Die Schriftstellerin Silke Scheuermann wurde 1973 in Karlsruhe geboren und lebt heutzutage in Offenbach. Für ihre bisherigen Veröffentlichungen hat sie bereits zahlreiche Preise und Stipendien erhalten. Zuletzt erschien von ihr im vergangenen Jahr der Roman “Shanghai Performance”.
“Die Häuser der anderen” setzt sich aus insgesamt 9 Szenen zusammen. Im Mittelpunkt dieser Szenen stehen die Bewohner der Straße Am Kuhlmühlgraben.
“Am Kuhlmühlgraben hieß die letzte, noch zum Stadtteil gehörende Straße im Osten, eine lange Reihe gepflegter frei stehender Einfamilienhäuser.”
In den einzelnen Szenen wirft Silke Scheuermann Schlaglichter auf die Bewohner der Straße. Wir lernen zum Beispiel Luisa und Christopher kennen, ein junges Pärchen, das gemeinsam mit dem Mischlingshund Benno das dritte Haus in der Straße bewohnt – ein weißes Haus mit einem frisch bepflanzten Vorgarten.
“Vorn protzte man mit den Autos, hinten mit den Hunden – so war die Straße eben auch, und diese Ambitioniertheit gefiel Luisa und Christopher sehr gut, schließlich wollten sie genauso wenig auf der Stelle treten.”
Christopher ist studierter Biologe und schreibt an seiner Promotion, während Luisa – die Kunsthistorikerin ist – freischaffend tätig ist und immer mal wieder Lehraufträge erhält. Beide sind ehrgeizig, erfolgsorientiert und auf ihre Wirkung nach außen bedacht – wie viele andere Bewohner der Straße auch. Christopher und Luisa bemühen sich, ihre Beziehung und ihr gemeinsames Leben für die anderen sichtbar perfekt zu inszenieren. Mit der Zeit müssen sie jedoch feststellen, dass ihre Wunschträume der Wirklichkeit nicht immer standhalten können.
“‘Wieso hast du mich dann geheiratet?’ fragte sie, und so, wie die Frage im Raum stand, wurde ihr ganz seltsam zumute.
Er gab sich den Anschein, nachdenklich zu werden: ‘Ja’, sagte er langsam, ‘manchmal frage ich mich das auch’.
Der Leser lernt das schwule Pärchen Herr Emmermann und Herr Eisen kennen, die ihre Hausgemeinschaft Am Kuhlmühlgraben 38 terrorisieren und ihre ganze Energie dafür einsetzen, Bewohner auf perfide Art und Weise wegzuekeln und dabei gar nicht in der Lage sind zu merken, dass sie miteinander überhaupt nicht mehr glücklich sind. Beide sehnen sich eigentlich nach einem anderen Leben. Man erhält Einblicke in das Leben von Gaby und ihrer Tochter Britney, die gar nicht in der Straße wohnen, aber alles dafür tun würden, in diese Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Ihre Träume bestehen aus dem Wunsch nach Anerkennung und Bekanntheit, danach die Fesseln der Vergangenheit, die Spuren eines einfachen Lebens abzuschütteln, um noch einmal neu zu beginnen. Doch wie weit geht man, um den Wunsch dazuzugehören zu verwirklichen? Was gibt man auf? Was nimmt man in Kauf? Und ist man – wenn man sein Ziel erreicht hat – überhaupt noch man selbst? Ist man dann noch glücklich? Am stärksten beeindruckt haben mich die Szenen aus dem Leben von Dorothee, die in kurzer Zeit sowohl ihren Mann Frank, als auch den gemeinsamen Hund Kitty verliert. In diesem Moment zerbricht ihre Welt, ihre Träume, ihr Leben. Als gebrochene Frau und schwere Alkoholikerin muss sie aus dem ehemals gemeinsamen Haus ausziehen und die Straße verlassen. Sie passt nicht mehr in das Bild der makellosen Perfektheit. Selbst Freunde wissen nichts mehr mit ihr anzufangen und schämen sich für Dorothee. Ihr Abstieg aus der Welt des Kuhlmühlgraben ist rasant und endet als tiefer Fall. Es bleibt ihr lediglich noch das Betrachten dieser Welt von außen:
“Die ganze Straße Am Kuhlmühlgraben, auch unser ehemaliges Haus, gehört zu denen mit der arroganten Schwärze. War das früher anders, als wir darin wohnten? Ich könnte nicht festmachen, was sich geändert hat. War ich eine andere? ich lasse den Gedanken fallen. Ich kenne die Mieter nicht, aber sie werden sein wie alle hier. Ehrgeizige Leute, nicht mehr ganz jung, die es geschafft haben. Die Bausparverträge haben es gebracht. Sie haben es gebracht. Oder sie haben geerbt.”
Silke Scheuermann ist mit “Die Häuser der anderen” eine großartige Milieustudie einer Gesellschaft gelungen, die nur noch um sich selbst kreist. Sie wirft einen Blick in die Welt der ehrgeizigen und ambitionierten Bewohner der Straße Am Kuhlmühlgraben. Eine Straße, die wie eine eigene Welt erscheint. Eine Welt der Träume, der Symbole, des Wohlstands. Eine Welt, die von außen betrachtet den Anschein von etwas Perfektem und Glücklichem suggeriert. Silke Scheuermann arbeitet mit feinen Strichen, gestaltet sehr detaillierte Szenen, die den Eindruck erwecken, dass diese Welt vielleicht nicht unbedingt ein Trugbild sein muss, dass sie aber nicht zwangsläufig zu Glück und Zufriedenheit führt. Äußere Makellosigkeit ist bei vielen Bewohnern, die man als Leser kennen lernt, nichts als eine äußere Fassade.
“Wir vergessen unsere Träume – aber unsere Träume vergessen uns anscheinend nicht.”
Keiner der beschriebenen Figuren erweckt den Anschein von Glück: die einen leben ein Leben, das sie sich einst erträumt haben, doch das sich jetzt nur noch hohl anfühlt, die anderen träumen von einem Leben, das sie endlich glücklich machen soll, ohne sehen zu können, was sie eigentlich bereits besitzen.
“Die Häuser der anderen” ist ein Buch, das zwischen all den Neuerscheinungen dieses Jahres heraus sticht und viel mehr Aufmerksamkeit von Lesern verdient hätte. Es hat mich berührt, erschüttert, aber auch stellenweise immer wieder amüsiert. Trotz einem immer wieder ironischen Ton, wahrt Silke Scheuermann Respekt für ihre Figuren und deren Leben. “Die Häuser der anderen” ist ein beeindruckendes Buch, dem ich viele Leser wünsche.
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