? Mit wem ist noch einmal Enzo verwandt? Und zu wem gehörte eigentlich Rino? Während Elena ihre Freundin Lila nennt, wird sie von allen anderen Lina gerufen, Elena dagegen wird von vielen Lenu genannt. Als ich mich aber erst einmal eingelesen hatte, konnte ich irgendwann kaum noch aufhören: Meine geniale Freundin hat auf mich eine unheimlich starke Sogwirkung entwickelt und als ich die letzte Seite zugeklappt hatte, hätte ich am liebsten sofort weitergelesen. Das ist wohl das schon weithin bekannte #FerranteFever!

Reichtum war nach wie vor ein Funkeln von Goldmünzen, die in unzähligen Kisten verschlossen waren, doch um zu ihm zu gelangen, brauchte man nur zu lernen und ein Buch zu schreiben.

Die Sprache von Elena Ferrante – soweit ich das in der Übersetzung überhaupt beurteilen kann – ist schlicht und zurückhaltend, der Roman ist still und leise und doch so angefüllt mit Leben und all den kleinen Dramen, die uns ausmachen. Am Ende bleibt lediglich die Frage, wie es diesem unscheinbaren Buch gelungen ist, ein großer Welterfolg zu werden. Eine wirkliche Erklärung dafür, habe ich auch nicht, doch was mich am meisten fasziniert hat, ist wohl die Tatsache, dass Elena Ferrante in dieser Geschichte nichts verschweigt – all diese Gefühle, für die man sich vielleicht sogar ein wenig schämt, werden hier benannt. Elena und Lina sind wütend, eifersüchtig, neidisch, unsicher, ängstlich und es ist Aufgabe des Lesers sie durch dieses Universum an Gefühlen zu begleiten. Das ist schlicht und sehr menschlich, dennoch aber auch unheimlich berührend.

Mein einziger Wunsch am Ende dieser Besprechung ist, dass ich euch alle neugierig auf Meine geniale Freundin machen konnte, darauf, euch dieses Buch anzuschauen, obwohl es gerade so sehr gehyped wird. Und ich hoffe, euch vielleicht ein ganz klein wenig mit dem Ferrante Fieber infiziert zu haben!

Elena Ferrante: Meine geniale Freundin. Übersetzt aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 422 Seiten, €22. Weitere Informationen: Homepage über Elena Ferrante.

Deborah Feldman – Unorthodox

Deborah Feldman erzählt in Unorthodox die Geschichte ihres Lebens. Es ist eine Geschichte der Befreiung, denn die Autorin wächst in einer streng limitierten und abgeschotteten jüdischen Gemeinde auf. Es ist aber auch eine Geschichte, die von der Kraft der Literatur erzählt.

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Ich bin überzeugt davon, dass meine Fähigkeit, tief zu empfinden, mich außergewöhnlich macht und dass sie meine Fahrkarte ins Wunderland ist.

Unorthodox ist kein Roman, sondern die wahre Lebensgeschichte von Deborah Feldman – eindrücklich und sehr berührend erzählt die Autorin davon, wie sie in eine ultraorthodoxe Gemeinde hineingeboren wird, die sie schon früh im Leben hinterfragt und aus der sie sich als junge Frau schließlich befreit. Dafür zahlt sie den hohen Preis, aus der einzigen Gemeindschaft, die sie ihr Leben lang kannte, ausgeschlossen zu werden. Das Buch, das sich in Amerika millionenfach verkaufte, machte die Aussteigerin zu einer Aussätzigen: die Satmarer Gemeinde, in der sie in Brooklyn aufwuchs, überzog sie nach der Veröffentlichung mit Hassbriefen – von ihren Angehörigen wurde sie für verstorben erklärt. Ihr Wünsche und Vorstellungen vom Leben waren mit den Glaubenssätzen ihrer Familie nicht vereinbar. Die Satmarer glauben, dass der Holocaust eine Bestrafung ist, die über sie gekommen ist, da sie sich zu sehr assimiliert haben – das Ziel der Gemeinde ist es, so weit wie möglich allem zu entsagen und ein Leben in einem stark abgegrenzten Raum zu führen.

Deborah Feldman wirft in Unorthodox ein erschütternden Blick auf dieses Leben in einer abgeschotteten Gemeinde – all das, was für viele von uns ein normaler Teil des Lebens ist, ist für sie als junges Mädchen lange unbekannt gewesen. Weder darf sie Musik hören, noch in einem Rock zur Schule gehen – nur das Recht auf Literatur erkämpft sie sich heimlich und die Bücher liest sie unter der Bettdecke, immer mit der Angst im Hinterkopf, entdeckt zu werden. Das, was die Gemeinde lebt, hat in der Welt, in der Deborah Feldman aufwächst, alleinigen Geltungsanspruch. All diejenigen, die nicht Teil der Gemeinde sein können, werden ausgeschlossen. Da ist zum Beispiel ein psychisch kranker Verwandter, der versteckt in einem Zimmer leben muss, weil die Scham zu groß ist, sich Hilfe zu suchen.

Ich besitze keinen Bibliotheksausweis, also kann ich keine Bücher mit mir mit nach Hause nehmen. Ich wünschte, ich könnte es, da ich mich immer so außergewöhnlich glücklich und frei fühle, wenn ich lese, dass ich überzeugt bin, es könnte alles andere in meinem Leben erträglich machen, dürfte ich nur immer Bücher mit mir haben.

Unorthodox ist jedoch nicht nur ein Buch über eine abgeschottete Gemeinde, sondern vor allen Dingen auch ein Buch über eine starke Frau. Deborah Feldman empfindet ihre Herkunft von Beginn an als etwas, von dem sie sich befreien möchte. Statt den einfachen Weg zu gehen und sich dem zu fügen, was ihr vorgelebt wird, versucht sie immer wieder auszubrechen. Es sind vor allen Dingen die Bücher, die ihr eine Vorstellung von dem Leben geben, das sie auch so gerne führen würde. In Little Woman. Matilda oder auch Stolz und Vorurteil findet sie Frauenfiguren, an denen sie sich orientiert.

Wenn irgendwer jemals versuchen sollte, Dir vorzuschreiben, etwas zu sein, was Du nicht bist, dann hoffe ich, dass auch Du den Mut findest, lautstark dagegen anzugehen.

Statt bei ihren Eltern aufzuwachsen, wird das junge Mädchen zu ihren Großeltern abgeschoben. Trotz der Strenge und Lieblosigkeit, die in ihrem Zuhause herrscht, erhält sie sich ganz viel Neugier, Wissensdurst und Mut. All dies bewahrt sie sich ihr ganzes junges Leben lang: als junge Frau, die verheiratet wird, steht für sie schnell fest, dass sie mehr sein möchte als eine Ehefrau und Lehrerin. Als sie Mutter wird, schreibt sie sich dann heimlich als Literaturstudentin ein und saugt das auf, was ihr von den Dozenten erzählt wird. Deborah Feldman ist nie zufrieden mit dem vorgefertigten Leben, in das sie sich bedingungslos fügen muss und kämpft so lange um Freiheit und Unabhängigkeit, bis sie das Leben führen kann, was sie sich wünscht.

Wenn du keine Wurzeln hast, hast du auch kein Erbe. Unser ganzer Wert ist durch den Wert unserer Vorfahren definiert. Wir machen uns einen Namen für unsere Kinder. Wer sollte mich wollen, wo ich doch keinen Namen habe, den ich weitergeben kann?

Ich habe mit Unorthodox ein berührendes und tief beeindruckendes Buch gelesen, das nicht nur die Lebensgeschichte einer starken und unabhängigen Frau erzählt, sondern auch von der Kraft der Literatur. Bücher können retten und heilen – und sie können einen aus seinen begrenzten Verhältnissen ausbrechen lassen und ganz neue Vorstellungen vom Leben vermitteln. Unorthodox ist ein Buch, dem ich ganz viele Leser wünsche.

Deborah Feldman: Unorthodox. Übersetzt aus dem Amerikanischen von Christian Ruzicska. Secession Verlag, Zürich 2016. €22, 319 Seiten.  Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog Zeilensprünge und bei der Buchhändlerin und Bloggerin Jacqueline Masuck

City on Fire – Garth Risk Hallberg

Der junge amerikanische Autor Garth Risk Hallberg erschafft in City on Fire ein vielstimmiges Panorama, das auf 1070 Seiten von New York im Jahr 1977 erzählt. Das ist rasant, spannend und erstaunlich gut zu lesen. Müsste ich ein kurzes Fazit ziehen, würde ich wohl sagen: beste Leseunterhaltung!

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Die Dinge werden erst dann interessant, wenn sie in die Brüche gehen.

Im Roman von Garth Risk Hallberg beginnt alles mit einem Schneesturm in der Silvesternacht im Jahr 1976: im Central Park – mitten in New York – wird Samantha Cicciaro schwer verletzt im Schnee gefunden. Jemand hat auf die Jugendliche geschossen, direkt neben all den Villen und Geschäftsgebäuden. Dieses Ereignis bildet den Anker und das Zentrum des Romans – um den Fall lösen zu können, muss die Polizei das komplette Umfeld von Sam auf den Kopf stellen. Da ist zum Beispiel der dunkelhäutige Mercer Goodman, der das Mädchen gefunden und die Polizei gerufen hat. Er arbeitet an einer Mädchenschule und lebt in einer Beziehung mit einem Mann, sein Lebensgefährte William ist ein Nachkomme der weithin bekannten und steinreichen Familie Hamilton-Sweeney. Statt die Familiendynastie fortzuführen, lebt William das Leben eines Aussteigers: schon früh verlässt er das Elternhaus, lebt als Künstler und alternativer Musiker, nimmt Drogen und verliebt sich irgendwann in Mercer. Williams Schwester Regan hat zusammen mit ihrem Ex-Mann Keith zwei Kinder, sie hat sich jedoch von Keith getrennt, als sie seine Affäre mit Samantha aufdeckte.

Und sie hatte gelernt, dass man im Grunde nichts von dem horten konnte, was wirklich zählte. Gefühle, Menschen, Lieder, Sex, Feuerwerke: All diese Dinge existierten nur in der Zeit, und wenn der Moment vorbei war, waren auch sie vorbei.

An dieser kurzen Zusammenfassung wird vielleicht schon deutlich. wie viele Leben Garth Risk Hallberg in seinen Roman gepresst hat und wie sehr die einzelnen Figuren miteinander verwoben sind. City on Fire ist kein  wirklicher Kriminalroman, sondern vielmehr ein aufregendes und vielschichtiges Puzzle einer ganzen Stadt – endlos viele individuelle Geschichten werden zu einem einzigen und riesengroßen Panorama zusammengesetzt. Das liest sich großartig und wunderbar unterhaltsam, es ist nur nicht leicht, eine Rezension über ein solches Buch zu schreiben, da es kaum möglich ist, über einen einzelnen Handlungsstrang sprechen zu können, ohne über alle anderen Handlungsstränge zu sprechen.

Und du da draußen: Bist du nicht irgendwie bei mir? Ich meine, wer träumt nicht immer noch von einer anderen Welt als dieser? Wer von uns wäre jetzt bereit, die Hoffnung aufzugeben – wenn das bedeutete, den Wahnsinn, das Rätselhafte, die absolut nutzlose Schönheit der Millionen zuvor möglichen New Yorks aufzugeben. 

Der Roman, der mit einem Schneesturm beginnt, endet mit einem Stromausfall, dem sogenannten Blackout, den es im Juli 1977 tatsächlich in New York gegeben hat. Der Stromausfall ist der einzige Moment des Romans, in dem mich der Autor ein wenig verliert: die Geschichte wird auf den letzten Seiten einfach zu rasant, einige Figuren, die ich zuvor im Laufe von hunderten Seiten ins Herz geschlossen habe, gehen plötzlich aufgrund des rasenden Tempos verloren – ihre Geschichten bleiben unabgeschlossen, werden nicht zu Ende entwickelt.

Er sah die Sonne, die hinter einer Wolke hervorkam, und die Äste der Ulmen, die wie die Arme von Tänzern in die Luft gestreckt waren, und die grünen Gewänder, die sie in den Wind hielten. Alles Nebensächlichkeiten, natürlich, doch das war es, was diese Stadt einem gab und was Romane nicht konnten: nicht, was man brauchte, um zu leben. sondern was das Leben überhaupt erst lebenswert machte.

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City on Fire erinnert in der Aufmachung und in der Gestaltung an Amerikanische Nacht von Marisha Pessl: der herkömmliche Text wird immer wieder durch verschiedene Elemente durchbrochen. Es gibt Zeitungsausschnitte, Briefe, E-Mails, Patientenberichte. Alles davon ist notwendig, um diese ausufernde Geschichte zu erzählen, nichts davon ist überflüssig. Zusammengehalten wird diese Geschichte, die kaum wirkliche Schwächen hat, von einer flüssigen Sprache, die von dem Übersetzer Tobias Schnettner ins Deutsche übertragen wurde.

Alles in allem ist Garth Risk Hallberg mit City on Fire ein wunderbarer und lesenswerter Roman gelungen, der zwar 1000 Seiten stark ist, sich aber leicht lesen lässt. Vielleicht ist das der einzige Makel dieser Geschichte: City on Fire hat nur wenige Ecken und Kanten, der Roman ist nicht besonders mutig und bis auf die Gestaltung auch nicht wirklich unkonventionell erzählt. Er liest sich ein wenig wie eine gute Vorabendserie: spannend zu verfolgen und leicht zu konsumieren. Was soll ich sagen: für mich ist City on Fire ein schöner Unterhaltungsroman – eine Mischung aus ein wenig Kriminalroman, aus viel Familienroman und aus einer großen Portion Gesellschaftsporträt. Vor allen Dingen aber erzählt Garth Risk Hallberg von uns Menschen, vom Leben, von der Liebe und von den dunklen Schattenseiten.

Garth Risk Hallberg: City on Fire. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Tobias Schnettler. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2016. 1072 Seiten, €25. 

Witwe für ein Jahr – John Irving

John Irving legt mit Witwe für ein Jahr einen fulminanten Roman, einen tragikomischen Schmöker für dunkle Wintertage und eine abenteuerliche Familiengeschichte vor. Diese ganz besondere Mischung aus Tragik, Komik, Pathos und Empathie macht dieses Buch zu einer lesenswerten Lektüre.

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“Tapfer sein bedeutet, dass man sich abfindet mit dem, was einem zustößt, und dass man versucht, das Beste daraus zu machen.”

Witwe für ein Jahr, der neunte Roman von John Irving, ist im Original bereits vor achtzehn Jahren erschienen, in der deutschen Übersetzung von Irene Rumler liegt er seit 1999 vor, entdeckt habe ich ihn aber erst jetzt. Für mich sind die Romane von John Irving – auch wenn ich erst drei von ihnen kenne – immer mit einer ganz besonderen Stimmung verbunden: möchte ich mich in einem Buch geborgen fühlen, dann greife ich zu Büchern von John Irving. Die abgedrehten Charaktere, die wunderbar pralle Handlung, die traurig absurden Geschichten und all dieser unbändige Optimismus, der einen trotz allem Tragischen immer auch das Positive sehen lässt. All das habe ich auch in Witwe für ein Jahr gefunden, wenn auch die Charaktere in diesem Roman nicht ganz so abgedreht sind – es gibt weder Bären noch tauchen Ringer auf.

Stattdessen erzählt John Irving eine schon fast schmerzhaft realistische Geschichte: im Mittelpunkt des Romans steht die Schriftstellerin Ruth Cole, die mit ihren Büchern große Erfolge feiert, in ihrem Liebesleben aber immer an die falschen Männer gerät. Doch das ist noch längst nicht alles, John Irving erzählt eine Geschichte, die über vier Generationen angelegt ist und die zwischendurch die eine oder andere abstruse Wendung nimmt.

Liebe bedeutet, nicht mehr zu wollen, von anderen nicht mehr zu erwarten als das schon Erreichte; es hieß schlicht und einfach, sich vollständig zu fühlen. Niemand konnte es verdient haben, sich noch besser zu fühlen. 

Die Erzählung setzt in Ruths Kindheit ein, die davon bestimmt ist, dass ihre beiden älteren Brüder bei einem tragischen Autounfall verstorben sind. Ruth ist ein Nachkömmling, gezeugt, um den Schmerz des Verlustes zu lindern. Doch es ist ein Schmerz, der nicht zu lindern ist – 1958 beschließt Ruths Mutter Marion Cole, Ruth bei ihrem Vater zurückzulassen. Nicht ganz unschuldig daran ist der sechzehn Jahre alte Eddie, der bei Ruths Vater – Ted Cole, einem berühmten Kinderbuchautor – einen Sommerjob annimmt, der in einer Affäre mit Marion endet. Später begegnen wir der erwachsenen Ruth wieder, die den Verlust der eigenen Mutter und eine Kindheit, die von Tod und Trauer bestimmt gewesen ist, noch immer nicht hinter sich gelassen hat. Die weitverzweigte Geschichte führt den Leser auf wunderbar verschlungenen Wegen  sogar bis in das Rotlichtviertel nach Amsterdam.

Auf die Romane von John Irving trifft eines tatsächlich zu: sie nehmen einen mit in eine andere Welt. Ich wurde mitgenommen auf eine abenteuerliche Reise, während der ich gelitten, gelacht und geweint habe. Was mich besonders begeistert, ist diese ganz besondere Mischung aus Humor und Traurigkeit, die mich lehrt, noch einmal aus einer ganz anderen Perspektive auf das Leben zu blicken.

Aber darin besteht die Prüfung, Ruthie. Sie besteht darin, dass es manchmal keine Möglichkeit gibt, rechts ranzufahren. Manchmal kann man einfach nicht stehenbleiben, sondern muss irgendwie weiterfahren. Hast du das verstanden?

Ähnlich wie bei meiner Lektüre von Das Hotel New Hampshire, gibt es auch hier zahlreiche Sätze und Gedanken, die ich mir angestrichen und in mein Notizbuch übertragen habe. Sei es die Frage danach, ob Trauer wirklich ansteckend sein kann, oder die Fähigkeit, Momente wahrzunehmen, in denen die Zeit stehenbleibt. John Irvings Romane unterhalten nicht nur ganz wunderbar, sondern sind nebenbei auch noch eine Lehrstunde für das eigene Leben.

Weil die Gefahr besteht, dass ich mich in meiner Begeisterung lediglich wiederhole, wenn ich noch weiterschreibe, bleibt mir lediglich übrig, eine lautstarke Leseempfehlung herauszubrüllen. Ich habe mit Witwe für ein Jahr einen großen Roman gelesen: klug, weise, mitfühlend und unglaublich spannend erzählt John Irving von Tod und Trauer, von Leben und Liebe und vom Schreiben.

John Irving:Irving Witwe für ein Jahr. Diogenes Verlag, Zürich 1999. 762 Seiten, €12,90. Jeder, der gerne John Irving liest, kann sich übrigens auf neue Lektüre freuen – am 23. März erscheint im Diogenes Verlag sein neuer Roman Straße der Wunder.

 

Euphoria – Lily King

Lily King legt mit Euphoria einen beeindruckenden Roman vor – angesiedelt in Neuguinea Anfang der 1930er Jahre berichtet sie nicht nur von einer faszinierenden Forschungsreise, sondern auch von einer aufregenden Liebesgeschichte. All das auch noch wunderbar erzählt – eine große Leseempfehlung!

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Ich wurde im Glauben an die Wissenschaft erzogen wie andere Menschen im Glauben an Gott oder die Götter oder das Krokodil.

Lily King ist eine Schriftstellerin, die hier zu Lande noch kaum bekannt ist, dabei ist mit Euphoria – ins Deutsche übersetzt von Sabine Roth – bereits ihr dritter Roman erschienen, der von der New York Times sogar unter die fünf besten Bücher des Jahres gewählt wurde und nun verfilmt werden soll. Historisches Vorbild für den Roman ist die Ethnologin Margaret Mead, die im 20. Jahrhundert die Sexualität bei südpazifischen Völkern erforschte und als Wegbereiterin der sexuellen Revolution galt. Während die Ethnologin im deutschen Sprachraum weniger bekannt ist, gibt es von ihr und über sie zahlreiche englischsprachige Bücher und Artikel.

In Euphoria ist Margaret Mead das historische Vorbild für Nell Stone, so heißt die Hauptfigur des Romans. Gemeinsam mit ihrem Mann Fen ist sie auf dem Weg zu einem Forschungsaufenthalt in Neuguinea. Am Sepik Fluss begegnen sie dem Ethnologen Andrew Bankson, der ebenfalls die Völkerstämme in Neuguinea erforscht. Aus diesem zufälligen Zusammentreffen dreier Ethnologen kreiert Lily King eine brisante Dreiecksgeschichte – die es so, oder so ähnlich, tatsächlich gegeben hat. Nell, die mehr oder weniger unglücklich mit dem unterkühlten und eifersüchtigen Fen liiert ist, verliebt sich Hals über Kopf in den weit liebevolleren und aufmerksameren Bankson.

Brennende Wünsche, eine Flut des Verlangens, die ich in keine Bahn lenken konnte, ein Sichverzehren, ohne zu wissen, wonach. Ich verzehrte mich. Punkt. Es war das Gegenteil von Sterbenwollen. Aber kaum weniger unerträglich.

Lily King setzt ihren Roman aus unterschiedlichen Perspektiven zusammen: ein Teil wird aus der Sicht von Bankson erzählt, wir erhalten aber auch Einblicke in die Tagebücher von Nell Stone. Das exotische Neuguinea ist die Kulisse für eine leidenschaftliche Liebesgeschichte, die aufgrund der historischen Bezüge zusätzliche Spannung erhält: was ist wirklich so gewesen, was ist reine Fiktion? Wo hört die Phantasie auf und wo fängt die Realität an? Euphoria ist jedoch für mich weit mehr als eine flirrende und fiebernde Liebesgeschichte: Lily King setzt sich auch ausgiebig mit den Forschungen ihrer Figuren auseinander. Wie kann es gelingen, eine andere Kultur zu erforschen? Wie kann man sich ihren Eigenarten respektvoll näher? Gibt es Grenzen, die von Forschern nicht übertreten werden sollten? Diese Fragen und Gedanken werden an Fen und Bankson verdeutlicht, die ganz und gar unterschiedliche Forschungsmethoden bevorzugen.

Ich glaube, mehr als alles andere ist es die Freiheit, nach der ich in meiner Arbeit suche, in all diesen entlegenen Gegenden der Welt – nach einer Gruppe von Menschen, die einander den Raum geben, so zu sein, wie es den Bedürfnissen eines jeden entspricht. Und vielleicht werde ich niemals in einer einzigen Kultur fündig werden, sondern finde Teile davon in verschiedenen Kulturen, die ich dann wie ein Mosaik zusammensetzen und der Welt vorführen kann. Aber die Welt ist taub. Die Welt – und damit meine ich letztlich den Westen – hat kein Interesse an Veränderung oder Weiterentwicklung, und meine Rolle scheint mir an düsteren Tagen wie heute einzig darin zu bestehen, diese exotischen Kulturen noch rasch zu dokumentieren, bevor die westliche Bergbau- & Landwirschaftsmaschinerie sie auslöscht.

Lily King gelingt es, auf wunderbare Art und Weise eine tragische Liebesgeschichte zu erzählen. Dabei wirft sie gleichzeitig spannende Einblicke in die Kunst der Ethnologie und schreibt darüber, was passieren kann, wenn man eine unbekannte Kultur skrupellos entdecken möchte. Euphoria hat mich gut unterhalten, nachdenklich zurückgelassen und neugierig darauf gemacht, endlich einmal die Werke von Margaret Mead zu entdecken.

Lily King: Euphoria. C.H. Beck Verlag, München 2015. 262 Seiten, €19,95. Auf der Verlagshomepage gibt es ein Euphoria-Special. Weitere Rezensionen gibt es bei Herzpotenzial und der Buchbloggerin

H wie Habicht – Helen Macdonald

In H wie Habicht erzählt Helen Macdonald ihre eigene Geschichte, es ist eine Geschichte der Trauer und des Verlustes. Gleichzeitig ist es auch eine Geschichte über die Falknerei und einen Habicht. Es ist schwer, das Buch einem Genre zuzuordnen – eines lässt sich aber auch so sagen: ich habe selten zuvor ein so beeindruckendes und berührendes Buch gelesen.

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Die Landschaft heißt Brecklands – das gebrochene, zerklüftete Land -, und dort fand ich mich an diesem Morgen zu Beginn des Frühjahrs vor sieben Jahren wieder, auf einer Reise, die ich ganz und gar nicht geplant hatte.

Helen Macdonald träumt bereits als Kind davon, Falknerin zu werden. Während andere Kinder von Hunden oder Pferden träumen oder Poster von Popstars an den Wänden hängen haben, beschäftigt sich Helen mit großer Ernsthaftigkeit mit der Falknerei: sie liest Sach- und Fachbücher über das atzen, ballieren und kröpfen. Schon als Kind richtet sie ihren ersten eigenen Falken ab. Trotz dieser großen Leidenschaft, wird Helen nicht Falknerin, sondern Universitätsdozentin – das Interesse an der Falknerei verliert sich sogar ein wenig im Laufe der Jahre. Erst als ihr geliebter Vater überraschend stirbt, beginnt Helen wieder damit, sich der Falknerei zu widmen. Als Habicht Mabel bei ihr einzieht, ahnt sie noch nicht, wohin sie die gemeinsame Reise mit ihr führen wird.

Die Suche nach Habichten ist wie die Suche nach Gnade: Sie wird einem gewährt, aber nicht oft, und man weiß nie, wann oder wie. Etwas besser stehen die Chancen an einem stillen, klaren Morgen im Vorfrühling, denn dann verlassen die Habichte ihre Welt in den Bäumen und vollführen ihre Balzflüge am offenen Himmel. Darauf hoffte auch ich an jenem Morgen.

In H wie Habicht geht es vordergründig um die Falknerei, um den Habicht, das Abrichten und Greifvögel ganz allgemein, daneben – und das ist der zweite Erzählstrang – geht es aber auch um den Schriftsteller T. H. White, der mit The Goshawk das Standardwerk der Falknerei vorgelegt hat. Das, was dieses Buch jedoch zusammenhält und trägt, ist für mich vor allen Dingen die Trauerarbeit der Autorin. Helen Macdonald verliert durch den überraschenden Tod ihres Vaters den Boden unter den Füßen. Ihre einzige Möglichkeit, diesen schweren Verlust aufzuarbeiten, sieht sie in dem Wunsch einen Habicht zu zähmen. So ist H wie Habicht nicht nur eine Geschichte der Falknerei, sondern gleichzeitig auch die Geschichte einer trauernden Frau und ihrer beschwerlichen Rückkehr ins Leben. Helen Macdonald wirft einen erschreckenden Blick auf das, was man in Zeiten tiefer Trauer erleben kann: auf die Angst, die bodenlose Traurigkeit, auf tiefe Einsamkeit und Depressionen. Für Helen ist Mabel irgendwann das einzige, was sie am Leben hält – genauso wie das Buch von T.H. White.

Das Buch, das Sie lesen, ist meine Geschichte, nicht die Biografie von Terence Hanbury White. Gleichwohl ist White Teil meiner Geschichte. Ich kann ihn nicht unerwähnt lassen, denn er war da. Als ich meinen Habicht abtrug, hielt ich gewissermaßen stille Zwiesprache mit den Taten und Werken eines längst verstorbenen Mannes, der argwöhnisch, mürrisch und entschlossen war zu verzweifeln.

Ich glaube, dass H wie Habicht ein großartiges Buch über Trauerarbeit ist. Es ist zunächst nicht ganz einfach in den Text vorzudringen, er ist verschlungen – ein Dickicht aus Erinnerungen, Gedankenblitzen und einer allumfassenden Trauer. Auf den ersten Seiten des Buches ist die Verwirrung und die Trauer der Autorin förmlich spürbar, sie ist verloren, vereinsamt und durcheinander. Im Laufe der Lektüre passen die Schichten des Textes jedoch immer besser ineinander. Die Lebensgeschichte von White, das Abrichten des Habichts und die Trauerarbeit verweben sich zunehmend zu einem feinen Muster, aus dem ich mich während der Lektüre kaum mehr befreien konnte. Das Buch von T.H. White spielt dabei in H wie Habicht eine ganz besondere Rolle: Helen Macdonald greift immer wieder zur Literatur – und ganz häufig besonders zu diesem Buch. Verbunden ist damit der Wunsch, in den Texten etwas zu finden, das sie von ihrer Trauer heilen kann. Helen Macdonald ist an dem Verlust ihres Vaters zerbrochen und Worte sind eines der wenigen Dinge, die ihr dabei helfen, sich Stück für Stück wieder selbst zusammenzufügen.

Sich zu verlieben ist eine verheerende Erfahrung, außer man verliebt sich in eine Landschaft.

H wie Habicht ist eine ebenso beeindruckende wie ungewöhnliche Lektüre. Helen Macdonald erzählt eine berührende Geschichte, ob man den Text nun als Sachbuch liest oder als Roman, als Erinnerungsbuch oder Autobiographie. Für mich ist der Habicht eine großartige und poetische Lektüre über den Tod, die Trauer und die Rückkehr ins Leben.

Helen Macdonald: H wie Habicht. Ullstein Verlag, Berlin 2015. 416 Seiten, €20. Weitere Rezensionen auf: Zeichen & Zeiten, Fantasie & Träumerei und Elementares Lesen

180° Meer – Sarah Kuttner

180° Meer ist ein Roman über Jule, eine junge Frau, die mit sich selbst und ihrer eigenen Vergangenheit ringt. Was soll man nur machen, wenn man die eigenen Eltern hasst? Was soll man machen mit einem Freund, den man aus Langeweile immer wieder betrügt? Was soll man machen mit einem Leben, mit dem man eigentlich gar nicht glücklich ist?

Sarah Kuttner

Ich bin nicht greifbar. Wie ein winziger Schauer, der einem über das Rückgrat fährt, ein Wort, das einem nicht einfällt, das ungute Bauchgefühl, wenn doch eigentlich alles glattgelaufen ist. So bin ich.

Als ich vor etwas mehr als drei Jahren Wachtstumsschmerz von Sarah Kuttner las, schämte ich mich noch ein wenig für die Lektüre. Ich erinnere mich, dass ich darüber nachdachte, ob ich die Besprechung überhaupt auf meinem Blog veröffentlichen dürfte, oder ob ich damit meinen eigenen literarischen Anspruch unterlaufe. Diese Gedanken mache ich mir heutzutage nicht mehr, stattdessen bin ich einfach Fan von Sarah Kuttner – ohne Scham und falsche Zurückhaltung. Deshalb war es für mich auch selbstverständlich, dass ich mir ihren neuen Roman 180° Meer sofort zum Erscheinungsdatum kaufen und kurz danach auch lesen musste. Und, was soll ich sagen? Die Lektüre hat sich mal wieder mehr als gelohnt!

Ich liebe Achselhöhlen, ich mag, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes kleine Höhlen sind, in die man reinkriechen muss, um etwas zu finden. Für mich sind sie der intimste Ort eines Menschen. Oder sagt man Körperteil? Vermutlich nicht, eine Achselhöhle ist nichts, was man klar definiert abschneiden und in Gefriertüten verpacken könnte. Kein Teil also, ein Ort.

Jule, die Hauptfigur von Sarah Kuttner, ist – nachdem der Vater die Familie verlassen hat – alleine mit ihrem Bruder und ihrer selbstmordgefährdeten Mutter aufgewachsen. Mittlerweile ist sie schon längst erwachsen, aber irgendwie immer noch nicht so richtig im Leben angekommen: ihre Kindheit hat sie hinter sich gelassen, ohne sie jemals wirklich loslassen zu können. Stattdessen hat Jule sich in einem Leben eingerichtet, das sie nicht glücklich macht: sie singt nachts in einer Bar, wird immer wieder von Anrufen ihrer Mutter belästigt und betrügt ihren Freund. Es ist ein Leben, über dem ein schwerer Schatten liegt – es ist ein Schatten des Hasses: Hass auf die Welt, den Job, die eigenen Eltern  – und wahrscheinlich auch ganz besonders viel Hass auf sich selbst. Als es zwischen ihr und ihrem Freund Tim kriselt, flüchtet Jule zu ihrem Bruder nach England. Es ist eine Flucht vor den Scherben ihres Lebens, doch dann begegnet sie auf ihrer Reise plötzlich ihrem Vater, der sie ein ganzes Leben lang alleine ließ und nun im Sterben liegt. Schlagartig verwandelt sich Jules Flucht in eine Reise zu sich selbst und zurück in die eigene Vergangenheit.

Nur in seiner Weite und Unnahbarkeit berührt mich das Meer. Diese wunderbare, düstere Aussichtslosigkeit, die ein vor einem hingegossener Ozean vermittelt, fasziniert und rührt mich. Das empfand ich schon als kleines Kind so. Meer ist nichts wert, wenn es sich nicht zu 180° vor mir erstreckt. 

Für mein Empfinden lebt der Roman vor allen Dingen von seiner Hauptfigur und einer Art des Erzählens, die mich mitgerissen hat – weniger von der erzählten Geschichte. Sarah Kuttner hat in all ihren bisherigen Romanen ein Händchen für kompliziertere Charaktere gehabt – für Frauen, die zu viel fühlten, für Frauen, die zu verkopft sind, um glücklich und zufrieden sein zu können. Jule ist da keine Ausnahme und es würde mich nicht wundern, wenn sie, in all ihrem Hass und Unglück, die Leser und Leserinnen möglicherweise auch spaltet. Jule ist zickig und verbohrt, sie ist wütend – auf sich und die Welt. Es ist nicht immer leicht Jule zu mögen, es ist vielleicht sogar viel leichter, sie nicht zu mögen.

Weißte, kann schon sein, dass es schwer ist, jemanden zu lieben, der sich selbst nicht mag. Aber auf der anderen Seite muss so jemand vielleicht ganz besonders liebgehabt werden. Als Unterstützung quasi. Wie Stützräder. Solche Leute brauchen Stützräder. So!

Ich mochte Jule, sehr. Ich mochte Jule, ihre Liebe zum Meer und den Hund, den sie mitten im Buch adoptiert. Ich weiß nicht, ob 180° Meer tatsächlich so etwas wie ein Generationenroman ist, ich habe aber schon das Gefühl, dass Sarah Kuttner in all ihren Romanen ein ganz besonderes Lebensgefühl aufgreift. Vielleicht berühren mich ihre Romane so sehr, weil ich ihren Charakteren – zumindest alterstechnisch – nahe bin. Mich beschäftigen ganz ähnliche Fragen: wie ist eigentlich mein Verhältnis zu meinen Eltern? Habe ich mit meiner Vergangenheit abgeschlossen? Bin ich überhaupt glücklich mit meinem Leben? Oder mit meinem Partner?

Sarah Kuttner hat es als Fernsehmoderatorin, die auch noch schreibt, vielleicht etwas schwerer ernst genommen zu werden – gerade von der klassischen Literaturkritik. Ich würde mir wünschen, dass Leser und Leserinnen keine Scheu haben. Für mich ist 180° Meer eine lohnens- und lesenswerte Lektüre. Sarah Kuttner legt einen gut erzählten Roman vor, der sowohl komisch als auch tragisch ist und mich tief bewegt hat.

Sarah Kuttner: 180° Meer. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2015. 272 Seiten, €18,99.                              

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