Browsing Category

Uncategorized

Der Fuchs – Nis-Momme Stockmann

Nis-Momme Stockmann legt mit seinem Debütroman Der Fuchs eine beeindruckende Geschichte vor: sie ist ungewöhnlich, verspielt, vielschichtig und nebenbei auch noch hochspannend erzählt. Der Fuchs ist ein gewaltiges Buch, ein gewagtes Buch, ein experimentierfreudiger Roman und eine fantastische Lektüre.12733986_1308832599142570_8134941838286517001_n

Mir kam alles verrückt und sinnlos vor. Für was hatten wir uns letzte Woche noch so sehr angestrengt? Ich hatte es vergessen. Ich konnte mir nicht mehr vorstellen, dass es einen Ort gab, an dem die Menschen nicht auf ihren Dächern standen.”

Es ist kein Wunder, dass mir bei Nis-Momme Stockmanns Debütroman die Superlative nicht mehr ausgehen, denn Der Fuchs konnte mich wirklich begeistern. Eigentlich inszeniert Stockmann Theaterstücke, viele davon bisher schon mehrfach aufgeführt und vielfach preisgekrönt. Mit Der Fuchs hat der junge Autor, der auf Föhr aufgewachsen ist, nun seinen Debütroman vorgelegt und wurde damit prompt für den Leipziger Buchpreis nominiert. Ein wenig erinnert die ganze Konstellation an Gegen die Welt von Jan Brandt, der damals auch mit einer wundersamen Dorfgeschichte debütierte, die im hohen Norden angesiedelt war.  In Der Fuchs wird wiederum eine Geschichte erzählt, die hinter dem Deich spielt – in einem kleinen Dorf, das den mythischen Namen Thule trägt.

Im Zentrum der Geschichte steht Finn Schliemann und der Leser lernt ihn zu Beginn des Romans in einer ausweglosen Lage kennen: Thule wurde von einer kaum vorstellbaren Flut heimgesucht. Ausgerechnet Thule, wo man das Geld lieber in andere Dinge gesteckt hat, als in den Katastrophenschutz. Das erste Kapitel des Romans gleicht einem Katastrophenszenario: Leichen treiben im Wasser, die Vorräte gehen aus und Hilfe ist nicht in Sicht. Finn hat sich gemeinsam mit seinen besten Freunden auf ein Häuserdach gerettet, von dem es scheinbar kein Entkommen gibt.

Mich überkam plötzlich ein seltsamer Gedanke: Hat das eigentlich irgendjemand aufgeschrieben? Hat das jemand fotografiert? Diese kolossale Gewöhnlichkeit. Diese kolossale Ereignislosigkeit. Diesen Ort hier – am Rande von allem. Gerade werden alle Zeugen und Beweise vernichtet – dass es das jemals gab.

Auf den folgenden 700 Seiten entfaltet sich in Rückblenden eine faszinierende und schier unglaubliche Geschichte: es geht um eine furchtbare Mordserie, altorientalische Gottheiten, den SPD-Ortsvorstand und einen verloren gegangenen Arm. Erzählt wird aber auch vom Hier und Jetzt, von Finn, dem “Typ mit dem behinderten Bruder, der zugezogenen Mutter, dem toten Vater.” Von den Jugendlichen im Dorf wird er gequält, dafür findet er in Katja eine Freundin. Katja ist selbstbewusst, cool und ziemlich tiefgründig. Gemeinsam mit Katja begibt sich Finn auf die Spuren der Mordserie, hält mit seiner kleinen Kamera alles fest, was ihnen verdächtig erscheint und wird von dem Mädchen zunehmend in eine andere Welt gezogen.

Ich frage mich, ob ich, wenn ich in der Vergangenheit etwas anders gemacht hätte, mich anders verhalten hätte, etwas am Lauf der Dinge hätte ändern können. Dann gibt es einen kurzen Schmerz. Als wäre das ganze Leben unlebbar.

Nis-Momme Stockmann legt mit Der Fuchs einen vielschichtigen,  handwerklich anspruchsvollen und doppelbödigen Roman vor. Er hat mich als Leserin im ersten Kapitel an die Hand genommen und ich war dazu bereit, den verschlungenen Weg der Erzählfäden über siebenhundert Seiten mitzugehen. Mit großartigen Bilder erschafft Stockmann ein Katastrophenszenario, das jedoch auch immer wieder mit einer gewissen ironischen Distanz gebrochen wird – über allem schwebt der Zweifel: passiert das jetzt gerade genauso, wie es erzählt wird oder vielleicht doch ganz anders? Was ist ernst gemeint? Was ist ironisch? Diese Zweifel, diese Doppelbödigkeit tragen zum Vergnügen an diesem Stück Literatur bei.

Wir stehen da und behaupten, wir bestünden aus den Einzelakten. Aus dem Mal, wo wir die Katze aus dem Baum gerettet haben. Wo wir dem Obdachlosen einen Fünfer schenken. Wo wir den Freunden beim Umzug helfen. Und genauso glauben wir gerne: Unsere Zeit: das ist der Mauerfall oder die Mondlandung oder 9/11, die Revolutionen, die Reformen. Aber nein. Nein, nein: Es sind die mutmaßlichen kleinen Entscheidungen, die die größeren befördern. Das “Dazwischen”. Letztendlich und in der Summe, unterm Strich sozusagen: sind das wir. Und ist das dann auch: unsere Zeit. 

Natürlich – das bleibt bei einem siebenhundert Seiten langen Roman selten aus – gibt es auch schwächere Passagen: manches zieht sich ein wenig und auch manchen Handlungsfänden konnte ich dann doch nicht mehr folgen. Dennoch überzeugt mich dieser Roman als Gesamtkunstwerk, nicht nur in seiner Kunstfertigkeit, sondern auch in seinem Mut und in seiner Freunde am Erzählen. Nis-Momme Stockmann legt mit Der Fuchs einen Roman vor, der alle Genres sprengt, alle Grenzen und Vorstellungen. Es ist ein Roman, der mir noch lange im Kopf bleiben wird und ich hoffe darauf, dass ich euch mit meiner Begeisterung anstecken kann, damit Finn und Katja noch in ganz viele weitere Köpfe einziehen können.

Nis-Momme Stockmann: Der Fuchs. Rowohlt Verlag, Hamburg 2016. 717 Seiten, €24,95. Weitere Besprechung findet ihr auf: Zeilensprünge und The Daily Frown. Auf Intellectures gibt es ein lesenswertes Interview mit dem Autor.

Gehen, ging, gegangen – Jenny Erpenbeck

Jenny Erpenbeck legt mit Gehen, ging, gegangen einen hochaktuellen, wichtigen und lesenswerten Roman vor. Einen Roman, dessen Schicksal es ist, dass die fiktive Handlung von der Realität eingeholt wurde und dem Buch damit möglicherweise etwas aufbürdet, das dieses gar nicht verdient.

Erpenbeck

Wohin geht ein Mensch, wenn er nicht weiß, wo er hingehen soll?

Das beherrschende Thema in Gehen, ging, gegangen ist die Zeit: Richard hat zu viel freie Zeit, seitdem er in Rente gegangen ist. Seine Frau ist verstorben, er lebt alleine und seitdem er nicht mehr arbeitet – er ist viele Jahre lang Professor gewesen – erscheint ihm das Vergehen der Zeit noch bedrückender, noch langsamer, noch kräftezehrender. Die Zeit, die ihm bleibt, ist begrenzt, doch womit soll er sie füllen? Was kann man mit dem Leben anfangen, wenn man plötzlich nichts mehr hat – keine Frau, keine Arbeit, keinen geregelten Tagesablauf?

Auch die Menschen, die auf dem Oranienplatz kampieren, verfügen über viel freie Zeit. Es handelt sich um Flüchtlinge, um Asylbewerber, die in Deutschland ein neues Zuhause finden wollen. Sie hoffen auf Arbeit, auf Sicherheit, auf ein besseres Leben. Sie suchen Schutz vor dem Krieg, vor den Bomben, vor den Gewehrsalven. Auf ihrer Flucht haben sie einen Weg eingeschlagen, der ihnen das Leben hätte kosten können – einzig und allein von der Hoffnung getragen, dort wo sie ankommen, ein besseres Leben führen zu können. Doch die Mühlen der Bürokratie mahlen langsam, die Zeit vergeht schleppend, ohne, dass sie sinnvoll gefüllt werden könnte.

Manchmal schon hat er sich dafür geschämt, dass er Abendbrot isst, während er auf dem Bildschirm totgeschossene Menschen sieht, Leichen von Erdbebenopfern, Flugzeugabstürzen, hier einen Schuh von jemandem nach einem Selbstmordanschlag, dort in Folien gewickelte Körper von Opfern einer Seuche, nebeneinander im Massengrab liegend. Er schämt sich auch heute, und isst trotzdem weiter, wie sonst auch.

Jenny Erpenbeck führt beide zusammen: die Gruppe Flüchtlinge und Richard, den emeritierten Professor. Richard wird zufällig auf die Männer aufmerksam, er sieht einen Nachrichtenbeitrag über sie, als sie sich dazu entscheiden, in den Hungerstreik zu treten. Sie haben genug davon, Zeit zu vertun. Richard erinnert sich daran, kurz zuvor am Oranienplatz vorbeigelaufen zu sein – so in seiner Welt gefangen, dass er all die Männer und ihr Schicksal gar nicht wahrgenommen hat. Die hungernden Flüchtlinge vom Oranienplatz lassen Richard nicht mehr los, er möchte sie kennenlernen, möchte etwas über ihre Leben erfahren. Kurzerhand beschließt er, sie aufzusuchen, um ihnen all die Fragen zu stellen, die ihn umtreiben.

Wo sind Sie aufgewachsen? Welches ist Ihre Muttersprache? Welcher Religion gehören Sie an? Wie viele Menschen gehören zu Ihrer Familie? Wie sah die Wohnung, das Haus aus, in dem Sie aufwuchsen? Wie haben sich Ihre Eltern kennengelernt? Gab es einen Fernseher? Wo schliefen sie? Was gab es zu essen? Was war in Ihrer Kindheit Ihr Lieblingsversteck? Haben Sie eine Schule besucht? Was für Kleidung trugen Sie? Gab es Haustiere? Haben Sie einen Beruf gelernt? Haben Sie selbst Familie? Wann sind Sie aus Ihrer Heimat weggegangen? Warum? Haben Sie noch Kontakt zu Ihrer Familie? Mit welchem Ziel sind Sie aufgebrochen? Wie haben Sie Abschied genommen? Was haben Sie mitgenommen, als Sie weggingen? Wie haben Sie sich Europa vorgestellt? Was ist anders? Wie verbringen Sie Ihre Tage? Was vermissen Sie am meisten? Was wünschen Sie sich? Wenn Sie Kinder hätten, die hier aufwachsen, was würden Sie ihnen von der Heimat erzählen? Können Sie sich vorstellen, dass Sie hier alt werden? Wo soll man Sie begraben?

Richard befragt die Männer, erforscht ihre Geschichten, begleitet sie in den Deutschunterricht. Während ihm die Flüchtlinge zu Beginn noch fremd gewesen sind, ihr Schicksal ihn im Vorbeigehen sogar gar nicht auffiel, werden sie plötzlich zu einem Teil seines eigenen Lebens: er wird für sie zu einem Ersatzvater, zu einem väterlichen Freund. Er unterstützt sie bei Arztbesuchen und Behördengängen, lädt einige von ihnen zu sich nach Hause ein. Richard und die geflüchteten Männer könnten nicht verschiedener sein, sie stammen aus völlig unterschiedlichen Welten. Bevor die Flüchtlinge in sein Leben traten, sah Richard sich mit einer Zeit konfrontiert, die verging ohne gefüllt zu werden. Das Schicksal der traumatisierten Männer füllt sein Leben und seine Zeit nun auf vorher nie geahnte Art und Weise aus. Plötzlich hat er wieder eine Aufgabe, sein Leben hat wieder einen Sinn und die Zeit ist wieder kostbar geworden. Der Schluss, den man hier als Leser ziehen könnte, mag platt wirken und doch hat mich das Aufgehen von Richard in einer neuen Aufhabe tatsächlich gepackt.

Jenny Erpenbeck legt mit Gehen, ging, gegangen einen lesenswerten und wichtigen Roman vor, der mich in seiner Nüchternheit sehr gerührt hat. Die großen Momente des Buches liegen zwischen den Worten, zwischen den Sätzen, in all dem, was auch nicht gesagt wird. Die Sprache ist einfach, angenehm zurückhaltend, beinahe leise. Die Autorin hat sich einen stoischen Erzähler gesucht, der sachlich auf das Leben blickt und sich nur selten aus der Ruhe bringen lässt. Manchen mag das farblos erscheinen, manchen mag das erzählerische Momentum fehlen – für mich ist Gehen, ging, gegangen dennoch stimmig. Im Mittelpunkt stehen – neben dem Thema Zeit – die Geschichten der Flüchtlinge, die viel Geld bezahlt und ihr Leben riskiert haben, um es nach Deutschland zu schaffen. Ohne dort wirklich erwünscht zu sein, ohne die Aussicht zu haben, dort bleiben zu dürfen. Die Geschichten, die sie mit sich tragen, sind herzzerreißend und das, was sie aufgeben mussten unvorstellbar.

“[…] wenn Krieg ist, gibt es nichts anderes als Schlagen und Schießen, Schlagen und Schießen, wenn Krieg ist, geht alles in Scherben, wenn Krieg ist, sieht man den Krieg, und sonst nichts mehr.”

Jenny Erpenbeck hat mit Gehen, ging, gegangen ein Buch geschrieben, dessen Schicksal es ist, dass die fiktive Handlung schon längst von der Wirklichkeit überholt wurde. Wer das Buch heutzutage aufschlägt, der liest es mit einer ganz anderen Erwartungshaltung, denn das, von dem er liest, ist bereits Teil unserer Realität geworden. Ich glaube, dass dieses Schicksal dazu führen kann, dem Buch Unrecht zu tun. Für mich ist Gehen, ging, gegangen ein lesenswerter und wichtiger Roman, der sich auf mehreren Ebenen mit zentralen Themen unserer Zeit beschäftigt: was ist mit Recht und Unrecht? Was ist mit der Zeit, die uns zur Verfügung steht? Wie können wir sie sinnvoll nutzen? Wie weit darf Hilfe gehen?

Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen. Knaus Verlag, München 2015. 352 Seiten, €19,99. Weitere Rezensionen gibt es auf: Literatur leuchtet | Das graue Sofa | Lust auf Lesen

#top5tbrbooks

#igreads und #bookstagram – so heißen wohl die beiden beliebtesten Hashtags, die buchbegeisterte Nutzer und Nutzerinnen bei Instagram benutzen. Weiß jeder von euch, was ein Hashtag ist? Ich wusste das vor einigen Jahren selbst noch nicht so genau. Das Wort lässt sich wohl am besten mit dem Begriff Verschlagwortung erklären. Nach den verwendeten Hashtags können in sozialen Netzwerken dann andere suchen. Ich stelle mir dieses Prinzip immer wie einen riesengroßen Zettelkasten vor.

Lesestapel

In diesem reisengroßen Zettelkasten habe ich vor kurzem einen spanenden Hashtag entdeckt: #top5tbrbooks. Ja, ich weiß, manche Hashtags muss man zweimal lesen. Dieser heißt ausgeschrieben so viel wie: die nächsten fünf Bücher, die ich unbedingt lesen möchte. Wenn man nach diesem Hashtag auf Instagram sucht, dann kann man ganz viele Fotos mit Bücherstapeln entdecken.

Ich fand diesen Hashtag so spannend, da ich so etwas sonst nie mache: ich lege mir eigentlich keine Stapel mit Büchern zurecht, die ich als nächstes lesen möchte. Wie und warum ich Bücher auswähle, ist ein Prozess, der wirklich schwer zu beschreiben ist. Uwe Tellkamp hat sein Schreiben mal als Suchbewegung beschrieben und so würde ich auch mein Lesen beschreiben: die Lektüreauswahl erfolgt dabei ganz intuitiv, ich gehe zum Regal und greife zu dem Buch, auf das ich in diesem Moment die größte Lust verspüre – manchmal drängeln sich wiederum neue Bücher dazwischen, die dringend gelesen werden wollen. Schön finde ich es dann immer, wenn sich im Nachhinein betrachtet Zusammenhänge und Leselinien auftun: zuletzt habe ich zum Beispiel mehrere Schriftstellerbiographien gelesen. Die Auswahl erfolgte in dem Moment jedoch rein zufällig.

Der Hashtag hat mich dazu inspiriert, auch mal einen Stapel anzulegen – ich bin schon gespannt, ob ich mich daran halten werde. Gestern habe ich auf jeden Fall schon zu On the move von Oliver Sacks gegriffen.

Wie ergeht es euch? Wie geht ihr bei der Auswahl eurer Lektüre vor? Habt ihr Lesepläne oder Lesestapel? Und was wären bei euch die nächsten fünf Bücher, die ihr unbedingt lesen wollt?

Machandel – Regina Scheer

Machandel ist das Romandebüt von Regina Scheer, in dem sie nicht nur einen Teil der ostdeutschen Geschichte wieder zum Leben erweckt, sondern gleichzeitig auch eine weitverzweigte Familiengeschichte erzählt. Eine Familiengeschichte voller Träume und Hoffnungen, voll von Freundschaft und Verrat.

DSC_3797

Man muss nicht in einer großen Stadt leben. Alles, was geschehen kann, ist auch in Machandel geschehen.

Regina Scheer macht einen verwunschenen Sommerkaten und ein kleines mecklenburgisches Dorf zum Zentrum ihres Romans. Das Dorf ist fiktiv, liegt nur zwei Stunden von Berlin entfernt in nördlicher Richtung und trägt den Namen Machandel. Ein Name, der nicht zufällig gewählt wurde, sondern auf die uralte Geschichte des Machandelbooms zurückgeht. In den unterschiedlichen Kulturkreisen wird diese Geschichte immer wieder anders erzählt: in dem Märchen der Brüder Grimm begräbt Marlene unter dem Machandelbaum die Knochen ihres Bruders, der anschließend in der Gestalt eines Vogels wieder aufersteht und davon singt, dass er ermordet wurde – durch die eigene Stiefmutter. Das Märchen bildet das Fundament des Romans – im übertragenen Sinne sagt es, dass man die Erinnerung zulassen muss, da in ihr das Geheimnis der Vergebung und Erlösung liegt. Nur wer sich erinnert, dem kann verziehen werden.

Früher. Ich bin schon wie die alten Frauen, die in dem Dorf wohnten, als wir hierherkamen; sie lebten mit Menschen, die nicht mehr da waren, das längst Vergangene gehörte zu ihrer Gegenwart. So geht es mir auch, wenn ich an meinen Katen denke, ein schönes Haus mit einem Badezimmer und großen grünen Kachelöfen, die geölten Fenster aus Lärchenholz, das Fachwerk innen und außen mit Lehm verputzt.

Doch worum geht es eigentlich? Machandel ist ein so weit verzweigter Familienroman und ein so umfassendes Zeitmosaik – Regina Scheers Erzählung umfasst mehr als neunzig Jahre -, dass es nicht ganz leicht fällt, die Handlung zusammenzufassen. 1985 begleitet Clara ihren Bruder Jan in das mecklenburgische Dorf Machandel. Der vierzehn Jahre ältere Jan steht kurz vor der Ausreise aus der DDR, er wurde im Schloss von Machandel geboren und ist in diesem märchenhaften Dorf aufgewachsen. Doch mittlerweile möchte er nur noch weg. Als Clara mit Jan und ihrem Mann damals nach Machandel reiste, entdeckte sie dort einen Sommerkaten. Einen verwunschenen Ort – scheinbar perfekt für die kleine Familie. Ihren Bruder verliert sie – er flüchtet aus der Republik, doch dafür erhält sie einen Platz im Ort seiner Kindheit. Der Sommerkaten wird von Clara zu einem Wochenendhaus hergerichtet, der ihr und ihrer Familie immer wieder Zuflucht gewährt. Schon ihr Vater, der von den Nationalsozialisten verfolgt wurde, ist Jahrzehnte zuvor nach Machandel geflüchtet. Der flüchtende Vater, der damals Kommunist gewesen ist, wird nach dem Krieg zum Staatsdiener. Aus dem Kommunisten wird ein erfolgreicher Minister, doch seine eigenen Kinder wenden sich ab: Jan stellt einen Ausreiseantrag und Clara schließt sich Bürgerbewegungen an. Die Mutter verfällt dem Alkohol.

Aber jetzt ahnte ich, dass ich hier an diesem Ort etwas finden könnte, was wie ein verlorenes Verbindungsstück zu ihm wäre. Und vielleicht auch zu unseren Eltern. 

Regina Scheer lässt ihre Geschichte abwechselnd von fünf unterschiedlichen Stimmen erzählen: drei Männer und zwei Frauen kommen zu Wort und als Leser wird man Teil ihrer Lebensgeschichten. Machandel wird dabei zu einem Knotenpunkt. Eigentlich reist Clara in das Wochenendhäuschen, um an ihrer Dissertation zu arbeiten (über das Märchen Von dem Machandelbloom), doch stattdessen streift sie immer wieder durch das Dorf – es ist ein Streifzug durch die Vergangenheit, ein Streifzug auf der Suche nach Antworten. Ähnlich wie Marlene, die die Knochen ihres Bruders aufsammelt, um sich an ihn zu erinnern und ihn damit wieder zum Leben erweckt, sammelt auch Clara Erinnerungen auf: es sind Erinnerungssplitter, Erinnerungsbilder Erinnerungstrümmer, Erinnerungsbruchstücke. Sie erinnert an die Flüchtlinge aus dem Osten, die nach Machandel kamen – in der Hoffnung dort Unterschlupf zu finden. Sie erinnert an eine russische Zwangsarbeiterin, die im Dorf ein neues Zuhause fand. Sie erinnert an ein junges Mädchen, das in eine Anstalt eingeliefert wurde. Sie erinnert an ihren Vater, der schwerverletzt im Schloss von Machandel gesund gepflegt wurde und sich dabei verliebte.

Ich spürte und wusste allmählich, dass an diesem Ort, in unserem eigenen Haus, etwas geschehen war, das nicht vergessen war, das sich jederzeit plötzlich zeigen konnte, als ein Schmerz in Nataljas Gesicht, als ein Verstummen im Gespräch der Frauen am Bus, in der Geste, mit der sie sich kaum merklich von Wilhelm abwandten. Dieses Ungesagte verwob sich für mich mit dem Märchen vom Machandelbloom, es machte mich traurig. Dennoch fuhren wir so oft wie möglich nach Machandel, als würden wir nur an diesem Ort festhalten können, was uns allmählich verloren ging.

Regina Scheer legt mit Machandel einen Roman vor, der einem Kaleidoskop gleicht – einem Mosaik. Es ist kaum möglich, dieses märchenhafte Panorama aus einzelnen Schicksalen, geschichtlichen Entwicklungen und sozialen Strömungen zusammenzufassen. Es ist erst recht nicht möglich, diesem Panorama auch noch gerecht zu werden. Dem Leser werden ganz viele unterschiedliche Stimmen und Töne geboten, die allesamt von Glaubwürdigkeit und Authentizität getragen werden. Auch von ganz unterschiedlichen Schicksalen wird erzählt: manche der Figuren überstehen alles unbeschadet, andere wiederum nehmen Schaden – manchmal sogar schweren Schaden. Kein Schicksal hat mich unberührt gelassen, denn Regina Scheer erzählt mit so viel Wärme und Zuneigung von ihren Figuren, dass ich mich als Leserin dem nicht entziehen konnte. Geschichte um Geschichte verbirgt sich in diesem großartigen Roman, der dennoch nie überladen wirkt: die Erinnerungsbilder fügen sich Seite für Seite zu einem Ganzen, bis deutlich wird, wie wichtig es ist, Erinnerungen zu bewahren, um weiterleben zu können. Machandel erzählt von der Kraft der Erinnerung und der Einsamkeit im Exil des Vergessens. Von geplatzten Träumen, zerstörten Hoffnungen, von politischen Gräueltaten und schweren Schicksalsschlägen. Der Roman erzählt aber auch von drei starken Frauen, von Liebe und von grenzenloser Hilfsbereitschaft.

Machandel ist ein großartiges und wichtiges Buch, dem ich so viele Leser und Leserinnen wie möglich wünsche.

Urwaldgäste – Roman Ehrlich

Es ist noch gar nicht so lange her, dass Roman Ehrlich sein Debüt als Schriftsteller gefeiert hat – vor etwas mehr als einem Jahr erschien sein vielbeachteter Roman Das kalte Jahr. In diesem Herbst nun hat er sein zweites Buch vorgelegt, diesmal einen Erzählband, der den Titel Urwaldgäste trägt. Mit diesem entführt uns Roman Ehrlich in den Urwald der heutigen Arbeitswelt und den scheinbar ganz normalen Alltag.

Roman EhrlichIch fühlte mich ohnehin in diesen Tagen als soziales Wesen, als Mensch unter Menschen, unanbietbar.

Urwaldgäste ist ein seltsames Puzzle, das sich aus insgesamt zehn Erzählungen zusammensetzt. Alle Erzählungen können für sich stehend gelesen werden, manchmal begegnet man Figuren jedoch in mehreren der Erzählungen. Allen Erzählungen gemein ist der lapidare und scheinbar harmlose Ton, mit dem Roman Ehrlich einen ganz normalen Alltag beschreibt, der auf den zweiten Blick jedoch nicht mehr ganz normal wirkt. Gemein ist den Erzählungen jedoch auch das übergeordnete Thema: alle zehn kreisen auf unterschiedliche Art und Weise um unsere heutige Arbeitswelt, die eine etwas seltsam anmutende Welt ist. Eine Welt, die von ökonomischen Gesichtspunkten diktiert wird.

Es ist unmöglich, genau zu sagen, wann das geschehen war – wann dieser Zustand begonnen hatte, in dem ich maulfaul, abwesend und auch taub für die Äußerungen meiner Umwelt wurde. Es war ein Vorgang wie die Ankunft des Winters.

Da gibt es zum Beispiel den Protagonisten aus der ersten Erzählung, der zum Schein Physik studiert, um Zugriff auf die studentische Jobbörse zu erhalten. Er heuert bei dem Unternehmen Grinello Clean Solutions an, wo er einsam am PC seine neue Tätigkeit verrichten soll. Das Büro ist hochmodern ausgestattet, dem neuen Mitarbeiter fehlt es an nichts – nur menschliche Kollegen hat er irgendwie kaum. Wenn es ihm mal zu eintönig wird, dann kann er auf seinen USB-Weihnachtsbaum zurückgreifen. Dieser ganze Büroalltag wird von Roman Ehrlich lapidar geschildert, es erscheint alles so normal und alltäglich – in wie vielen Büros in Deutschland sieht es wohl genauso aus: in hochmodern eingerichteten Zimmern arbeiten Menschen stumpf vor sich hin, alleine mit sich und ihren sinnlosen Aufgaben. Keinem ist bewusst, wie einem dabei Stück für Stück das letzte bisschen Menschlichkeit abhanden kommt und von einem roboterhaften Tun ersetzt wird.

Ich stehe im Licht. Ich bin dran. An der Reihe – Aber halt! Halthalthalt. Hat denn so jemals jemand gesprochen? Hat denn, im Leben, jemals einer so geredet, sich so gegeben? Hat denn, hahaha, hihi hat denn so jemals jemand gelacht, hat sich denn je einer so aufgeregt, verdammt, Scheiße, Fuck, so wütend, war je einer so in Rage, so verzweifelt, so außer sich und ohne Hoffnung war jemals jemand so weit entfernt, so abwesend, versunken, verschlossen, verloren, hat sich jemals einer so gesehnt, so herrlich gesehnt, weil er so, so schrecklich verliebt war? Hat jemand, jemals, so direkt das Wort an Sie gerichtet und Sie gefragt, wollte jemals jemand auf diese Art von Ihnen wissen, was eigentlich mit Ihnen los ist?

Da gibt es auch noch Arne Heym, den Protagonisten einer anderen Erzählung, der ein unbefriedigendes Dasein in seinem Job fristet. Als er eines Abends auf eine spannende Werbeanzeige stößt (Lassen Sie sich täuschen!), verändert sich sein langweiliges und alltägliches Leben von einem Moment auf den anderen: plötzlich befindet er sich in einem lebensechten Rollenspiel, bei dem er nie so genau weiß, was Wirklichkeit ist und was Täuschung.

Ich habe eine große Sehnsucht. Ich gehe jeden Tag zur Arbeit. Und diese Arbeit, das ist es halt, was mir stinkt, ist dieser Ort der offenen Fragen, wo wie nirgends sonst ein Raubbau an meiner Sehnsucht getrieben wird. Eine Ausbeutung meiner Träume und Illusionen. Das findet hier statt. Aber sagen Sie mir mal, hat man Ihnen das nicht schon mal gesagt?

Roman Ehrlich legt mit Urwaldgäste einen vielschichtigen und interessanten Erzählband vor, der sich von vielem abhebt, dass unsere deutschsprachige Gegenwartsliteratur ansonsten zu bieten hat. Ein Grund dafür ist sicherlich die Tatsache, dass sich Roman Ehrlich einem wichtigen Themenkomplex annimmt: der Entindividualisierung unserer Arbeitswelt, vielleicht sogar unseres ganzen Lebens. Wo bleibt der Mensch in einer durchorganisierten und hochtechnisierten Welt? Wo bleibt das Menschliche? Wo bleiben Verletzlichkeit und überraschende Momente? Der Erzählton ist lapidar, fast beiläufig – so erschafft Roman Ehrlich eine Welt, die auf den ersten Blick ganz normal erscheint und doch verbergen sich unter dieser Oberfläche Seltsamkeiten, allerhand Skurriles und Befremdliches. In vielen der Erzählungen wird mit Realität und Phantasie gespielt und dabei werden Charaktere erschaffen, die genauso glatt sind, wie die Büros, in denen sie arbeiten. Das macht die Lektüre nicht immer einfach, aber darum nicht weniger spannend.

Urwaldgäste ist keine Lektüre für zwischendurch, ganz sicherlich nicht. Die Erzählungen erfordern nicht nur Zeit, sondern auch, dass man sich auf die Erzählwelt, die Roman Ehrlich erschafft, einlässt.Urwaldgäste ist kein Literatursnack und kein Wohlfühlbuch, aber ein hochinteressanter Erzählband, der es verdient, gelesen zu werden.

Weitere Besprechungen gibt es hier, hier und hier.

blogst: wissen, teilen, bloggen!

Bereits vorletztes Wochenende war ich also auf der blogst-Konferenz in Hamburg. Für all diejenigen, die nicht wissen, was man sich genau darunter vorstellen kann: BLOGST ist aus der Idee entstanden, sich zu vernetzen und Wissen auszutauschen. Bereits seit zwei Jahren gibt es regelmäßig Workshops und Barcamps zu ganz unterschiedlichen Themen und einmal im Jahr schließlich eine große Konferenz. Gegründet wurde dieses ganz besondere Bloggernetzwerk von Ricarda Nieswandt und Clara Moring.

DSC_2774

Im Park Hotel Lindner in Hamburg, gleich neben dem Tierpark Hagenbeck, drehte sich nun zwei Tage lang alles ausschließlich um das große Thema Bloggen. Es gab zahlreiche Vorträge, drei Workshops und auch rund um die Konferenz viele tolle Aktionen der Sponsoren. Eigentlich richtet sich die blogst überwiegend an Blogger und Bloggerinnen der Themenbereiche Food, Design, Lifestyle oder DIY – davon wollte ich mich aber nicht abhalten lassen. Ich durfte an diesem Wochenende also erleben, wie man sich als Exotin so fühlt, denn von insgesamt 200 Teilnehmerinnen (und ja, ein paar Männer waren auch dabei) war ich die einzige Literaturbloggerin.

Das Spektrum der Themen bei der blogst war groß und reichte von trockenen Zahlen und Statistiken (Social Media Monitoring), über erfolgreiche Kooperationen bis hin zu Vorträgen über Leidenschaft und Mut. Die beiden letztgenannten Vorträge haben mich wohl am meisten beeindruckt, denn ich glaube, dass beides – Leidenschaft und Mut – zu den wichtigsten Aspekten des Bloggens gehört und je länger man bloggt, desto größer ist die Gefahr, dass die Leidenschaft unterwegs verloren geht. Die beiden Macherin von sisterMag haben ein paar Ideen aufgezeigt, um dem Bloggerburnout vorzubeugen, von denen ich mir auch die ein oder andere notiert habe.

PicMonkey Collage

Genauso wichtig wie die Leidenschaft ist jedoch auch der Mut dazu, schwierige Themen anzusprechen oder auch mal gegen den Strom zu schwimmen. Dein Blog, deine Party – das war einer der Sätze, die bei mir hängengeblieben ist. Es gab auch einen spannenden Vortrag über Pinterest, einen derjenigen Social Media Kanäle, den ich bisher noch kaum genutzt habe, auf dem man als Blogger aber auch aktiv sein kann. Aber wer kann das schon, auf allen Kanälen präsent sein, auf denen man angeblich präsent sein muss? Instagram, Twitter, Facebook, Google+. Das war auch eine Erkenntnis, die ich aus diesem Wochenende mitgenommen habe: das, was am Ende zählt, ist der eigene Blog – da kann man ruhig auf den einen oder anderen Kanal verzichten. Ebenso spannend war der Vortrag über Rechtsfragen im Internet – da gibt es so einiges, das ich bisher nicht bedacht und beachtete habe. Und im Workshop zum Thema Bessere Blogtexte schreiben habe ich nicht nur gelernt, weniger Adjektive zu verwenden, sondern auch noch das ein oder andere mehr.

Insgesamt konnte ich aus fast allen Vorträgen so einiges mitnehmen: ich habe tolle Impulse erhalten und viele Gedanken und Ideen wurden in mir angestoßen – als es dann plötzlich vorbei war mit diesem blogstgefühl, hatte ich schon fast Entzugserscheinungen und musste mich erst einmal wieder im Alltag zurecht finden. Natürlich habe ich mich zwischendurch auch etwas verloren gefühlt zwischen all den Food-, Design, DIY- und Lifestylebloggern, doch es war spannend für zwei Tage in diese Bloggerwelt abzutauchen, die doch etwas professioneller organisiert ist, als unsere Welt der Literaturblogger.

Abschließend bleibt mir dann auch nur die Empfehlung, mutig und leidenschaftlich zu sein. Und vielleicht auch einfach mal die eine oder andere Blog-Konferenz zu besuchen, damit ich mich als Literaturbloggerin nicht noch einmal so einsam fühlen muss. Ich verspreche auch, dass es dabei so einiges zu lernen gibt.

Das Geräusch einer Schnecke beim Essen – Elisabeth Tova Bailey

Das Geräusch einer Schnecke beim Essen ist nicht nur ein großartiger Titel, sondern auch ein großartiges Buch. Es ist ein autobiographisches Buch, denn Elisabeth Bailey erzählt davon, wie eine Erkrankung ihr ganzes bisheriges Leben verändern sollte und wie sie sich trotz dessen wieder zurückgekämpft hat. Entstanden ist dabei ein kluger, poetischer und sehr berührender Text.

DSC_2123

Denke nicht daran, wieviel zu tun ist, welche Schwierigkeiten zu bewältigen sind oder welches Ziel erreicht werden soll, sondern widme dich gewissenhaft der kleinen Aufgabe, die gerade ansteht, und lass das für heute genügen.

Elisabeth Bailey arbeitet eigentlich als Journalistin, doch dann sollte eine mysteriöse Viruserkrankung sie jahrelang ans Bett fesseln. Die Erkrankung, die nach einer Europareise der Autorin ausbricht, hat zur Folge, dass das Leben von Elisabeth Bailey ganz und gar zum Stillstand kommt. All das, was vorher war, kann nun plötzlich nicht mehr gemacht werden: der Beruf, geliebte Aktivitäten und das Zusammensein mit Freunden – all das ist plötzlich unmöglich geworden. Stattdessen wird das Leben bestimmt von Arztbesuchen, Kreislaufzusammenbrüchen und einer mysteriösen Muskelschwäche.

Aber was war nun mit der Schnecke? Was sollte ich mit ihr anfangen? So klein sie war, hatte sie doch friedlich vor sich hingelebt, als meine Freundin sie aufhob. Welches Recht hatten wir, in ihr Leben einzugreifen? Wobei ich mir nicht vorstellen konnte, wie das Leben einer Schnecke überhaupt aussah.

Eines Tages bringt eine Freundin ihr eine Topfpflanze mit, unter deren Blättern eine Schnecke sitzt, die sie im Wald gefunden hat. Nicht nur Elisabeth Bailey muss plötzlich mit völlig veränderten Lebensbedingungen zurecht kommen, sondern auch die Schnecke, die ihren natürlichen Lebensraum verlassen hat. Sie lebt lange in den Blättern der Topfpflanze, bevor sie irgendwann in ein Terrarium umgesiedelt wird. Elisabeth Bailey und die Schnecke gehen eine seltsame Form der Gemeinschaft ein: für die nächsten Wochen und Monate wird die Schnecke zu einer ständigen Begleiterin. Einer Begleitung mit inspirierender Wirkung, denn die Schnecke ist – trotz ihrer Größe – eine furchtlose und unermüdliche Entdeckerin. Bailey beobachtet dieses kriechende Tier, das plötzlich in ein ganz anderes Leben gesetzt wurde – ohne Mitspracherecht haben zu können bei dieser Entscheidung. Durch das Beobachten der Schnecke erhält das Leben von Elisabeth Bailey zum ersten Mal seit ihrer schweren Erkrankung wieder einen Sinn, sie hat das Gefühl, gebraucht zu werden. Aber nicht nur das, denn auch ihr Gefühl für das Vergehen der Zeit verändert sich: das gemächliche Tempo der Schnecke überträgt sich auch auf die Autorin, die sich nur im Schneckentempo von ihrer Erkrankung erholt.

Die Schnecke und ich lebten beide in einer veränderten Landschaft, die wir uns nicht selbst ausgesucht hatten – ich stellte mir vor, dass wir ein Gefühl des Verlusts und der Heimatlosigkeit teilten.

Aus der Beobachtung der Schnecke entsteht etwas ganz Erstaunliches: durch die Betrachtung eines anderen Lebewesens verändert sich plötzlich auch die Perspektive aus der Elisabeth Bailey auf ihr eigenes Leben blickt. Ihr Schicksal, in erdrückender Isolation ans Bett gefesselt zu sein, wiegt urplötzlich weniger schwer. Ihr eigenes Erleben wird plötzlich in ein ganz neues Verhältnis gerückt. Die anfängliche Beobachtung wird mit der Zeit zu einer großen Leidenschaft für Schnecken. Die Autorin wird zur Schneckenforscherin und lässt die Leser an all ihren erstaunlichen Erkenntnissen über das Leben von Schnecken teilhaben.

Ich hätte mir niemals träumen lassen, was mich durch das vergangene Jahr gebracht hat: eine Waldschnecke und ihre Nachkommen – ohne sie hätte ich es, glaube ich, wirklich nicht geschafft. Zu beobachten, wie ein anderes Geschöpf seinem Leben nachgeht … gab auch mit, der Beobachterin, einen Daseinszweck.

Das Geräusch einer Schnecke beim Essen ist ein unheimlich zartes und leises Buch, wenn man ganz still ist beim Lesen, glaubt man schon fast die Schnecke beim Essen belauschen zu können. Sie frisst sich so durch die Seiten, Sätze und Wörter, die davon erzählen, wie bereichernd es sein kann, die eigene Perspektive zu öffnen und den Blick ab und an auch mal auf andere Lebensbereiche zu richten. Elisabeth Bailey hat ein wahrhaft zauberhaftes Buch geschrieben, ein Buch irgendwo zwischen Poesie, Wissenschaft und Lebensbetrachtung.

%d bloggers like this: