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Autobiographie

Vielleicht solltest du mal mit jemandem darüber reden – Lori Gottlieb

Lori Gottlieb hat mit Vielleicht solltest du mal mit jemandem darüber reden ein lesenswertes Buch geschrieben, in dem sie nicht nur von ihrer eigenen Arbeit als Therapeutin erzählt, sondern auch von ihren Erfahrungen als therapeutische Patientin – entstanden ist dabei ein wichtiges und kluges Buch, das ich euch gerne allen ans Herz legen möchte!

“Therapie ist wie Pornographie. Beides setzt eine gewisse Art von Nacktheit voraus. Beides kann großen Nervenkitzel auslösen. Und beides wird von Millionen Menschen in Anspruch genommen, die meisten behalten es jedoch lieber für sich.”

Bis Lori Gottlieb irgendwann Therapeutin wurde, ist einiges an Zeit vergangen, weil sie erst einmal ein paar Jahre gebraucht hat, um herauszufinden, was sie eigentlich im Leben machen möchte. Welche Arbeit macht mich glücklich? Welche Tätigkeit erfüllt mich? Ich war ein bisschen überrascht, als ich las, dass sie es zuerst im Fernsehen versuchte: sie arbeitete als Entwicklerin von so bekannten Serien wie Friends oder Emergency Room, später begann sie dann noch einmal zu studieren – irgendwann entschied sie sich schließlich dazu, als Therapeutin zu arbeiten.

Es ist spannend, was Lori Gottlieb über ihre Arbeit als Therapeutin schreibt: Wie können Therapeut*innen ihren Patient*innen überhaupt helfen? Wie behält man während einer Sitzung die Zeit im Auge? Und wie verhält man sich, wenn man Patient*innen überraschend außerhalb der Praxis trifft?

“Selbstverständlich schlagen Therapeuten sich genauso mit den täglichen Herausforderungen des Lebens herum wie alle anderen Menschen auch. Und es ist eben die Vertrautheit mit diesen Schwierigkeiten, aus der die Bande erwachsen, die wir zu Fremden knüpfen, die uns ihre schwierigsten Geschichten und Geheimnisse anvertrauen.”

Lori Gottlieb erzählt auch von ihren Patient*innen: da gibt es John, der für das Fernsehen Serien schreibt und es einfach nicht schafft, während den Sitzungen sein Handy aus der Hand zu legen. Er ist immer unhöflich, gestresst und auf dem Sprung, irgendwann fängt er sogar damit an, sich sein Mittagessen in die therapeutische Praxis liefern zu lassen. Lori Gottlieb kratzt in ihren Erzählungen ganz langsam den Schutzpanzer ab, den John sich umgelegt hat und dringt hinter diese Fassade aus Stress und ständiger Ablenkung. Da gibt es Julie, die eigentlich noch jung ist und ihr ganzes Leben vor sich hat, aber dann schwer an Krebs erkrankt. Da gibt es Rita, die Anfang 70 ist und den Kontakt zu ihren erwachsenen Kindern verloren hat – sie hat Angst davor, einsam zu sein, wenn sie älter wird.

Doch das Besondere an diesem Buch ist, dass Lori Gottlieb nicht nur Therapeutin ist, sondern auch Patientin: gleich zu Beginn des Buches erfahren wir, dass ihr Freund sie und ihr Kind sitzen lässt. Obwohl sie so glücklich mit ihm war, serviert er sie mit der Begründung ab, dass er die nächsten Jahre zwar gerne mit ihr verbringen würde, aber nicht mit ihrem Kind. Weil für Lori Gottlieb deshalb eine Welt zusammenbricht, sucht sie sich in ihrem Kummer therapeutische Unterstützung und findet Wendell, der sie durch diese schwierige Zeit hindurch begleitet.

“Die Leute denken immer, man gehe in Therapie, um Erklärungen zu finden, zum Beispiel warum der Freund mich verlassen hat oder warum jemand eine Depression entwickelt hat. In Wirklichkeit geht es in der Therapie um Erfahrung, etwas Einzigartiges, das zwischen zwei Menschen entsteht, wenn sie sich über einen längeren Zeitraum einmal die Woche für eine Stunde sehen. Der Sinn dieser Erfahrung hat mir ermöglicht, auch anderswo Sinn zu finden.”

Was macht eine gute Therapie aus? Was lerne ich über mich selbst in einer Therapie? Das Buch umkreist auf die eine oder andere Art und Weise immer wieder diese beiden zentralen Fragen. Lori Gottlieb schreibt sehr mitreißend, sehr empathisch – sie ist nicht nur eine tolle Therapeutin, sondern auch eine tolle Erzählerin. Das Buch ist eine lesenswerte Mischung aus Erzählungen und Fakten, vielleicht lässt es sich am treffendsten als erzählendes Sachbuch beschreiben.

Ich finde Vielleicht solltest du mal mit jemandem darüber reden aber auch noch aus anderen Gründen wichtig: ich glaube, dass therapeutische Hilfe immer noch ein Tabuthema ist und damit leider etwas, über das in unserer Gesellschaft viel zu oft geschwiegen wird. Ich glaube, dass dieses Buch einen wichtigen Teil dazu beitragen kann, das Thema Psychotherapie zu entstigmatisieren. Sich therapeutische Hilfe zu suchen ist keine Schwäche, sondern eine Stärke – darüber offen zu reden, macht es allen Menschen leichter, die gerade noch darüber nachdenken, ob sie sich auch Hilfe suchen sollten.

Mein einziger kleiner Kritikpunkt an der Übersetzung des Buches ist – ich muss es einfach ansprechen – die konsequente Verwendung des generischen Maskulinums: es gibt im Buch nur Therapeuten und Patienten, das finde ich schade und ich hoffe, dass das irgendwann auch nicht mehr zeitgemäß ist.

Lori Gottlieb: Vielleicht solltest du mal mit jemandem darüber reden. Aus dem amerikanischen Englisch von Elisabeth Liebl. Hanserblau, München 2020. 25€, 526 Seiten. 

Das Vogelhaus – Eva Meijer

Ach, was für ein schönes Buch! Eva Meijer hat sich von der Lebensgeschichte von Len Howard inspirieren lassen, die einen Großteil ihres Lebens in einem kleinen Cottage im Süden von England verbrachte, um dort Vögel zu beobachten. Entstanden ist dabei eine faszinierende Mischung aus Fakten und Fiktion, und ein Buch, in das ich wunderbar abgetaucht bin!

“Verlust heißt begreifen, dass dir nichts je gehört hat. Trauer heißt begreifen, dass die Hoffnung dahin ist; oder vielleicht noch nicht ganz begreifen.”

Len Howard lebte von 1894 bis 1973 und war für ihren ungewöhnlichen Zugang zur Vogelbeobachtung bekannt. Sie war keine studierte Biologin, oder gar Vogelforscherin – doch die Geheimnisse der Vogelwelt waren der Lebensinhalt, der ihr am meisten am Herzen lag. Sie schrieb leidenschaftlich gerne Artikel für eine Vogelzeitschrift und ihre beiden Bücher Birds as Individuals und Living with Birds waren in der damaligen Zeit Bestseller. Heutzutage sind beide Bücher nur noch antiquarisch erhältlich und der Name Len Howard ist schon längst vergessen.

Es war ein Zufall, dass Eva Meijer über ihre Forschungen stolperte und den Entschluss fasste, dass das Leben dieser ungewöhnlichen Frau zu interessant ist, um es in Vergessenheit geraten zu lassen. Sie hat sich die wenigen Fakten, die aus dem Leben von Len Howard bekannt waren, genommen und sie mit fiktionalen Elementen ergänzt – abgerundet wird das Buch mit Kapiteleinschüben über die Vögel, mit denen Len Howard in ihrem Cottage lebte.

“Die Kohlmeisen haben unterschiedliche Warnrufe, ich habe bis jetzt drei identifiziert – einen für Menschen, einen für große Vögel aus der Luft, einen für Tiere am Boden. Es gibt bestimmt noch weitere, das Problem ist nur, dass die Rufe individuell riesengroße Variationen aufweisen. Darüber hinaus folgen die Töne so dicht aufeinander, dass mir immer so ist, als entgehe meinen Menschenohren etwas. Ich müsste mich intensiver einarbeiten, aber ich weiß nicht, wie ich das mit dem Geigenspiel vereinbaren soll.”

Len Howard war schon immer etwas anders, als die anderen Menschen. Als Kind faszinierten sie die Vögel, die sie im Garten ihrer Eltern fand und die von ihrem Vater manchmal aufgepäppelt wurden. Als Jugendliche verließ sie etwas überstützt ihre Familie, um in London professionell Geige zu spielen. Doch mit den Gedanken war sie fast immer in der Welt Vögel. Irgendwann fasste sie den Entschluss, London und ihre Geige hinter sich zu lassen und in ein abgelegenes Cottage in den Süden Englands zu ziehen. Dort entwickelte sie einen ganz neuen Blick auf die Natur, mit der sie so sehr verschmolz, dass die Vögel damit begannen, sich auch im Cottage zu Hause zu fühlen. Manchmal hatte ich beim Lesen schon fast den Eindruck, dass sie die Vögel gar nicht unbedingt erforschte oder untersuchte, sondern viel mehr mit ihnen zusammen lebte.

Len Howard kommt im Laufe dieser Zeit zu erstaunlichen Erkenntnissen, sie bringt ihren Vögeln zum Beispiel das Zählen bei. Als direkt neben ihrem Cottage das Gelände für einen Freizeitpark gebaut werden soll, ist sie aufgelöst, weil sie Angst hat, dass die Vögel vertrieben werden könnten. Die Baupläne für den Park werden gestoppt, aber am Ende ihres Lebens traut sie sich trotzdem irgendwann nur noch selten, Besuch zu sich einzuladen, weil sie befürchtet, dass Eindringlinge diese besondere Gemeinschaft zerstören könnten. Es ist kein Wunder, dass Len Howard von ihren Mitmenschen belächelt – oder auch seltsam beäugt – wird.

Ich erzähle ihr, dass ich Worte manchmal fürchte, weil sie Dinge einfangen, die man besser nicht einfangen sollte – es sei viel einfacher, mit der Geige zu sagen, was ich meine. Sie sagt, dass es nicht die Worte sein können, die mir Angst machen, denn die seien doch nur Hülsen, Träger von etwas anderem.

Ich mochte Das Vogelhaus sehr gerne – Eva Meijer erzählt die Lebensgeschichte von Len Howard ruhig, behutsam und mitfühlend, es ist nicht schwer diese ungewöhnliche Frau ins Herz zu schließen. Ich musste mich zwischendurch immer mal wieder daran erinnern, dass das hier keine Biographie ist, sondern eine Mischung aus Fakten und Fiktion – ich wünschte, wir würden heutzutage noch mehr über Len Howard wissen. Sie hat immerhin zwei Bestseller geschrieben und sie war ihrer Zeit schon damals weit voraus. Es war ihr wichtig, Vögel in ihrer natürlichen Umgebung zu beobachten, sie wollte keinen Abstand und keine Distanz, sie wollte mit ihnen zusammen leben, zusammen alt werden. Es ist deshalb auch besonders tragisch, dass dem Wunsch in ihrem Testament, ihr Cottage dem Sussex Naturalists Trust als Auffangstation zu vermachen, nicht nachgegangen wurde. Stattdessen wurde das Haus für viel Geld verkauft und die Bäume des Gartens abgeholzt.

Vielleicht hat mich das Buch auch so sehr beeindruckt, weil es so gut zu vielen Fragen unserer heutigen Zeit passt: Wie wollen wir mit der Natur umgehen? Wie wollen wir uns tierischen Lebenwesen und der Umwelt gegenüber verhalten? Ich glaube, ein Buch wie Das Vogelhaus kann dazu anregen, sich selbst Fragen zu stellen und vielleicht irgendwann sogar umzudenken. Ich wünsche dem Buch und der Lebensgeschichte dieser ganz besonderen Frau ganz viele begeisterte Leser*innen!

Eva Meijer: Das Vogelhaus. Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers. btb Verlag, München 2019. 305 Seiten, 11€.

Saturns Schatten. Die dunklen Welten der Depression – Andrew Solomon

Andrew Solomon hat mit Saturns Schatten ein umfangreiches und beeindruckendes Buch über Depressionen vorgelegt. Er mischt eigene Erfahrungen, mit Fallstudien, medizinischen Erklärungen und philosophischen Betrachtungen. Obwohl schon ein paar Jahre alt, hat es für mein Gefühl nichts von seiner Kraft, seiner Klugheit und seinem Wissen verloren.

Im depressiven Zustand liegt klar auf der Hand, dass jedes Unterfangen und jede Regung, ja das ganze Leben sinnlos ist. In dieser Lieblosigkeit empfindet man nur noch eines, nämlich dass absolut nichts von Bedeutung ist.

Andrew Solomon hat mit Saturns Schatten ein umfangreiches, manchmal fast schon erschlagendes, Werk über Depressionen vorgelegt. Es ist so dicht, so voll, so intensiv, dass ich mehrere Wochen brauchte, bis ich es durchgelesen hatte – aber als ich die letzte Seit zuklappte, hatte ich tatsächlich das Gefühl, viel gelernt und mitgenommen zu haben.

Der Autor schreibt aus einer persönlichen Betroffenheit heraus: als er Mitte zwanzig war, erkrankte er schwer an Depressionen. In den folgenden Jahren kam es zu mehreren Rückfällen – während der fünfjährigen Arbeit an diesem Buch erlebte er gleich zwei schwere depressive Episoden. Andrew Solomon schreibt ehrlich und ungeschönt über seine Erkrankung, aber auch über die Auswirkungen seiner Depression auf seine Angehörigen.

Danach ging es stetig mit mir bergab. Ich konnte immer schlechter arbeiten, sagte Einladungen ab, redete mir ein, nicht liebenswert zu sein und nie wieder eine Beziehung eingehen zu können, verspürte keinerlei sexuelle Bedürfnisse und aß auch nur noch unregelmäßig, da ich selten Appetit hatte. Meine Analytikerin schob das alles auf die Depression, doch ich konnte das Wort, ja, ihr ganzes Gerede, nicht mehr hören. Ich sei nicht verrückt, protestierte ich, befürchte aber, es zu werden.

Das Besondere an Saturns Schatten ist sicherlich der Stil: Andrew Solomon verwebt auf faszinierende Art und Weise seine eigene Geschichte mit Betrachtungen aus der Medizin, der Philosophie oder auch der Politik. Er blickt zurück in die Vergangenheit, beschäftigt sich mit unterschiedlichen Therapieansätzen, setzt sich mit der Pharmaindustrie auseinander und erzählt dabei immer aus seiner eigenen Perspektive heraus, aber auch aus dem Wissen heraus, das er sich in den fünf Jahren Arbeit an seinem Buch erarbeitet hat. Er hat fast tausend Interviews geführt – mit Ärzt*innen, aber auch mit vielen Patient*innen. Das liest sich alles nicht wie ein trockenes Sachbuch, sondern wie ein spannendes Stück Prosa.

Das Buch bietet keine einfache Zusammenfassung und keine leichten Lösungen, auch bietet es keine falschen Versprechen. Andrew Solomon widmet sich dieser Krankheit gänzlich ungeschönt und arbeitet sich einmal förmlich hindurch.

Manche Menschen leiden unter leichten Depressionen und sind völlig lebensunfähig, andere haben schwere Depressionen und können doch Beachtliches aus ihrem Leben machen. 

Was habe ich aus dem Buch gelernt? Jede Depression ist unterschiedlich – und Erkrankte können ganz unterschiedlich damit umgehen. Es gibt oft keinen einfachen Heilungsweg, denn auch Heilungswege sind unterschiedlich. Rückschläge sind kein Versagen. Während seiner fünf Jahre langen Arbeit an dem Buch, wurde Andrew Solomon immer wieder gefragt, warum er sich das antut: warum verschwendet er fünf Jahre seines Lebens, um über eine solch niederschmetternde Erkrankung zu schreiben? Der Ursprung des Buches liegt im Jahr 1998, da veröffentlichte er einen langen Essay über Depressionen in der New York Times – in den folgenden Wochen, Monaten und Jahren, schrieben ihm hunderte Menschen und erzählten ihm ihre Geschichten. Dieses Buch ist auch ein Denkmal für all diese Stimmen, die so viel zu erzählen haben und sonst nicht gehört werden.

Saturns Schatten ist eine große Empfehlung für alle, die selbst an Depressionen erkrankt sind aber auch für alle Freund*innen und Familienangehörige.

Andrew Solomon: Saturns Schatten. Die dunklen Welten der Depression. Aus dem Amerikanischen von Hans Günter Holl. 576 Seiten, 12,75€.


Weitere Buchempfehlungen rund um das Thema Depression:

Blinder Galerist – Johann König

Johann König ist gerade einmal siebenunddreißig Jahre alt und hat schon seine Memoiren veröffentlicht – und das vollkommen zu Recht. Gemeinsam mit Daniel Schreiber erzählt er von einem ungewöhnlichen Lebensweg: Blinder Galerist ist ein kluges, mutmachendes und sehr lehrreiches Buch.

Unsere Gesellschaft ist eine Gesellschaft der Sehenden. Alles um uns herum ist auf das Sehen aufgebaut. Das versteht man erst, wenn man nicht mehr oder schlecht sieht. Unser ganzes Leben hängt vom Sehen ab. In diesem Sinne sind Blindheit und Sehbehinderung – wie jede andere Behinderung auch – zunächst eine Kategorie sozialer Ungleichheit.

Johann König gehört zur Zeit zu den erfolgreichsten Galeristen – in Berlin betreibt er in der umgebauten St.-Agnes-Kirche in Kreuzberg seine KÖNIG GALERIE. Dort arbeitet er mit Künstler*innen wie Jeppe Hein, Alicja Kwade und Norbert Bisky zusammen. So viel Erfolg in so jungen Jahren im hart umkämpften Kunstgewerbe wäre wahrscheinlich schon erstaunlich genug, doch bei Johann König kommt hinzu, dass er sehbehindert ist. Er ist seit einem Unfall in seiner Kindheit nahezu komplett blind – ein blinder Galerist.

 Johann König wuchs in einer kunstbegeisterten Familie auf: sein Vater Kasper, ist Kunstprofessor und Kurator, sein Bruder Leo Kunsthändler und sein Onkel Walther Buchhändler – ihm gehört die bekannte Walther König Buchhandlung. In seiner Kindheit ist er umgeben von kunstschaffenden Menschen wie Andy Warhol, Isa Genzken oder On Kawara.

Natürlich ist es ein großes Geschenk, schon als Kind so viel gesehen, so viel Kunst erfahren, so viele spannende Leute kennengelernt und überhaupt so viel mitbekommen zu haben. Im Nachhinein verstehe ich, dass ich unheimliches Glück hatte, in so einer Umgebung aufzuwachsen – ein Privileg. Ich habe von Anfang an gelernt, dass Kunst so viel mehr als Sehen ist, dass sie das bloße Visuelle übersteigt. Die Bilder, die im Kopf entstehen, sind genauso wichtig wie die Bilder an der Wand und häufig sogar noch wichtiger als diese. Kunst erzeugt Unklarheiten, die Bedeutung eines Werks erschließt sich häufig erst durch den Zusammenhang. Wer mehr weiß, sieht auch mehr.

Als er zwölf Jahre alt ist, schließt er sich in der elterlichen Wohnung in seinem Zimmer ein und spielt mit Schwarzpulver von Platzpatronen – sie explodieren in seinen Händen und verletzten diese und seine Augen schwer. Von diesem Moment an, wird er aus seinem behüteten Leben gerissen. Er verbringt viele Wochen und Monate im Krankenbett und muss mehrere schwere Operationen über sich ergehen lassen. Seine alte Schule kann er anschließend nicht mehr besuchen, er wechselt auf die Blindenstudienanstalt nach Marburg und macht dort sein Abitur.

Durch Hornhauttransplantationen wird es ihm ermöglicht, zumindest auf einem Auge wieder mehr sehen zu können. Doch jede dieser Operationen ist auch mit der Angst verbunden, dass es zu einer Abstoßung oder zu einer Verschlechterung kommen könnte.

Meine Sehkraft ist großen Schwankungen unterworfen. Ich sehe mal mehr, mal weniger. Ich weiß, dass ich das nicht wirklich beeinflussen kann, dennoch versuche ich immer wieder, Erklärungen dafür zu finden. Habe ich am Abend zuvor zu viel getrunken? Habe ich genug gegessen? Liegt es am Wetter oder an der Luftfeuchtigkeit? Daran, dass ich zu wenig geschlafen habe? Wenn ich irgendwo zu Gast bin, kann es schon mal passieren, dass ich in einen Aschenbecher fasse, weil ich denk, dass es sich bei den Zigarettenstummeln um Nüsse handelt. Bei einer Eröffnung in Paris habe ich einmal meine Frau Lena umarmt und bin mit ihr ein bisschen durch die Ausstellung gegangen. Ein, zwei Minuten später, immer noch Arm in Arm, schaute ich sie an und blickte ins Gesicht einer anderen Frau. Sie musste wahnsinnig lachen, Lena, die hinter mir stand, auch.

Noch bevor er sein Abitur beendet, eröffnet Johann König seine erste Galerie. Man könnte glauben, so ein Unfall würde alle Türen im Leben verschließen – aber stattdessen sucht er immer nach neuen Türen, die sich öffnen lassen. Am Anfang konzentriert er sich auf Konzeptkunst statt Malerei: anders als ein Gemälde, lässt sich diese Kunst besser erleben und erzählen, auch wenn man nicht mehr so viel sehen kann.

Auch wenn es so erscheint, ist das Leben von Johann König kein geradliniger Weg – es gibt Rückschläge und Niederlagen, Dinge die schief gehen und Momente, in denen er auf die Hilfe und Unterstützung anderer angewiesen ist. Das Schöne an diesem Buch ist, dass er auch die dunklen Stunden nicht verschweigt.

Meistens gibt es keinen Plan für den Weg, der vor uns liegt. In der Regel finden wir ihn nur, indem wir ihn gehen. Und manchmal haben wir das Glück, dabei auf Reserven zu stoßen, von denen wir nicht wussten, dass wir über sie verfügen.

Vor der Lektüre kannte ich Johann König nicht, auch nicht seine Galerie – um ehrlich zu sein: mit der Kunstwelt habe ich nicht viel am Hut. Aber ich liebe spannende und inspirierende Lebensgeschichten und die Lebensgeschichte von Johann König ist beides zugleich, spannend und unglaublich inspirierend. An manchen Stellen dürfte das Buch ruhig noch ausführlicher sein, Johann König erzählt sehr knapp und komprimiert, kein Wort zu viel.

Das Buch endet mit den Worten Aber es ist, wie es ist und das finde ich einen ganz schönen Blick auf vieles im Leben: weniger hadern, weniger Blicke zurück und dafür ein mutiger Schritt nach vorne. Blinder Galerist ist eine Empfehlung für alle die Freude an Lebensgeschichten haben – ich habe die Lektüre sehr genossen. Und wer Lust bekommt, kann nach dem Lesen der KÖNIG GALERIE direkt einen Besuch abstatten.

Johann König mit Daniel Schreiber: Blinder Galerist.  Propyläen Verlag. Mai 2019. 160 Seiten, 24€.

Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund – Jayrôme C. Robinet

In den Programmen vieler Verlage und in den Regalen der meisten Buchhandlungen finden sich erschreckend wenig Bücher zum Thema trans, da gibt es einfach kaum etwas. Umso mehr freue ich mich nun darüber, dass es dieses Buch von  Jayrôme C. Robinet gibt – es ist im Frühjahr im Hanser Verlag erschienen und ich möchte es gerne allen ans Herz legen!

Heute also zum ersten Mal in die Männerumkleide. Ich atme tief durch. Was erwartet mich dort? Faust ins Gesicht, Kieferbruch? Bestimmt nicht. Oder doch? Werde ich auffliegen?

Jayrôme C. Robinet wurde 1977 in Frankreich geboren – er ist Lyriker, Spoken-Word-Künstler und Übersetzer. Er erhielt bereits zahlreiche Preise und Stipendien, promoviert und unterrichtet an der Alice Salomon Hochschule und lebt in Berlin. Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund ist seine Autobiographie – Jayrôme C. Robinet ist, genauso wie ich auch, ein trans Mann.

Er ist also ein Mann, dem bei der Geburt fälschlicherweise das weibliche Geschlecht zugewiesen wurde – seine Eltern gaben ihm damals einen weiblichen Namen, doch heute lebt er als Mann und unter dem Namen Jayrôme.

Frau Doktor, Geschlecht ist keine Diagnose. Keine standardisierte Praxis. Keine medizinische Notwendigkeit. Kein gängiges Problem. Keine bahnbrechende Uneindeutigkeit. Verstehen Sie? Frau Doktor, ja, ich bin glücklich, die Menschen, die mir nahestehen, unterstützen mich, meine Katze auch, mein Arzt hat sich Zeit genommen, um mir die Wirkung von Testosteron gründlich zu erklären. Ich habe es mir lange überlegt, und nun bin ich sicher.

Ich glaube, dass wahrscheinlich viele von euch mit dem Thema trans noch nie in Berührung gekommen sind. Viele haben vielleicht keine trans Menschen im näheren Umfeld. Vielleicht werden einige von euch aber eines Tages trans Menschen kennen lernen oder mit ihnen zusammen arbeiten – oder sie haben Kinder, die einen ähnlichen Weg gehen. Was ich nach meinem Coming-Out relativ schnell merkte: wie wenig meine Mitmenschen eigentlich wissen und aus wie vielen Klischees und Vorurteilen das wenige Wissen eigentlich besteht. Unwissenheit und Ängste können nur durch Begegnungen oder neue Erfahrungen abgebaut werden – deshalb finde ich dieses Buch so großartig und wichtig und möchte es euch auch gerne auf meinem Blog vorstellen.

Jayrôme C. Robinet wurde bei der Geburt das falsche Geschlecht zugewiesen – er wurde als Mädchen erzogen und obwohl ihm relativ früh klar war, dass er eigentlich ein Junge ist, konnte er diesen Wunsch nie wirklich artikulieren. Als junger Mann zieht er von Frankreich nach Berlin und schafft es dort – befreit von der Nähe zu seiner Familie und der Last fremder Vorstellungen – seinen Weg als trans Mann zu gehen. Er beginnt damit Testosteron zu nehmen und erlebt eine zweite Pubertät. Er bekommt einen dunklen Bart – und wird auf der Straße plötzlich auf Arabisch angesprochen. Von einem Moment auf den anderen erlebt er im Alltag ganz neue und unerwartete Schwierigkeiten: ob auf der Toilette, in der Umkleide oder bei der Passkontrolle, er verändert sich nicht nur selbst, sondern es verändert sich vor allem auch das Verhalten seiner Umwelt ihm gegenüber.

Liebe trans* Jugendliche, ich weiß, wie es ist, sich einsam zu fühlen. Ich hatte so viel Angst, nie geliebt zu werden, dass ich mir Liebe lange nicht gönnte. Geschweige denn das Glück. Wir dürfen lieben und geliebt werden. Ich bin nicht ein Mann, gefangen im Körper einer Frau, ich bin nicht ein Man im falschen Körper, ich bin ein Mann in diesem Körper.

Jayrôme C. Robinet hat ein – bei all der ernsten Thematik – sehr leichtes, sehr zugängliches, sehr unterhaltsames Buch geschrieben. Er stellt viele Fragen: Wie werde ich als Mann behandelt? Wie werde ich als Frau behandelt? Was macht überhaupt eine Frau zu einer Frau und einen Mann zu einem Mann? Und wie reagieren Menschen auf mich, wenn sich nicht nur das Aussehen verändert, sondern scheinbar auch die Herkunft? Er schreibt auch über seine Familie und seine Freunde, die er mit seinem Coming-Out als Mann alle überrascht hat und manche von ihnen auch überfordert. Genauso wie über die ganzen bürokratischen Hürden, die mit einer Transition verbunden sind und fasst das in einem Satz treffend zusammen: Eigentlich leide ich nicht an geschlechtlicher, sondern an bürokratischer Dysphorie.

Ich habe vor einigen Wochen allen Mut zusammen genommen und das Buch bei Brot & Bücher vorgestellt – einige der Kund*innen haben es danach sogar gekauft, andere haben mir Fragen gestellt, waren neugierig, interessiert und erstaunt. Ich glaube, für viele sind trans Menschen noch etwas Unbekanntes – und deshalb glaube ich, dass Bücher wie das von Jayrôme Robinet so unglaublich wichtig sind, weil sie Grenzen abbauen und Verständnis wecken können. Wer einen Eindruck davon bekommen möchte, wie kompliziert, schmerzhaft und erfüllend eine Transition sein kann, der sollte unbedingt dieses Buch lesen – bitte, bitte, bitte!

Jayrôme Robinet: Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund. Hanser Literaturverlag, 2019. 210 Seiten, 20€. 

Durch Mauern gehen – Marina Abramović

Marina Abramović ist eine renommierte zeitgenössische Künstlerin. Mit dem 500 Seiten umfassenden Durch Mauern gehen ist im vergangenen Herbst ihre Autobiographie erschienen – darin erzählt sie nicht nur von der Kunst, sondern auch aus ihrem Leben: das ist schonungslos, spannend, witzig und unglaublich inspirierend.

“Wenn ich las, hörte alles um mich herum auf zu existieren. Das ganze Unglück meiner Familie – die erbitterten Streitereien zwischen meinen Eltern, die Traurigkeit meiner Großmutter darüber, dass ihr alles genommen worden war – verschwand. Ich mischte mich unter die Romanfiguren.”

Beginnen muss ich meine Besprechung direkt mit einem Bekenntnis: auch wenn mir der Name von Marina Abramović zuvor bereits begegnet war, habe ich vor der Lektüre ihrer Autobiographie nichts über ihr Leben oder ihre künstlerische Arbeit gewusst. Neugierig auf das Buch bin ich durch den Blog Brain Pickings von Maria Popova geworden: Bücher über starke und beeindruckende Frauen haben mich schon immer interessiert. Wem es genauso geht wie mir, der muss vor diesem Buch also keine Angst haben – die Autobiographie ist keine, die für Fans und Kenner geschrieben wurde. Man kann Durch Mauern gehen auch mit  großem Gewinn lesen, wenn einem die Autorin und ihre Kunst nicht bekannt sind.

Marina Abramović wurde 1946 in Belgrad geboren und wuchs als Kind von Kriegshelden im Nachkriegsjugoslawien auf. Ihr Vater und ihre Mutter hatten mit den Partisanen gegen die Nazis gekämpft und wurden nach dem Krieg mit wichtigen und gut bezahlten Posten betraut. Obwohl Marina Abramović privilegiert aufwächst, erlebt sie keine glückliche Kindheit: vor allem die Beziehung zu ihrer strengen Mutter Danica ist durch Kälte, Lieblosigkeit und Schwierigkeiten geprägt.

Als Kommunistin war sie vielleicht ambivalent, aber sie war unglaublich zäh. Wahre Kommunisten waren bereit, “durch Mauern zu gehen”, jedes Hindernis zu überwinden – sie waren willensstark wie die Spartaner. “Schmerzen kann ich aushalten”, sagte Danica in einem Interview, das ich mit ihr viele Jahre später führte, als sie schon gebrechlich war. “Niemand hat mich je schreien hören, und niemand wird mich je schreien hören.” Beim Zahnarzt bestand sie darauf, keine Spritze zu bekommen, wenn ihr ein Zahn gezogen werden musste. Die Selbstdisziplin habe ich von ihr gelernt, und ich habe mein Leben lang Angst vor meiner Mutter gehabt. 

Gerettet hat Marina Abramović die Kunst – sie selbst schreibt, dass sie schon im Alter von sechs oder sieben Jahren wusste, dass sie Künstlerin werden möchte. Um sich diesen Traum zu erfüllen, beginnt sie 1965 ein Studium der Malerei; acht Jahre später führt sie ihre erste Performance auf. Mit ihren Performances, in denen sie große und schmerzhafte körperliche Risiken eingeht, wird sie auch über Belgrad hinaus bekannt. In ihrer Autobiographie betont sie immer wieder, dass es in jeder Performance einen Moment gibt, über den sie hinausgehen muss, um den Schmerz nicht mehr zu spüren.

In Durch Mauern gehen schreibt Marina Abramović sowohl über ihre Arbeit als auch über ihr Privatleben, beides ist zumeist eng miteinander verschränkt. Einen großen Platz im Buch nimmt Frank Uwe Laysiepen ein, der unter seinem Künstlernamen Ulay einem größeren Publikum bekannt geworden ist. Beide verbringen zwölf gemeinsame Jahre, in denen sie zahlreiche Performances zusammen entwickeln und aufführen. Ihre Wege – als Paar und als Künstler – trennen sich nach der gemeinsamen Begehung der Chinesischen Mauer. Jahre später sehen sie sich vor den Augen der Weltöffentlichkeit bei der Performance The Artist is Present im New Yorker Museum of Modern Art wieder.

Ich bin es leid, berufliche Entscheidungen treffen zu müssen, mir hängen Vernissagen und langweilige Empfänge zum Hals heraus, ich bin es leid, mit einem Glas Mineralwasser herumzustehen und so zu tun, als wäre ich an einer Unterhaltung interessiert. Ich bin meine Migräneanfälle leid, einsame Hotelzimmer, Zimmerservice, Ferngespräche, grottenschlechte Fernsehfilme. Ich bin es leid, mich immer in den falschen Mann zu verlieben. Ich habe es satt, mich für meine zu große Nase, meinen zu dicken Arsch und den Krieg in Jugoslawien zu schämen. Ich will fortgehen, so weit weg, dass ich weder per Fax noch per Telefon erreichbar bin. Ich will alt werden, richtig alt, so dass nichts mehr eine Rolle spielt. Ich will verstehen und deutlich sehen, was hinter all dem steckt. Ich will nicht mehr wollen.

Wenn man heutzutage einen Blick auf Marina Abramović wirft, dann sieht man eine starke, bekannte und erfolgreiche Künstlerin. Doch das ist nicht immer so gewesen. Das, was mich an Durch Mauern gehen besonders fasziniert hat, ist die Tatsache, dass ihr Weg zur weltweit bekannten Künstlerin schwierig und steinig gewesen ist, dass sie immer wieder mit Rückschlägen und dunklen Momenten zu kämpfen hatte, dass sie falsche Entscheidungen getroffen und andere Menschen verletzt hat und wie offen und schonungslos sie darüber schreibt. Vor allem in den zwölf Jahren, die sie gemeinsam mit Ulay verbracht hat, hatte Marina Abramović nur wenig finanzielle Mittel und hat lange Zeit sogar in einem Bus gelebt.

Durch Mauern gehen lässt sich unkompliziert und ohne Vorkenntnisse lesen und genießen – die Sprache ist schlicht und schnörkellos. Ich bin von der ersten Seite an abgetaucht in die faszinierende Lebensgeschichte dieser ganz besonderen Frau. Marina Abramović schreibt in großer Offenheit darüber, wie sie es geschafft hat, schwere Momente, Verletzungen und dunkle Erlebnisse in eine Kunst zu verwandeln, die Grenzen durchbricht und überschreitet – körperliche und emotionale Grenzen. Für mich ist Marina Abramović das, was man gemeinhin unter dem Wort Powerfrau verstehen könnte: sie ist klug, willensstark, mutig und eine Kämpferin – egal was ihr im Leben auch passiert ist, sie hat nie aufgegeben. Es sollte also nicht verwundern, dass sie sich mit dreiundsechzig Jahren noch entschlossen hat, den Führerschein zu machen. An einer Stelle im Buch bezeichnet sie sich selbst als Kriegerin, Spirituelle und Jammertante – wobei sie die Jammertante jedoch am liebsten versteckt.

VERHALTEN EINES KÜNSTLERS
Ein Künstler sollte weder sich selbst noch andere belügen.
Ein Künstler sollte nicht die Ideen eines anderen stehlen.
Ein Künstler sollte keine Kompromisse eingehen – weder persönlich noch hinsichtlich des Kunstmarkts.
Ein Künstler sollte niemanden töten.
Ein Künstler sollte sich nicht zum Idol machen …
Ein Künstler sollte sich niemals in einen Künstler verlieben.

VERHÄLTNIS EINES KÜNSTLERS ZUR STILLE
Ein Künstler muss die Stille verstehen.
Ein Künstler muss in seinem Werk Raum für die Stille schaffen.
Die Stille ist wie eine Insel inmitten eines aufgewühlten Meeres.

VERHÄLTNIS EINES KÜNSTLERS ZUR EINSAMKEIT
Ein Künstler muss sich Zeit nehmen und lange Phasen der Einsamkeit auf sich nehmen
Einsamkeit ist extrem wichtig.
Weit weg von zu Hause, weit weg vom Atelier, weit weg von der Familie, weit weg von Freunden sein.
Ein Künstler sollte sich lange an Wasserfällen aufhalten.
Ein Künstler sollte sich lange an Vulkanen aufhalten, die ausbrechen.
Ein Künstler sollte lange schnell fließende Flüsse betrachten.
Ein Künstler sollte lange den Horizont betrachten, die Stelle, an der Himmel und Meer sich treffen.
Ein Künstler sollte lange die Sterne des Nachthimmels betrachten.
– Lebensmanifest einer Künstlerin: Marina Abramović

Marina Abramović erzählt in Durch Mauern gehen nicht nur von ihrer faszinierenden Lebensgeschichte und ihrem ungewöhnlichen Zugang zur Kunst, sondern schafft es dabei auch, mich daran zu erinnern, wie wichtig es ist, nie aufzugeben und mit offenen Augen durch die Welt zu laufen. Dort gibt es so viele Möglichkeiten und Dinge, die darauf warten, entdeckt zu werden. Ich wünsche Durch Mauern gehen ganz viele Leser und Leserinnen, die ebenfalls Freude daran haben, in das Leben dieser starken und bewundernswerten Frau einzutauchen.

Marina Abramović (gemeinsam mit James Kaplan): Durch Mauern gehen. Aus dem Englischen von Charlotte Breuer und Norbert Möllemann. Luchterhand Verlag, München 2016. 475 Seiten, €28. 

Von Beruf Schriftsteller – Haruki Murakami

Zu Beginn muss ich wahrscheinlich zugeben, dass ich ein gespaltenes Verhältnis zu den Büchern von Haruki Murakami habe. Viele seiner Geschichten sind mir zu magisch, nur wenig habe ich bisher von ihm gerne gelesen. Als ich jedoch erfuhr, dass von ihm mit Von Beruf Schriftsteller eine Art Biographie erscheint, wusste ich, dass ich das Buch sofort lesen möchte. Ich habe einfach eine große Leidenschaft für Bücher, die sich mit dem Schreiben und dem Lesen beschäftigen.

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„Und ich wünsche mir, dass auch die Leser meiner Bücher dieses Gefühl von Neuanfang genießen können. Als würden sich in ihren Herzen Fenster öffnen, durch die frische Luft hereinweht. Das ist es, was ich mir beim Schreiben inständig erhoffe. Jenseits aller Theorie, einfach nur das.“

Da ich im Vorfeld kaum etwas über den Menschen Haruki Murakami wusste, hat mich doch vieles bei der Lektüre dieser äußert lesenswerten Essays überrascht: ich habe nicht gewusst, dass Murakami nicht nur schreibt, sondern daneben auch übersetzt. Ebenso habe ich nichts über sein Vorleben gewusst: als junger Mann hat er gemeinsam mit seiner Frau eine kleine Jazzkneipe betrieben, für die er sich hoch verschulden musste.

„Wir hatten keinen Fernseher, kein Radio und keinen Wecker. Unsere Wohnung hatte keine Heizung, und in kalten Wintern konnten wir nur schlafen, wenn wir unsere vier Katzen fest im Arm hielten.“

In insgesamt elf Essays, die allesamt von Ursula Gräfe aus dem Japanischen übertragen wurden, spürt Haruki Murakami der Frage nach, was ihn zum Schriftsteller gemacht hat und was ihn Schriftsteller bleiben ließ. Gleichzeitig lotet er sein schwieriges Verhältnis zu Literaturpreisen und Auftritten in der Öffentlichkeit aus. Er übt auch leise Kritik an der japanischen Gesellschaft, stellt das dortige Schulsystem infrage und den Umgang mit einer Katastrophe wie Fukushima. Obwohl Haruki Murkami mittlerweile ein weltweit erfolgreicher Autor ist, spürt man doch in all seinen Texten eine große Bescheiden- und Zurückgenommenheit. Er profiliert sich nicht und er klopft sich auch nicht selbst auf die Schulter. Ganz im Gegenteil: da, laut seiner Einschätzung, nur fünf Prozent der Weltbevölkerung regelmäßig Bücher konsumieren, betreibt er mit seinem Schreiben lediglich eine Tätigkeit für eine Minderheit. Überhaupt: Schreiben könnte nach seiner Meinung eigentlich jeder, es bedarf keiner Ausbildung, um ein Buch schreiben und veröffentlichen zu können. Haruki Murakami schränkt jedoch ein, dass die wahre Kunst sei, nicht nur ein Buch zu schreiben, sondern über viele Jahre Texte zu veröffentlichen und tatsächlich vom Schreiben leben zu können. Den Durchhaltewillen, der dafür erforderlich ist, über den verfügt nicht jeder.

„Ich habe mir die Regel gesetzt, während der Arbeit an einem Roman täglich zehn Blätter japanischen Manuskriptpapiers zu füllen. Auf einem Blatt ist Platz für 400 Zeichen. Das entspricht ungefähr zweieinhalb Bildschirmseiten auf meinem Computer, aber es ist eine alte Gewohnheit von mir, in Blättern à 400 Zeichen zu rechnen. Auch wenn ich gern noch mehr schreiben würde, höre ich nach zehn Seiten auf. Aber auch wenn mir an einem Tag noch eine fehlt, zwinge ich mich dazu, die zehn Seiten vollzuschreiben. Bei sehr langfristigen Projekten spielt Regelmäßigkeit eine große Rolle. Schreibt man jedoch nur, wenn es fließt, und macht Pause, wenn nicht, dann entsteht keine Regelmäßigkeit. Deshalb schreibe ich jeden Tag zehn Seiten. Wie nach Stechuhr.“

Ich habe mit großem Interesse über den Arbeitsprozess von Haruki Murakami gelesen, der auch davon erzählt, dass ein Manuskript bei ihm immer wieder ruht, um sich dann mit einem neuen Blick auf den Text zu stürzen und von seiner Frau berichtet, die die erste Leserin und Kritikerin all seiner Texte ist. Beim Lesen seiner Essays, die allesamt sehr nüchtern und klar geschrieben sind und dazu einladen, das Buch in einem Stück zu verschlingen, wird deutlich, wie bescheiden Haruki Murakami ist und wie hart er für seinen Erfolg gearbeitet hat. Die romantischen Vorstellungen, die ich ab und an noch vom Schreiben eines Buches habe, werden hier klar als das Resultat harter und unnachgiebiger Arbeit enttarnt.

Das Buch hat mir auch persönlich viel mitgeben können: Haruki Murakami hat eine grundlegend positive Einstellung dem Leben und seiner Arbeit gegenüber. Besonders im Gedächtnis geblieben ist mir eine Szene im Buch, in der er und seine Frau dringend auf eine bestimmte Geldsumme angewiesen sind und genau diese dann abends auf ihrem Heimweg finden. Natürlich mag das kitschig klingen, ich habe aber versucht, mir eine Scheibe von seinem Glauben, dass sich auch in ausweglosen Situationen Lösungen finden lassen, abzuschneiden. EEbenso deutlich formuliert Haruki Murakami sein Bestreben, auch mal anzuecken: man kann es nicht allen Menschen Recht machen, es wird immer Kritik geben (auch Murakami musste das leidvoll erfahren) – er hat es sich deshalb zum Lebensmotto gemacht, zunächst einmal sich selbst zufriedenzustellen. In diesem Zusammenhang erwähnt Murakami auch ein sehr passendes Zitat des polnischen Dichters Zbigniew Herbert: „Man muss gegen den Strom schwimmen, um zur Quelle zu gelangen. Denn mit dem Strom schwimmt der Abfall.“

„Sieht man die Welt nur aus der eigenen Perspektive, schmort man zu sehr im eigenen Saft. Der Körper wird steif, die Beinarbeit wird mühsam, und die Beweglichkeit leidet. Aber wenn man es schafft, den eigenen Standpunkt aus mehreren Perspektiven zu betrachten, mit anderen Worten, sich auf andere Denksysteme einzulassen, nimmt die Welt an Plastizität und Flexibilität zu.“

Für mich ist Von Beruf Schriftsteller ein großartiger Schreib- und Lebensratgeber, voller philosophischer und autobiographischer Momente. Die biographischen Essays lassen sich leicht aber anregend lesen, ich habe schon lange nicht mehr so viel aus einem Buch für mich mitgenommen. Eine große und sehr persönliche Leseempfehlung!

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