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Idealistisch angepasst – Eine Berliner Erkundung in sechs Stationen.

CollageIn der Literarischen Welt, der von Richard Kämmerlings verantworteten wöchentlichen Beilage der WELT am Samstag, finden sich Woche für Woche immer wieder sehr interessante und lesenswerte Artikel. In einer Zeitungswelt, in der es immer weniger Platz für Literatur gibt, wird der Literarischen Welt erfrischend und erfreulich viel Platz eingeräumt. Platz, auf dem auch neue Stimmen der Literaturkritik zu Wort kommen können – eine dieser Stimmen ist Dana Buchzik, die nicht nur Literatur bespricht, sondern auch einen eigenen Blog betreibt: Ze Zurrealism Itzelf.

Für die heutige Beilage hat Dana Buchzik, unter dem Titel “Idealistisch angepasst”, einen höchst lesenswerten und interessanten Artikel geschrieben: eine Berliner Erkundung in sechs Stationen. Es geht nicht nur um das Leben junger deutschsprachiger Schriftsteller und Schriftstellerin, sondern vor allen Dingen um das Überleben dieser Schriftsteller. Wie finanzieren sich die jungen Autoren und Autorinnen unserer heutigen Zeit? Wie viel Förderung erhalten sie und wie viel Förderung ist überhaupt erwünscht und notwendig? All diesen Fragen widmet sich Dana Buchzik im Gespräch mit sechs Stimmen der deutschsprachigen Literatur: Roman Ehrlich, Inger-Maria Mahlke, Kevin Kuhn, Nora Bossong, Tilman Rammstedt und Helene Hegemann. Alle sechs haben zwei Dinge gemeinsam, sie schreiben Bücher und sie leben in Berlin.

Dana Buchzik zeichnet ihre Berliner Erkundung pointiert und mit leichter Hand, erweist sich aber gleichsam auch als messerscharfe Beobachterin: das, was den literarischen Stimmen dieser Schriftstellergeneration fehlt, ist ein Bewusstsein dafür, in politischen und gesellschaftlichen Fragen auch Verantwortung übernehmen zu können. Es fehlt ein Sendungsbewusstsein. Einzig und allein Helene Hegemann setzt sich auch kritisch mit ihrer Umwelt und der Gesellschaft, in der sie lebt, auseinander. Die Autorin kann es sich leisten, denn nach dem Skandal um ihren Debütroman, steht sie nicht mehr unter dem Druck, gefallen zu müssen und einem bestimmten Image zu entsprechen – ihr Ruf ist sowieso schon ruiniert.

Kauft euch die Literarische Welt und geht mit Dana Buchzik auf eine spannende Berliner Erkundung. Viel Spaß! 🙂

Zwanzig unter vierzig

“Ihre Romane, Erzählungen, Liedtexte und Gedichte vermessen die Welt für uns.”

In einem Literatur Spezial hat die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung heute eine Liste der besten jungen deutschsprachigen Schriftsteller von heute veröffentlicht: zwanzig unter vierzig. Entstanden ist die Liste in Anlehnung an die vom New Yorker zuletzt im Jahr 2010 aufgestellte Liste “20 under 40”. Diese Liste hatte ich bereits vor einigen Monaten hier vorgestellt.

Die Jury, die sich für die besten zwanzig Schriftsteller unter vierzig Jahren entschieden hat, setzt sich aus den Kritikern des Feuilletons der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung zusammen und die Kriterien waren denkbar einfach:

“Von welchen jungen Autoren wollen wir in Zukunft so viel wie möglich hören und lesen? Und welche Bücher der jüngeren Vergangenheit haben uns so erschüttert, beeindruckt und getroffen, dass sie nicht verschwinden werden? Nicht aus unseren Köpfen und nicht aus den Regalen der Buchhandlungen. Welche Bücher der Gegenwart erzählen von unserer Zeit auf leuchtende, besondere, auf einmalige Weise, welche weisen, übe unsere Gegenwart hinaus?”

Hier sind die Schriftsteller, die es unter die Top 20 geschafft haben:

  • Daniel Kehlmann
  • Alina Bronsky
  • Antje Wagner
  • Clemens J. Setz
  • Benjamin Maack
  • Helene Hegemann
  • Lisa-Marie Dickreiter
  • Andreas Stichmann
  • Thomas Pletzinger
  • Thomas Glavinic
  • Nora Bossong
  • Thomas Melle
  • Annika Scheffel
  • Uljana Wolf
  • Benjamin von Stuckrad-Barre
  • Reinhard Kaiser-Mühlenecker
  • Judith Schalansky
  • Clemens Meyer
  • Maxim Drüner
  • Kevin Kuhn

Die Liste ist eine bunte Mischung aus bereits etablierten Schriftstellern wie Daniel Kehlmann und Clemens Setz und aus unbekannteren Namen, deren größter Erfolg möglicherweise noch bevorsteht. Unter den zwanzig Namen befindet sich auch einer, der gar kein Schriftsteller ist, sondern Rapper: der 28-jährige Maxim Drüner ist Mitglied der Hip-Hop-Gruppe K.I.Z.

“Es geht um die besten jungen Schriftsteller, die wir haben. Um eine Linie, die vielleicht ganz anders verläuft, als wir bislang dachten. Eine Linie, die es vielleicht gar nicht gibt.” 

Ich bin erstaunt, dass ich – obwohl ich geglaubt hatte mich in der deutschsprachigen Literatur ganz gut aus zu kennen – viele Namen und Autoren noch gar nicht kenne: von Uljana Wolf, Antje Wagner oder Annika Scheffel hatte ich zuvor noch nicht gehört. Gelesen habe ich den Roman von Kevin Kuhn, “Axoltl Roadkill” von Helene Hegemann (großartig!), “Scherbenpark” von Alina Bronsky und “Vom Atmen unter Wasser” von Lisa-Marie Dickreiter. Auf der Liste fehlt mir natürlich die großartige Vea Kaiser – die ich schmerzlich unter den Top 20 vermisse!

Wie gefällt euch die Liste? Was denkt ihr über die Schriftsteller, die es unter die Top 20 geschafft haben? Welche von ihnen habt ihr bereits gelesen? Geht es euch genauso wie mir und fehlen euch bestimmte Namen auf der Liste?

5 Fragen an Kevin Kuhn!

© Harald Geil

© Harald Geil

Wie viele junge Schriftsteller ist auch Kevin Kuhn virtuell unterwegs und es lohnt sich einen Blick auf seine Homepage zu werfen. Kevin Kuhn hat Philosophie, Kunstgeschichte und Religionswissenschaft in Tübingen und Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim studiert. Seit 2010 ist er Lehrbeauftragter am dortigen Institut. “Hikikomori” ist sein Debütroman.

1.) Warum wollten Sie Schriftsteller werden?

Ursprünglich wollte ich Philosoph werden, hatte das Schreiben auch mit kurzen Aphorismen und philosophischen Abhandlungen begonnen – die Welt in klaren und kurzen Begriffen zu zeichnen, ohne narrative Schnörkel, schien mir damals das Naheliegendste. Aber die mögliche Leserschaft, wie ich sie in den Kommilitonen witterte, schreckte mich schnell ab, so versuchte ich mich erst in Lyrik, dann an Theaterstücken, dann an einem Drehbuch, dann an Kurzgeschichten. In Kurzgeschichten konnte ich das Gedachte mit Leben füllen, eine Bühne bieten. Aber diese wurde schnell zu klein – der Hikikomori entstand aus einer Miniatur, Till und sein Kosmos stießen schnell an Seitengrenzen, brauchten Raum. Und hier sitze ich nun denke, und diese Gedanken brauchen Leben und Platz. Und das ist der Roman.

2.) Gibt es einen Schriftsteller oder einen Künstler, der Sie auf Ihrem Weg besonders inspiriert hat?

Einer? Eher unheimlich viele! Alles, was ich lese, die Serien, die ich sehe, Ausstellungen – all das fällt in mich hinein. Gerade ist es eine Kombination aus Breaking Bad (meisterliche Plots und Figurenführung) und Ben Brooks (unmittelbare, treffende Sprache), die mich begleiten. Für den Hikikomori waren es John Wray (sein einzigartiger Außenseiter-Protagonist in „Der Retter der Welt“), Haruki Murakami (seine nahtlose Verschmelzung von Realität und Fantasie) und der Künstler Alberto Zamora Ruiz, für dessen Bild ich besagte Miniatur schrieb.

3.) Wann und wo schreiben Sie am liebsten?

Morgens zwischen 8 und 10 Uhr ist mein Kopf noch am klarsten und vom Tag unverschont. Der Schreibtisch ein idealer Ort. Dann braucht es Koffein und ein kleines Frühstück, um bis 12 oder 13 Uhr die Spannung zu halten. Danach ist die Luft raus. Den ganzen Mittag, Nachmittag über beriesele ich mich mit Einflüssen. Neuerdings suche ich am Abend immer dasselbe Café, dieselbe Eckbank mit Blick auf die Straße. Da gibt es kein Internet. Nur klassische Musik und einen Hund. Das hilft – im Idealfall – für einen zweiten Schub.

 4.) Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen?

Ich lese stets mehrere Bücher gleichzeitig und oft auch nur auszugsweise. Gerade aufgeklappt sind: Willy Vlautin: Motel Life, Jean Echenoz: Blitze, Joyce Carol Oates: Über Boxen und die BELLA triste 33.

 5.) Was würden Sie einem jungen Schriftsteller raten?

Ich rate einem jungen Schriftsteller – und das rate ich auch mir – sich in die Welt zu begeben. Die ist unser Stoff. Die Welt gerade auch in ihren Gefahrensituationen, in ihren Ecken und Kanten, im Fernen und Übersehenen. Dinge tun, die das Eigene verlassen, neu modellieren. Aber auch schreiben. Und das Geschriebene zur Diskussion stellen, sich vom Gedanken lösen, dass es nicht besser ginge. Und dann klappt es auch irgendwann.

Herzlichen Dank für die Beantwortung meiner Fragen!

Hikikomori – Kevin Kuhn

5600Kevin Kuhn wurde 1981 in Göttingen geboren und lebt heutzutage in Berlin. Er hat Philosophie, Kunstgeschichte und Religionswissenschaft studiert, sowie Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus. Er war Stipendiat des textwerk-Romanautorenseminars des Literaturhaus München und hat 2012 den Gargonza Arts Award gewonnen. “Hikikomori” ist Kevin Kuhns Romandebüt.

Der Begriff Hikikomori, japanisch für “sich einschließen, gesellschaftlicher Rückzug”, war mir bereits vor Beginn des Romans nicht neu. Zum ersten Mal darüber gestolpert war ich im Rahmen meiner Lektüre von “Ich nannte ihn Krawatte” und war von diesem Phänomen, das vor allem junge Erwachsene betrifft, die sich in ihren Kinderzimmer einschließen und dort über Wochen, Monate oder auch Jahre bleiben, sofort fasziniert.

Im Mittelpunkt von Kevin Kuhns Roman steht Till Tegetmeyer, für dessen Verhalten seine Angehörigen lange Zeit keine Diagnose, keine Sprache, keine Worte finden. Bis sie auf das Phänomen der Hikikomori stoßen.

Till wächst auf den ersten Blick wunschlos glücklich auf; seine Eltern haben  die finanziellen Verhältnisse, um Till viele Dinge zu ermöglichen und ihn zu fördern. Sein Vater ist Schönheitschirurg und seine Mutter Kuratorin in ihrem eigenen Ausstellungsraums. In Till erkennen sie alle möglichen Talente und doch hat er immer wieder Schwierigkeiten. Er besucht eine “freie Waldorfschule” und als er nicht zum Abitur zugelassen wird, bricht für ihn eine Welt zusammen.

“Er ist nicht wie die anderen zum Abitur zugelassen, soll sein Ich neu orientieren […].”

Till zieht sich in sein Zimmer zurück und beginnt, sich sonderbar zu verhalten. Entfernt seine Möbel, bricht den Kontakt zu seinen Freunden und zu seiner Freundin Kim ab, verbringt viel Zeit vor seinem Computer, hört auf, sich um sich selbst zu kümmern. Von einem Tag auf den anderen weigert er sich am Familienleben weiter teilzunehmen. Stattdessen begibt er sich in eine fiktive Onlinewelt, spielt ein Spiel namens Medal of Honor, in dem er sich verliert, das für ihn der einzige Inhalt seiner immer gleich verlaufenden Tage wird. Die reale Welt hat Till fallen gelassen, deshalb begibt er sich in eine Welt, die auf einem Server zu Hause ist, mitten hinein in ein V2-Raketen-Szenario.

Aus dem Computerspiel heraus entsteht etwas Größeres: Till erschafft sich eine Parallelwelt, die nach seinen Regeln, nach seinen Wünschen funktioniert.

“ich habe etwas vor, kim. ich will zeit und raum selbst bestimmen. das eine rinnt mir durch die finger, dem anderen rinne ich durch die finger. Zumindest will ich selbst bestimmen, was da durchrinnt. alles andere soll an mir abprallen.”

Welt 0. Ein Ort, an den Till und seine Online-Freunde vor der realen Welt flüchten können, ohne ihr Zimmer verlassen zu müssen. Ein Ort, an dem Träume wahr werden können, ohne, dass man dafür wirklich etwas riskieren muss. Ein Ort für all diejenigen, die an den Anforderungen des Alltags, dem Druck, den Verpflichtungen, den Erwartungen zerbrechen.  Auch Till spürt dieses “Gefühl eines permanenten, sich nur langsam lösenden Druck”, der schon so lange auf ihm lastet, dass er ein Teil von ihm geworden ist. Diese Gefühle haben Till in die Isolation getrieben.

“Als wäre mein Fenster ein Bildschirm und alles dahinter lediglich ein Bild, ein altbekannter Desktophintergrund, den ich spaltenweise ausradierte. Für mich, der ich seitdem in der Dunkelheit lebe, gibt es außerhalb nichts mehr. Auch meine Erinnerung daran verblasst. Man muss nur die Tür hinter sich zuziehen, und schon ist man auf der Schwelle zu einer anderen Welt. Zu der Welt, die man in sich trägt, die von der Außenwelt unterdrückt wurde, der man die Luft zum Atmen nahm.”

Gemeinsam mit Till erlebt der Leser, was passieren kann, wenn man aus dieser Parallelwelt nicht mehr zurückkehrt, wenn man sich immer stärker in einer Traumwelt verstrickt und den Weg zurück nicht mehr findet.

In den letzten Wochen und Monaten habe ich eine ganze Reihe an Debütromanen von jungen Autorinnen und Autoren gelesen. Kevin Kuhn hebt sich mit seinem Roman “Hikikomori” wohltuend von dieser Masse an Neuerscheinungen ab. Im Mittelpunkt seines Romans steht die virtuelle Welt, ihre Grenzen, ihre Gefahren, aber auch der Reiz und die Fluchtmöglichkeiten die dieser Ort für Menschen bietet, die an der Gesellschaft, am Druck, an den Anforderungen zerbrechen. Till glaubt in seiner neuen Onlinewelt wieder jemand zu sein, “ein besonderer Mensch” zu sein. Er ist irgendwann nicht mehr in der Lage dazu zu sehen, dass es auch in der Realität Menschen gibt, die sich um ihn sorgen, die sich für ihn interessieren.

Kevin Kuhn beschäftigt sich in seinem Roman mit einem hochaktuellen Thema unserer Gesellschaft und es gelingt ihm mithilfe seiner Hauptfigur Till einige sehr greifbare Einblicke in mögliche Gefahren und Risiken unserer global vernetzten Welt zu geben.

Ich habe “Hikikomori” sehr gerne und mit viel Interesse gelesen. Die Sprache von Kevin Kuhn ist schnörkellos und lässt sich flüssig lesen. Sprachlich stechen sicherlich Tills Briefe und E-Mails an Kim heraus, die mich besonders  begeistert haben. “Hikikomori” ist anders, ungewöhnlich, löst stellenweise die Grenzen zwischen Fiktion und Realität auf, aber es lohnt sich, sich auf dieses Abenteuer einzulassen. Kevin Kuhn rückt Menschen in den Mittelpunkt, die es unter uns heutzutage zu Dutzenden gibt: Menschen, die sich in der virtuellen Welt verloren haben. Ich habe das Buch mit der Hoffnung zugeklappt, dass Till vielleicht irgendwann einen Weg zurück finden wird.

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