Clarice Lispector wurde lediglich siebenundfünfzig Jahre alt. 1920 wurde sie in der Ukraine geboren und gelangte auf der Flucht vor Pogromen mit ihrer Familie nach Brasilien, wo sie später in Rio de Janeiro lebte. Trotz der ärmlichen Verhältnissen, denen sie entstammt, studierte sie später Jura und arbeitete als Journalistin. Sie veröffentlichte Romane, Erzählungen, Kinderbücher und literarische Kolumnen. Im Verlag Schöffling & Co. wird ihr Werk seit dem vergangenen Literaturherbst herausgegeben. Bisher erschienen “Der Lüster”, “Nahe dem wilden Herzen” und eine umfangreiche Biographie von Benjamin Moser. Weitere Werke sind bereits in Vorbereitung. Übersetzt ins Deutsche wurde Clarice Lispector von der mittlerweile verstorbenen Übersetzerin Ray-Güde Mertin, überarbeitet wurde die Übersetzung von Corinna Santa Cruz.
“Er war allein. Er war verlassen, glücklich, nahe dem wilden Herzen des Lebens.” – James Joyce
“Nahe dem wilden Herzen” ist der Debütroman von Clarice Lispector gewesen, den sie damals mit gerade einmal dreiundzwanzig Jahren vorgelegt hat. In den Mittelpunkt dieses mutigen Romans, der radikal mit den damaligen gesellschaftlichen Konventionen bricht, stellt Clarice Lispector ihre junge Heldin Joana. Joana wächst mutterlos an der Seite ihres Vaters auf, als dieser stirbt, zieht das junge Mädchen zu ihrer Tante – die Zeit, die sie im Haus ihrer Verwandten verbringt, ist von einem tiefgreifenden Unglücklichsein geprägt. Von ihrer Tante wird sie schließlich auf ein Internat verbannt, ein einsamer Ort für ein junges Mädchen. In jungen Jahren heiratet Joana bereits den Rechtsanwalt Otávio, doch die gemeinsame Ehe zerbricht an Joanas Gefühlskälte und dem gegenseitigen Betrug.
“Die Maschine des Vaters hämmerte klack-klack … klack-klack-klack … Die Uhr erwachte ohne großes Aufheben mit tin-tan. Die Stille schleppte sich schschschschschsch dahin. Was sagte der Kleiderschrank? Kleider-Kleider-Kleider. Nein, nein. Zwischen der Uhr, der Schreibmaschine und der Stille hörte ein Ohr zu, groß, rosafarben und tot. Die drei Geräusche waren durch das Tageslicht miteinander verbunden und durch das Rascheln der kleinen Blätter am Baum, die sich leuchtend ein am anderen rieben.”
Das sind die Eckdaten von Joanas Leben, die im Text aufglimmen, wie Schlaglichter. Doch statt sich auf eine zusammenhängende Geschichte zu konzentrieren, rückt Clarice Lispector das Innenleben ihrer Heldin in das Zentrum dieses Romans. Die von mir aufgelisteten Schlaglichter der Handlung sind eingebettet in einen fortlaufenden Bewusstseinsstrom, der an James Joyce erinnert. In diesem Bewusstseinsstrom erschienen mir die Schlaglichter wie kleine beleuchtete Inseln, an denen ich mich festklammern konnte, um zwischendurch nach Luft zu schnappen, wenn ich Gefahr lief, den Überblick zu verlieren.
“Ach, es gab so viele Dinge, die einfach nicht zu erklären waren. Man konnte ganze Nachmittage darüber nachdenken. Zum Beispiel: Wer hatte wohl zum ersten Mal gesagt: niemals?”
Clarice Lispector lässt ihre Heldin sprechen und taucht mit Haut und Haaren in deren Seelenleben ein. Es ist ein Seelenleben, das geprägt ist von intensiven Stimmungen und Empfindungen, von Gefühlen und Gedanken, die mal hier und mal dorthin treiben. Es ist ein Seelenleben, das geprägt ist von Stimmungswechseln. Von einem Umschlagen der Stimmung, das manchmal noch im selben Satz stattfindet. Es ist ein Wechselbad der Gefühle, zwischen Euphorie und tiefer Traurigkeit. Joana glaubt, einen “Hang zum Bösen” zu haben und spürt in sich “ein vollkommenes Tier, durchdrungen von Ungereimtheiten, Egoismus und Vitalität.”
“Denn der beste Satz, und immer noch der jüngste war: Güte verursacht mir Brechreiz. Die Güte war lauwarm und leicht, sie roch nach rohem, lange gelagertem Fleisch. Das aber nicht ganz verdorben war. Ab und zu frischte man es auf, würzte es ein bisschen, gerade so viel, dass es als ein Stück lauwarmes und stilles Fleisch erhalten blieb.”
Bei der Erforschung von Joanas Seelenleben wechseln sich unverständliche Passagen, bei denen nur schwer zwischen Phantasie und Wirklichkeit zu unterscheiden ist, mit erschreckend hellsichtigen Abschnitten ab. “Nahe dem wilden Herzen” erscheint wie ein Gesteinsbruch, durch dessen Schichten man sich hindurch kämpfen muss: in diesen Schichten tauchen ab und an wahre Satzjuwelen auf, die Seite an Seite stehen neben humoristischen Einwürfen und wahren Gedankenspiralen, die an ein Delirium erinnern können. Die Gedanken kreisen dabei fortwährend um die Kindheit (“Ist es nicht das Schönste, eine Kindheit gehabt zu haben? Niemand kann sie mir wegnehmen …”), aber auch um die gescheiterte Ehe und den brennenden Wunsch danach, Freiheit spüren und empfinden zu können.
“Ich kann kaum glauben, dass ich Grenzen habe, feste Umrisse. Ich fühle mich wie in der Luft verstreut, als würde ich in anderen Lebewesen denken und in den Dingen außerhalb meiner selbst leben.”
Die ersten zwanzig Seiten des Romans habe ich Satz für Satz gelesen, manche Sätze habe ich wiederholt gelesen, um sie verstehen zu können. Ich habe Unterstreichungen und Notizen gemacht, versucht Zusammenhänge herzustellen und zu begreifen, doch dem Text kam ich dadurch an keiner Stelle wirklich nahe. Schließlich legte ich Stift und Notizzettel zur Seite, um mich rückhaltlos in den Text zu versenken. Ich habe die Worte und Stimmungen auf mich wirken lassen, mich im Bewusstseinsstrom treiben lassen, mal hier hin und mal dorthin und die Gedankenwelt von Joana aufgesaugt. Manchmal glaubte ich, den roten Faden gefunden zu haben, an anderer Stelle verlor ich ihn wieder. Je näher ich am Text kleben blieb, desto weniger habe ich verstanden. Erst als ich begann, ihn einfach auf mich wirken zu lassen, hatte ich das Gefühl, Joana wirklich näher zu kommen.
“Ich werde weitermachen, das eben gehört zu meiner Natur, mich nie lächerlich zu fühlen, ich wage immer etwas, ich betrete alle Bühnen.”
“Nahe dem wilden Herzen” ist ein Strom aus Worten, Bildern, Gedanken und Stimmungen. Es ist ein Strom, den man genießen kann, wenn man es wagt, sich auf die Stimme von Clarice Lispectors Heldin einzulassen. Es ist ein starker und kraftvoller Strom, voller Gedanken zur Freiheit und dazu, wie man als Frau selbstbestimmt leben möchte. Ich glaube, dass ich selten zuvor ein so mühevolles Lektüreerlebnis hatte, ich hatte aber auch selten zuvor ein so intensives.
Clarice Lispector: Nahe dem wilden Herzen. Roman. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2013, 272 Seiten, € 19,95.