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5 Fragen an Silke Scheuermann!

© Kirsten Bucher

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Die Schriftstellerin Silke Scheuermann wurde 1973 in Karlsruhe geboren und lebt heutzutage in Offenbach. Für ihre bisherigen Veröffentlichungen hat sie bereits zahlreiche Preise und Stipendien erhalten. Zuletzt erschien von ihr im vergangenen Jahr der Roman “Shanghai Performance”.

1.) Warum wollten Sie Schriftstellerin werden?

Hm. Das hat sich erfreulicherweise so ergeben. Ich schreib gern, denk mir gern was aus. Lüge gern, in gewisser Weise und versuche dadurch, an eine Form der Wahrheit heran zu kommen.

2.) Gibt es einen Schriftsteller oder einen Künstler, der Sie auf Ihrem Weg besonders inspiriert hat?

Das waren viele, aber allen voran wohl die Lyrikerinnen Inger Christensen und Sylvia Plath.

3.) Wann und wo schreiben Sie am liebsten?

Ganz schlicht: daheim an meinem Schreibtisch. Besonders gern sitze ich da, wenn der mal aufgeräumt ist, aber das ist selten…

4.) Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen?

Den dritten Teil dieses Murakami Sekten-Science-Fiction.

5.) Was würden Sie einem jungen Schriftsteller raten?

Lesen, lesen, lesen. Ruhig auch mal abseits der Bestsellerlisten.

Herzlichen Dank an Silke Scheuermann für die Beantwortung meiner Fragen.

Die Häuser der anderen – Silke Scheuermann

g-scheuermann-silke-die-haeuser-der-anderenDie Schriftstellerin Silke Scheuermann wurde 1973 in Karlsruhe geboren und lebt heutzutage in Offenbach. Für ihre bisherigen Veröffentlichungen hat sie bereits zahlreiche Preise und Stipendien erhalten. Zuletzt erschien von ihr im vergangenen Jahr der Roman “Shanghai Performance”.

“Die Häuser der anderen” setzt sich aus insgesamt 9 Szenen zusammen. Im Mittelpunkt dieser Szenen stehen die Bewohner der Straße Am Kuhlmühlgraben.

“Am Kuhlmühlgraben hieß die letzte, noch zum Stadtteil gehörende Straße im Osten, eine lange Reihe gepflegter frei stehender Einfamilienhäuser.”

In den einzelnen Szenen wirft Silke Scheuermann Schlaglichter auf die Bewohner der Straße.  Wir lernen zum Beispiel Luisa und Christopher kennen, ein junges Pärchen, das gemeinsam mit dem Mischlingshund Benno das dritte Haus in der Straße bewohnt – ein weißes Haus mit einem frisch bepflanzten Vorgarten.

“Vorn protzte man mit den Autos, hinten mit den Hunden – so war die Straße eben auch, und diese Ambitioniertheit gefiel Luisa und Christopher sehr gut, schließlich wollten sie genauso wenig auf der Stelle treten.”

Christopher ist studierter Biologe und schreibt an seiner Promotion, während Luisa – die Kunsthistorikerin ist – freischaffend tätig ist und immer mal wieder Lehraufträge erhält. Beide sind ehrgeizig, erfolgsorientiert und auf ihre Wirkung nach außen bedacht – wie viele andere Bewohner der Straße auch. Christopher und Luisa bemühen sich, ihre Beziehung und ihr gemeinsames Leben für die anderen sichtbar perfekt zu inszenieren. Mit der Zeit müssen sie jedoch feststellen, dass ihre Wunschträume der Wirklichkeit nicht immer standhalten können.

“‘Wieso hast du mich dann geheiratet?’ fragte sie, und so, wie die Frage im Raum stand, wurde ihr ganz seltsam zumute.

Er gab sich den Anschein, nachdenklich zu werden: ‘Ja’, sagte er langsam, ‘manchmal frage ich mich das auch’. 

Der Leser lernt das schwule Pärchen Herr Emmermann und Herr Eisen kennen, die ihre Hausgemeinschaft Am Kuhlmühlgraben 38 terrorisieren und ihre ganze Energie dafür einsetzen, Bewohner auf perfide Art und Weise wegzuekeln und dabei gar nicht in der Lage sind zu merken, dass sie miteinander überhaupt nicht mehr glücklich sind. Beide sehnen sich eigentlich nach einem anderen Leben. Man erhält Einblicke in das Leben von Gaby und ihrer Tochter Britney, die gar nicht in der Straße wohnen, aber alles dafür tun würden, in diese Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Ihre Träume bestehen aus dem Wunsch nach Anerkennung und Bekanntheit, danach die Fesseln der Vergangenheit, die Spuren eines einfachen Lebens abzuschütteln, um noch einmal neu zu beginnen. Doch wie weit geht man, um den Wunsch dazuzugehören zu verwirklichen? Was gibt man auf? Was nimmt man in Kauf? Und ist man – wenn man sein Ziel erreicht hat – überhaupt noch man selbst? Ist man dann noch glücklich? Am stärksten beeindruckt haben mich die Szenen aus dem Leben von Dorothee, die in kurzer Zeit sowohl ihren Mann Frank, als auch den gemeinsamen Hund Kitty verliert. In diesem Moment zerbricht ihre Welt, ihre Träume, ihr Leben. Als gebrochene Frau und schwere Alkoholikerin muss sie aus dem ehemals gemeinsamen Haus ausziehen und die Straße verlassen. Sie passt nicht mehr in das Bild der makellosen Perfektheit. Selbst Freunde wissen nichts mehr mit ihr anzufangen und schämen sich für Dorothee. Ihr Abstieg aus der Welt des Kuhlmühlgraben ist rasant und endet als tiefer Fall. Es bleibt ihr lediglich noch das Betrachten dieser Welt von außen:

“Die ganze Straße Am Kuhlmühlgraben, auch unser ehemaliges Haus, gehört zu denen mit der arroganten Schwärze. War das früher anders, als wir darin wohnten? Ich könnte nicht festmachen, was sich geändert hat. War ich eine andere? ich lasse den Gedanken fallen. Ich kenne die Mieter nicht, aber sie werden sein wie alle hier. Ehrgeizige Leute, nicht mehr ganz jung, die es geschafft haben. Die Bausparverträge haben es gebracht. Sie haben es gebracht. Oder sie haben geerbt.”  

Silke Scheuermann ist mit “Die Häuser der anderen” eine großartige Milieustudie einer Gesellschaft gelungen, die nur noch um sich selbst kreist. Sie wirft einen Blick in die Welt der ehrgeizigen und ambitionierten Bewohner der Straße Am Kuhlmühlgraben. Eine Straße, die wie eine eigene Welt erscheint. Eine Welt der Träume, der Symbole, des Wohlstands. Eine Welt, die von außen betrachtet den Anschein von etwas Perfektem und Glücklichem suggeriert. Silke Scheuermann arbeitet mit feinen Strichen, gestaltet sehr detaillierte Szenen, die den Eindruck erwecken, dass diese Welt vielleicht nicht unbedingt ein Trugbild sein muss, dass sie aber nicht zwangsläufig zu Glück und Zufriedenheit führt. Äußere Makellosigkeit ist bei vielen Bewohnern, die man als Leser kennen lernt, nichts als eine äußere Fassade.

“Wir vergessen unsere Träume – aber unsere Träume vergessen uns anscheinend nicht.”

Keiner der beschriebenen Figuren erweckt den Anschein von Glück: die einen leben ein Leben, das sie sich einst erträumt haben, doch das sich jetzt nur noch hohl anfühlt, die anderen träumen von einem Leben, das sie endlich glücklich machen soll, ohne sehen zu können, was sie eigentlich bereits besitzen.

“Die Häuser der anderen” ist ein Buch, das zwischen all den Neuerscheinungen dieses Jahres heraus sticht und viel mehr Aufmerksamkeit von Lesern verdient hätte. Es hat mich berührt, erschüttert, aber auch stellenweise immer wieder amüsiert. Trotz einem immer wieder ironischen Ton, wahrt Silke Scheuermann Respekt für ihre Figuren und deren Leben. “Die Häuser der anderen” ist ein beeindruckendes Buch, dem ich viele Leser wünsche.

Im Bereich einer Nacht – Jean Cayrol

Cayrol“Im Bereich einer Nacht” von Jean Cayrol war für mich ein sogenannter “Blindkauf” – bei Amazon gab es über das Buch noch keine Rezension und auch in der Welt der Blogs und Bücherforen, konnte ich bisher keine Meinungen dazu finden. Aufmachung und Inhalt haben mich jedoch schon sehr lange angesprochen … letzte Woche schließlich konnte ich dann einfach nicht mehr dran vorbeigehen und habe es gekauft – eine Entscheidung die ich im Nachhinein absolut nicht bereue. Ganz im Gegenteil: ein klein wenig habe ich das Gefühl ein Juwel, einen kleinen Schatz entdeckt zu haben.

Jean Cayrol ist ein eher unbekannter französischer Schriftsteller, obwohl er eigentlich ein sehr interessantes Leben geführt hat. Am einschneidendsten  sind sicherlich die Tatsachen, dass er in der Résistance gekämpft hat und das KZ Mauthausen überlebt hat. Der vorliegende Roman wurde schon einmal Ende der fünfziger Jahre in Deutschland veröffentlicht und sogar mit dem “Bremer Literaturpreis” ausgezeichnet. Der Schöffling Verlag hat sich – anläßlich von Jean Cayrols 100. Geburtstag am 6. Juni 2011 – dazu entschieden, den Roman noch einmal neu herauszubringen. Übersetzt von dem vergleichsweise sehr viel bekannteren Schriftsteller Paul Celan.

Jean Cayrol erzählt die Geschichte von François, einem jungen französischen Mann, der zu seinem 30. Geburtstag in die Heimat zurückkehrt, um seinen Vater zu besuchen. Schnell wird klar, dass er diese Reise eigentlich nur sehr ungern angetreten ist:

“Er selbst hatte sie ja gewollt, diese Reise. Niemand hatte ihn gezwungen, dieser Landschaft gegenüberzutreten, die nun sacht seine Kindheit zu umschließen begann, diese Landschaft, die in jedem Baumstamm ihre Greisenhaftigkeit bekundete, die unter einem riesigen Haufen von Efeu und verwilderten Pflanzen ein erschöpftes, aus ein paar Steinen bestehendes Dorf verbarg.”

François kommt am Abend aus Paris an, wo er seine Verlobte Juliette zurückgelassen hat, und es ist schon so dunkel, dass er kaum noch das Ziffernblatt seiner eigenen Uhr lesen kann.  Trotz der bedrohlichen Dunkelheit, betritt er den Wald um sich auf den Weg nach Sainte-Veyres, seinem Heimatdorf, zu machen – doch schon nach kurzer Zeit verirrt er sich in der Dunkelheit. Hunde und Katzen beginnen ihm aufzulauern und mit der Zeit ist François immer orientierungsloser und dabei auch noch müde und erschöpft. Er begegnet unterschiedlichen Gesprächspartnern: Kindern, einem Landstreicher, er wird von einer seltsamen Frau im Auto mitgenommen und schließlich gewährt ihm eine Familie in ihrem Haus Unterschlupf.  Interessanterweise kennt keine der Personen auf die er trifft, das Dorf in das er möchte. Es scheint dort nur unter dem Namen Chauvigny bekannt zu sein.

Die Familie, die ihn schließlich aufnimmt, scheinen eine Vielzahl eigener Probleme zu plagen und obwohl er dies nicht will, wird François in diese Geheimnisse hineingezogen. In ihrem Wohnzimmer liegt ein Toter aufgebahrt, die Frau Raymonde erzählt, dass sie zunehmend erblindet, die jüngste Tochter Claire rennt von zu Hause weg, ein anderer Sohn ist schon seit mehreren Jahren verschwunden und in der Nacht kehrt auch noch der gewalttätige Vater Simon von der Arbeit zurück.  Erst am darauffolgenden Tag gewinnt François seine Orientierung zurück und erfährt, wer der aufgebahrte Tote wirklich ist.

Mir hat der Roman von Jean Cayrol sehr gut gefallen, was sicherlich auch an der poetischen und sehr freien Übersetzung von Paul Celan liegt. Auch wenn mir als Leser sich nicht immer gleich erschlossen hat, wer grade spricht, was grade passiert und wie viel davon Wirklichkeit ist, hat mich der Roman doch sprachlich überzeugen können.

“Ein Glück, dass es Juliette gibt, ohne solche toten Bäume, ohne Ameisen, meine gute Juliette, die mir das Grauen meiner Kindheit vor Augen geführt hat; sie war der Sauerteig, den ich brauchte. […] ‘Du schreibst, um von mir fortzugehen’, sagte sie immer. Ich schreibe besser, seitdem ich sie liebe. Ich will es ihr sagen, an ihrem Geburtstag, auf ihren Mund.”

In einem sehr interessanten Nachwort seziert Ursula Hennigfeld den Roman auf eine sehr beeindruckende Art und Weise und zeigt Interpretationen und Denkrichtungen auf, die ich – das kann ich hier gestehen – so alle selbst nicht entwickelt habe. Was sicherlich ein sehr zentrales Thema ist, ist François Kindheit und die Erinnerungen an diese Kindheit. Seine Mutter ist sehr früh gestorben und sein Vater hat jede Form der Erinnerung an sie unterdrückt und verboten. Was bleibt François noch an eigener Erinnerung an seine Vergangenheit?

“An unsere Kindheit kommt man nur heran, indem man sich über sie lustig macht.”

“Im Bereich einer Nacht” kann sicherlich auch auf einer oberflächlichen Ebene gelesen werden, um jedoch auch die Tiefe, die unendlich vielen Schichten des Romans verstehen zu können, ist eine sehr genaue Lektüre erforderlich. Ich werde den Roman in den nächsten Tagen sicherlich noch einige Male aufschlagen und in die Hand nehmen.

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