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Sag ihren Namen – Francisco Goldman

Dem Text von Francisco Goldman ist ein berührendes Zitat von Henry King, dem Bischof von Chichester, vorangestellt: “Geliebte Verlorene! Seit deinem vorzeitigen Hinscheiden / Ist es meine Aufgabe, über dich nachzudenken. / Über dich; du bist das Buch, / Die Bibliothek, die ich betrachte, / wiewohl fast blind.” Auch Francisco Goldman hat jemanden verloren, den er geliebt hat: am 25. Juli 2007 starb seine Frau Aura Estrada bei einem Badeunfall in Oaxaca an der mexikanischen Pazifikküste.

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“Am 24. April, drei Monate vor ihrem Tod, war Aura dreißig geworden. Sechsundzwanzig Tage später wären wir zwei Jahre verheiratet gewesen.”

Nur wenige Jahre nach Auras Tod, beginnt Francisco Goldman über diesen schwerwiegenden Verlust zu schreiben, darüber nachzudenken – nicht nur über den Tod, über den Moment des Unglücks, sondern auch über Aura und das gemeinsame Leben, das viel zu kurz gewesen ist. Der Tod eines geliebten Menschen, der plötzliche Verlust von jemanden, der Teil deines Lebens gewesen ist, ist immer schmerzhaft. Joyce Carol Oates hat in “Meine Zeit der Trauer” über den Verlust ihres Mann geschrieben, der nach 47 gemeinsamen Jahren plötzlich verstorben ist. Beide haben ihr halbes Leben miteinander verbracht. So viel Zeit war Francisco Goldman und Aura Estrada nicht vergönnt, vier gemeinsame Jahre haben sie Seite an Seite gelebt  – zwei davon als Ehepaar.

“Der Gedanke war wie eine stumme Bombe: Aura wird nie wissen, wie es ist, alt zu sein, sie wird nie auf ein langes Leben zurückblicken können. Mehr bedurfte es nicht, nur dieses Gedankens an die Ungerechtigkeit des Lebens und die vollendete alte Dame, zu der Aura gewiss vorherbestimmt gewesen war.”

Aura Estrada wurde in Mexiko geboren und war Schriftstellerin und Doktorandin; an der Columbia University studierte sie spanische Literatur. Francisco Goldman ist bereits in den Fünfzigern, er arbeitet als freier Journalist, Autor und Hochschullehrer. Beide bauen sich ein gemeinsames Leben auf, im Grunde sind es sogar zwei: eines in New York und eines in Auras Heimatland Mexiko, dort wo sie die Sommer verbringen. Es ist ein Leben, geprägt von Büchern, von Literatur, von der gemeinsamen Arbeit an Texten. Während Aura einen festen Tagesablauf hat, lässt sich Francisco häufig an ihrer Seite treiben, begleitet sie zur Universität, geht mir ihr Mittagessen. Das gemeinsame Leben besteht aus lauter kleinen Ritualen, aus Abläufen und gemeinsamen Tätigkeiten. Francisco Goldman schildert immer wieder Momente, in denen er durch Straßen läuft, durch die er  immer mit Aura gelaufen ist, an Orten vorbeikommt, die ihnen gemeinsam gehört haben. Spaziergänge durch die Straßenschluchten Brooklyns sind ohne quälende Erinnerungen eigentlich kaum noch möglich: “So waren meine Spaziergänge durch diese Straßen nun ein stummer Abgesang von Orten.”

“Was Aura sagte, fast das Letzte, was sie je zu mir sagte, war: ‘Quiéreme mucho, mi amor.’ Liebe mich ganz fest, mein Liebling. ‘No quiero morir.’ Ich will nicht sterben. Das muss der letzte vollständige Satz gewesen sein, den sie sprach, vielleicht ihre allerletzten Worte.”

Das Cover und der Titel dieses Buches suggerieren auf den ersten Blick etwas Schwülstiges, doch dieser Eindruck täuscht. Francisco Goldman beschreibt zwar auch den eigenen schmerzhaften Verlust und die Gefühle mit denen er zurückgeblieben ist, doch er tritt gleichzeitig auch einen Schritt hinaus aus dieser bodenlosen Trauer und setzt seiner geliebten Frau ein literarisches Denkmal. “Sag ihren Namen” ist nicht nur ein Trauer- und Erinnerungsbuch, sondern setzt sich zusammen aus vielen Textversatzstücken und Tagebucheinträgen von Aura Estrada. Damit gelingt es Francisco Goldman nicht nur, ein Bild der zerstörerischen Trauer zu erschaffen, sondern auch ein Bild des Lebens, es ist das Leben von Aura und ihrer mexikanischen Familie. Aura wächst mit einer bestimmenden Mutter auf und einem Vater, der irgendwann verschwindet. Sie bekommt einen neuen Papa und sogar eine Halbschwester, doch glücklich ist sie nicht. Die junge Frau ist geprägt von ihrer Herkunft, ihrer Vergangenheit und ihrer besitzergreifenden Mutter. Eine Prägung, die über Auras Tod hinausgeht, denn ihre Mutter macht Francisco Goldman schwere Vorwürfe, den Unfall nicht verhindert zu haben. Sie enthält ihm die Asche ihrer Tochter vor und wirft ihn aus der gemeinsamen Wohnung.

Collage Sag Ihren Namen

“Nicht mehr dieser Mann. Kein Ehemann mehr. Der Mann, der in den Fischladen geht, um das Abendessen für seine Frau und sich einzukaufen. In weniger als einem Jahr wäre ich länger kein Ehemann mehr, als ich einer gewesen war. Aber wir hatten noch zwei Jahre mehr zusammengelebt. Dennoch würde der Tag kommen, an dem ich länger nicht mehr mit Aura lebte, als ich mit ihr zusammen gewesen bin.”

Nichts deutet beim Lesen des Buches zunächst daraufhin, dass man eine wahre Geschichte in den Händen hält und doch schwebt dieses Wissen mit zunehmender Lektüre über dem Text. Dass der Erzähler denselben Namen trägt, wie der Autor, ist ein erster Hinweis. Francisco Goldman schildert seine Liebe zu Aura mit viel Feingefühl, offen erzählt er von ihrer Beziehung, ohne diese dabei jedoch zu entwürdigen. Ich habe mich an keiner Stelle als Voyeur gefühlt und der Autor macht sich an keiner Stelle zum Exhibitionisten. Er geht jedoch schonungslos mit sich ins Gericht, denn auch er selbst macht sich Vorwürfe, den Tod seiner Frau nicht verhindert zu haben. Auch düstere und schamhafte Momente finden Erwähnung und werden nicht verschwiegen. Ergänzt wird all dies mit Briefen, E-Mails, Tagebucheinträgen und Textausschnitten.

“Sag ihren Namen” ist weniger eine Erzählung oder gar eine Geschichte, sondern viel mehr ein Puzzle. Ein Puzzle des Schmerzes – Puzzleteilchen an Puzzleteilchen setzt Francisco Goldman mit viel Geschick zusammen und springt dabei immer wieder zwischen unterschiedlichen Zeiten und Orten hin und her. Der Titel kann dabei als Versuch der Beschwörung verstanden werden, ein Versuch den geliebten Menschen im literarischen Text wiederauferstehen zu lassen. Entstanden ist dabei ein berührendes Dokument der Trauer, des Verlustes und ein Zeugnis dessen, wie man als Zurückgebliebener weiterleben kann. “Sag ihren Namen” ist nicht die erste literarische Auseinandersetzung mit Trauer, die ich gelesen habe und doch hat mich der Text von Francisco Goldman in all seiner Schmerzhaftigkeit, in all der Unfassbarkeit, in all dem, was nur schwer zu begreifen ist, besonders berührt. Die Auseinandersetzung des Autors mit dem schmerzhaftesten Verlust seines Lebens gelingt ihm auf einem hohen literarischen Niveau.

Im Licht von Apfelbäumen – Amanda Coplin

Amanda Coplin wurde in Wenatchee geboren;  mit “Im Licht von Apfelbäumen” legt sie ihren ersten Roman vor. Sie hat bereits zahlreiche Stipendien erhalten und war unter anderem als Writer in Residence am Ledig House in Upstate New York. Wer mehr über die Autorin erfahren möchte, sollte einen Blick auf die Homepage von Amanda Coplin werfen.

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“Das Leiden hatte ihn geformt, ihn schweigsam gemacht und vorsichtig, bedachtsam: tiefgründig. Großherzig, freundlich und rücksichtsvoll, obwohl er das auch vorher schon gewesen war. Mit jeder bedachtsamen Geste zielte er weit zurück und hoffte, seine Schwester zu erreichen, sie irgendwo aufzuspüren.”

William Talmadge lebt in einem abgelegenen und fruchtbaren Tal im nordöstlichen Teil von Washington. Im Sommer 1857 ist er gemeinsam mit seiner Mutter und seiner Schwester dorthin gezogen, damals war William Talmadge neun Jahre alt. Nicht einmal sieben Jahre später, bleibt Talmadge alleine auf der Farm zurück, die Mutter starb an einer Atemwegserkrankung seine Schwester Elsbeth ging in den Wald und kehrte nie wieder zurück. Die Jahre vergehen, doch seine geliebte Schwester kann Talmadge nicht vergessen, auch wenn er sich mit der Zeit an diesem abgeschiedenen Ort in seiner Einsamkeit eingerichtet hat. In Gedanken ist Elsbeth, wenn er die Apfel- und Aprikosenbäume erntet, immer bei ihm.

“Das Einzige, was – vielleicht – noch schlimmer war, als mit Sicherheit zu wissen, dass man sie verschleppt hatte, war, es nicht zu wissen. Das war die traurige Wahrheit. Und Talmadge lebte mit dieser Ungewissheit, er hatte sich darin eingerichtet, und es gab keine Möglichkeit für ihn, jemals wieder zur Ruhe – wirklich zur Ruhe – zu kommen.”

Eines Tages tauchen zwei junge Frauen auf, die Äpfel von den Bäumen stehlen. Talmadge lässt sie gewähren und die beiden kehren immer wieder zu der Plantage zurück. Die Frauen sind scheu und verängstigt, doch dieser alte und gutmütige Mann, macht sie auch neugierig. Sanft und ohne viele Worte nähern sich die drei an und Della und Jane, so heißen die beiden Frauen, werden Stück für Stück zu einem neuen Bestandteil von Talmadges Leben. Als er ihnen Zutritt in sein Leben als Einsiedler gewährt, kann Talmadge nicht ahnen, wie weitreichend diese Entscheidung sein restliches Leben verändern sollte und welches grausame Schicksal die beiden Frauen teilen …

“Freundlichkeit konnte sich mir nichts, dir nichts in ihr Gegenteil verkehren, konnte einem die Luft abdrücken oder mit dem Handrücken ins Gesicht schlagen.”

Amanda Coplin erzählt in ihrem Debütroman “Im Licht von Apfelbäumen” eine berührende Geschichte, eine Geschichte, in der Tragik und Hoffnung mit einem ganz zart schimmernden Faden miteinander verbunden werden. Verzaubern kann der Roman dabei nicht nur durch den Handlungsort, denn die abgelegene Plantage ist ein herrlich einsamer und in der Natur gelegener Ort und die Geschichte ist angefüllt mit traumhaften Landschaftsbeschreibungen, sondern auch durch die beschriebenen Figuren.

“Die Tage verschwammen, einer war weitgehend wie der andere. Es gab kaum Veränderungen. Vielleicht war die Zeit stehen geblieben; vielleicht hatte sie nie existiert. Es war nicht klar, was geschehen würde.”

Im Zentrum der Geschichte steht William Talmadge, der immer nur bei seinem Nachnamen genannt wird. Talmadge ist kein Mann, der vielen Worte. Geprägt wurde sein Leben durch den frühen Verlust seiner Schwester. Dieser Verlust hat ihn zu einem sensiblen Mann gemacht, der sich in seiner Einsamkeit und einem Leben, das aus Apfel- und Aprikosenbäumen besteht, eingerichtet hat. Die Begegnung mit Della und Jane gibt ihm zum ersten Mal in seinem Leben die Möglichkeit, etwas wieder gut zu machen, was er glaubt, bei seiner Schwester falsch gemacht zu haben. Della und Jane geben ihm die Möglichkeit, das drängende Gefühl der Schuld und Unzulänglichkeit abtragen zu können und zu mildern.

“Es war alles neu – die Gesellschaft, die Geräusche -, doch zugleich hatte er das Gefühl, als gehe es schon seit Langem so. Er war, dachte er – und die Erkenntnis erschütterte ihn -, glücklich.”

Auch die beiden Frauenfiguren werden von Amanda Coplin mit viel Wärme und Liebe gezeichnet, aber auch in all ihrer Zerrissenheit, in ihrer Orientierungslosigkeit, in ihrer Verzweiflung. Besonders die Lebensgeschichte von Della ist mir nahe gegangen; selten zuvor hat mich das Schicksal einer Romanfigur so im Innersten berühren können. An der Lebensgeschichte von Della wird deutlich, dass Erlebnisse in der Kindheit einen für immer prägen, aber auch zerstören, können. Caroline Middey, eine Ärztin, die mehrmals aus der Stadt anreist, um Talmadge zu unterstützen, fungiert als weise Stimme der Vernunft, die voller Ruhe und Gelassenheit Situationen bewertet und Ereignisse in die richtige Richtung lenkt.

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“Wer hat in dieser Gegend schon eine Kindheit?, sagte sie oft. Wenn man geboren werde, sei der Tod bereits im Zimmer, warte bereits auf einen.”

Die Geschichte, die Amanda Coplin erzählt fasst einen Zeitrahmen von mehreren Jahrzehnten ein: von der Mitte des 19. Jahrhundert an, bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts reicht die Erzählung, die sich auf die arme Bevölkerungsschicht von Amerika konzentriert, die darum bemüht ist, ihr Geld in der Landwirtschaft zu verdienen. Amanda Coplin erzählt eine herzergreifend Geschichte, bei der sie jedoch auf Kitsch und Sentimentalitäten verzichtet. Der Roman wird – ganz im Gegenteil – mit einer ungeheuer tiefen Kraft und einer außerordentlichen Ruhe erzählt.

“Im Licht von Apfelbäumen” ist ein Roman, der aus dem Leben von Menschen erzählt, die es nicht einfach haben. Von Menschen, die das, was sie erlebt haben, nicht mehr loslässt, die ein Leben führen, das bestimmt ist von dem, was ihnen widerfahren ist, deren Seelen Wunden tragen, die eitern statt zu heilen und die dennoch die Möglichkeit erhalten, ein ganz besonderes Gefühl zu entdecken: das Gefühl der gegenseitigen Liebe. Eine Liebe, die die Zeit überdauern kann. Amanda Coplin ist ein wunderbarer Roman gelungen, auf den letzten Seiten abgerundet durch ein großartiges Ende, das ich am Liebsten immer und immer wieder gelesen hätte.

Tolstoi und der lila Sessel – Nina Sankovitch

Nina Sankovitch wurde 1962 in Evaston als Tochter polnischer Einwanderer geboren und studierte Jura in Harvard. Von Oktober 2008 bis Oktober 2009 las die Ehefrau und Mutter von vier Söhnen täglich ein Buch und besprach es auf ihrem Blog. In “Tolstoi und der lila Sessel” erzählt Nina Sankovitch davon, wie diese Erfahrung ihr Leben verändert hat. Übersetzt wurde das Buch gemeinsam von Anke Carolin Burger und Susanne Höbel.

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“Ich habe überall nach Glück gesucht, aber ich habe es nirgends gefunden außer in einem Eckchen mit einem kleinen Büchlein.” – Thomas von Kempen

Im September 2008, während eines Urlaubs mit ihrem Mann in Long Island, fasst Nina Sankovitch einen Beschluss, der ihr Leben verändern sollte. Sie beschließt, ein Jahr lang jeden Tag ein Buch zu lesen. Ein Jahr lang jeden Tag ein Buch zu lesen, hört sich zunächst einmal anstrengend und stressig an und als würde so ein Leseprojekt die Gefahr bergen können, den Spaß am Lesen zu verlieren. Mit diesem Vorhaben verbunden ist jedoch erstaunlicherweise der Wunsch nach Ruhe und Erholung, der Wunsch danach, sich einfach einmal hinzusetzen und mit einem Buch andere Welten zu betreten. Drei Jahre zuvor ist ihre Schwester Anne-Marie gestorben. Zwischen der Diagnose Gallengangkrebs und ihrem plötzlichen Tod liegen nur wenige Monate. Statt sich der Trauer zu stellen und einen Weg zu finden, mit ihr umzugehen, verbringt Nina Sankovitch die nächsten Monate damit, “wie eine Wahnsinnige herumzurennen, mein Leben und das meiner ganzen Familie mit Aktivitäten und Plänen zu füllen.”

“Doch soviel ich auch in unser Leben hereinzwängte, sosehr ich mich abhetzte, der Trauer und dem Schmerz entkam ich nicht.”

Mit einer gehörigen Portion Humor und viel lockerer Leichtigkeit zeichnet Nina Sankovitch ihren Lebenslauf als begeisterte Leserin nach, die in allen Lebenslagen zu Büchern greift. Diese Liebe wird durch das Büchermobil bereits früh in ihrem Leben geweckt und in der Folge sind Bücher, die ihr Trost und Hoffnung spenden können, ein ständiger Begleiter durch ihr Leben. Drei Jahre nach dem schmerzhaften Verlust ihrer ältesten Schwester wendet sich Nina Sankovitch auf der Suche nach Antworten also fast zwangsläufig erneut der Literatur zu. Im Oktober 2008 beginnt sie mit ihrem Leseprojekt, bei dem sie sich zum Ziel setzt, jeden Tag ein Buch zu lesen. In den Büchern hofft sie Antworten zu finden auf ihre drängendsten Fragen: warum hat sie überlebt und wie soll sie ohne ihre Schwester weiterleben?

“Den Ausweg würde ich nur finden, wenn ich die Bücher ganz oben auf meine Prioritätenliste setzte. Es gibt immer Staub, der gewischt, und Wäsche, die zusammengelegt werden muss; immer muss Milch gekauft und Geschirr gespült werden. Doch ein Jahr lang würde mich nichts von alledem vom Lesen abhalten. Ich schenkte mir ein Jahr, in dem ich nicht rennen, nicht planen, nicht versorgen würde.”

Nina Sankovitch möchte nicht nur lesen, sondern auch über das Gelesene schreiben – sie tut das auf dem Blog, den sie dafür ins Leben ruft. Einen alten und stockfleckigen lila Sessel erklärt sie zu ihrem neuen Lesesessel, in dem sie in den kommenden 365 Tagen die ein oder andere Lesestunde verbringen möchte.

“Worte sind Zeugen des Lebens. Sie zeichnen auf, was geschehen ist, und lassen es lebendig werden. Worte erschaffen Geschichten, die in die große Geschichte eingehen und unvergesslich werden. Auch Romane bilden die Realität ab – gute Romane sind Wahrheit. Erzählungen von erinnertem Leben helfen uns, zurückzuschauen und weiterzugehen.”

In “Tolstoi und der lila Sessel” erzählt Nina Sankovitch von ihrem ungewöhnlichen Leseprojekt (das sie selbst als Jahr des magischen Lesens bezeichnet), von dem Verlust ihrer Schwester, von ihrer eigenen Biographie als Leserin und von den Erinnerungen an ihre Eltern und Großeltern. Sie erzählt aber auch von den gelesenen Büchern, in denen sie Anteilnahme und Orientierung findet, in denen sie Trost findet und Hoffnung darauf, dass ein glückliches Leben ohne den Verstorbenen möglich sein kann. In den Büchern, die sie liest, findet sie Anleitung für ihr eigenes Leben. Sie ist auf der Suche nach Antworten darauf, wie man mit einem schmerzhaften Verlust umgehen kann, wie man Erinnerungen am Leben erhält, ohne an ihnen zu ersticken und wie man gleichzeitig nach vorne und zurück blicken kann. Fragen nach Erinnerung und Trauer – aber auch nach Liebe und dem gemeinsamen Leben als Paar – werden Nina Sankovitch in Büchern beantwortet.

“Mein Pfad in die Zukunft lag deutlich vor mir: Es war ein Pfad, der von Worten erleuchtet war, die sich zu Sätzen und Absätzen, Kapiteln und Büchern verbanden. Mein Pfad war mit Büchern gepflastert.”

“Tolstoi und der lila Sessel” erzählt eine herzergreifende Geschichte und ist angefüllt mit so vielen literarischen Reflexionen und Zitaten, dass bibliophile Herzen bei diesem Buch höher schlagen müssen. Lesen als Lebenshilfe ist ein Gedanke, mit dem ich mich identifizieren kann. Auch für mich können Bücher gleichzeitig meine besten Freunde, Ratgeber und Seelentröster sein. Als Leser wird man Teil einer wunderbaren Reise quer durch die Literatur, die bei Nina Sankovitch ein Spektrum umfasst, das anspruchsvolle Bücher einschließt, aber auch triviale Kriminalliteratur, die die Autorin verspeist, als wäre es lebensrettende Schokolade. Die Leseliste, mit der das Buch auf den letzten Seiten abschließt, ist für mich eine Quelle der Inspiration und Neuentdeckung, genauso wie die bibliophilen Zitate, die jedem Kapitel vorangestellt sind.

“So viele Bücher warten noch darauf, gelesen zu werden, so viel Glück will noch gefunden werden, so viel zum Staunen will entdeckt werden.”

Nina Sankovitch hat ein Buch für Leseratten geschrieben, die ihre Bücher nicht nur im Regal stehen haben, sondern auch in ihrem Herzen. “Tolstoi und der lila Sessel” ist eine berührende und inspirierende Lektüre über das Glück des Lesens und über all das, was wir in Büchern finden und entdecken können …

Nina Sankovitch: Tolstoi und der lila Sessel. Roman. Graf Verlag, München 2012, 288 Seiten, € 16,99.

Eine kurze Geschichte vom Sterben – Linda Benedikt

Linda Benedikt wurde 1972 in Mündchen geboren. Nach einem Politikstudium arbeitete sie viele Jahre lang als freie Journalistin. Seit 2010 steht sie mit einem politischen Musikkaberett auf der Bühne. Die Autorin lebt derzeit in München und veröffentlichte zuletzt einen Essay über Israel. “Eine kurze Geschichte vom Sterben” ist ihr neuester Roman, er erschien im vergangenen Literaturherbst.

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“Du wirst viel mehr als weg sein, du wirst immer da sein und ich werde mit deiner anwesenden Abwesenheit nichts anzufangen wissen.”

“Eine kurze Geschichte vom Sterben” wird im Klappentext als Prosa beschrieben, doch sind diese erschütternden 126 Seiten wirklich fiktive Prosa oder vom autobiographischen Erleben geprägt? Im Buch selbst finde ich für eine Antwort auf diese Frage keinerlei Informationen. Doch ob Linda Benedikt die Trauer um die eigene Mutter beschreibt oder eine rein fiktive Erzählung geschrieben hat, nimmt diesem Werk nichts von seiner Kraft. Die Lektüre war für mich wie ein Schlag in den Bauch. Rumms. Da lag ich, nach Luft schnappend und um Atem ringend. Trauer ist immer schwierig und der Tod ist etwas, mit dem wir uns lieber nicht beschäftigen wollen, aber er ist da und kann immer und jederzeit zuschlagen.

“Ich sitze seit vier Stunden an deinem Bett und schaue zu, wie du stirbst. Stündlich ein bisschen mehr. Aber nicht genug, um dich endlich selbst aus dem Leben zu entlassen.”

“Eine kurze Geschichte vom Sterben” ist eine Geschichte eines langsam voran schleichenden Sterbens. Die Beschreibung eines Prozesses mit tödlichem Ausgang. Linda Benedikt beschreibt sieben Tage. Die Kapitelreihenfolge ist umgekehrt, beginnt bei Kapitel sieben und endet an dem Tag, an dem alles vorbei ist. Die gerade einmal 126 Seiten schmale Erzählung wird aus der Ich-Perspektive erzählt. Es ist das Ich einer trauernden Tochter, die aus London zu ihrer Mutter reist, um sie in den Tod zu begleiten. Die Krankheit hat einen Zustand erreicht, an dem an ein Überleben nicht mehr zu denken ist – es geht lediglich darum, wie lange das Sterben dauert.

“Dein Körper wirkt klein und schmächtig, wie krankgeschrumpft. Als ich dich das letzte Mal sah, konntest du lachen, gehen, stehen und reden. Und irgendwie warst du größer.”

Für die Tochter ist die Begegnung mit der Mutter ein Schock, mit der Mutter, die eigentlich noch jung ist, doch plötzlich knochige Gesichtszüge hat. Ihre starke Mutter ist plötzlich klein, schwach und abhängig. Gespräche mit ihr sind kaum noch möglich. Wenn sie durch die dicke Nebelwand der Schmerzmedikation in ein Gespräch finden, ist die Tochter erschüttert davon, dass die Mutter immer noch daran glaubt, zu überleben. Wie sagt man der eigenen Mutter, dass sie sterben wird?

“Schließlich ist es der Teil eines größeren Plans, den wir beide nicht beeinflussen können: Eine Mutter zieht ihre Kinder auf, und diese wiederum geleiten sie in den Tod.”

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Die Tochter erlebt am Sterbebett ihrer Mutter ein Wechselbad der Gefühle. Sie klammert sich an sie, in dem Wunsch sie nicht verlieren zu müssen. Hofft darauf, dass ihnen beiden noch mehr gemeinsame Tage geschenkt werden. Gleichzeitig wünscht sie sich eine Erlösung für ihre Mutter herbei, ein nahes Ende dieses schmerzhaften Prozesses. Ein Wunsch, an dem man beinahe ersticken kann, so schrecklich fühlt es sich an, der eigenen Mutter den Tod zu wünschen.

“Aber so einfach ist es nicht. Denn dein Tod sagt mir nichts. Wird mir nicht hinterlassen. Du wirst einfach weg sein. Mich allein lassen. Du wirst nicht mehr da sein, wenn ich mit dir reden will. Du wirst mir nicht mehr zuhören, wenn ich dich anklagen will, sodass es eine Klage allein gegen mich selber sein wird. Wenn ich weine, muss ich mich künftig selber trösten. Und wenn ich lache, wirst du es nicht hören. Wirst nicht mehr fragen nach dem Warum.”

Der Tod und das Sterben sind Bereiche, die aus unserem alltäglichen Leben gerne weggedacht werden. Vielleicht sind sie zu schmerzhaft, um ihre Anwesenheit täglich spüren zu können. Linda Benedikt ist es in ihrer kurzen Geschichte vom Sterben gelungen, Worte für etwas zu finden, über das ansonsten lieber geschwiegen wird. Sie verschweigt nichts und beschönigt keines ihrer Gefühle. Sie beschreibt ihren Schmerz und ihre Trauer, aber auch ihre Wut und die immer wieder kehrende Langeweile, die sie im Sterbezimmer ihrer Mutter empfindet. Die eigene Mutter stirbt und ja, die Tochter ist fast schon ungeduldig … irgendwie dauert ihr das alles zu lange. Es gibt weder Kitsch noch Pathos, kein Schmuckwerk. Lediglich die nackten Gefühle, die traurigen aber auch die unschönen und dreckigen Gefühle, die, die man im Nachhinein lieber verschweigt.

“Eine kurze Geschichte vom Sterben” ist eine eindrucksvolle Erzählung über Trauer in all ihren Facetten. Trauer ist etwas, das wohl jeder anders empfindet. Linda Benedikt schreibt über eine Tochter, die den Tod ihrer Mutter mit ganz viel Wut betrachtet, aber auch mit bodenloser Traurigkeit. “Eine kurze Geschichte vom Sterben” ist eine beeindruckende und lesenswerte Erzählung.

Nie mehr Nacht – Mirko Bonné

g-Bonne-Mirco-Nie-mehr-NachtMirko Bonné wurde 1965 in Tegernsee geboren und lebt heutzutage in Hamburg. In der Öffentlichkeit bekannt wurde er nicht nur durch seine schriftstellerischen Veröffentlichungen, sondern auch durch sein Werk als Übersetzer. Bisher hat er unter anderem Texte von Sherwood Anderson, E. E. Cummings und Emily Dickinson übertragen, der Autor und Übersetzer schreibt auch selbst Gedichte, Für seine Veröffentlichungen wurde Mirko Bonné bereits mehrfach ausgezeichnet. Mit seinem aktuellen Roman “Nie mehr Nacht”, der bei Schöffling & Co. erschienen ist, steht er auf der Shortlist des Deutschen Buchpreis.

In “Nie mehr Nacht” erzählt Mirko Bonné die Geschichte von Markus Lee und seinem fünfzehnjährigen Neffen Jesse. Beide werden verbunden durch den Verlust eines geliebten Menschen: Ira. Sie hat sich das Leben genommen. In ihrem Auto, in der Garage vor ihrem Haus. Ira war die Schwester von Markus und die Mutter von Jesse. Was Onkel und Neffe nun zusammenhält sind die Erinnerungen an eine geliebte Bezugsperson und ein Verlust, der sich nur schwer in Worte fassen lässt. In den Herbstferien reisen beide gemeinsam in die Normandie: Markus soll im Auftrag eines Kunstmagazins Brücken zeichnen, die bei der Landung der Alliierten im Sommer 1944 eine entscheidende Rolle gespielt haben. Jesse kommt mit, da die Familie seines besten Freundes in der Nähe ein verlassenes Strandhotel hütet. Die Reise ist geprägt von dem, was geschehen ist, Iras Selbstmord liegt einem Schatten gleich über Markus und Jesse, deren gemeinsame Zeit vor allem durch eine tiefgreifende Sprachlosigkeit geprägt ist. Wie soll man auch über einen so schweren Verlust sprechen? Wie kann man sich in seiner Trauer verständlich machen und mitteilen?

“Ich glaubte keinen Augenblick lang, je über Iras Tod hinwegkommen zu können, und wollte es auch gar nicht.”

Im verlassenen Strandhotel L’Angleterre, in dem auch ein Zimmer für Markus frei steht, entsteht eine ganz besondere Atmosphäre – es ist vor allem Melancholie und Traurigkeit, entfacht von den leerstehenden Räumen und der verwunschenen Stimmung, die sich wie eine dicke Schicht um Markus legt. Ein Aufenthalt, der eigentlich eine Woche dauern soll, wird für Markus Lee zum Wendepunkt und zu einem Start in ein neues Leben. Aus den Herbstferien wird ein monatelanger Ausstieg aus dem alten Leben. Dieser Ausstieg und die gleichzeitige Abgrenzung von allem, was vorher war, ist vor allem auch eine Suche nach sich selbst und eine Suche nach Antworten. Antworten auf Fragen, die Markus Lee nach dem Tod seiner Schwester, nicht mehr loslassen: wie kann man das jahrelange Leben mit einem tiefgreifenden Geheimnis unbeschadet überstehen und wie kann man sich, wenn man alleine zurück bleibt, von diesem Geheimnis lösen, um weiterleben zu können?

Mirko Bonné umkreist in seinem Roman “Nie mehr Nacht” mehrere Themen: da ist zum einen Ira, die plötzlich aus dem Leben scheidet. Ira war immer anders. Während Markus gesellig ist und noch nie alleine gelebt hat, sucht Ira die Einsamkeit. Zehn Jahre lang reist die junge Frau durch die Welt, ohne eine Heimat finden zu können. Geprägt wurde ihr Alltag von Angst; ihr Haus bezeichnet sie als “Versteinerungszustand”. Ihre ewige Angst vor der dunklen Nacht hat Ira ausgelöscht, in dem sie in eben jene gegangen ist. Für immer. Geahnt, dass seine Schwester ihr eigenes Leben beenden könnte, hat Markus dennoch nicht. Wie schuldig kann man an dem Selbstmord eines anderen Menschen sein? Wie schuldig kann man daran sein, den Augenblick nicht erkannt zu haben?

“Wie den Augenblick, da das Blatt sich wendete, wie den Moment erkennen? War man denn in der Lage, einen Augenblick zu erkennen? Das hieße doch, sich auf den Zeitpunkt gefasst zu machen, da nichts mehr blieb, wie es eben noch war.”

Aber auch die Vergangenheit wird thematisiert: die Brücken in der Normandie stehen teilweise noch heute für das, was im Juni 1944 passiert ist, als die alliierten Streitkräfte in der Normandie gelandet sind. An den Brücken entzündeten sich die damaligen Begegnungen zwischen den Deutschen, den Kanadiern, den Briten und den Franzosen.

“Ich weiß nicht genau, wie viele es waren, aber es müssen Zigtausende gewesen sein, die ihr Leben gelassen haben, um eine dieser uralten Stahlkonstruktionen entweder halten, sprengen oder erstürmen zu können […].”

Markus Lee reist in die Normandie, um diese Brücken zu zeichnen, um etwas von ihrer Präsenz einzufangen, in dem Versuch abzubilden, was damals für ein Kampf an den Brücken getobt hat – heutzutage verbinden sie als ruhende Stahlkolosse zwei Ufer miteinander, damals ging es für die Soldaten um den Kampf um Leben und Tod. Doch als Markus die Brücken besichtigt, gelingt es ihm nicht, seine Eindrücke auch auf Papier zu bringen.

“Eine Zeichnung entstand, während ich das Gesehene in Bewegung übertrug. Was mich bewegte, ließ meine Hand den Stift übers Papier führen. Oder nichts entstand. Dann lag die Hand nur da, so regungslos auf dem Zeichenblock, wie ich im Innern fühllos blieb.”

Die Reise in die Normandie scheint für Markus,  dem Erzähler des Romans, auch eine Art Reise zu sich selbst zu sein, denn plötzlich ist er mit sich konfrontiert und mit seinem Leben. Mit seiner Einsamkeit, mit seiner Trägheit und mangelnden Zielstrebigkeit, mit dem Verlust seiner geliebte Schwester. In der Normandie kehrt Ira zurück, in Gestalt eines Fotos, das Markus in einem Geschäft in der Innenstadt sieht und auf dem er glaubt, seine tote Schwester zu erkennen. Sein ganzes Denken kreist um die Frage, warum Ira ein Doppelleben in Frankreich hätte führen sollen – doch ist das wirklich Ira oder nur ein Hirngespinst und der Wunsch, nicht ohne sie weiterleben zu müssen. Es ist die falsche Ira, die Markus wieder zurückholt unter die Lebenden. Mirko Bonné zeichnet den Weg von Markus in aller Konsequenz zu Ende; er lässt ihn zum Aussteiger werden, der sich aus seinem alten Leben verabschiedet und mit dem Nötigsten und auf sich selbst zurückgeworfen in einem leerstehenden Hotel zurückbleibt.

“Jede Zeichnung erzählt eine komplizierte Geschichte, in dem sie extrem vereinfacht, dachte ich. Aber die Vereinfachung ist nur ein Durchgangsstadium. Sie muss viel weiter gehen, immer weiter. Nicht nur was und wie ich zeichne, auch ich selber muss immer einfacher werden. Zeichne auf immer weniger Blättern immer weniger Linien. Werde unscheinbarer, Strich für Strich. Ja genau: Zeichne dich ins Verschwinden hinein!”

Das Thema des Romans, das über allen anderen schwebt – unsichtbar und doch zum Greifen nah – wird immer wieder angedeutet, es gibt zahlreiche Hinweise und Anspielungen. Am Ende wird es noch einmal deutlich ausgesprochen. Diese Enthüllung gleicht einem fulminanten Paukenschlag, einem Paukenschlag, der für mein Empfinden nicht nötig gewesen wäre, da er den Roman auf die Enthüllung reduziert und ihm damit ein Stück weit seiner Ernsthaftigkeit beraubt.

Mirko Bonné hat mit “Nie mehr Nacht” einen wunderbar poetischen und tief melancholischen Roman geschrieben, der eine Vielzahl an Themenkomplexe umkreist,  die mich auch nach dem Ende des Romans lange nicht loslassen wollten. “Nie mehr Nacht” ist ein Roman über Einsamkeit, Trauer und Schuldgefühle und über den Wunsch, noch einmal neu anfangen zu dürfen.

Der Regen in deinem Zimmer – Paola Predicatori

Paola Predicatori wurde in Senigallia geboren und lebt und arbeitet heutzutage als Buchhändlerin in Mailand. “Der Regen in deinem Zimmer” ist ihr Debütroman und wurde von Verena von Koskull ins Deutsche übersetzt.

“Als meine Mutter erfuhr, sie habe Nierenkrebs, war die jähe Angst wieder da: Sie drückte mir die Luft ab, schoss mir ins Blut und zerriss mir das Herz. Meine Mutter war siebenunddreißig und hieß Anna. Zwei Jahre später war sie tot.”

“Der Regen in deinem Zimmer” erzählt die Geschichte von Alessandra, die sechzehn Jahre alt ist, als sie erfährt, dass ihre Mutter an Krebs erkrankt ist. Alessandra wächst in einer Familie auf, die von Frauenfiguren geprägt ist: sie lebt zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter. Einen Vater gab es nie und der Großvater starb, als Alessandra noch klein gewesen ist. Zwei Jahre später stirbt Alessandras Mutter, die lange gekämpft hat, obwohl die Ärzte ihr kaum eine Überlebenschance gegeben haben. Zwei Jahre lang lebt Alessandra ein Leben an der Seite ihrer todkranken Mutter, das schon lange nichts mehr mit dem Leben eines normalen Jugendlichen zu tun hat.

“Die beiden folgenden Jahre verbrachte ich wie unter einem Schatten. Klausuren, Prüfungen, Samstagabende in der Disco, Schwimmbad, Stadtbummel, aber in allem, was ich tat, war meine sterbende Mutter. Ihr Tod war überall: im Rucksack zwischen den Schulbüchern, in den rosig klaren Frühlingsabenden, aber vor allem in ihrem mutlosen, wissenden Blick.”

Alessandra ist die Erzählerin des Romans, sie erzählt von der Zeit nach dem Tod ihrer Mutter, von ihrem neuen Leben, das sie nun mit der Großmutter alleine verbringen muss, immer mit der Angst verbunden, irgendwann nicht mehr zu zweit zu sein, sondern alleine zurückzubleiben. Das junge Mädchen erzählt aber auch von ihrer Rückkehr in den Alltag und in die Schule, in die sie als neuer Mensch zurückkehrt, denn der Verlust der Mutter hat sie geprägt.

“Der Tod meiner Mutter hat mich zu einem Riesen gemacht: Von hier oben erscheinen alle Menschen bedeutungslos und völlig gleich.”

All das, was ihr zuvor etwas bedeutet hat, erscheint nun fremd. Die ehemals besten Freundinnen wirken mittlerweile nur noch abgehoben, ihr Verhalten aufgesetzt und übertrieben. Oder ist es Alessandra, die sich verändert hat? Nichts ist mehr so, wie es vorher gewesen ist. Als sie nach dem Tod der Mutter in die Schule zurückkehrt, setzt sie sich nicht neben ihre beste Freudnin Sonia, sondern neben Gabriele, der von allen nur Zero genannt wird. “Der Regen in deinem Zimmer” ist nicht nur die Verarbeitung eines Todes, sondern beschreibt auch das sanfte und vorsichtige Erblühen einer neuen Liebe. Zero und Alessandra, beide brauchen lange, um ihre Zuneigung füreinander zu entdecken und als es endlich so weit ist, ist es schon fast zu spät.

Gabriele ist ein schwieriger Schüler, sehr viel älter als die anderen, aus komplizierten Verhältnissen. Er fehlt häufiger, als dass er da ist und wenn er da ist, dann zeichnet er. Worte hat er nur wenige übrig, weder für die Lehrer, noch für Alessandra, seine neue Banknachbarin. Der Schulalltag an ihrem neuen Platz erscheint dem Mädchen wie ein Aufenthalt in einem neuen Land, in Zerolandia.

“Deshalb liebe ich Zerolandia. Die einzige Regel, die es zu respektieren gilt, ist eisernes Schweigen. Will man sich verständlich machen, dann nur mit Zeichensprache oder dem Morsealphabet. Jede Nachricht, jeder Laut aus dem Rest der Welt bricht sich an den Landesgrenzen und erreicht einen wie ein Windstoß, der über Ödland geht.”

Die kurzen Kapitel tragen jeweils ein Datum als Überschrift: Alessandra erzählt von einem Zeitraum, der beinahe 10 Monate umfasst. Die Einträge reichen vom 27. September bis zum 27. Juni. Unterbrochen werden sie von Erinnerungen an die geliebte Mutter, die nun nicht mehr da ist, um Alessandra zu unterstützen, ihr zuzuhören oder einfach nur da zu sein.

“Jetzt, wo du nicht mehr da bist, erscheint alles, was ich früher gemacht habe, völlig sinnentleert, wie eine auswendig gelernte Rolle, die keine Improvisation mehr zulässt.”

Paola Predicatori gelingt es, sich mit sehr viel Sensibilität und Feingefühl in die Gedankenwelt ihrer Hauptfigur hineinzuversetzen. Die kurzen Kapitel erinnern an Tagebucheinträge oder auch an Briefe, die das junge Mädchen an ihre verstorbene Mutter geschrieben haben könnte . Eine Interpretation bleibt in diesem Fall dem Leser überlassen. Alessandra und Gabriele sind zwei Menschen, die auf den ersten Blick so unterschiedlich erscheinen, die aber viel mehr verbindet, als sie eigentlich ahnen: beide sind einsam. Gabriele ist in der Schule schon lange ein Außenseiter und hat sich in dieser Rolle eingerichtet. Alessandra macht sich nach dem Tod ihrer Mutter selbst zur Außenseiterin und zieht sich zurück. Für das Mädchen ist dies die einzige Möglichkeit, mit dem Tod ihrer Mutter umzugehen.

“Jetzt habe ich begriffen: es stimmt nicht, dass Tote nichts mehr brauchen. Das Schreckliche ist nicht, einen geliebten Menschen zu verlieren, sondern nicht mehr von ihm zu sprechen.”

“Der Regen in deinem Zimmer” ist ein einfühlsamer und ruhiger Roman, über den Tod, das Leben und die Liebe. Paola Predicatori gelingt es, trotz der traurigen Thematik, ihren Roman mit einem Hoffnungsschimmer abzuschließen. Mit der Hoffnung darauf, dass es möglich ist, einen schmerzlichen Verlust zu überwinden, auch wenn man den Menschen, den man verloren hat, nie vergessen wird. Ein wunderbarer Roman, der dazu anregt, über das Leben nachzudenken und über das, was einem wichtig ist. Ich habe ihn mit Tränen in den Augen zugeklappt und mich zugleich getröstet gefühlt.

Aus der Zeit fallen – David Grossman

David Grossman wurde 1954 in Jerusalem geboren und gehört heutzutage zu den wichtigsten israelischen Schriftstellern. 2010 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Zuletzt erschienen von ihm 2009 der Roman “Eine Frau flieht vor einer Nachricht” und im vergangenen Jahr “Die Umarmung”. “Aus der Zeit fallen” ist sein neuester Roman.

“Wir sind hier und er ist dort, grenzewig zwischen hier und dort.”

“Aus der Zeit fallen” ist ein ungewöhnliches Buch. Ich habe bis zu diesem Zeitpunkt nichts Vergleichbares gelesen. Bereits das Buchcover hat mich in seinen Bann gezogen. Wenn ich das Cover betrachte, blicke ich auf ein scheinbar ruhiges Bild, als würde ich in der Sonne sitzen und den Schatten der Bäume betrachten. Doch nach kurzer Zeit fällt ein kleiner Fleck ins Auge: vielleicht ein Loch, eine Lücke, eine Leerstelle, die die Harmonie durchbricht.  Als ich dann das Buch aufklappe, habe ich das Gefühl, mich in einer antiken Tragödie zu befinden: der Text ist nicht in herkömmlicher Prosa verfasst, sondern in Versen. Es gibt sogar einen Chor. In seinem Aufbau erinnert der Text an ein Klagelied, an eine Totenklage.

Der Tod ist das zentrale Thema von David Grossmans Roman “Aus der Zeit fallen”. Es geht um den Tod von Kindern und die Trauer der zurückbleibenden Eltern. Es geht darum, was der Tod eines Kindes mit einer Mutter oder einem Vater anstellen kann, wie er von einer Minute auf die andere die Beziehung der Eltern zueinander, aber auch zu ihrer Umwelt verändert. Die Geschichte wird von zwei Erzählstimmen getragen, dem Zentaur und dem Chronisten der Stadt, die beide fast durchgängig in Prosa sprechen. Alle anderen Rollen sprechen in Versen, in abgehackten Sätzen, die jedoch nach mehrmaligen – auch lauten – Lesen eine wunderschöne Sprachmelodie entfalten können.

Gemeinsam haben die unterschiedlichen Figuren im Roman, dass sie alle ihr Kind verloren haben. Ihre “Hölle” dokumentiert der Chronist der Stadt, der jedoch nicht nur Beobachter ist, sondern auch selbst betroffen, denn auch er betrauert den Verlust eines Kindes. Zunächst lernen wir einen Mann und eine Frau kennen. Beide bleiben namenlos, unterhalten sich in der Küche, sprechen jedoch eigentlich aneinander vorbei und nicht mehr miteinander. Sie wirken verbindungslos, als hätte jemand den Faden zwischen ihnen zerschnitten. Doch es gibt da etwas, das sie immer noch zusammenhält: ihr gemeinsames Kind, dessen Tod sie seit fünf Jahren betrauern.

“- Vielleicht wartet er, dass wir zu ihm kommen.

– Er nicht. Schon fünf Jahre lang immer nur: er nicht, er nicht.

– Vielleicht versteht er nicht, dass wir so leicht auf ihn verzichtet haben, so schnell, in dem Moment, als sie zu uns kamen und uns sagen …

– Schau mich an. Schau in meine Augen. Was soll das? Was tust du uns hier an? Das bin ich, siehst du? Das sind wir. Wir beide. Das ist unser Haus. Unsre Küche. Komm, setz dich. Ich tu dir Suppe auf.”

Doch es gibt nicht nur den Mann und seine Frau, es gibt auch noch den Herzog, die Fischnetzflickerin, die Hebamme, den Schuster. Sie alle haben ein Kind verloren, sie alle erheben in “Aus der Zeit fallen” ihre Stimme, um ihren Verlust zu betrauern. “Aus der Zeit fallen” ist nur 120 Seiten schmal, doch diese Stimmen entfalten auf den wenigen Seiten eine so unheimlich intensive und berührende Klage der Trauer und des Schmerzes, dass man sich dem als Leser kaum entziehen kann.

Auf dem Buchrücken erfahre ich, dass David Grossman seinen eigenen Sohn verloren hat. Uri Grossman fiel 2006 im Krieg im Südlibanon, getroffen von einer Panzerabwehrrakete. David Grossman beschreibt die Zeit nach dem Tod seines Sohnes als Exil. Der Trauernde geht ins Exil und lebt dort in einem “Land der Verdammung”. In seinem Roman wollte David Grossman dieses Land sprachlich erfassen, Worte finden für ein Leid, für das es eigentlich keine Wort gibt.

Eine der Stimmen in “Aus der Zeit fallen” setzt das “Land der Verdammung” mit dem Verlust des “einfach so gleich. Nach dem Verlust deines Kindes, ist es kaum mehr möglich, Dinge einfach so zu tun. Einfach so zu leben. Alles wird durchtränkt mit Schmerz, Trauer, Wut und Erinnerungen.

“Nicht ihn beweinen wir in diesem Augenblick – die Melodie des früheren Lebens beweinen wir, das ‘einfach so’, die Leichtigkeit, die Gesichter, noch glatt, ohne Falten.’

Die Frau fragt sich, ob sie je noch einmal ihren Mann erleben wird, wie er ohne das Nichtsein des Sohnes gewesen ist. Die einstmalige Identität und Existenz scheint nach dem Tod des Sohnes wie zugemauert, ein fremdes Land, in den es keinen Weg zurück gibt. Der Tod des Kindes ist eingebrannt, förmlich eingegrämt. Die Frau des Chronisten beschreibt sich selbst als entlebter Mensch, der weiterlebt, doch entseelt ist.

“Wie mit einer spitzen Schere wurde ich ausgeschnitten aus dem Bild meines Lebens. Eis der Einsamkeit, Mutterseeleneinsamkeit, Eis des Nichts brennt sich in meine Glieder […].”

Hilflos stehe ich manchen Sätzen gegenüber, unfähig das Leid eines Vaters begreifen zu können, der nach dem Tod seines Sohnes weniger ich, weniger Mensch ist. Mein Hals schnürt sich zu, als die verwaisten Väter und Mütter wie ein klagender Chor beginnen Fragen zu stellen. Fragen, wie sie Kinder stellen würden. Fragen, die in unserer heutigen hektischen Gesellschaft kaum mehr ihren Platz haben und die doch wahrscheinlich jeden bedrücken und umtreiben: “Im Grunde wollt ich dich fragen: Wie ist das, meine Kleine, wenn man stirbt. Wie geht’s dir dort? Wer bist du dort?” Mein Herz zieht sich zusammen, wenn ich Sätze lese, wie diesen: “Wenn sie – dort, wo du heute bist – wenn sie dir erlauben würden, wenn sie dich wählen ließen: Kämst du zurück? Hierher zurück? Zu mir?”

“Aus der Zeit fallen” besticht durch eine Sprachmacht, eine Sprachgewalt, die gewaltige Bilder und Metaphern formt. Am stärksten berühren mich die Stimmen der Trauernden jedoch in Momenten, die so simpel und gleichzeitig so unendlich bedrückend erscheinen: “Er starb im August, und als das Ende dieses Monats kam, dacht ich die ganze Zeit, wie kann ich weitergehn in den September, und er bleibt im August zurück?”

An dieser Stelle muss ich auch endlich die herausragende Arbeit der Übersetzerin Anne Birkenhauer erwähnen, die den Roman mit einem lesenswerten Nachwort abschließt. Ihre Arbeit an diesem Text ist bewundernswert. Sie hat wunderschöne Sätze geschaffen, verwebt die Satzbruchstücke der Trauernden in ein endloses Klagelied. Ihre Übersetzung ist poetisch und lyrisch und immer wieder stoße ich auf Wörter, die mich stolpern lassen, die ich in den Mund nehme und hin und her schiebe, immer wieder ausspreche und mich schließlich an ihnen erfreue, weil sie sich so passend anfühlen: grenzewig, ausgewurzelt, erinnerungsamputiert.

“Aus der Zeit fallen” umfasst lediglich 120 Seiten und doch hat es mich unfassbar tief berührt und tief im Inneren getroffen. David Grossman nimmt seinen Leser an die Hand und geht mit ihm zusammen in das Land der Verdammung, in ein Exil der Traurigkeit. Er lässt viele unterschiedliche Stimmen sprechen, die doch alle etwas ähnliches sagen: sie sprechen von der unendlichen Traurigkeit über den Verlust des eigenen Kindes.  Für mich ist dieses schmale und ungewöhnliche Buch, das sich jeder Einordnung und Kategorisierung verweigert, ein ganz besonderes Leseerlebnis gewesen. Schrecklich schmerzhaft und doch so lesenswert.

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