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Zeitgenössisches

Träumen – Karl Ove Knausgård

Kaum ein anderer Schriftsteller polarisiert zurzeit so sehr, wie der Norweger Karl Ove Knausgård. Die einen finden ganz viel in seinen Büchern, den anderen ist das, was er schreibt viel zu wenig – und schon gar nicht handelt es sich dabei um große Literatur. Für mich gleichen die Bücher von Karl Ove Knausgårds einer Lesesucht: ob große Literatur oder auch nicht, sie rühren und berühren mich und lassen mich kaum wieder los. Ist das nicht das Wichtigste?

Träumen

“Ich wusste so wenig, wollte so viel, brachte nichts zustande.” 

Träumen ist der fünfte Band von Karl Ove Knausgårds autobiographischem Projekt Min Kamp – zuvor sind bereits Leben, Spielen, Lieben und Sterben erschienen. In Träumen schreibt Karl Ove Knausgård mit großer Gelassenheit über all die Ängste und Selbstzweifel, die ihn sein ganzes Leben lang verfolgt haben. Auf fast 800 Seiten erzählt er von den vierzehn Jahren, die er in der norwegischen Stadt Bergen verbrachte, bevor er schließlich die Flucht nach Stockholm angetreten ist. Es waren vierzehn Jahre, die geprägt gewesen sind von dem Wunsch Schriftsteller zu werden – ein Jahr hat er dafür sogar an der Schreibakademie studiert. Vierzehn Jahre, die gleichzeitig aber auch von dem andauernden Gefühl bestimmt waren, nicht gut genug dafür zu sein. Nicht gut genug schreiben zu können.

“Die vierzehn Jahre, die ich  in Bergen lebte, von 1988 bis 2002, sind längst vorbei, geblieben sind von ihnen lediglich einige Episoden, an die sich manche Menschen eventuell erinnern, ein Geistesblitz hier, ein Geistesblitz da, und natürlich alles, was mir selbst aus jener Zeit im Gedächtnis geblieben ist.”

In Träumen begleiten wir also einen jungen Karl Ove Knausgård durch sein Leben: Seite an Seite mit ihm erleben wir seine ersten ungelenken Beziehungen, wir erleben den Rausch und die darauf folgenden Abstürze, und wir erleben all die dunklen und düsteren Stunden, in denen Knausgård so verzweifelt versucht Schriftsteller zu werden und dabei immer wieder heimgesucht wird von Selbstzweifeln und der Angst davor, an den eigenen Ansprüchen zu scheitern: “Ich habe das Gefühl, nicht gut genug zu sein, um dazuzugehören. Ich schreibe einfach nicht gut genug.”

“Ich wollte nur eins, weitertrinken, dieses Leben führen, auf alles scheißen, aber wenn ich es tat, stieß ich jedes Mal an eine Grenze, eine Art Mauer aus Kleinbürgerlichkeit und Mittelschicht, die sich nicht ohne gewaltige Qualen und Ängste überwinden ließ. Ich wollte, konnte aber nicht. Im tiefsten Inneren war ich bieder und anständig, ein Streber, und vielleicht, so überlegte ich, war das ja auch der Grund dafür, dass es mir nicht gelingen wollte zu schreiben.”

Was mich dabei am meisten beeindruckt, ist die Schonungslosigkeit des Autors: Knausgård scheut nicht davor zurück, sich auch mit unangenehmen Gefühlen und Erinnerungen auseinanderzusetzen. Immer wieder seziert er sein eigenes Verhalten, das zwischen Selbstüberschätzung und Selbstzweifeln schwankt, zwischen unbändiger Wut und tiefer Traurigkeit, zwischen dem Wunsch danach zu gefallen und dem Bedürfnis sich abzugrenzen. Er erzählt davon, wie er im Schreibseminar die Geschichte einer Mitstudentin abgeschrieben und als seine eigene ausgegeben hat. Er erzählt von dem Neid auf seine Kollegen, von denen viele schon ihren Buchvertrag in der Tasche haben. Und er erzählt von seinem Alkoholkonsum: bereits früh im Buch wird deutlich, dass Knausgård zu viel trinkt. Jeder Versuch von ihm ein gutes Leben zu führen, scheitert dann, wenn er sich wieder einmal bis zur Besinnungslosigkeit betrinkt: er betrügt seine Freundin, verletzt im Streit seinen Bruder und bringt auch sich selbst immer wieder in Gefahr.

Knausgard-Autogramm

“[…] dass ich ein Wannabe war, der in Wahrheit überhaupt nicht schreiben konnte, dass ich nichts zu sagen hatte, mir selbst gegenüber aber nicht ehrlich genug war, um daraus die Konsequenz zu ziehen, weshalb ich versuchte, um jeden Preis in der literarischen Welt Fuß zu fassen. Allerdings nicht als jemand, der selbst etwas erschuf, als jemand, der schrieb und veröffentlicht wurde, sondern als ein Schmarotzer, als jemand, der schrieb, wie die anderen schrieben, ein Sekundärmensch.

Für mich ist die Frage danach, ob die Bücher von Karl Ove Knausgård große Literatur sein mögen gar nicht so wichtig: seine Bücher rühren mich, seine intensive Selbstreflexion regt mich dazu an, über meine eigene Vergangenheit nachdenken. Knausgård hat keine Scheu davor, sich auch mit Dingen auseinanderzusetzen, die man eigentlich lieber vergessen möchte und er scheut sich auch nicht davor, Gefühl zu zeigen: in Träumen wird immer wieder ganz viel geweint. Mich machen die Bücher von Karl Ove Knausgård nachdenklicher, weicher, offener, durchlässiger. Es gibt wohl keine anderen Bücher, aus denen ich so viel gelernt und so viel für mich mitgenommen habe. Auch Träumen macht da keine Ausnahme.

Ich glaube, dass das für viele einen großen Reiz bei der Lektüre ausmacht: wer Lust darauf hat, über sich selbst und sein eigenes Leben nachzudenken, wer Seite an Seite mit einem Autor nachforschen möchte, warum er so geworden ist, wie er ist, der sollte die Bücher von Karl Ove Knausgård lesen. Am besten alle. Am besten von vorne. Anfangen kann man aber natürlich auch direkt mit Träumen oder mit einem der anderen Bände. Hauptsache Knausgård lesen.

 

Das Hotel New Hampshire – John Irving

John Irving ist mit “Das Hotel New Hampshire” eine bezaubernde Familiengeschichte gelungen, in der er von motorradfahrenden Bären, einem Hotel in Wien, einem ausgestopften Familienhund und der Liebe zwischen Geschwistern erzählt  – das ist berührend, wahnsinnig komisch und wunderbar unterhaltsam.

John Irving

Familien müssen wohl so sein – eben noch Kämpfe bis aufs Blut, und im Handumdrehen die große Versöhnung.

In Das Hotel New Hampshire erzählt John Irving die üppige Geschichte der Familie Berry, die in Dairy wohnt – einem kleinen Örtchen mitten in Maine. Familie Berry besteht neben den Eltern aus fünf Geschwistern: dem ältesten Sohn Frank, der bildschönen Franny, der kleinwüchsigen Lilly, dem Nesthäckchen Egg und John, dem Erzähler des Romans. Daneben wird der Roman von zahlreichen ungewöhnlichen Nebenfiguren bevölkert: von Großvater Iowa-Bob, der in seiner Freizeit Gewichte hebt; von Familienhund Kummer, der zuviel pupst; von dem Bären State o’Maine, der gerne Motorrad fährt; oder von Susie, die in einem Bärenkostüm steckt, weil sie die Welt anders nicht erträgt.

“State o’Maine” Der doofe  Bbär hieß tatsächlich  so, und zusammen miit einem Motorrad – einer 1937er Indian mit handgefertigtem Beiwagen – kaufte ihn mein Vater im Sommer 1939  für 200 Dollar und die besten Kleider in seiner Feldkiste.

Das Leben von Familie Berry  ist geprägt von den Schnapsideen des Vaters – nachdem Win Berry zunächst samt Bär und Motorrad durch das Land tourte, beschließt er anschließend in einem ehemaligen Mädcheninternat in Dairy ein Hotel zu eröffnen. Eine Idee, die nicht von viel Erfolg gekrönt ist, das weitere Leben der Berrys aber für immer bestimmen sollte. Eine ähnliche Schnapsidee ist der Umzug nach Wien, dort gibt es ein Hotel, was die Familie übernimmt und sich mit skurrilen Revolutionären und ziemlich lauten Huren teilt.

Das erste Hotel New Hampshire kam so zustande: Als die Leute von der Dairy School einsahen, daß künftig auch Mädchen aufgenommen werden mußten, wenn die Schule überleben sollte, war es um das Thompson Female Seminary geschehen; plötzlich hatte Dairys immer flauer Immobilienmarkt ein unbrauchbarees Objekt anzubieten. Kein Mensch wusste, was aus dem riesigen Gebäude werden sollte, das einmal eine reine Mädchenschule gewesen war.

John Irving erzählt jedoch nicht nur eine skurrile Geschichte, sondern eine Geschichte, die aus ganz vielen Schichten besteht. Diese Skurrilität, die alle seine Bücher ausmacht, ist eine dieser Schichten, doch daneben gibt es noch viel mehr: es geht auch um den Tod, um eine Vergewaltigung und um Geschwisterliebe, die es so nicht geben dürfte. Was auch immer Familie Berry im Laufe der Jahrzehnte geschieht, welches Schicksal sie auch immer ereilt: die Familie versucht es mit ganz viel Fassung zu tragen. In den Hotels der Berry ist kein Platz, um Trübsal zu blasen oder in Verzweiflung auszubrechen: stattdessen wird das Leben so genommen, wie es nun mal ist – mit all seinen Höhen und all seinen Tiefen. Vielleicht ist das eines der Dinge, die ich aus diesem Buch mitgenommen habe – die Kraft, Schicksalsschläge mit Menschlichkeit und dem unbedingten Glauben zu ertragen, dass es immer irgendwie weitergeht.

Ich war nur ein Realist in einer Familie aus lauter Träumern, großen und kleinen. Ich wußte, ich konnte nicht mehr wachsen. Ich wußte, ich würde nie richtig erwachsen werden; ich wußte, meine Kindheit  würde nie von mir abfallen, und ich würde nie wirklich erwachsen – und verantwortungsbewußt – genug sein für die gottverdammte Welt, wie Frank sie nannte. So sehr konnte ich mich nicht  ändern, und ich wußte es.

Mitgenommen habe ich auch ganz viele Sätze, die sich für immer in mein Herz geschrieben habe: bleib weg von offenen Fenstern und Kummer schwimmt immer oben sind zwei davon.

Das ausufernde Erzählen und die skurrilen Charaktere sind sicherlich nicht jedermanns Sache. Für mich ist Das Hotel New Hampshire ein fulminanter Roman, voller Poesie, Lebensweisheit und einer beeindruckenden Erzählkraft. Der einzige Fehler dieses Buches ist, dass es nur 600 Seiten lang ist: ich hätte mich über weitere 600 Seiten nicht beklagt.

Gehen, ging, gegangen – Jenny Erpenbeck

Jenny Erpenbeck legt mit Gehen, ging, gegangen einen hochaktuellen, wichtigen und lesenswerten Roman vor. Einen Roman, dessen Schicksal es ist, dass die fiktive Handlung von der Realität eingeholt wurde und dem Buch damit möglicherweise etwas aufbürdet, das dieses gar nicht verdient.

Erpenbeck

Wohin geht ein Mensch, wenn er nicht weiß, wo er hingehen soll?

Das beherrschende Thema in Gehen, ging, gegangen ist die Zeit: Richard hat zu viel freie Zeit, seitdem er in Rente gegangen ist. Seine Frau ist verstorben, er lebt alleine und seitdem er nicht mehr arbeitet – er ist viele Jahre lang Professor gewesen – erscheint ihm das Vergehen der Zeit noch bedrückender, noch langsamer, noch kräftezehrender. Die Zeit, die ihm bleibt, ist begrenzt, doch womit soll er sie füllen? Was kann man mit dem Leben anfangen, wenn man plötzlich nichts mehr hat – keine Frau, keine Arbeit, keinen geregelten Tagesablauf?

Auch die Menschen, die auf dem Oranienplatz kampieren, verfügen über viel freie Zeit. Es handelt sich um Flüchtlinge, um Asylbewerber, die in Deutschland ein neues Zuhause finden wollen. Sie hoffen auf Arbeit, auf Sicherheit, auf ein besseres Leben. Sie suchen Schutz vor dem Krieg, vor den Bomben, vor den Gewehrsalven. Auf ihrer Flucht haben sie einen Weg eingeschlagen, der ihnen das Leben hätte kosten können – einzig und allein von der Hoffnung getragen, dort wo sie ankommen, ein besseres Leben führen zu können. Doch die Mühlen der Bürokratie mahlen langsam, die Zeit vergeht schleppend, ohne, dass sie sinnvoll gefüllt werden könnte.

Manchmal schon hat er sich dafür geschämt, dass er Abendbrot isst, während er auf dem Bildschirm totgeschossene Menschen sieht, Leichen von Erdbebenopfern, Flugzeugabstürzen, hier einen Schuh von jemandem nach einem Selbstmordanschlag, dort in Folien gewickelte Körper von Opfern einer Seuche, nebeneinander im Massengrab liegend. Er schämt sich auch heute, und isst trotzdem weiter, wie sonst auch.

Jenny Erpenbeck führt beide zusammen: die Gruppe Flüchtlinge und Richard, den emeritierten Professor. Richard wird zufällig auf die Männer aufmerksam, er sieht einen Nachrichtenbeitrag über sie, als sie sich dazu entscheiden, in den Hungerstreik zu treten. Sie haben genug davon, Zeit zu vertun. Richard erinnert sich daran, kurz zuvor am Oranienplatz vorbeigelaufen zu sein – so in seiner Welt gefangen, dass er all die Männer und ihr Schicksal gar nicht wahrgenommen hat. Die hungernden Flüchtlinge vom Oranienplatz lassen Richard nicht mehr los, er möchte sie kennenlernen, möchte etwas über ihre Leben erfahren. Kurzerhand beschließt er, sie aufzusuchen, um ihnen all die Fragen zu stellen, die ihn umtreiben.

Wo sind Sie aufgewachsen? Welches ist Ihre Muttersprache? Welcher Religion gehören Sie an? Wie viele Menschen gehören zu Ihrer Familie? Wie sah die Wohnung, das Haus aus, in dem Sie aufwuchsen? Wie haben sich Ihre Eltern kennengelernt? Gab es einen Fernseher? Wo schliefen sie? Was gab es zu essen? Was war in Ihrer Kindheit Ihr Lieblingsversteck? Haben Sie eine Schule besucht? Was für Kleidung trugen Sie? Gab es Haustiere? Haben Sie einen Beruf gelernt? Haben Sie selbst Familie? Wann sind Sie aus Ihrer Heimat weggegangen? Warum? Haben Sie noch Kontakt zu Ihrer Familie? Mit welchem Ziel sind Sie aufgebrochen? Wie haben Sie Abschied genommen? Was haben Sie mitgenommen, als Sie weggingen? Wie haben Sie sich Europa vorgestellt? Was ist anders? Wie verbringen Sie Ihre Tage? Was vermissen Sie am meisten? Was wünschen Sie sich? Wenn Sie Kinder hätten, die hier aufwachsen, was würden Sie ihnen von der Heimat erzählen? Können Sie sich vorstellen, dass Sie hier alt werden? Wo soll man Sie begraben?

Richard befragt die Männer, erforscht ihre Geschichten, begleitet sie in den Deutschunterricht. Während ihm die Flüchtlinge zu Beginn noch fremd gewesen sind, ihr Schicksal ihn im Vorbeigehen sogar gar nicht auffiel, werden sie plötzlich zu einem Teil seines eigenen Lebens: er wird für sie zu einem Ersatzvater, zu einem väterlichen Freund. Er unterstützt sie bei Arztbesuchen und Behördengängen, lädt einige von ihnen zu sich nach Hause ein. Richard und die geflüchteten Männer könnten nicht verschiedener sein, sie stammen aus völlig unterschiedlichen Welten. Bevor die Flüchtlinge in sein Leben traten, sah Richard sich mit einer Zeit konfrontiert, die verging ohne gefüllt zu werden. Das Schicksal der traumatisierten Männer füllt sein Leben und seine Zeit nun auf vorher nie geahnte Art und Weise aus. Plötzlich hat er wieder eine Aufgabe, sein Leben hat wieder einen Sinn und die Zeit ist wieder kostbar geworden. Der Schluss, den man hier als Leser ziehen könnte, mag platt wirken und doch hat mich das Aufgehen von Richard in einer neuen Aufhabe tatsächlich gepackt.

Jenny Erpenbeck legt mit Gehen, ging, gegangen einen lesenswerten und wichtigen Roman vor, der mich in seiner Nüchternheit sehr gerührt hat. Die großen Momente des Buches liegen zwischen den Worten, zwischen den Sätzen, in all dem, was auch nicht gesagt wird. Die Sprache ist einfach, angenehm zurückhaltend, beinahe leise. Die Autorin hat sich einen stoischen Erzähler gesucht, der sachlich auf das Leben blickt und sich nur selten aus der Ruhe bringen lässt. Manchen mag das farblos erscheinen, manchen mag das erzählerische Momentum fehlen – für mich ist Gehen, ging, gegangen dennoch stimmig. Im Mittelpunkt stehen – neben dem Thema Zeit – die Geschichten der Flüchtlinge, die viel Geld bezahlt und ihr Leben riskiert haben, um es nach Deutschland zu schaffen. Ohne dort wirklich erwünscht zu sein, ohne die Aussicht zu haben, dort bleiben zu dürfen. Die Geschichten, die sie mit sich tragen, sind herzzerreißend und das, was sie aufgeben mussten unvorstellbar.

“[…] wenn Krieg ist, gibt es nichts anderes als Schlagen und Schießen, Schlagen und Schießen, wenn Krieg ist, geht alles in Scherben, wenn Krieg ist, sieht man den Krieg, und sonst nichts mehr.”

Jenny Erpenbeck hat mit Gehen, ging, gegangen ein Buch geschrieben, dessen Schicksal es ist, dass die fiktive Handlung schon längst von der Wirklichkeit überholt wurde. Wer das Buch heutzutage aufschlägt, der liest es mit einer ganz anderen Erwartungshaltung, denn das, von dem er liest, ist bereits Teil unserer Realität geworden. Ich glaube, dass dieses Schicksal dazu führen kann, dem Buch Unrecht zu tun. Für mich ist Gehen, ging, gegangen ein lesenswerter und wichtiger Roman, der sich auf mehreren Ebenen mit zentralen Themen unserer Zeit beschäftigt: was ist mit Recht und Unrecht? Was ist mit der Zeit, die uns zur Verfügung steht? Wie können wir sie sinnvoll nutzen? Wie weit darf Hilfe gehen?

Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen. Knaus Verlag, München 2015. 352 Seiten, €19,99. Weitere Rezensionen gibt es auf: Literatur leuchtet | Das graue Sofa | Lust auf Lesen

Applaus für Bronikowski – Kai Weyand

Der Job ist weg, die Freundin ist abgehauen, das Geld ist alle: Kai Weyands Protagonist Nies hat es in Applaus für Bronikowski wirklich nicht leicht. Doch dann findet er durch Zufall einen neuen Job in einem Bestattungshaus, der sein Leben auf den Kopf stellen soll. Applaus für Bronikowski ist amüsant, unterhaltsam und überaus lehrreich.

Applaus für Bronikowski

Der achtzehnte März brachte die erste warme Frühlingsluft des Jahres. NC wurde an diesem Tag einunddreißig, und außer der Gewissheit, dass sein Bruder anrufen würde, um ihm zu gratulieren, hatte er keine Vorstellung, was er sich von diesem Ereignis versprach.

Seit er dreizehn Jahre alt ist, möchte Nies nur noch NC genannt werden. NC steht für No Canadian – als seine Eltern im Lotto gewannen, beschlossen sie, nach Kanada auszuwandern und die Kinder auf sich allein gestellt zurück zu lassen. Sie wollten sich endlich ihren Lebenstraum erfüllen – einen Traum, in dem ihre Kinder keinen Platz hatten. Nies blieb mit seinem achtzehn Jahre alten Bruder Roland zurück und nannte sich seitdem nur noch NC. Die Brüder sind so unterschiedlich, dass sie sich kaum verstehen. Während Roland später ein erfolgreicher Banker wird, entwickelt sich NC zu einem Sonderling. Eine Lehre als Landschaftsgärtner hat er abgebrochen, auch in der Systemgastronomie kann er nicht Fuß fassen. Die Anstellung als Hausmeister verliert er kurz vor seinem einunddreißigsten Geburtstag – genauso wie seine Freundin Kornelia.

Es ist eine Entscheidung, die man Kornelia kaum übel nehmen kann: NC ist ein Tagträumer, der sein Leben denkt, statt es zu leben. Worte zerlegt er in ihre einzelnen Bestandteile, macht sich Gedanken über Silben und den Sinn der Sprache. Verliert sich in Philosophiererein über die Frage, wie es einem dreibeinigen Hund gelingen kann zu pinkeln  – nur um dann festzustellen, dass der Hund es einfach tut. Ohne lange nachzudenken, ohne das Für und Wider abzuwägen. Eine Fähigkeit, die NC eindeutig nicht besitzt.

NC hatte schon immer viel gelesen, aber nun fing er an, Bücher zu verschlingen. Nicht nur Romane, sondern auch Gedichte. Er wollte hinter das Geheimnis der Wörter kommen, wollte verstehen, was sie in ihrem Kern bedeuteten, warum manche so tief in einen eindrangen, als wären sie Messer, und manche an einem abprallten, als wären sie Gummibälle, warum ihr Klang nicht unbedingt ihre Bedeutung widerspiegelte und warum man ihnen hilflos ausgeliefert war.

Es ist ein Zufall, der NC aus seiner Lethargie befreit: an seinem Geburtstag lässt er sich beim Besuch einer Bäckerei von der Verkäuferin eine Straße empfehlen, in die er spazieren könnte. Sein Weg führt ihn in die Holpenstraße, dort stößt er auf ein Bestattungsinstitut und – es ist ein ziemlich großer Zufall – findet dort schlussendlich einen Job. Doch nicht nur das: NC lernt als Bestatter plötzlich ganz erstaunliche Dinge über Leben und Tod. Vor allen Dingen lernt er, wie wohltuend es sein kann, das eigene Leben in die Hand zu nehmen …

Er war einunddreißig, hatte keinen Job, keine Freundin und nicht genügend Geld, um die Miete für den nächsten Monat bezahlen zu können. Börsennotiert wäre der Kurs seiner Lebensaktie wohl wirklich auf Ramschniveau gesunken. Aber: Er glaubte nicht an Aktien, und er wollte nicht heute damit anfangen.

Kai Weyand legt mit Applaus für Bronikowski ein erstaunliches Buch vor, das auf herrlich amüsante Weise einen Blick auf das Leben und den Tod wirft und dabei gleichzeitig mit den Vorurteilen und Klischees gegenüber dem Bestatterberuf aufräumt. Komik und Tragik gehen dabei Hand in Hand, wobei das Komische eindeutig überwiegt. Kai Weyand ist es ganz wunderbar gelungen, eine etwas unschlüssige und verzagte Hauptfigur zu zeichnen und sie immer wieder in grotesk-skurrile Situationen zu schicken. Obwohl NC schon einunddreißig Jahre alt ist, liest sich Applaus für Bronikowski fast wie ein Coming-of-Age-Roman: erst als Bestatter und im Anblick des Todes, gelingt es dem friedvollen Taugenichts, sein Leben endlich zu meistern und in die eigene Hand zu nehmen. Als ich das Buch zuklappte, fühlte ich mich erheitert, gut unterhalten und seltsam berührt – es ist uncool, ein Träumer und kein Macher zu sein, aber NC hat sich dann irgendwie doch in mein Herz geschlichen. Und ganz nebenbei habe ich auch noch alle Feinheiten des Bestatterwesens kennengelernt.

Für mich ist Applaus für Bronikowski ein feiner kleiner Roman, der mich gut unterhalten und dennoch nachdenklich gemacht hat. Eine schöne Unterhaltung und ein Roman, der in diesem Jahr zurecht auf der Longlist des Deutschen Buchpreis stand.

Kai Weyand: Applaus für Bronikowski. Wallstein, Göttingen 2015. 188 Seiten, €19,90. Weitere Besprechungen bei: Fantasie und Träumerei, Fräulein Julia, Zeilensprünge und Poesierausch.

Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums – Benjamin Alire Sáenz

Benjamin Alire Sáenz erzählt in seinem Roman Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums die berührende Geschichte von zwei Jungen und einer ganz besonderen Freundschaft. Es geht um Vertrauen, Liebe und den Wunsch danach herauszufinden, wer man eigentlich wirklich ist. Ganz nebenbei geht es natürlich auch noch um die großen (und kleinen) Geheimnisse des Universums …

Aristoteles (1)

Das Problem mit meinem Leben war, dass ich nicht selbst darüber bestimmte.

Es ist Sommer 1986 und als Aristoteles eines Morgens die Augen aufmacht, stellt er mit Bedauern fest, dass die Welt immer noch dieselbe ist: nichts hat sich über Nacht verändert und auch im Radio laufen immer noch dieselben Songs. Aristoteles ist fünfzehn Jahre alt und führt ein langweiliges Leben. Spannend ist an ihm einzig und allein sein ungewöhlicher Name – den hat er seinem Großvater zu verdanken. Als Aristoteles, der am liebsten Ari genannt wird, eines Tages den gleichaltrigen Dante im Schwimmbad trifft, verändert sich sein Leben doch noch und zwar schlagartig.

Während Dante schwimmen kann, ist Aristoteles noch Nichtschwimmer. Diese Tatsache könnte fast wie eine Metapher gelesen werden, denn es gibt so vieles mehr, das Dante weiß und von dem Aristoteles noch nie gehört hat. Während Dante in einer gefestigten Familie aufwächst, ist die von Ari ganz ausgefranst und auf einem bröckeligen Fundament errichtet: sein ältester Bruder sitzt im Gefängnis. Gesprochen wird darüber nie. Der Bruder wird aus der Familie ausgeklammert, als wäre er verstorben. Auch über den Kriegseinsatz von Aris Vater wird nicht gesprochen. Aus Vietnam ist er mit vielen fürchterlichen Erinnerungen heimgekehrt und mit einem Schweigen, das mehrere hunderte Kilo wiegt.

Ich war also der Sohn von einem Mann, in dem der Vietnamkrieg lebte. Klar, ich hatte alle möglichen tragischen Gründe für mein Selbstmitleid. Dass ich fünfzehn war, half auch nicht gerade. Fünfzehn zu sein, dachte ich manchmal, war die schlimmste Tragödie von allen.

Dante und Ari haben eine Gemeinsamkeit: beide stammen aus Familien, die von Mexiko nach Amerika ausgewandert sind und sich dort ein neues Leben und ein neues Zuhause aufgebaut haben. Ihre beiden Leben sind ansonsten jedoch grundverschieden. Während die Familie von Dante einen offenen und fröhlichen Umgang miteinander pflegt, ist das Zuhause von Ari von einem tiefen Schweigen belastet. Während Dante mit großer Leidenschaft zeichnet und davon träumt, Künstler zu werden, hat Ari keine Interessen und auch keine Freunde. Er weiß einfach nicht, wie er das anstellen soll, dieses Freundefinden. Auch ein Mädchen hat Ari noch nie geküsst und eigentlich ist er sich auch gar nicht mehr sicher, ob er ein Mädchen küssen möchte oder vielleicht doch einen Jungen …

Durch Dante lernt Ari nicht nur, wie man im Wasser nicht untergeht, sondern er lernt auch alles über die Geheimnisse des Universums: was bedeutet eigentlich Freundschaft, Liebe und Loyalität? Wie findet man seinen Platz im Leben, wenn man merkt, dass man anders ist, als alle anderen. Warum ist es wichtig miteinander zu reden? Warum kann es vielleicht sogar Spaß machen, über die Welt zu philosophieren? Ari lernt, wie belastend Geheimnisse sind und wie alleine man sich in einem großen Schweigen fühlen kann. Sein Bruder lebt noch, doch es ist, als wäre er gestorben. Ari hat ihn schon lange nicht mehr gesehen und zu Hause wird nicht darüber gesprochen, warum der älteste Sohn im Gefängnis sitzt. Das Schweigen, in das sich sein Vater hüllt, ist erdrückend – für den Vater selbst, aber auch für die ganze Familie. Auch Ari selbst hat ein Geheimnis, das er so weit weggepackt hat, dass er selbst gar nichts davon wissen möchte.

Warum lächeln wir? Warum lachen wir? Warum fühlen wir uns allein? Warum sind wir traurig und verwirrt? Warum lesen wir Gedichte? Warum weinen wir, wenn wir ein Gemälde sehen? Warum ist unser Herz in Aufruhr, wenn wir lieben? Warum schämen wir uns? Was ist das Ding in unserer Magengrube, das wir Sehnsucht nennen?

Benjamin Alire Sáenz legt mit Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums ein wunderbares Buch vor: es ist traurig und berührend, daneben aber auch witzig und unterhaltsam. Die Sprache ist stellenweise poetisch, überwiegend jedoch von einer schlichten Intensität getragen. Es klingt wahrscheinlich wie ein Klischee, doch ich habe das Buch in die Hand genommen und konnte es kaum noch zur Seite legen. Es ist beeindruckend, mit wie viel Feingefühl und Ehrlichkeit Benjamin Alire Sánz über das Erwachsenwerden schreibt und darüber, wie schwierig es ist, einen Platz in dieser Welt zu finden, wenn man anders ist, als alle anderen.

Die Geschichte von Aristoteles und Dante ist eine Geschichte, die für Jugendliche geschrieben wurde, die aber auch von Erwachsenen gelesen werden kann. Es ist die Geschichte einer Entdeckungsreise: entdeckt werden die kleinen großen Geheimnisse des Universums, die Liebe und was es heißt, zu sich und seinen eigenen Gefühlen zu stehen. Das ist unglaublich lesenswert – für alle großen, aber auch für alle kleinen Leser und Leserinnen.

Irgendwie hatte ich gehofft, dies würde der Sommer, in dem ich feststelle, dass ich lebendig bin. Die Welt, von der meine Eltern behaupten, sie würde auf mich warten – die gibt es gar nicht.

Benjamin Alire Sáenz: Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums. Aus dem Amerikanischen von Brigitte Jakobeit. Thienemann, Stuttgart 2014. 382 Seiten, €16,99.

Baba Dunjas letzte Liebe – Alina Bronsky

Alina Bronsky erzählt in ihrem neuen Roman eine Geschichte von Heimat und Heimkehr. Es geht um Tschernobyl und es geht um die Menschen, die trotz der Gefahr zurückkehren, um dort zu sterben, wo sie geboren worden. Aus diesem ernsten Thema macht Alina Bronsky einen sommerlich leichten Roman – das ist nett zu lesen, kann mich aber nicht gänzlich überzeugen.

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Nach dem Reaktorunglück bin ich, wie fast alle, weggegangen. Es war 1986, und am Anfang wussten wir nicht, was passiert war. 

Baba Dunja kehrt in ihr Heimatdorf Tschernowo zurück, um die letzten Tage ihres Lebens dort verbringen zu können, wo sie ihr ganzes vorheriges Leben gelebt hat. Dort wo sie ihre zwei Kinder groß gezogen hat, die schon längst nicht mehr in Russland wohnen. Dort, wo sie ihren Mann Jegor kennengelernt hat. Das Dorf ist idyllisch – von den dreißig halbverfallenden Häusern ist mehr als die Hälfte wieder bewohnt.

Es ist ein erstaunliches Phantasiekonstrukt, das Alina Bronsky in ihrem Roman beschwört: sie erzählt von Menschen, die in die Sperrzone rund um Tschernobyl zurückkehren. Es handelt sich um alte Menschen, um Menschen die bereits erkrankt sind, die nicht mehr viel Leben vor sich haben. Es handelt sich um Menschen, die ihr restliches Leben lieber in ihrer verstrahlten Heimat verbringen, als in einer anonymen Hochhaussiedlung in der Großstadt. Also Gemeinschaft statt Entfremdung und sozialer Kälte. In Tschernowo hat sich tatsächlich eine erstaunliche Gemeinschaft gebildet: da gibt es Baba Dunja, die ehemalige Krankenschwester, die für alle die Dorfvorsteherin ist. Da gibt es Marja und ihren Hahn Konstantin. Da gibt es Petrow, der vom Krebs zerfressen wird. Da gibt es den alten Sidorow, der glaubt, mit seinem Plastiktelefon in die weite Welt hinaustelefonieren zu können. Dabei sind die Leitungen nach Tschernowo schon lange tot. Den Kontakt zur Außenwelt hält Baba Dunja per Post, Brief um Brief schickt sie zu ihrer Tochter und Enkelin nach Deutschland.

Tschernowo ist nicht groß, aber wir haben einen eigenen Friedhof, weil die in Malyschi unsere Leichen nicht mehr wollen. Im Moment wird in der Stadtverwaltung diskutiert, ob für eine Beisetzung der Tschernowo-Leute in Malyschi ein Bleisarg vorgeschrieben werden soll, weil verstrahlte Materie auch dann weiterstrahlt, wenn sie nicht mehr lebt.

Alina Bronsky erzählt diese Geschichte erstaunlich und poetisch – trotz der bedrückenden Lage, in der sich die Dorfgemeinschaft befindet, tragen die Bewohner ihr selbstgewähltes Schicksal mit einer seltsamen Mischung aus Gleichmut und Resignation. Der ruhige Erzählfluss nimmt zur Hälfte des Buches dann schließlich doch noch Fahrt auf: plötzlichen tauchen Fremde im Dorf auf und der Zusammenhalt der dörflichen Gemeinschaft wird nachhaltig erschüttert. Die plötzlich rasant einsetzende Handlung wirkte auf mich wenig stimmig, sondern schon fast ein bisschen herbeigezwungen. Ohne zu viel darüber zu verraten, was passiert, kann ich doch so viel sagen, dass die Handlung ab einem gewissen Punkt eine Wendung nimmt, mit der ich mich nur noch schwer anfreunden konnte.

Baba Dunjas letzte Liebe ist ein seltsames kleines Büchlein: gemocht habe ich die alte Dame. Baba Dunja geht tapfer durch ihr Leben und strahlt dabei eine gewisse melancholische Heiterkeit aus. Die Schwierigkeiten, die ihr im Leben begegnen, meistert sie mit stoischer Ruhe. Diese kleine Frau, die eigentlich gar nicht wirklich Baba Dunja heißt, hat mich mit ihrem Durchhaltewillen beeindruckt: sie liebt ihr Leben und sie liebt ihre Heimat, auch wenn sich diese in eine verstrahlte Sperrzone verwandelt hat.

Wenn ich mich in meinem Alter noch über Menschen wundern würde, käme ich nicht mal mehr zum Zähneputzen.

Alina Bronsky schafft auf gerade einmal 150 Seiten ein kleines Paradies, bei dem man manchmal fast vergessen kann, dass es verstrahlt ist. Es ist ein Paradies, das von Pragmatismus und Zufriedenheit geprägt ist, einer Zufriedenheit, die sich dadurch auszeichnet, dass auf diesem kleinen Fleckchen Erde eine Handvoll älterer Menschen ein selbstbestimmtes Leben führen können. Das lässt sich schnell lesen, das berührt stellenweise, ab und an kann man auch lachen – doch sehr viel mehr bleibt leider für mich nicht übrig. Es gäbe so viel mehr zu erzählen über die Menschen in Tschernowo, es gäbe so viel mehr zu erzählen über all die losen Fäden, über das Reaktorunglück, über die seltsamen Fremden, die das Dorf aufsuchen, über die Enkeltochter. Doch all das wird nur angerissen und gestreift – was mir dabei fehlt, ist die Tiefe, die aus Baba Dunjas letzte Liebe mehr macht als eine nette und schnell zu lesende Lektüre für den Nachmittag.

Alina Bronsky: Baba Dunjas letzte Liebe. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015. 160 Seiten, 16,90€. Auf Buzzaldrins Bücher gibt es bereits eine Besprechung zu Nenn mich einfach und Superheld sowie ein Interview mit der Autorin.

Abendland – Michael Köhlmeier

Michael Köhlmeier erzählt die Lebensgeschichte von Carl Jacob Candoris – Mathematiker, Universitätsprofessor, Weltbürger und Jazz-Fan. Entstanden ist dabei ein Roman, wie ich ihn selten zuvor gelesen habe: klug, prall, vielschichtig und fesselnd. Abendland ist das Porträt einer ganzen Epoche und ein meisterhaftes Buch.

Abendland

Heute vor einem Jahr, am 18. April 2001, starb Carl Jacob Candoris. Er wurde fünfundneunzig Jahre alt. Bis zu seiner Emeritierung war er als Professor für Mathematik an der Leopold-Franzens-Universität in Innsbruck tätig gewesen.

Was für ein mächtiger Roman! Wenn ich bei diesem Buch eine Metapher gebrauchen müsste, dann wohl die eines Puzzles: Abendland besteht aus ganz vielen Teilen und die Aufgabe des Lesers ist es, den Überblick nicht zu verlieren. Ich weiß nicht, ob ich alle Teile richtig zusammengesetzt habe. Das Lesen erfordert hohe Konzentration und die Fähigkeit, sich auf den sprunghaften Erzählstil einzulassen. Und doch war die Lektüre für mich verbunden mit einem großen Glücksgefühl und intensiver Lesefreude. Aber vielleicht sollte ich von vorn beginnen!

Michael Köhlmeiers Roman Abendland umfasst 775 Seiten und einen umfangreichen Handlungsrahmen. Es gibt eine Vielzahl roter Fäden, an denen sich der Leser entlang hangeln muss; zahlreiche Figuren bevölkern das Buch. Es ist die Lebensgeschichte von Carl Jacob Candoris, die im Mittelpunkt dieses Romans steht. Im hohen Alter wünscht er sich, dass Sebastian Lukasser seine Biografie niederschreibt. Es ist eine Biografie, die einer Lebensbeichte gleicht und dabei nicht weniger als die Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts umfasst. Es geht um Mathematik, um Jazz, um Liebe und um Eifersucht. Die Geschichte führt uns von Portugal nach Amerika, von Göttingen nach Wien. Es geht aber auch um die besondere Beziehung zwischen Carl Jacob Candoris und seinem Biografen, den er sich nicht zufällig ausgesucht hat. Sebastian ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch sein Patensohn. Außerdem ist er der Sohn des berühmten Jazzmusikers Georg Lukasser, den Candoris im Wien der Nachkriegszeit kennengelernt hat. Beide pflegten damals eine enge Freundschaft und Candoris wachte in Zukunft wie ein Schutzengel über die Familie Lukasser.

Mein Name ist Sebastian Lukasser. Ich bin Schriftsteller, zweiundfünfzig Jahre alt und lebe in Wien, allein; unterhalte eine Beziehung zu einer Frau, die achtzehn Jahre jünger ist als ich und die das, was wir miteinander haben und was wir füreinander sind, genau so bezeichnet hat, nämlich als Unterhaltung – wogegen ich viel einzuwenden hätte, allerdings nicht das, was sie sich erhofft.

In vielen Gesprächen teilt Carl Jacob Candoris seine Lebensbeichte mit seinem Biografen und Patensohn, erzählt von seinem Studium, von seinen Kindheitserinnerungen, von einem Kolonialwarenladen, den sein Großvater betrieb und von seinen seltsamen Verwandten in Göttingen. Diese Lebensbeichte inspiriert den eigentlichen Biografen dazu, selbst Zeugnis abzulegen – seine Geschichte zieht sich durch die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und erzählt vom schwierigen Verhältnis zu seinen Eltern, von einer Sinnsuche in Amerika, von einem Leben als Schriftsteller und von gescheiterten Beziehungen. Er erzählt sie seinem Sohn David, zu dem er – nachdem die Ehe mit seiner damaligen Frau Dagmar scheiterte – viele Jahre keinen Kontakt mehr hatte. Abendland erzählt also nicht nur ein Jahrhundertpanorama, sondern gleich zwei. Das 20. Jahrhundert doppelt sich in den Erzählungen der beiden Männer, wir erleben zwei Kindheiten, zwei unterschiedliche Karrieren, zwei Leben in einem Jahrhundert. Beide Leben werden eng mit den historischen Ereignissen des 20. Jahrhunderts verwoben: der Erste und der Zweite Weltkrieg finden Erwähnung, aber auch die RAF, die Nürnberger Prozesse, der Bau der Atombombe, der Stalinismus oder das Leben in den afrikanischen Kolonien wird thematisiert.

Es ist ein weiter Bogen, der von Michael Köhlmeier geschlagen wird – zusammengehalten wird der Roman von Carl Jacob Candoris, der wie eine Klammer all die einzelnen Teile miteinander verbindet. Sebastian Lukasser fungiert dabei als Gegenpart. Durch die Erzählungen der beiden entsteht eine Art Doppelporträt, das ergänzt wird durch all die anderen Nebenfiguren, die eine Rolle spielen.

War das nicht unheimlich? Aber es war wunderbar! Das Buch kommentierte mein eigenes Leben! Mir war, als würde ich in die Bücher hineinsteigen und alles, was mir dort etwas bedeutete, mitnehmen in mein Leben, ein literarischer Freibeuter war ich.

An dieser Stelle muss die Frage erlaubt sein, ob ein solcher – scheinbar überladener – Roman überhaupt funktionieren kann? Ich kann diese Frage nur mit einem klaren ja beantworten. Die verwinkelte Geschichte, die enorme Stoffmasse und die vielen roten Fäden können erschlagend wirken, das möchte ich gar nicht verschweigen und ich muss auch betonen, dass sich dieses Buch nicht mal eben nebenher lesen lässt. Abendland erfordert eine hohe Konzentration und ein Lesegenuss stellt sich wohl auch nur dann ein, wenn man bereit ist, sich auf die Erzählstruktur einzulassen. Die großartige Sprache, in der Michael Köhlmeier dieses komplexe Werk erzählt, hat bei mir jedoch dafür gesorgt, dass ich trotz aller Stolpersteine nie aufhören wollte zu lesen. Ich habe fast zwei Wochen in diesem Buch gewohnt und es hat ein wenig geschmerzt, es beim Zuklappen der letzten Seite wieder zu verlassen.

Abendland ist ein Buch über das Leben und den Tod, über die Liebe und das Sterben, über Musik und Mathematik, über Geschichten und das Schreiben und über Krieg und Frieden. Auf mich hatte der Roman eine förmlich umwerfende Wirkung: klug, detailversessen und inspirierend. Wenn es mal ein Wochenende durchregnet, dann schließt euch mit diesem Buch ein und verschlingt es.

Michael Köhlmeier: Abendland. Deutscher Taschenbuchverlag, München 2008. 775 Seiten, €9,90. Auf Buzzaldrins Bücher wurden außerdem Zwei Herren am Strand und Die Abenteuer des Joel Spazierer besprochen.

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