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5 Fragen an Wiebke Lorenz!

Wiebke+Lorenz+(c)++Iris+TerzkaDie Schriftstellerin Wiebke Lorenz wurde 1972 in Düsseldorf geboren und studierte Germanistik, Anglistik und Medienwissenschaft. Heutzutage lebt sie in Hamburg und ist journalistisch tätig, schreibt aber auch Drehbücher für TV-Filme. Ihre bisherigen Romane “Liebe, Lügen, Leitartikel”, “Was? Wäre? Wenn?” und “Allerliebste Schwester” waren sowohl bei der Kritik, als auch beim Publikum erfolgreich. Wiebke Lorenz betreibt eine eigene Homepage.

1.)    Warum wollten Sie Schriftstellerin werden?

Eigentlich kann ich nicht sagen, dass ich das bewusst „wollte“. Genau genommen habe ich lange Zeit davon geträumt, Musikerin zu werden, ich habe viele Jahre Cembalo gespielt. Per Zufall kam ich dann schon als Schülerin zu einem Job bei der Zeitung und schrieb dafür Konzertkritiken – da habe ich dann meine Liebe zum Schreiben entdeckt und mir überlegt, dass ich gern Journalistin werden möchte. Gegen Ende meines Studiums habe ich dann – mehr aus „Spaß“ – meinen ersten Roman geschrieben und hatte das riesige Glück, dass ich sofort einen Verlag dafür gefunden habe. Tja, da hat es sich einfach so ergeben, ich habe danach nicht wieder aufgehört, Bücher zu schreiben. Und so war ich dann auf einmal Schriftstellerin.

2.)    Gibt es einen Schriftsteller oder einen Künstler, der Sie auf Ihrem Weg besonders inspiriert hat?

Jede Menge sogar! Die Romane von Anne Tyler (z. B. „Die Reisen des Mr. Leary“) finde ich großartig, das ist ganz klassische Erzählkunst. Kazuo Ishiguros „Alles was wir geben mussten“ hat mich mehr als beeindruckt. Harald Martensteins Humor ist immer wieder genial, genau wie der von Wais Kiani oder David Sedaris. Charlotte Link, Peter James, Stephen King (den MUSS man wenigstens einmal gelesen haben!) … Aber auch Klassiker wie Edgar Allan Poe, Henry James, Jonathan Swift, Goethe … Ach, es sind einfach viel zu viele, um sie auch nur annähernd aufzuzählen. Aber eines ist für mich klar: Schreiben lernt man am besten durch Lesen!

3.)    Wann und wo schreiben Sie am liebsten?

Gar nicht. Also, das klingt jetzt seltsam, denn ich liebe ja das Schreiben. Aber noch mehr liebe ich es, wenn ich mit einem Text fertig bin und etwas anders machen kann. Ansonsten versuche ich, zu ganz normalen Arbeitszeiten zu schreiben, für Nachtschichten, wie ich sie früher oft eingelegt habe, bin ich mittlerweile zu alt 😉 Allerdings: Vor elf Uhr am Vormittag bringe ich selten eine Zeile zu Papier.

4.)    Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen?

„Das Lächeln der Frauen“ (Piper) von Nicolas Barreau. Ein richtig schöner Lieberoman. So etwas lese ich selten, aber das war wirklich ein fluffiges und amüsantes Buch.

5.)    Was würden Sie einem jungen Schriftsteller raten?

Wer ein Buch schreiben will, muss sich hinsetzen und einfach anfangen, anders wird es nichts.

Herzlichen Dank an Wiebke Lorenz für die Beantwortung meiner Fragen!

Alles muss versteckt sein – Wiebke Lorenz

91OYAuTtslLDie Schriftstellerin Wiebke Lorenz wurde 1972 in Düsseldorf geboren und studierte Germanistik, Anglistik und Medienwissenschaft. Heutzutage lebt sie in Hamburg und ist journalistisch tätig, schreibt aber auch Drehbücher für TV-Filme. Ihre bisherigen Romane “Liebe, Lügen, Leitartikel”, “Was? Wäre? Wenn?” und “Allerliebste Schwester” waren sowohl bei der Kritik, als auch beim Publikum erfolgreich.

“Weißt du, wozu du fähig bist? Ahnst du es auch nur ansatzweise?”

Im Mittelpunkt von “Alles muss versteckt sein” steht die junge Kindergärtnerin Marie Neumann, die für den Mord an ihrem Lebensgefährten Patrick in der Psychiatrie sitzt. In Haus 20 auf Station 5. Marie leidet unter Zwangsgedanken, eine Form der psychischen Erkrankung, die im Roman eine zentrale Rolle spielt. Marie wird von düsteren Visionen und Bildern heimgesucht und diese Visionen richten sich immer häufiger gegen Dinge, die sie eigentlich liebt. Wenn sie eine Mutter mit einem Baby auf der Straße sieht, stellt sie sich vor, das Kind zu töten, fallen zu lassen, qualvoll sterben zu sehen. Diese Visionen richten sich auch gegen ihren Lebensgefährten, den Schriftsteller, Patrick Gerlach. Marie sucht sich Hilfe in einem Internetforum, findet Unterstützung unter anderen Zwangserkrankten und der Satz “Denken ist nicht tun!” ihrer Freundin Elli wird zu ihrem neuen Lebensmotto.

“[…] draußen und unter Menschen ereigneten sich in meinem Kopf nur die furchtbarsten Dinge, ich wütete und mordete, ohne dass ein Außenstehender etwas davon ahnte. Ich war eine Täterin ohne Tat. Noch. Und jede Minute, jede Sekunde hatte ich Panik davor, dass es nicht so bleiben würde. Dass ich irgendwann die Kontrolle über mich verlieren und irgendetwas Schreckliches tun würde.” 

Doch dann werden Maries schlimmste Befürchtungen Wirklichkeit:  aus dem Denken ist schließlich doch ein Tun geworden. Marie sitzt in der Psychiatrie, nachdem sie Patrick die Kehle durchgeschnitten hat und ihn anschließend mit siebenundzwanzig Messerstichen niedergemetzelt hat. Sie ist am Morgen nach der Tat neben ihm – mit dem blutigen Messer in der Hand – aufgewacht.

“Am schlimmsten ist die Ungewissheit. Dass sie nicht sagen kann, ob sie es wirklich getan hat oder nicht, nicht mit vollkommener, nicht mit endgültiger Sicherheit. Denn da ist keine Erinnerung, nicht das kleinste Überbleibsel in ihrem Gedächtnis von dieser Nacht, in der es passiert ist. Nur Beweise. Erdrückende Beweise und Indizien, die allesamt dafür sprachen, dass sie es gewesen ist, dass da nicht der geringste Zweifel an ihrer Schuld besteht.”

Das einzige, was Marie weiß, ist, dass sie ein Monster ist und dass ihre furchtbaren Visionen scheinbar Wirklichkeit geworden sind. Lange verweigert sich Marie der Therapie in der Psychiatrie und knüpft nur langsam Vertrauen zu Dr. Jan Falkenhagen, dem Oberarzt auf der Station. Die Ungewissheit, die Schuldgefühle, die Erinnerungen und die Trauer um den Verlust ihres Lebensgefährten nagen Tag und Nacht an Marie, doch mit der Zeit gelingt es ihr mit der Hilfe von Dr. Falkenhagen Licht in die letzten dunklen Stunden ihres Lebens in Freiheit zu bringen. Marie muss feststellen, dass die Wirklichkeit sehr viel schlimmer ist als alles, was sie sich jemals hätte vorstellen können …

Wiebke Lorenz erzählt in “Alles muss versteckt sein” eine Geschichte, die sich aus mehreren Ebenen zusammensetzt: zum einen steht der bedrückende Alltag in der Psychiatrie im Mittelpunkt und die anderen Patienten, zu denen Marie Kontakt knüpft. In den Gespräche mit Dr. Falkenhagen wirft Marie einen Blick zurück in ihre Vergangenheit, seziert ihr Leben und ihre Beziehungen bis zu dem Moment, an den sie keine Erinnerungen mehr hat. Die Tatnacht. Ergänzt wird die Erzählung darüberhinaus mit Tagebucheinträgen und E-Mails von Marie.

Der Autorin gelingt es auf ihre ganz eigene Art und Weise eine schier unerträgliche Spannung aufzubauen, die zwischendurch fast zum Haare raufen ist. Stellenweise fühlte ich mich schon fast gezwungen, immer weiter zu lesen, um endlich die Wahrheit herauszufinden. Wiebke Lorenz erzählt mit einer ungeheuren Ruhe und Gelassenheit und generiert gerade dadurch eine Spannung die zwischendurch förmlich spürbar ist. Die Auflösung am Ende des Romans ist ein filmreifer Showdown und beinahe schon eine Überraschung, auf die ich nie gekommen wäre, die mich aber dennoch überzeugen konnte.

Im Mittelpunkt des Romans stehen die Zwangsgedanken von Marie, eine psychische Erkrankung, von der ich zuvor noch nicht viel gehört hatte. In einem kleinen Rahmen leiden viele Menschen unter Zwangsgedanken, wie beispielsweise dem magischen Denken. Auch auf den Aberglauben trifft man immer wieder. Problematisch wird es, wenn der Gedanke an den Zwang überhand nimmt, wenn er alles bestimmend wird und die Betroffenen nicht mehr in der Lage sind, ein normales Leben zu führen. Wiebke Lorenz hat “Alles muss versteckt sein” ein sehr schön erklärendes Nachwort angefügt, genauso wie eine Literaturliste zu dieser Thematik.

“Alles muss versteckt sein” ist mein erstes Buch von Wiebke Lorenz und ein spannender Ausflug in ein mir bisher noch unbekannteres Genre gewesen. Für mein Empfinden ist “Alles muss versteckt sein” jedoch kein typischer Thriller, denn die Spannung des Buches lebt vor allem durch die Bilder im eigenen Kopf, die beim Lesen erzeugt werden und durch die beklemmende Atmosphäre, die durch Wiebke Lorenz meisterhaft heraufbeschworen wird. Insgesamt habe ich diese Lektüre als eine schöne und spannende Abwechslung von meinem sonstigen Lesealltag empfunden.

Heartcore. Liebe ist ein Aufstand – Johanna Merhof

Johanna Merhof wurde 1982 geboren und hat Neuere Deutsche Publizistik in Berlin studiert. Für  Welt Online hat sie die Kolumne “Heartcore” geschrieben. Heutzutage arbeitet sie als freie Autorin.

“Die Liebe ist unsere einzige Möglichkeit, als Erwachsene noch magisch zu denken: Alles ist plötzlich wieder neu und wichtig, jede Handbewegung, jeder Wimpernschlag ist ein Augenzwinkern des Schicksals. Ich wünsche Ihnen eine Zeit, in der Ihre Liebe aus dem Winterschlaf erwacht. Eine Liebe, die gekommen ist, um zu bleiben.”

Ein Buch über die Liebe? Ein erzählerisches Sachbuch? Als ich es mir im Sessel gemütlich machte und die erste Seite von Johanna Merhofs Buch “Heartcore” aufschlug, wusste ich nicht wirklich, was mich erwarten würde. Auch jetzt, nach dem Zuklappen der letzten Seite fällt es mir schwer in Worte zu fassen, was ich da eigentlich gelesen habe. Ich kann es mit meinem Verstand nicht erfassen, aber ich habe es beim Lesen fühlen können: “Heartcore” ist ein Buch, mit dem man sich wohlig warm fühlen kann.  Johanna Merhofs Texte vermitteln etwas von der kindlichen Magie und Reinheit, die auch die Liebe stellenweise immer noch umweht.

Aber von vorn: “Heartcore – Liebe ist ein Aufstand” ist in insgesamt sieben Abschnitte unterteilt: Abheben,  Schweben, Abstürzen, Soloflug, Landen, Vögeln und Schluss, Aus, Weiterfliegen.  Im Anhang gibt es eine Playlist zu jedem Abschnitt, schon an diesem Detail wird deutlich, welche Rolle die Musik in diesem Buch spielen soll. Jeder Abschnitt beginnt mit einer kurzen Zusammenfassung, diese steht unter dem Motto: “Was man im Folgenden lieben kann: […]”.

“Was man im Folgenden lieben kann: die Wurzeln. Wo wir herkommen, erzählt etwas darüber, wo wir hinwollen, vor allem verrät es, warum wir wurden, was wir sind. Was sich eingebrannt hat: chaotische Weihnachten unterm schiefen Tannenbaum und die Sehnsucht nach unschuldigeren Tagen, die immer unerfüllt bleiben muss, weil wir leider nur älter werden können. Die erste Liebe. Erste und zweite Küsse. Mütter, die Leben retten können. Feste, die zu Recht gefeiert werden. Mit Würde zu erröten lernen, wenn das denn ginge. Am Ende dann: Trennungen, bei denen man nur Zuschauer ist. Ein Scheidungskind zu sein und trotzdem zu überleben. Und ein paar Songs von damals und heute, die man laut hören sollte. Um sich zu freuen, dass höchstens die Nachbarn heute noch ein Wörtchen beim Aufdrehen mitzureden haben. Erwachsenwerden? Gibt ja wenig Alternativen. Legen wir uns für das ‘Wie’ ins Zeug.”

Im Mittelpunkt der kurzen Episoden, die alle einen Songtitel als Überschrift haben, steht die Liebe in allen möglichen Variationen. Es geht um das Leben und es geht um die Liebe, denn “Leben lernen [heißt] auch lieben lernen, auch wenn sie die Lektionen nie mit Namensschild ausweisen”. Johanna Merhof schreibt über ihre Familie: ihre Familie ist für sie ein Ort, an den sie immer wieder zurückkehren kann, auch wenn es natürlich mal Konflikte zwischen ihnen gibt, genauso wie “todtraurige Zustände”. Sie erzählt von Weihnachtsfesten und von der Scheidung ihrer Eltern. Ein Ereignis, das ihr Leben nachhaltig erschüttert hat und ihr die “dunkle Seite der Liebe” offenbart hat.

“Von der Liebe merkte man 1995 nicht viel. Von ihrer dunklen Seite umso mehr. Was mir wehtat, war, dass das, was hier in seinen letzten Atemzügen lag, nie mehr wiederzubeleben war, und damit meine ich nicht nur die Ehe meiner Eltern. Es war der Glaube an das Unerschütterliche der Familie. Es war der Zusammenbruch des Gefühls, dass die Eltern immer eine Antwort haben. Trost jeweils nur ein paar Meter entfernt ist. Scheidungskinder lernen vielleicht früher als andere, was Verlust bedeutet, den man nicht aufhalten kann, wie fragil Sicherheiten sind. Sie lernen, wie schwach der Mensch ist.”

Johanna Merhof erzählt von Flugzeugen im Bauch und dem Kopf in den Sternen. Sie bezeichnet die Liebe als Aufstand – “wider wissenschaftliche Erkenntnisse, entgegen der eigenen Lebenserfahrung“:

“Liebende sind die letzten Rebellen unserer Zeit. Sie sind ungemütlich, weil sie uns an Gefühle erinnern, die so groß sind, dass sie im Alltag schwer Platz finden, weil sie Herz und Verstand sprengen.”

Man erfährt von ihren schwedischen Liebhabern und davon, dass es mit beiden nicht funktioniert hat. Nach dem Abheben folgt der Absturz, die Trennung, das Alleinsein, das Zurückwollen – Tage die man nur mit guten Freunden und eiskaltem Wodka übersteht. Und sie erzählt von einer endgültigen und einseitigen Trennung, als sich ihre Jugendliebe Oskar das Leben nimmt. Johanna Merhof erzählt von Dates, SMS und von der Traurigkeit, wenn es wieder einmal vorbei.

Es geht in “Heartcore – Liebe ist ein Aufstand” jedoch nicht nur um die Liebe zu einer anderen Person, sondern auch um die Liebe zu sich selbst und zu Dingen, an denen man Freude hat:

“Leidenschaften, die kein Gegenüber brauchen, und Liebe zu allem, was gegen jede Gewitterlaune bleibt, und Existieren in Leben verwandelt: Man selbst, die wichtigste Beziehung des Lebens. Daneben Musik. Mehr Musik. Bücher, Filme, Kunst, der Wald, Himmel, Schnittblumen, Nahrung und Schmusen mit der Katze […].”

Die größte Liebe ihres Lebens ist für Johanna Merhof eindeutig die Musik und diese Tatsache wird auch auf jeder Seite dieses Buches spürbar. Noch bei keinem anderen Buch zuvor habe ich mir so sehr gewünscht, einen Soundtrack zum Buch besitzen zu können.

Die Frage, was “Heartcore” nun eigentlich ist, kann ich auch jetzt – am Ende meiner Besprechung – kaum beantworten und ich glaube auch, dass jeder Leser diese Frage für sich anders beantworten wird. Für mich ist “Heartcore” eine Art Lebensanleitung, ein Handbuch, ein Ratgeber: Johanna Merhof regt mit ihren Texten dazu an, den Blick auf das Wesentliche zu wenden und strahlt dabei eine ungeheure Leichtigkeit aus, die ergänzt wird mit Selbstironie und einer ordentlichen Portion positivem Denken. “Heartcore” hat einen Nerv bei mir getroffen, weil ich mich in vielen Beschreibungen wiedergefunden habe. Etliche Post-Its kleben mittlerweile im Buch, markieren Stellen die mich begeistert haben, aber auch viele Stellen, die mich zum Nachdenken angeregt haben. “Heartcore” hat mich vor allem auch aufgrund der sehr schönen, eingängigen Sprache begeistert. Johanna Merhof beschreibt im Grunde Banalitäten und doch tut sie dies auf so verzaubernde Art und Weise, dass ich das Buch zwischendurch kaum noch aus der Hand legen konnte. Ich habe “Hearcore” nicht in mein Bücherregal eingeordnet, stattdessen liegt es an meinem Bett und in Momenten der Traurigkeit, des Schmerzes, aber auch in Glücksmomenten greife ich zu dem Buch und fühle mich aufgehoben, geborgen und fast immer in irgendeiner Form bestätigt.

Aus den Fugen – Alain Claude Sulzer

Alain Claude Sulzer ist ein Schweizer Schriftsteller, der schon zahlreiche Erzählungen und Romane in den vergangenen Jahren veröffentlicht hat. Für seine Texte hat er eine Vielzahl an Preisen erhalten, zuletzt den Médicus étranger 2008 und den Hermann-Hesse-Preis 2009. Vor einigen Monaten habe ich seinen Roman “Zur falschen Zeit” gelesen, der mir ausgesprochen gut gefallen hat. In diesem Jahr erschien von Alain Claude Sulzer der Roman “Aus den Fugen”, für den er auch für den Schweizer Buchpreis nominiert wurde.

In “Aus den Fugen” erzählt Alain Claude Sulzer die Geschichte von einer Vielzahl an Figuren, die alle um die Hauptfigur Marek Olsberg kreisen. Olsberg ist ein Starpianist. Mit seiner Musik füllt er große Konzertsäle und reist um die ganze Welt. Seit seinem achten Lebensjahr ist Marek Olsberg auf einer unendlichen Reise durch die Welt und auf allen Kontinenten:

“Er war ein Reisender in eigener Sache. Er war die Sache, die auf das Reisen angewiesen war. Er und die Musik.”

Marek Olsberg lebt alleine, eine Partnerschaft wäre mit seinem hektischen Lebensstil beinahe unmöglich zu führen. Lange scheint er mit diesem Verzicht leben zu können, denn die Musik ist ihm wichtiger, sie steht über allem anderen.

Im Mittelpunkt von “Aus den Fugen” steht das Klavierkonzert, das Olsberg in der Berliner Philharmonie spielen soll. Das Konzert findet kurz vor seinem fünfzigsten Geburtstag statt, ein Ereignis, das für Olsberg eine Art Wendepunkt symbolisiert. Eine Art unsichtbare Linie, die er überschreiten muss und auf dessen anderer Seite er möglicherweise nicht mehr derselbe Mensch ist, wie davor.

“In wenigen Wochen würde er fünfzig werden, und er wollte diese Schwelle nicht überschreiten, ohne eine Entscheidung zu treffen. Aber er hatte keine Ahnung, wie diese aussehen sollte, auch nicht, wozu sie gut sein könnte. Es war nur so eine Idee. Sich zu entscheiden bedeutete möglicherweise auch weiterhin, nicht umzukehren.”

Dies ist der Ausgangspunkt des Romans und anhand diesem komponiert Alain Claude Sulzer sehr feinfühlig und geschickt das Schicksal mehrerer Personen, die alle auf ganz unterschiedliche Art und Weise mit dem Konzert in der Berliner Philharmonie verknüpft sind. Alain Claude Sulzer erzählt aus unterschiedlichen und wechselnden Perspektiven, umkreist dabei jedoch immer das Konzert in der Berliner Philharmonie, das Handlungsort des Romans ist. Bei den anderen Figuren handelt es sich um Besucher des Konzertes, um Olsbergs Sekretärin, um einen Kellner für den anschließenden Empfang.

Allen Figuren gemeinsam ist die Tatsache, dass ihr Leben in irgendeiner Form aus den Fugen geraten ist. Da ist Solveig, die von ihrem Mann verlassen wurde und verzweifelt darum bemüht ist, jemanden neuen zu finden. Ihre Freundin Esther, die sich Solveig gegenüber überlegen fühlt, in dem Glauben eine nach außen glückliche Ehe zu führen, die jedoch innen schon lange hohl und leer ist.

“Sie war nicht anders als jene, die sie verachtete. Aber sich selbst verachtete sie nicht. Das hatte nicht zuletzt damit etwas zu tun, daß sie mit Thomas eine gute Ehe führte. Eine gute Ehe war eine, um die die anderen einen beneideten.”

Alain Claude Sulzer erzählt von Johannes, der ein Jetset-Leben führt und seine Frau unterwegs mit Escortdamen betrügt. Sie glaubt ihm schon lange nicht mehr, dass er ihr treu ist, aber er ist zu sehr von sich überzeugt, um dies bemerken zu können. Sophie wurde der neue Mann ausgespannt, von ihrer eigenen Schwester. Sie trinkt zu viel und mittlerweile merkt man schon in ihrem Arbeitsumfeld, dass Sophie ein Problem hat. Lorenz hat sein Mathematikstudium abgebrochen, seine Karriere als Schachspieler ist einfach im Sande verlaufen, heutzutage jobbt er in Teilzeitarbeit – er ist eine Springerkraft. Seine Träume und Wünsche haben sich für ihn nicht erfüllen können, aber er weiß auch nicht, was er tun soll, um etwas an seiner Situation zu ändern.

Dies sind nur einige der Figuren, die Alain Claude Sulzer in seinem Roman beschreibt. Es sind diejenigen, deren Schicksal mir am eindrücklichsten in Erinnerung geblieben. Manche Figuren sind mir beim Lesen jedoch auch fern geblieben, nicht alle konnten mich wirklich erreichen. Sulzers Figuren haben Ecken und Kanten, sie wirken spröde und wenig greifbar. Es gibt kaum eine Figur, mit der man wirklich mitfühlen kann, kaum eine Figur mit Identifikationspotential.

Allen Figuren gemeinsam ist zudem ein Moment des Schreckens während des Konzerts von Marek Olsberg: dieser verlässt mitten in der Hammerklaviersonate das Konzert. Er klappt den Klavierdeckel zu und manche Zuschauer glauben, ihn “Das war’s dann” murmeln gehört zu haben. Wie konnte das passieren? Warum hat sich Olsberg zu diesem radikalen Schritt entschieden, der kaum noch ein Zurück ermöglicht? Was hat ihn dazu getrieben auszubrechen aus seinem bisherigen Leben? Woher hat er den Mut zu diesem Schlussstrich gefunden? All dies sind Fragen, mit denen sich der Roman beschäftigt, dessen Handlung auf diesen Höhepunkt zusteuert, um sich danach mit dessen Ursachen zu beschäftigen.

Alain Claude Sulzer hat seinen Roman “Aus den Fugen” hervorragend und sehr beeindruckend komponiert. Der Titel ist nicht zufällig gewählt, der Roman selbst ist beinahe wie eine Fuge aufgebaut. Dazu kommt die symbolische Bedeutung, da auch das Leben der meisten Figuren  aus den Fugen geraten ist. Eine Tatsache, die auch im Text immer wieder aufgegriffen wird:

“Sein Leben war aus den Fugen geraten. Er war allein. Er war frei.  Niemand folgte ihm. Ähnlich musste es einem Selbstmörder ergehen, der ohne Rücksicht auf das, was die anderen denken mochten, auf sein Ziel zuging, ohne sich umzublicken. Aus den Fugen, um sich in alle Richtungen zu verzweigen.”

“Aus den Fugen” überzeugt mich vor allem durch seine Komposition, aber auch sprachlich ist der Roman beeindruckend. Alain Claude Sulzer schreibt in einem nüchternen und unaufgeregten Ton und gibt in kurzen Ausschnitten Einblicke in die Leben von einer Vielzahl an Menschen, die man einen Stück des Weges begleitet, bevor sie wieder verschwinden, ohne das man erfährt, wie sich das Leben für sie weiterentwickelt.

Ein schöner Roman, den ich sehr gerne gelesen habe und den ich gerne weiterempfehlen möchte. Ich freue mich bereits jetzt darauf mehr von Alain Claude Sulzer zu lesen.

Der Winter tut den Fischen gut – Anna Weidenholzer

Die junge Schriftstellerin Anna Weidenholzer wurde 1984 in Linz geboren und lebt heutzutage in Wien. Sie hat Vergleichende Literaturwissenschaft in Österreich und Polen studiert und hat bereits einige Texte in Literaturzeitschriften und Anthologien veröffentlicht. Trotz ihres jungen Alters hat sie schon jetzt sowohl Preise und Auszeichnungen als auch Stipendien erhalten. 2010 erschien ihr Debütroman “Der Platz des Hundes”. In diesem Jahr hat der Residenz Verlag ihren zweiten Roman “Der Winter tut den Fischen gut” veröffentlicht. Ich hatte das Glück, das Buch bei Blogg dein Buch zu gewinnen.

“Ich bin immer noch hier, wo es regnet und manchmal die Sonne scheint.”

Anna Weidenholzer erzählt in ihrem Roman “Der Winter tut den Fischen gut” die Geschichte von Maria Beerenberger. Maria hat Zeit, denn sie hat keine Arbeit mehr. Sie hat lange Jahre als Textilfachverkäuferin gearbeitet, ihre Anstellung jedoch verloren, weil es ihrem Arbeitgeber schlecht ging und dieser Stellen einsparen musste. Maria fragt sich, was sie falsch gemacht hat. Sie ist nicht alt, aber auch nicht mehr so jung, dass sie problemlos eine neue Tätigkeit finden könnte. Sie leidet unter ihrer Beschäftigungslosigkeit. Sie verbringt ganze Tage auf einer Parkbank vor einer Kirche, mit dem Handy am Ohr, Hauptsache beschäftigt wirken.

“Wer immer zu Hause bleibt, entkommt der Welt nicht. Der Tag vergeht, das Licht verbrennt. Fangen wir wieder von hinten an.”

Für den Arbeitsmarkt ist Maria zu unflexibel, darüber hinaus besitzt sie kein Auto. Überhaupt: Textilfachverkäuferinnen werden heutzutage kaum noch gesucht. Maria war sechs Monate am zweiten Arbeitsmarkt – in einem Sozialökonomischen Betrieb – ohne den Sprung zurück in den ersten Arbeitsmarkt zu schaffen.

“Ab fünfundvierzig wird es zunehmend schwierig, warum sollte sich ein Arbeitgeber für Sie entscheiden, wenn hinter Ihnen eine ganze Reihe junger attraktiver Verkäuferinnen steht. Warum, Frau Beerenberger. Überlegen Sie sich Argumente, Sie müssen überzeugend auftreten. Es gibt nur wenige Stellen, man muss ein Bewerbungsprofi sein, damit einen die Personalberater nicht am linken Fuß erwischen.”

Maria lebt alleine, sie ist verwitwet. Die Ehe mit dem Elvis-Imitator Walter war nicht immer die glücklichste.  Sie fühlt sich allein und es gibt Tage, an denen sie sich wünscht, “es wäre jemand hier, der einem über den Kopf streicht. Egal, wie schmutzig die Hände sind, Hauptsache, sie sind groß.”

Anna Weidenholzer erzählt Marias Geschichte rückwarts, in 54 kleine Episoden unterteilt. Die Geschichte setzt sich wie kleine Puzzleteilchen zusammen – Episode für Episode, Seite für Seite, erfährt man mehr über Marias Leben. Bilder setzen sich zusammen, man findet Erklärungen, kann Zusammenhänge herstellen.

Anna Weidenholzer ist das beeindruckende Porträt einer Frau gelungen, in dessen Mittelpunkt der Verlust von Arbeit steht und welche Auswirkungen dieses auf das Leben von Menschen haben kann. In den Materialien am Ende des Buches nennt Anna Weidenholzer unterschiedliche Quellen, unter anderem den Titel “Die Arbeitslosen von Marienthal”, eine Sozialstudie, die mich bereits während meines Studiums beeindruckt hat.

Zunächst fällt es Maria schwer zu begreifen, dass sie ihre Arbeit verloren hat. Sie versucht es zu verheimlichen und zu vertuschen. Vor Freunden, aber auch  vor sich selbst.

“Sie steht aufrecht. Ich komme aus der Arbeit, würde sie sagen, würde sie jemand fragen, was sie hier macht. Wo arbeiten Sie, könnte er oder sie weiter fragen, worauf Maria antworten würde: In einer kleinen Boutique, ich hatte heute meinen ersten Arbeitstag. Maria würde nicht von einem Transitarbeitsplatz, von einem Sozialökonomischen Betrieb sprechen.”

Anna Weidenholzer thematisiert auch die psychische Belastung von Arbeitslosigkeit: Maria fühlt sich häufig erschöpft, hat den Eindruck, sie kommt zu vielen Dingen nicht mehr – dabei müsste sie nun, ohne Anstellung, doch eigentlich mehr Zeit und Ruhe haben. Auch die Gespräche zwischen Maria und ihren Berufsberatern werden in den einzelnen Episoden immer wieder thematisiert. Maria hat aufgrund ihres Alters kaum eine Chance auf den Arbeitsmarkt zurückzukehren, zumindest nicht in den von ihr gewünschten Bereich, in den Textilfachverkauf. Maria war viele Jahre lang mit Leib und Seele Textilfachverkäuferin, das Fühlen und Anfassen von Stoffen, war ihr Leben. Genauso wie das Verkaufen und Beraten. Jetzt wird ihr angeboten, Wurst zu verkaufen.

“Weil ich ein einziges Mal Nein gesagt habe, hat er mich gesperrt. Ja, gesperrt, der Kollege meiner Beraterin, die auf Urlaub war und irgendwo in der Sonne lag, auf Urlaub oder krank, es macht keinen Unterschied. Was das bedeutet. Es bedeutet, dass mir nach Paragraph zehn für sechs Wochen das Arbeitslosengeld gestrichen wurde. Nein, ich lache nicht. Lache ich. Ich habe drei Eigenbewerbungen in der Woche verschickt, aber ich habe mich nicht um die Stelle in der Feinkost beworben. Und weil ich mich nicht beworben habe, bin ich für sechs Wochen gesperrt. Wissen Sie, ich habe gelernt mit Stoffen umzugehen und nicht mit Wurst. Wissen Sie, wie es ist, drei Bewerbungen pro Woche zu schreiben und auf Briefe zu warten, auf Antworten zu warten, auf Einladungen. Mir macht das nichts. Nein, mir macht das wirklich nichts, ich bin nicht mehr wählerisch, wenn da steht: Schuhverkäuferin, dann schau ich mir das an, obwohl ich keine Schuhe verkaufen möchte. Alles ist eine Möglichkeit, aber Wurst, Wurst verkaufe ich nicht.”

Mich hat Anna Weidenholzers Roman “Der Winter tut den Fischen gut” sehr beeindruckt. Die Tatsache, dass die Geschichte von vorne nach hinten erzählt wird, dass der Erzählstrom rückwärts fließt,  ist zunächst verstörend und ungewöhnlich, weil nicht sofort alle Zusammenhänge klar erscheinen, führt jedoch auch dazu, dass man den Text mit noch mehr Konzentration und Aufmerksamkeit liest. Maria ist eine ungewöhnliche Hauptfigur: sie wirkt verschroben und seltsam und dennoch liebenswert. Der Verlust ihrer Arbeit hat sie völlig aus der Bahn geworfen. Die Welt und das Leben der anderen dreht sich weiter, nur Maria und ihr ganzes Leben sind zum Stillstand gekommen. Maria ist mir sehr nahe gekommen. Beim Lesen des Buches musste ich manchmal an Toto, die Hauptfigur in Sibylle Bergs Roman “Vielen Dank für das Leben”, denken.

Im Mittelpunkt des Romans steht ein Thema, das so wichtig und zentral ist, da es mittlerweile immer mehr Menschen betrifft: der Verlust von Arbeit, die Auswirkungen von langanhaltender Arbeitslosigkeit, aber auch der Weg zurück auf den Arbeitsmarkt bei älteren Menschen.  Erstaunlicherweise ist dies dennoch der erste Roman, den ich lese, der sich mit dieser Thematik beschäftigt. Anna Weidenholzer ist dabei ein sprachlich herausragender und sehr berührender Roman gelungen, der mich gefangen genommen und sehr lange nicht mehr losgelassen hat.

“Der Winter tut den Fischen gut” ist ein erstaunlicher Roman, großartig, berührend, ungewöhnlich – eine ganz große Empfehlung.

Wald aus Glas – Hansjörg Schertenleib

Download (64)Der Schriftsteller Hansjörg Schertenleib wurde 1957 geboren und lebt in Irland und Suhr. Seine Romane wurden bereits mehrfach mit Preisen ausgezeichnet und in unterschiedliche Sprachen übersetzt. Zuletzt sind von ihm die Romane “Nachtschwimmer” und “Cowboysommer” erschienen.

In seinem aktuellen Roman “Wald aus Glas” erzählt Schertenleib von zwei Frauenschicksalen, die er unheimlich feinfühlig miteinander verknüpft. Die zweiundsiebzigjährige Roberta Kienesberger lebt in einem Altersheim. Diese Entscheidung hat sie nicht freiwillig getroffen, sie war aufgrund von Umständen, die sie nicht beeinflussen konnte, dazu gezwungen ihre Wohnung zu verlassen – die Polizei musste sie heraustragen und ins Altersheim bringen. Ihren Hund Prinz musste sie in einen Hundezwinger geben. Mit dem Umzug ins Altersheim hat man ihr alles genommen, was ihr zuvor etwas bedeutet hat.

“Es ist doch bald vorbei, dachte sie, und ich vertue die Zeit, die mir bleibt, an einem Ort, an dem ich nicht freiwillig bin. Ein Kirschbaum bin ich, krumm und verwachsen, der immer noch Früchte trägt.”

Roberta möchte sich nicht abfinden mit der Situation, in der sie sich seit drei Monaten befindet. Zwanzig Jahre lang hat sie in einer Schreinerei als Sekretärin gearbeitet. Dieses selbstbestimmte Leben ist nun vorbei.

“Sie hatte lange nicht mehr an früher gedacht, aber seit einiger Zeit tat sie es. Es waren keine Szenen, die sie vor sich sah, es waren Bilder, sie erinnerte sich an das Licht über der Wiese hinter dem Elternhaus, wenn sie morgens im Nachthemd aus dem Fenster des Kleinhäuslerhofes geblickt hatte, erinnerte sich an ihre vier Kühe am Trog, die gefleckten Schädel nach ihr umgewandt. Sie sah den Krähenschwarm in den Bäumen hinter dem Schuppen mit der Werkstatt des Stiefvaters hocken, sah die neue Brücke über die Traun, drunten, im Ort, roch das flaschengrüne Flusswasser, das unter ihr vorbeizog, und den Malzkaffee, den ihr Stiefvater Johann trank, bevor er mit dem Rad in die Saline fuhr, wo er Schicht arbeitete, hörte das Summen der elektrischen Schreibmaschinen im Schulungsraum über der Papeterie in Bad Ischl, wo sie einen Kurs belegte.”

Hansjörg Schertenleib erzählt jedoch nicht nur Robertas Geschicht, sondern auch die von Ayfer Boskül, einem jungen fünfzehnjährigen türkischen Mädchen, das mit ihren Eltern in der Schweiz lebt. Sie ist seit einigen Monaten in den Jungen Davor verliebt und wurde von ihrem strenggläubigen Vater zurück in die Türkei geschickt. Dort soll sie  bei dem älteren Bruder ihres Vaters eine Ausbildung im Hotel Eysan machen. Ayfer leidet unter dem Leben in der Türkei und der Behandlung ihrer Verwandten, aber vor allem unter der Trennung von Davor.

“[…] Sehnsucht war ein Schmerz, der tief in der Brust saß und brannte wie ein Feuer, das mit jedem Gedanken an den Menschen, nach dem man sich sehnte, neue Nahrung bekam.”

Beide Frauen – Roberta und Ayfer – leiden unter ihrer Situation, die sich für sie wie Gefangenschaft anfühlen muss: in der Fremde gefangen, ohne die Dinge, die beide vorher geliebt haben. Beide entscheiden sich dazu, eine riskante Entscheidung zu treffen: Roberta möchte zurück zu ihrem Hund und gemeinsam mit ihm Orte ihrer Kindheit aufsuchen und Ayfer möchte zurück in die Schweiz, um wieder mit Davor zusammen sein zu können, aber auch, “um die Frau zu werden, die ich sein will, nicht die, die sich meine Eltern vorstellen”.

“Mit einem mal wusste sie, dass sie sich heute Nacht auf den Weg machen würde. Es ist ganz und gar nicht gleichgültig, wo man sich befindet, auch wenn man keinen Ort mehr hat auf der Welt. Ich verblasse, ich löse mich auf, hatte Roberta gedacht, als sie vor einigen Tagen zufällig ihr Spiegelbild erblickt hatte. Worauf wartest du denn noch? fragte sie sich. Die Angst wird auch morgen da sein, also geh, geh endlich!”

Beide entscheiden sich zur Flucht und erleben auf dieser einige schwierige und aufregende Situationen, aber auch schöne: sie lernen Menschen kennen, knüpfen Freundschaften. Hansjörg Schertenleib beweist beim Erzählen der Geschichte sehr viel Geschick. Es gibt einen Moment, an dem er die Fluchtwege der beiden Frauen kreuzen lässt. Diese zufällige Begegnung wird aus beiden Perspektiven erzählt.

Der Roman besticht neben dem Inhalt auch durch seine gelungene Komposition: er beginnt mit einer Art Prolog, einem Vorspann, der den Leser mitten hinein führt in die beiden miteinander verzweigten Geschichte. Sicherlich überraschend ist, dass man bereits auf den ersten Seiten erfährt, wie die Geschichte der beiden Frauen enden wird, ohne jedoch genauere Hintergründe zu erfahren. Dieser literarische Kniff ist unheimlich gelungen und hat bei mir für sehr viel Neugier und Spannung gesorgt, da ich unbedingt erfahren wollte, was zu diesem Ende geführt hat.

Hansjörg Schertenleib hat sich dazu entschieden, den Roman abwechselnd aus der Sicht Robertas und Ayfers zu erzählen. Der Roman ist in drei Teile geteilt: In der Fremde, Auf dem Weg und Zu Hause. Die Titel der Abschnitte stehen für das, was Roberta und Ayfer durchmachen, für das was sie erleben. Beide müssen auf erschreckende Weise feststellen, dass das Ziel des Weges – das nach Hause kommen – nicht gleichgesetzt werden darf mit Glück, mit Zufriedenheit.

“Für das, was dich erwartet, die Begegnung mit deiner eigenen Vergangenheit, mit deiner eigenen Herkunft, gibt es keinen Schutz.”

Der Roman besticht vor allem durch seine grandiose Komposition. Gut gefallen haben mir aber auch die landschaftlichen Beschreibungen, die sich durch sehr viel Liebe zu einem genauen Beobachten und feinen Details auszeichnen.

“Die Wolkenbank, die sich schnell über den Himmel schob, war schieferfarben, das Sonnenlicht, gefiltert durch die Zweige der Bäume, sprenkelt die Fassade mit Flecken, die tanzten, wenn der Wind auffrischte.”

Hansjörg Schertenleib findet trotz des brisanten Inhalts des Romans einen unaufgeregten Erzählston, der mich beim Lesen sehr begeistert und beeindruckt hat. Er erzählt mit sehr viel Ruhe und Souveränität und komponiert dabei eine Geschichte von zwei ganz besonderen Frauen, auch wenn ich zugeben muss, dass mich das Schicksal von Roberta stärker erreichen konnte, als das von Ayfer.

“Wald aus Glas” ist ein großartiger Roman, dessen Geschichte mich gefangen genommen und lange nicht mehr losgelassen hat. Der Roman ist berührend, poetisch dicht gewebt und erzählt die Geschichte zweier Frauen, die mich sehr berührt hat. Es ist lange her, dass ich ein Buch auch noch mitten in der Nacht in der Hand hielt und einfach nicht zur Seite legen konnte. So ging es mir mit “Wald aus Glas” und ich freue mich schon darauf, noch mehr von dem Autor entdecken zu dürfen.

Der Duft des Sussita – Robert Scheer

Der Schriftsteller Robert Scheer wurde 1973 in Carei, einer Stadt in Rumänien, geboren. Ungarisch ist seine Muttersprache. Zwölf Jahre später wanderte er mit seiner Familie nach Israel aus. Er versuchte sich später als Rockmusiker und spielte mit seiner Band “Nutcase” in kleineren Clubs in London. Sie besaßen jedoch keine Arbeitserlaubnis und wurden schließlich ausgewiesen. Dann studierte er Philosophie in Haifa und Tübingen und arbeitete als Buchhändler und Bauarbeiter. “Der Duft des Sussita” ist sein Debüt als Schriftsteller.

Die Geschichten in “Der Duft des Sussita” sind in mehrerer Hinsicht mit dem Leben von Robert Scheer verknüpft und enthalten viele Episoden, die der Wirklichkeit entsprechen. Thematisiert wird beispielsweise die Karriere als Rockmusiker. Ich fand es sehr spannend, die Geschichten zu lesen und im Anschluss zum Autor zu recherchieren. Ich habe ganz häufig gedacht: oh, das stimmt ja tatsächlich. Daneben finde ich es aber auch sehr interessant und mutig, dass Robert Scheer – der mehrere Sprachen spricht – das Buch auf Deutsch veröffentlicht hat, obwohl er erst mit 26 Jahren begonnen hat, Deutsch zu lernen.

“Worte erzählen nie die Wahrheit.”

“Der Duft des Sussita” ist ein schmaler Band mit insgesamt zwölf Kurzgeschichten. Die Geschichten sind alle lose miteinander verknüpft. Ein verbindendes Element ist Onkel Sauberger, der in mehreren Geschichten auftaucht.

Fast allen zwölf Geschichten vorangestellt sind Zitate des Begründers des politischen Zionismus Theodor Herzl. Dies ist bereits ein erster Hinweis darauf, welches Thema eine zentrale Rolle in Robert Scheers Geschichten spielt: das Land Israel. Robert Scheer beschäftigt sich in seinen Geschichten immer wieder mit dem Bild Israels, mit einem Land, in dem er selbst sehr lange gelebt hat. Die Stadt Tel Aviv wird erwähnt, die als Insel in diesem Land bezeichnet wird, als “ein anderes Land, ein Land innerhalb des Landes”, bewohnt von Leuten, die nichts hören wollen vom Krieg.

“Hier gibt es überhaupt keine Lösungen. Die Lösung besteht hier aus Konflikt. Konflikt und mehr Konflikt. Eine Eskalation des Zusammenstoßes. Lösungen sind hier unerwünscht. Nicht machbar. Frieden scheint in diesem Teil der Welt ein unerreichbarer Traum zu sein. Das ist das wahre Gesicht des Nahen Ostens. Sein Profilbild. Sein Porträt. Ohne Bearbeitung, ohne Verschönerung, ohne Photoshop.”

Die Geschichten von Robert Scheer zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sich scheinbar realistische Situationen urplötzlich wandeln und in etwas Absurdes kippen. Beinahe in jeder der zwölf Geschichten gibt es eine Wendung ins Surreale. Denken muss ich beispielsweise an die Titelgeschichte des Romans über ein israelisches Auto, den Sussita. Der Sussita ist der ganze Stolz der Familie, es sind vor allem nostalgische Gefühle, die mit ihm verknüpft werden.

“Wie die Dinosaurier sind inzwischen auch die Sussitas ausgestorben. Die Sussitas sind Vergangenheit. Meine Geschichte stammt gleichfalls aus der Vergangenheit. Eine Sussita-Geschichte. Eine gescheiterte Geschichte. Mercedes und Porsche haben überlebt. Jaguar und Toyota haben überlebt. Der Sussita konnte die Prüfung der Zeit nicht bestehen.”

Urplötzlich wird dieser von Kamelen gefressen: sie werden von dem süßlichen Fladenbrotduft des Sussitas angezogen und das einzige Mittel sich dagegen zu schützen sei ein “Anti-Kamel-Spray”.

Bei Robert Scheers Geschichten bin ich immer wieder von einem Moment der Ungläubigkeit in eine kurze Ratlosigkeit gestolpert, Gefühle des Erstaunens und der Verwirrtheit wechselten sich ab mit Erheiterung und Verblüffung. Besonders prägnant als Beispiel für diese Gefühlsvielfalt ist mir die Geschichte “Das Evangelium nach Matthäus” in Erinnerung geblieben:

“Das Evangelium nach Matthäus heißt: Defensives Mittelfeld.”

Oder auch die “Front Catering GmbH”, die sich fürchtet, das Essen an die Front zu liefern, was zu einer Unterversorgung der Soldaten führt – der Ich-Erzähler schreibt über dieses Phänomen einen Artikel für Die Zeit.

Das Spannende an den Geschichten von Rober Scheer war für mich vor allem das Spiel mit Fiktion und Wirklichkeit, vermengt mit der Frage, was von dem Erzählten möglicherweise noch autobiographisch sein könnte. In meinen Augen war der Text an den Stellen am Stärksten, an dem er – zwischen all den surrealistischen Wendungen und der spürbaren Absurdität – sich mit ernsthaften Themen beschäftigt.

“Nachdem Lothar Matthäus Netania verlassen hatte, brauchte man hier keinen Übersetzer mehr, also bin ich seit damals, was ich im Leben schon einige Male gewesen bin. Mal gern, mal weniger gern. Vielleicht ist es ja, was ich am liebsten bin. Und obwohl es doch mehr eine Berufung als ein wirklicher Beruf zu sein scheint, meine neue Arbeit, einem Schicksal gleich. Ja, Schicksal. Oder, man könnte es einfach, wenn man will, die schwerste Arbeit der Welt nennen. Ich habe nichts dagegen. Ob meine Arbeit wirklich die schwierigste ist, kann ich nicht beurteilen. Können Sie es? Ich bin arbeitslos.”

In Erinnerung ist mir auch eine Passage über einen Selbstmordattentäter geblieben, die sich sehr eindrücklich liest.

“Warum tut man so etwas? Warum will man sich selbst und andere töten? Woher kommt so viel Hass? Woher eine so hoffnungslose Verzweiflung?”

Robert Scheer hat mit “Der Duft des Sussita” einen kurzweiligen Kurzgeschichtenband vorgelegt, der sich durch eine vordergründige Komik und Absurdität auszeichnet. Hinter dieser Komik verbergen sich ernsthafte Passagen, die man beim Lesen Schicht für Schicht freilegen muss, um sie entdecken zu können. Diese Passagen haben mir sehr gut gefallen. Robert Scheer ist ein ungewöhnlicher Chronist des heutigen Israels und zeichnet ein Bild dieses Landes, das ich so zuvor noch nicht gelesen habe. Er spielt mit Worten, es gibt Spott und Komik, beispielsweise für die Bewohner Österreichs. An manchen Stellen hätte ich mir jedoch vielleicht doch etwas mehr Ernsthaftigkeit  und Substanz gewünscht, statt einer erneuten Wendung ins Absurde, denn die ernsthaften Passagen haben mir am besten gefallen.

Robert Scheer kann schreiben und hat dies in seinem Debüt-Erzählband eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Er findet in seinen Erzählungen eine ganz eigene, eingängige Stimme, einen komischen, stellenweise schnodderigen Ton, der doch sehr viel Wahrheit enthält. Ich habe dieser Stimme gerne “zugehört” und hätte ihr auch noch einige hundert Seiten weiter zu hören können. Ein ungewöhnliches Debüt, eines ungewöhnlichen und interessanten Schriftstellers, das ich nur empfehlen kann.

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