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Zeitgenössisches

Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm – Selja Ahava

Selja Ahava wurde 1974 geboren, studierte Dramaturgie an der Theaterhochschule Helsinki und hat zahlreiche Drehbücher für Spielfilme und Fernsehserien geschrieben. Mit “Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm”, legte sie in diesem Frühjahr ihren Debütroman vor. Aus dem Finnischen übersetzt wurde er von Stefan Moster, der übrigens nicht nur Übersetzer ist, sondern auch Schriftsteller.

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“Früher musste ich nach ein, zwei Wörtern suchen. Heute kommen mir ganze Gedanken abhanden. Aber ich habe Erinnerungen.”

Anna ist eine Frau, der die Wörter abhanden gekommen sind, die sich ihre Erinnerungen jedoch bewahrt hat. Sie ist mittlerweile eine alte Frau, aber ihr Gedächtnis hat bereits in jungen Jahren angefangen zu leiden. Der plötzliche Verlust ihres Mannes Antti hat ihr den Boden unter ihren Füßen weggezogen, er hat ihre ganze Welt erschüttert, auch ihr Gedächtnis. Mittlerweile sind die Erinnerungslücken immer größer geworden und Ereignisse der Vergangenheit purzeln ohne Zusammenhang durch ihren verwirrten Kopf. Dennoch versucht sie sich an das was war zu erinnern, so gut sie eben kann – den Leser lässt sie an diesen Erinnerungen teilhaben. Es sind ungefilterte und verwirrende Episoden der Vergangenheit.

“Es gab Morgen, an denen Antti in der Stadt war und Anna alleine mit dem Hund aufwachte. Dann kochte sie Kaffee, hörte die Nachrichten, sah auf die Uhr und dachte, noch vierzehn Stunden, und ich kann wieder schlafen gehen. An solchen Morgen saß sie auf der Veranda, schaute vor sich hin und dachte schlicht und einfach: Stein, Birke, Gras, Stuhl. Stein, Birke, Gras, Stuhl.”

Wenn man so will, dann wird in “Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm” Annas Biographie erzählt, es ist ihr Leben, das hier erzählt wird – ihr Leben aus ihrer eigenen Perspektive, oder dem, was davon noch übrig ist. Das Wort Demenz fällt an keiner Stelle und doch ist die Erkrankung von Anna beinahe offensichtlich, doch bei ihr ist es keine Erkrankung, die im hohen Alter aufgetreten ist, die Wurzeln ihrer Gedächtnisstörung liegen tief in ihrer Vergangenheit begründet – der Auslöser dafür war der Verlust von Antti. Antti, der bei einem schweren Autounfall starb, ist nicht nur plötzlich aus ihrer Welt gefallen, sondern dieser Verlust ließ auch Anna aus jeglichen Zusammenhängen fallen.

“Von der Eiszeit glatt geschliffener Fels, von der Sauna weiche Haut. Sommersprossen und Froschteiche. Anna war mit Antti so fest verwachsen wie die Kiefer mit dem Felsen.”

Wir erfahren von ihrem Neuanfang mit Thomas, mit dem sie in England lebt, weit weg von dem Leben, das sie in Finnland gelebt hat, weit weg von den Erinnerungen an Antti, die immer stärker verblassen, doch immer noch da sind. Bereits da werden ihre Schwierigkeiten im Alltag sichtbar, manchmal verliert sie die Orientierung, vergisst, wo sie sich befindet, vergisst, mit wem sie zusammenlebt. Sie erhält Besuch, von ihren sechs Kindern, die im ersten Moment so wirklich erscheinen, dass ich einige Zeit brauche, bevor ich verstehe, dass es sich bei ihren Kindern um Phantasiegestalten handelt. Später erhält sie Besuch von Gott und von einer Bärenfamilie. Beim Blick zurück wird deutlich, wie das Leben von Anna Stück für Stück immer weiter auseinander bricht und aus den Fugen gerät. Der Wal, den sie eines Tages in London zu sehen glaubt, den hat es aber scheinbar wirklich gegeben – immerhin.

“Antti kannte die Erlen am Ufer und wusste sofort, um welche von ihnen es sich handelte. Er erinnert sich an die Aussicht dahinter, an die Steine des Riffs und an die kleine Möweninsel, an die Markierung der Fahrrinne und den Marinekai und konnte sich vorstellen, wie der umgestürzte, kaputte Baum aussah. Es tut gut, sich eine Landschaft zu teilen. Es tat gut, eine Sache nach der anderen auszusprechen, zu sagen, was man zwischen den Erlen jetzt sah. Für niemanden sonst wäre das von Bedeutung gewesen, aber Anna und Antti konnten gemeinsam auflisten: Riff, kleine Felsinsel, Untiefenmarkierung, Möweninsel, Kai.”

Selja Ahava erzählt in ihrem Debütroman eine außergewöhnliche Geschichte. Romane über Demenz gibt es mittlerweile viele, doch das ungewöhnliche an diesem Roman ist seine Perspektive: Anna und ihre schwindenden Erinnerungen werden nicht von außen beschrieben, sondern von innen – aus ihrem Kopf heraus. Natürlich fehlt es der Geschichte manchmal an Zusammenhängen, an Klarheit, manchmal fehlte mir das Verständnis dafür Situationen begreifen zu können. Selja Ahava pflanzt den Leser erbarmungslos hinein in Annas Kopf. Durch diesen literarischen Kniff wird die zunehmende Verzweiflung, die Anna aufgrund ihres Gedächtnisverlusts spüren muss schmerzhaft greifbar.

Im Klappentext wird “Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm” als ein Roman über die Kraft der Wörter und der Fantasie beschrieben. Auch ich habe diese Kraft in dem Roman gefunden, trotz der zunehmenden Wortverluste, bleibt Sprache ein wichtiges Instrument für Anna, sie versucht ihre Vergangenheit immer wieder auf neuen Wegen zu beschreiben. Doch der Roman ist nicht nur poetisch und märchenhaft, für mich stand dagegen viel mehr die authentische Abbildung einer Gedächtniserkankung im Vordergrund. Trotz aller Fantasie erzählt Selja Ahava eine tieftraurige Geschichte über eine Frau, der die Realität Stück für Stück entgleitet – “Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm” ist vor allem eine schmerzhafte Lektüre.

“Wäre es möglich, Augenblicke einzufrieren, würde ich diesen in eine Plastikdose legen, dachte Anna. Dann könnte man den Winter über davon zehren. Es gab genug solcher Augenblick für den ganzen Winter.”

“Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm” ist ein Roman über die Kostbarkeit des Lebens, in dem vieles unausgesprochen bleibt. Vielleicht haben diese leeren Stellen mich ganz besonders berührt. Getragen wird die Geschichte von Anna, die ich in all ihrer Verzweiflung, ihrer Angst und ihrer tiefen Traurigkeit ins Herz geschlossen habe. Als Leser muss man dazu bereit sein, sich auf die ungewöhnliche Perspektive einzulassen, damit der Roman funktioniert – ich hoffe, es finden sich noch ganz viele, die dazu bereit sind.

Tage zwischen gestern und heute – Andreas von Flotow

Andreas von Flotow wurde 1981 in Dannenberg geboren und lebt heutzutage in Berlin. Er hat als Dramaturgieassistent gearbeitet, unter anderem am Maxim Gorki Theater Berlin und am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Daneben war in einer Kunstbuchhandlung tätig, sowie als Lektor. Mit “Tage zwischen gestern und heute” legt Andreas von Flotow, der heutzutage als freier Dramaturg arbeitet, seinen Debütroman vor.

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Andreas von Flotow legt mit “Tage zwischen gestern und heute” einen Roman vor, dessen Handlung in unserer heutigen Gegenwart wurzelt, dessen Ich-Erzähler sich jedoch bereits im Jahr 2031 befindet. Der Erzähler, der namenlos bleibt, begibt sich zurück in seine Kindheitserinnerungen, versetzt sich zurück in den Jungen, der er gewesen ist. Zweimal ist das Leben des Jungen zerbrochen, in so viele Einzelteile, dass es kaum noch zusammenzufügen ist. An dem Tag, an dem er zehn Jahre alt wird, werden seine Eltern von seinem Onkel erschossen. Der Vater stirbt sofort, die Mutter befindet sich fünf Jahre lang in einer Art Wachkoma – in einem Schwebezustand, zwischen Bewusstsein und Schlaf, aus dem sie niemand mehr herausholen kann. Sie stirbt, als der Erzähler fünfzehn Jahre alt ist.

“Meine erste Erinnerung, wenn ich an die frühe Kindheit denke: Ich kann mich an keinen Tag erinnern, an dem es besonders laut oder lärmend um mich herum gewesen wäre.”

Die Erinnerungen an den Unglückstag, der alles verändern sollte, sind schwammig und vage, doch der Erzähler versucht sich hinein zu begeben in das Leben, das er als Kind geführt hat. Er versucht die Erinnerungsfetzen, die ihm geblieben sind, zu erforschen, zu untersuchen und zusammenzusetzen. Er begibt sich zurück in die Zeit vor dem Unglück, in die Zeit danach, als er bei seiner ungeliebten Großmutter leben muss, die er Tante Eve nennt.

Der Erzähler erlebt eine behütete Kindheit, auch wenn seine Eltern häufig abwesend sind. Mit seiner Mutter, die eine berühmte Sängerin ist, lebt er in Amerika, der Vater hält sich häufig in Frankreich auf. Wenn er doch einmal bei seiner Familie ist, versinkt er immer wieder in der Welt der Bücher, liest und schreibt kleine Zettelchen voller Notizen, die er zwischen die Buchseiten legt. Helen, das Kindermädchen, ist ein wichtiger Teil der Familie – sie ist diejenige, die die wohl engste und liebevollste Beziehung zu dem Erzähler hat.

“Der Tag, an dem meine Mutter starb, ist für mich im selben Augenblick Traum und Wirklichkeit; einerseits eine traumhaft logische, aber leider nur spürbare Folge unzähliger Ereignisse, andererseits eine exakte und greifbare Nachbildung der Vergangenheit vor meinem geistigen Auge.”

Der Blick zurück in die Vergangenheit ist gleichzeitig auch ein Blick auf die Eltern, die immer irgendwie da waren, denen der Erzähler jedoch nie nahe gekommen ist. Der Blick zurück auf das, was geschehen ist, ist auch ein Versuch, sich dem Kind anzunähern, das man gewesen ist und dabei die Eltern zu ergründen, die nur viel zu kurz Teil des eigenen Lebens gewesen sind.

“Im Jahr 2005 sind meine Eltern Opfer eines Anschlags geworden, den mein Onkel, ein Halbbruder meiner Mutter, verübt hat. Er feuerte dreizehn Schüsse ab, mein Vater war sofort tot, meine Mutter starb fünf Jahre später. Die folgende Erzählung ist eine kurze, hier und da bebilderte Chronologie meiner Kindheit bis zum Tod meiner Mutter. Sie ist durchwoben mit den Daten meines Lebenslaufes und stellt vermutlich den entscheidenden Teil des geistigen Fundamentes dar, auf dem ich als fünfzehnjähriger Junge stand. ich erzählte der Reihe nach und behalte die Natur der Ordnung im Hinterkopf: Sie ist ein Phänomen der Oberfläche, darunter ist es wüst und leer.”

“Tage zwischen gestern und heute” ist ein Roman, der so kurz ist, das er schon fast eine Novelle sein könnte. Der Text lässt mich zwiespältig und mit vielen offenen und unbeantworteten Fragen zurück. Die Chronologie der Kindheit liest sich vielmehr als Steinbruch, als ein Trümmerhaufen der Erinnerungen. An vieles erinnert sich der Erzähler nicht mehr, vieles ist ihm unklar. Vieles bleibt dadurch auch dem Leser verborgen, wir tauchen zwar ein in diese Bruchstücke einer Kindheit, doch auf viele Fragen gibt es keinerlei Antworten. Die drängendste Frage war für mich die Frage nach dem warum? Wie konnte es zu dieser Tat kommen? Antwortversuche auf diese Frage gibt es nur spärlich.

Der Blick zurück auf die Kindheit, ist ein Blick, über den ich in vielen Romanen gestolpert bin zuletzt. Doch in diesem Roman funktioniert die gewählte Perspektive für meinen Geschmack nicht wirklich. Über der Kindheit des Erzählers liegt ein dunkler Schleier, der nur stellenweise Licht durchlässt. Vieles bleibt unklar, vieles bleibt schwammig. Ich fühle mich beinahe schon verloren in dieser Erzählung, die bereits vorbei ist, bevor sie eigentlich so wirklich begonnen hat. Andreas von Flotow deutet an, dass er erzählen kann, er deutet an, dass er Charaktere entwerfen und Szenen gestalten kann, doch all diesem fehlt dann doch ein verbindendes Element. Nach dem Zuklappen der letzten Seite gibt es nicht vieles, das von dieser Lektüre in mir zurückbleibt. Am meisten beeindruckt hat mich vielleicht die Bücherliebe des Vaters, die er an seinen Sohn weiterreicht. Es sind die Bücher, die dem Erzähler helfen, in Kontakt zu sich selbst und zu seiner Mutter zu kommen. Die Bücher des toten Vaters ziehen irgendwann im Zimmer des Sohnes ein und werden für ihn zu einer Art Rettungsanker, nicht unbedingt, weil er sie alle liest, sondern allein durch ihre Präsenz.

“Am liebsten würde ich hier jedes einzelne Buch meines Vaters mit einem Satz erwähnen, wenigstens etwas darüber sagen. Nicht unbedingt über den Inhalt, eher über ein paar wiederkehrende Gedanken, über das Gefühl, das diese Bücher in mir wecken, wenn ich mir nur die Titel in Erinnerung rufe. Aber ich schweige lieber. Über die wichtigsten Sachen lässt sich am wenigsten sagen.”

Andreas von Flotow legt mit “Tage zwischen gestern und heute” einen schmalen Roman vor, der mich leider nicht überzeugen konnte. Die Grundidee hat mich noch begeistern können, doch dem Autor gelingt es leider nicht wirklich, diese Idee auch mit Inhalt zu füllen. Vieles in diesem Roman bleibt deshalb leider Stückwerk, gute Ansätze sind dabei zwar immer wieder zu erkennen, mehr aber leider auch nicht.

Räuberhände – Finn-Ole Heinrich

Finn-Ole Heinrich wurde 1982 geboren, er ist Autor und Filmemacher. Er ist in Cuxhaven aufgewachsen und hat in Hannover ein Filmstudium absolviert. Er hat bereits eine Vielzahl an Veröffentlichungen vorzuweisen und wurde mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Finn-Ole Heinrich betreibt eine eigene Homepage, auch zu seinem Roman “Räuberhände” gibt es einen virtuellen Ort im Netz, an dem man viele lesenswerte Zusatzinformationen findet.

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“Und damit hat es angefangen. Manchmal hat Samuel Ideen, die mir völlig fremd sind. Sein Geschenk war eine dieser Ideen. Ich bin nicht allein verantwortlich. Unter normalen Umständen wäre das alles nicht passiert.”

In seinem Debütroman “Räuberhände” erzählt Finn-Ole Heinrich die Geschichte von Janik und Samuel, die eine ungewöhnliche und intensive Freundschaft miteinander verbindet. Beide machen zu Beginn des Romans gerade ihr Abitur, befreundet sind sie seit fast sieben Jahren. Wenn Janik seinen Freund ärgern möchte, nennt er ihn manchmal Adoptivkind, denn Janik und Samuel sind nicht einfach nur Freunde, sondern beinahe schon Brüder, Samuel hat ein eigenes Bett in Janiks Zimmer und es gibt kaum eine Nacht, in der er nicht darin schläft. Während Janik aus einem liberalen Elternhaus kommt, in dem alles scheinbar richtig läuft, es für jedes Problem eine Lösung gibt und jeder über seine Gefühle und Beobachtungen sprechen kann, ist Samuel das Kind einer Alkoholikerin – seinen Vater hat er nie kennengelernt, doch er ist überzeugt davon, dass dieser unbekannte Mann, der angeblich Osman heißen soll, aus der Türkei kommt. Samuel wird von dieser Vorstellung verfolgt, er geht auf in dieser fiktiven türkischen Identität, in die er sich – einem Phantasieland gleich – hineinbegeben kann, die er sich überstülpen kann, als würde es nichts anderes mehr geben.

Es ist der große Traum von Janik und Samuel, nach dem Abitur nach Istanbul zu reisen, dort vielleicht noch einmal neu anzufangen und möglicherweise sogar Samuels Vater zu finden. Doch kurz bevor sie nach Istanbul abreisen, wird durch ein Ereignis alles in Frage gestellt, was sie zuvor verbunden hat. Das Ereignis hat nur wenige Minuten gedauert, einen Wimpernschlag lang, doch es hat eine Wirkung, die einer Bombenexplosion gleichkommt. Es zerfetzt alles um sich herum, nichts ist mehr so, wie zuvor. Janik und Samuel fliegen dennoch nach Istanbul, Janik mit schweren Schuldgefühlen und Samuel mit viel Wut im Bauch. Doch kann das, was sich die beiden einstmals von Istanbul versprochen haben, jetzt überhaupt noch in Erfüllung gehen?

“Er hat kaum noch Haut an den Seiten seiner Nägel. Es sind die Räuberhände, die ihn verraten. Ich kenne seine Bewegungen: Er nimmt die Hand zum Mund. Er tippt in einem geheimen Rhythmus jede seiner Fingerkuppen an die Oberlippe.”

“Räuberhände” ist nur 200 Seiten schmal, doch auf diesen 200 Seiten bringt Finn-Ole Heinrich eine ganze Menge an Themen unter. Auf mich hat das Buch gewirkt, als würde es aus ganz vielen unterschiedlichen Schichten bestehen. Im Zentrum des Romans steht natürlich die ungewöhnliche Freundschaft von Janik und Samuel, die wie Brüder zusammenleben, aber keine sind. Irgendwie ist von Anfang an und immer wieder ein seltsames Ungleichgewicht zwischen ihnen zu spüren. Janiks Familie ist so perfekt, dass es dem Jungen die Luft zum Atmen abschnürt, er wünscht sich manchmal die Mutter Samuels als Mutter oder träumt davon, von einem Auto angefahren zu werden, er träumt von Überfällen und Katastrophen. Er träumt davon, dass endlich etwas passiert, das Kratzer in diese perfekte und makellose Oberflächenschicht macht. Samuel dagegen genießt die Sicherheit von Janiks Elternhaus, er genießt die Kontinuität, die Sorglosigkeit. Über seine alkoholkranke Mutter spricht er nur wenig und wenn er dann doch mal spricht, dann lacht er häufig über seine Kindheitserinnerungen.

“Ich möchte Samuel anfassen, ihn nur ein kleines bisschen berühren, wie zufällig. Aber ich traue mich nicht. Was plötzlich alles anders ist und nicht mehr sicher. Mir fehlt das bisschen Mut, das nötig wäre. Und sei es nur, um endlich aufzustehen, schnaubend zu atmen und unsere Stille in dieser lauten Wartehalle mit einem knartschenden Tanz auf dem glänzenden Plastikfußboden zu zerfetzten.”

Das Leitmotiv des Romans findet sich im Buchtitel wieder: der Begriff Räuberhände ist ein Phantasiewort von Janik, was er benutzt, wenn er sich in seine Gedankenwelt zurückzieht. Mit diesem Phantasiewort beschreibt Janik seinen Freund, den ordnungsliebenden Samuel, der gerne den Staubsauger benutzt und immer auf sein Äußeres achtet, doch seine Fingernägel wund beißt, bis sie entzündet sind. Die Räuberhände machen den Unterschied, Samuel versucht ein äußerlich normales Leben zu leben, losgelöst von seinem schwierigen Zuhause, doch seine Hände verraten ihn immer wieder. Janik glaubt in ihnen die Geschichte seines Freundes lesen zu können, für die dieser keine Worte hat. Die Räuberhände stehen für all das Ungesagte, was sich zwischen Janik und Samuel befindet.

“Ich wollte, dass etwas passiert, damit sie sich nicht so widerlich sicher fühlen. Ich habe mir gewünscht, dass wir überfallen und geschändet werden, damit wir merken, dass wir verletzbar sind, dass alles zerbrechen kann, wenn man nur hart genug darauf schlägt.”

Darüber hinaus bin ich beim Lesen des Romans auf die Themen Heimat und Identität gestoßen, aber auch auf den Wunsch nach Freiheit, danach, sich losgelöst von den Eltern neu erfinden zu können. Es geht auch um Schuld und wie es gelingen kann, einander von Schuld freizusprechen – Finn-Ole Heinrich entlässt den Leser happyendlos und doch habe ich beim Zuklappen der letzten Seite die leise Hoffnung gespürt, dass alles gut werden wird für Janik und Samuel.

Die Sprache ist der Sprache von Jugendlichen nachempfunden, dies macht den Roman zu einer flüssigen Lektüre und doch besteht nie die Gefahr, dass der Ton an Authentizität verlieren könnte. Finn-Ole Heinrich braucht nur wenige Sätze, nur wenig Worte, um intensive Panoramen zu entfalten – nicht nur Janik und Samuel sind nach Istanbul gereist, ich hatte das Gefühl mitzureisen und mit ihnen über die türkischen Basare zu stolpern.

“Ich hasse, dass Eltern diese Macht besitzen, sich immer und ständig einzumischen und alles durcheinander zu bringen. Man muss sie ausschließen, so oder so, egal, ob sie Heroin spritzen oder Plätzchen backen. Sie werden immer einen Platz in unserem Leben fordern, sie schummeln sich hinein, mit Tränen, Blumen oder Häkelsachen. Eltern müssen egal sein, man muss sie vergessen, vergraben, man muss sich gegen sie verhärten. Oder man wird ewig ihr Kind bleiben.”

Finn-Ole Heinrich hat ein Buch für junge Erwachsene geschrieben, es ist ein Buch über das Erwachsenwerden, das man aber auch als Erwachsener lesen kann. “Räuberhände” erzählt von der vielleicht wichtigsten Lektion im Leben: nichts hat Bestand, alles kann sich – manchmal in Sekunden, manchmal in Minuten, manchmal über einen langen Zeitraum – verändern. Von diesen Veränderungen erzählt Finn-Ole Heinrich und er erzählt so authentisch und mit so viel Kraft, dass ich am liebsten immer weiter gelesen hätte.

Geschichte für einen Augenblick – Ruth Ozeki

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“Ich heiße Nao, und ich bin Sein-Zeit, ich bin Sein, und ich bin Zeit. Weißt du, was das ist? Wenn du einen Moment hast, erzähl ich es dir.”

Wie soll man ein Buch zusammenfassen, das nicht nur über 500 Seiten umfasst, sondern gleichzeitig auch noch über sechs Anhänge und weit über 100 Fußnoten verfügt. Geschrieben wurde es von einer Autorin, die in Amerika lebt, aber japanische Wurzeln hat. Ruth Ozeki ist nicht nur Autorin, sondern auch Filmemacherin und Zen-Priesterin – “Geschichte für einen  Augenblick”, das im Original den Titel A Tale for the Time Being trägt, ist bereits ihr dritter Roman. Er wurde vielfach ausgezeichnet und stand im vergangenen Jahr auf der Shortlist des Man Booker Prize. Ruth Ozeki, die 1956 zur Welt kam, lebt in New York und auf einer kanadischen Insel – mehr über die Autorin und ihren Roman erfährt man auf ihrer Homepage Ozekiland. Der Roman wurde von Tobias Schnettler aus dem Englischen übertragen.

“Dieses Tagebuch erzählt die wahre Lebensgeschichte meiner Urgroßmutter Yasutani Jiko. Sie war schon Nonne und Schriftstellerin und Neue Frau der Taisho-Zeit. Sie war außerdem Anarchistin und Feministin mit vielen Liebhabern, Männern und Frauen, aber sie war nie pervers oder fies.”

“Geschichte für einen Augenblick” ist also ein Roman einer Autorin, die nicht nur Bücher schreibt, sondern auch noch Zen-Priesterin ist – es dürfte also nur wenig überraschend sein, dass in ihrer Geschichte natürlich auch eine Zen-buddhistische Nonne, die übrigens bereits hundertvier Jahre alt ist, auftaucht, doch das ist noch längst nicht alles: es geht darüber hinaus auch um Ökologie, Schrödingers Katze, Quantenphysik, Mobbing, Kamikazepiloten im Zweiten Weltkrieg, die Einheit der Zeit, die Computerindustrie, buddhistische Sterberituale, Schreib- und Leseblockaden, Depressionen, Selbstmord und auch der 11. September sowie der verheerende Tsunami, der 2011 das Atomkraftwerk in Fukushima traf, finden Erwähnung.

“Sie mochten Bücher, alle Bücher, aber ganz besonders die alten, und ihr Haus quoll über von Büchern. Sie lagerten überall, auf Regalen gestapelt und auf dem Boden, auf Stühlen und Treppenstufen aufgeschichtet, doch das war Ruth und Oliver egal.”

Ruth Ozeki erzählt in ihrem Roman eine auf mehreren Ebenen miteinander verschränkte Geschichte: im Zentrum des Romans steht eine japanisch-amerikanische Schriftstellerin namens Ruth, die mit ihrem Mann Oliver und der gemeinsamen Katze Schrödinger (die jedoch auf den Namen Pesto hört) auf einer einsamen kanadischen Insel lebt. Ruth plagt sich bereits länger als ein Jahrzehnt mit einem Buchprojekt herum, das nicht voranschreiten will – sie möchte die Memoiren ihrer Mutter aufschreiben, die an Alzheimer starb. Während eines Strandspaziergangs stolpert Ruth förmlich über einen Gefrierbeutel, in dem sich eine Hello-Kitty-Lunchbox befindet. Darin stößt sie auf alte Briefe, aber auch auf das Tagebuch von Naoko Yasutani. Naoko, die von allen nur Nao (gesprochen: now) genannt wird, ist ein einsames sechzehnjähriges Mädchen, das erschreckend viel Ähnlichkeit mit Ruth hat: sie ist Japanerin, in Amerika hat sie sich jedoch zuhause gefühlt. Als die Bitcom-Blase platzte, musste sie mit ihren Eltern zurück nach Japan ziehen, in ein Land, das sie kaum kannte und dessen Sprache sie nur schlecht sprach – Japan sollte ihr neues Zuhause sein, doch ihr Herz ist in Sunnyvale geblieben.

“Das ganze Zeug, das der Tsunami aus den japanischen Häusern ins Meer gespült hat, wurde nachverfolgt. Es heißt, dass es an unseren Küsten angeschwemmt werden würde. Ich glaube, das passiert früher, als alle erwartet haben.”

Ruth beginnt das Tagebuch von Nao zu lesen, immer mit der drängenden Frage im Hinterkopf, auf welchen Wegen es an den kanadischen Strand gekommen sein mag: hat der Tsunami den Gefrierbeutel ins offene Meer befördert? Oder hat Nao, die in der Schule brutal gemobbt wurde, versucht sich das Leben zu nehmen und das Tagebuch bei sich getragen? Stück für Stück, Seite für Seite, erschließt sich Ruth das Leben dieses liebenswerten Mädchens, dass das Leben aus einer hochemotionalen Perspektive wahrnimmt, wie Teenager das wahrscheinlich immer tun, dabei aber höchst sympathisch erscheint. Es ist fast schon unmöglich, Nao und ihre traurige Geschichte, nicht ins Herz schließen zu können. Naos Mutter ist für das junge Mädchen kaum erreichbar, der Vater ist arbeitslos, faltet Origamivögel und versucht mehrmals sich das Leben zu nehmen und ihre Mitschüler machen sie wahlweise zu einem unsichtbaren Nichts oder quälen das junge Mädchen brutal. Ihre einzige Rettung ist Jiko, ihre hundertvier Jahre alte Urgroßmutter, die trotz ihres Alters, SMS schreiben und einen Computer bedienen kann und der erste Mensch ist, dem es gelingt, Nao aufzufangen und ihr ein wenig Halt zu geben. Jiko hat einen Sohn, der im Zweiten Weltkrieg Kamikazepilot gewesen ist und dabei sein Leben gelassen hat, zurückgeblieben sind nur seine Briefe, auch diese befinden sich in der Hello-Kitty-Box.

Collage Ruth Ozeki

“Ich dachte immer noch über das nach, was sie über die Wellen gesagt hatte, und es machte mich traurig, weil ich wusste, dass ihre kleine Welle nicht überdauern und sie bald wieder ein Teil des Meeres sein würde, und obwohl ich weiß, dass man Wasser nicht festhalten kann packte ich ihre Hand ein bisschen fester, um sie am Wegsickern zu hindern.”

Ruth Ozeki wechselt immer wieder zwischen den Tagebuchaufzeichnungen von Nao und dem Leben von Ruth, das sich immer stärker um das unbekannte Mädchen dreht. Wochenlang sitzt Ruth vor dem Computer und recherchiert nach Hinweisen für Naos Existenz, wochenlang versenkt sie sich in das Tagebuch. Ruth Ozeki wäre wahrscheinlich keine Zen-Priesterin, wenn sie nicht auch in ihren Roman etwas Mystisches einfließen lassen würde, sie tut dies mithilfe einer Dschungelkrähe, die sich in der Nähe des Hauses von Ruth und Oliver aufhält. Die Krähe ist der Vermittler zwischen Nao und Ruth, zwischen ihnen befinden sich Welten, doch manchmal – vor allem in ihren Träumen – glaubt Ruth ihrer Brieffreundin ganz nahe zu kommen.

“Woher kommen die Worte? Von den Toten. Wir erben sie. Borgen sie. Benutzen sie eine Zeitlang, um die Toten lebendig werden zu lassen.”

“Geschichte für einen Augenblick” ist für mich das aufregendste Buch dieses Frühjahrs! Es ist so angefüllt an Themen, an Zeit und Sein, an Sein-Zeit, Quantenphysik, Marcel Proust und Philosophie, das man sich erschlagen fühlen könnte, doch ich habe mich nicht erschlagen gefühlt, sondern hatte – ganz im Gegenteil – das Gefühl, dank Ruth Ozeki fremde Welten betreten zu können. Welten, die irgendwo zwischen Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit liegen, Welten, die noch nicht kartographiert worden, an denen es aber doch auf irgendeine Art und Weise Leben gibt. Welten, die es manchmal nur in unserem Kopf gibt und die die Literatur lebendig macht. “Geschichte für einen Augenblick” ist ein intelligentes, außergewöhnliches und phantastisches Leseerlebnis – wenn man nur ein Buch dieses Frühjahr lesen sollte, dann sollte es dieses sein!

Kein Paar wie wir – Eberhard Rathgeb

Eberhard Rathgeb wurde 1959 in Buenos Aires geboren, mit vier Jahren zog es ihn gemeinsam mit seinen Eltern und seinen Geschwistern nach Deutschland. Rathgeb hat als Feuilletonredakteur bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gearbeitet, 2007 erschien sein Buch “Schwieriges Glück. Versuch über die Vaterliebe”. “Kein Paar wie wir” ist sein neuester Roman und erschien im vergangenen Jahr im Hanser Literaturverlag, er wurde mit dem aspekte Literaturpreis ausgezeichnet.

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“Sie hatten das Wünschen früh geübt und im Alter nicht verlernt, es hielt die beiden Schwestern jung.”

Ruth und Vika sind Schwestern, die durch ein ganz eng geknüpftes Band miteinander verbunden sind. Sie sind nicht nur Schwestern, sondern zwei Frauen, die sich dazu entschieden haben, ihr Leben alleine zu verbringen – sie sind miteinander alleine, ohne Männer und ohne Kinder, dafür aber mit all ihren gemeinsamen Erinnerungen. Mit ihren Eltern sind sie Ende der dreißiger Jahre nach Argentinien geflüchtet, es war eine vorausschauende Flucht angesichts dessen, was später passieren sollte. Ihr Vater arbeitet in Argentinien als Brückenbauer, dort findet er sein berufliches Glück, doch zuhause bleibt er ein gefühlloser Tyrann, der seine Kinder zu Höchstleistungen antreibt – ohne Rücksicht auf Verluste, ohne Liebe, ohne Mitgefühl. Die Mutter ist zwar da, doch eigentlich ist sie es nicht – das Leben in der Fremde hat sie depressiv gemacht, sie wollte nie weg aus Deutschland, auch wenn die Flucht bedeutete, in Sicherheit zu sein.

“Das Meer der Dinge zog sich von den alten Frauen zurück. Ihre Lebenskraft, ihre Neugier reichten nicht mehr aus für ein Blütenblatt, den Henkel einer Tasse, den Stoff einer Decke, für die Rinde eines Baumes, den Griff einer Gabel, für den Geschmack von Brot und Wasser.”

Vika und Ruth wachsen in einem Elternhaus auf, dessen Atmosphäre vergiftet ist. Der Vater ist herrschsüchtig, er kennt nur seine Arbeit, die beiden Töchter nimmt er kaum wahr. Die Mutter ist schwerfällig, all ihre Wünsche und Träume projiziert sie auf die beiden Töchter, überschüttet sie mit Erwartungen, Forderungen und Vorwürfen, immer wieder Vorwürfen. Erst als die beiden Schwestern Ende zwanzig sind, gelingt es ihnen, sich aus ihrem Elternhaus zu lösen und die Fesseln abzustreifen.

“Das vergangene Leben lässt uns nicht los. Nur wenn wir uns bewegen, wenn wir arbeiten, reisen, unter Menschen sind, können wir sie abschütteln. Nur wenn wir uns ablenken, wenn wir unterwegs sind, haben wir vor ihr Ruhe. Sobald wir uns niederlassen und nichts tun als dasitzen und zu reden, holt sie uns ein. Wenn wir die Augen schließen, sehen wir ihr Gesicht, wenn wir uns umschauen, sehen wir Mutter aus einem Winkel auftauchen. Sie beobachtet uns, sie lässt uns nicht fortgehen.”

Ruth wandert nach New York aus, ihre Schwester Vika folgt kurze Zeit später. Zum ersten Mal können beide befreit von ihrer bedrückenden Vergangenheit leben. Sie gewöhnen sich schnell an die amerikanischen Verhältnisse – ihr Vorteil ist sicherlich, dass sie drei Sprachen beherrschen. Sie leben und verdienen gut in New York, leben genauso eng zusammen, wie in ihrer Kindheit, fahren ab und an Händchen haltend Taxi – Männer kommen ihnen aber nicht ins Haus, auch wenn es einige Verehrer gibt, die Angst davor, ein ähnliches Leben führen zu müssen, wie das der Eltern, ist zu erdrückend.

“An diesem Tisch und auf diesen Stühlen saßen wir als Kinder. Das Vergangene bleibt an einem hängen, es fällt nicht von einem ab, es löst sich nicht auf. Die Dinge überleben uns. Wir gehen davon, sie bleiben.”

Die beiden Schwestern sind mittlerweile gealtert und längst wieder zurück nach Argentinien gezogen, gemeinsam auf dem Sofa sitzend blicken sie zurück auf ihr Leben, auf ihre Vergangenheit, auf ihre Kindheit, ihre Eltern und den Lauf der Geschichte, den sie mehrmals besiegen konnten, weil sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren: sie flüchteten vor Hitler und sie verließen Argentinien rechtzeitig vor dem Militärputsch. In gemeinsamen Gesprächen, Gesprächen, in denen die eine Schwester den Gedanken der anderen zu Ende denkt, werden die Bilder der Vergangenheit Stück für Stück zusammengesetzt, bis sich ein Panorama eines beeindruckenden, wenn auch einsamen, Lebens ergibt: “Das Gespräch war eine Nabelschnur, die sie verband und am Leben erhielt.” Es ist ein intimes Gespräch zwischen zwei so miteinander vertrauten Menschen, dass der Zugang in die Welt der Schwestern auf den ersten Seiten nicht einfach ist – ich habe mich als Gesprächsbeobachter gefühlt, ohne den Text jedoch wirklich betreten zu können.

“Wenn man nichts von dem wahrnimmt, was um einen herum geschieht, dachte sie, ist es so, als würde man in der Erinnerung leben. Als wäre man nur noch Erinnerung. In sich verkapselt. Ein geschlossener Innenraum in einem schwerfälligen Gehäuse. Ein Eremit, der sich von der Welt zurückgezogen hat und sich seinen Gedanken überlässt.”

Vika und Ruth leben eine Beziehung, in der die Grenzen der Normalität (was auch immer normal bedeuten mag) verwischt sind – verbunden werden sie durch eine enge Zweisamkeit, doch diese Zweisamkeit hat auch dazu geführt, dass sich keiner der beiden je nach außen orientieren konnte. Nur Ruth hatte eine kurze Affäre mit einem Mann, als sie für kurze Zeit alleine in New York gewesen ist. Beide scheinen ihr großes Glück in der gemeinsamen Bindung gefunden zu haben, doch trotz dieses offensichtlichen Glücks, das von Eberhard Rathgeb mit ganz viel Feingefühl und Zärtlichkeit beschrieben wird, wirkt dieses seltsame Paar auch befremdlich. Beide gewinnen viel durch ihr gemeinsames Leben, ich habe mich aber auch immer wieder gefragt, was sie dadurch vielleicht verlieren könnten: auch viele Jahre nach dem Tod der verhassten Eltern, haben sich beide noch immer nicht von den Schrecken ihrer Kindheit lösen können. Die Schatten der Vergangenheit verschwinden nicht, niemals so ganz. Ist es wirklich eine Entscheidung für einander gewesen oder eine Entscheidung aus Angst vor dem Leben?

“Kein Mann ist das wert, dachten sie. Auch keine Frau. Die Liebe zwischen den Männern und den Frauen wird völlig überschätzt. Sie bilden ein Paar und möchten glücklich sein und werden unglücklich. Sie versprechen sich gegenseitig hoch und heilig die Treue und betrügen sich bei der nöchstbesten Gelegenheit. Sie möchten ein schönes Leben führen und bringen sich schließlich um, weil ihre Hoffnungen enttäuscht wurden. Sie halten an ihrer Ehe fest wegen der Kinder, aber wenn sie alt und hinfällig geworden sind, machen sie sich das Leben gegenseitig zur Hölle.”

Eberhard Rathgeb legt mit “Kein Paar wie wir” einen lesenswerten Roman vor, der die Geschichte von zwei außergewöhnlichen Schwestern erzählt. Zwei Schwestern, denen es gelingt, der Geschichte zu entwischen, die die Schatten der Vergangenheit aber dennoch nicht loswerden. Eberhard Rathgeb ist ein berührendes Porträt gelungen, voller Liebe, aber auch angefüllt mit Angst und Traurigkeit.

Das Huhn, das vom Fliegen träumte – Sun-Mi Hwang

Sun-Mi Hwang ist Autorin und Literaturprofessorin, die bereits seit Jahren Bücher veröffentlicht, ohne, dass ihr der internationale Durchbruch gelingen wollte. Erst mit ihrer feinfühligen Tierfabel “Das Huhn, das vom Fliegen träumte” wurde sie endlich auch außerhalb Südkoreas bekannt. Der Roman erschien in diesem Frühjahr im Kein & Aber Verlag, insgesamt wurde er in 19 Sprachen übersetzt und diente darüber hinaus als Vorlage für einen Animationsfilm. Aus dem Englischen übertragen wurde er von Simone Jakob, Nomoco ist für die Illustrationen verantwortlich.

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“Sie hatte den Stall zwar noch nie verlassen, aber seit sie im Hof vor dem Gebäude eine Henne mit ihren hinreißenden Küken erspäht hatte, hegte sie insgeheim einen Wunsch: ein Ei auszubrüten und ein Küken schlüpfen zu sehen.”

Einer der berühmtesten Tierfabeln ist sicherlich George Orwells “Animal Farm”, ein Buch, das ich vor vielen Jahren gelesen habe, an das ich jedoch auch heute immer noch lebhafte Erinnerungen habe: Schwatzwutz, Old Major und Schneeball geistern immer noch durch meinen Kopf. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass ich mich ausgerechnet für dieses Buch bei Blogg dein Buch beworben habe. Auch Sun-Mi Hwang legt mit “Das Huhn, das vom Fliegen träumte” eine Tierfabel vor, wir lernen jedoch keine Schweine kennen, sondern ein Huhn. Sprosse ist eine Legehenne, die auf dem Bauernhof eines Ehepaares lebt, die Zustände im Stall erträgt sie schon lange nicht mehr. Sie tut nichts anderes, als Eier zu legen – diese Aufgabe erscheint ihr mittlerweile wie eine monotone Fließbandarbeit, ohne Sinn und Verstand. Der Moment, in dem ihr die Eier weggenommen werden, ist für sie auch nach all der langen Zeit im Stall immer noch schmerzhaft und herzzerreißend.

“Die Akazie hatte auch an dem Tag geblüht, an dem man sie in den Hühnerstall gesperrt hatte. Ein paar Tage später waren die Blüten wie Schneeflocken heruntergerieselt, und nur die grünen Blätter waren am Baum zurückgeblieben.”

Der Wunsch ein Ei auszubrüten und die Geburt eines Kükens mitzuerleben ist der Lebenswunsch von Sprosse, der Blick in den Hof, auf dem die Hoftiere frei herum spazieren, ist wie ein Blick in eine Traumwelt. Sie möchte dort sein, auf dem Hof – in Freiheit. Es sind ihr starker Wille und ihr Durchhaltevermögen, die sie hinaus aus ihrem Gefängnis führen – ein kleines bisschen Glück ist auch dabei. Doch in Freiheit muss Sprosse feststellen, dass ihre Wunschvorstellung und die Realität weiter auseinanderklaffen, als gedacht, zur Gemeinschaft im Hof findet sie kaum einen Zugang und dann gibt es da auch noch das Wiesel, das es darauf abgesehen hat, Hühner zu töten.

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“Ich wollte doch nur ein Ei ausbrüten. Ein einziges Ei, ganz für mich allein. Ich wolle flüstern: “Komm, zerbrich die Schale, damit ich dich kennenlernen kann. Hab keine Angst!” Und nach dem Schlüpfen das Küken an mich drücken.”

Als Sprosse auf einer ihrer Wanderungen in Freiheit ein herrenloses Ei entdeckt, glaubt sie, dass ihr sehnlichster Wunsch endlich doch noch in Erfüllung gehen kann: die Freiheit ist beängstigend, sie kann einen aber auf verschlungenen Wegen auch zu einem der glücklichsten Menschen beziehungsweise zu einem der glücklichsten Legehennen dieser Welt machen …

Ich habe Sprosse sofort ins Herz geschlossen, ihren Name habe ich als äußerst passend empfunden: Sprossen sind die Mütter der Blumen, sie widerstehen Wind und Regen, speichern das Sonnenlicht und bringen strahlend weiße Blüten hervor. Der Name passt so hervorragend, weil auch Sprosse den Widrigkeiten des Lebens trotzt, seien es nun Wind oder Regen – sie ist mutig, kämpferisch und lässt sich niemals unterkriegen. Ihr Leben in Freiheit, das sie sich mit Mut und Willenskraft erkämpft hat, stellt sie vor vielfältige Hürden und Herausforderungen, doch sie gibt nie auf und lässt den Kopf nicht hängen – so lange, bis sie förmlich über das Ei stolpert, das sie endlich zu einer Mutter machen könnte.

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“Sprossen bildeten Blätter heraus, die von Wind und Sonne berührt wurden, bevor sie abfielen, vermoderten und zu Erde wurden, auf der wohlriechende Blumen wachsen.”

Sun-Mi Hwang legt mit “Das Huhn, das vom Fliegen träumte” ein modernes Märchen vor, ein Märchen, das wunderbar leise und feinfühlig ist. Sanft und mit ganz viel Zartgefühl versetzt die Autorin sich in die Welt ihrer Tiere, lässt sie sprechen und handeln. Es ist vor allem Sprosse gewesen, die sich in mein Herz hinein geschlichen hat, es gibt aber auch noch viele andere wunderbare Figuren: der alte Hofhund und die Wildente fallen mir als erstes ein. Das Schöne an diesem Märchen ist die Kraft die es besitzt: “Das Huhn, das vom Fliegen träumte” ist in erster Linie eine Tierfabel, doch darüber hinaus lässt es sich auch auf die wirkliche Welt übertragen. Wie häufig blickt man aus seinen eigenen vier Wänden heraus auf das Leben anderer Menschen, das einem in solchen Momenten so viel leichter und besser erscheint? Wie häufig sind wir dazu bereit, den schwierigen Weg zu gehen und nicht den leichten? Wie häufig sind wir dazu bereit, für unsere Träume und Wünsche zu kämpfen und für die Erfüllung von beidem alles zu geben? Sprosse berührt und begeistert mit ihrer Kraft und ihrem Willen über die märchenhafte Welt hinaus und strahlt hinüber – bis in mein eigenes Leben.

“Das Huhn, das vom Fliegen träumte” ist ein schmales Büchlein mit großer Wirkung: Sun-Mi Hwang erzählt von Hühnern und Wildenten, doch eigentlich erzählt sie davon, wie wichtig es ist, für uns selbst einzustehen und unsere Träume und Wünsche zu verfolgen. Eigentlich erzählt sie davon, wie wichtig es ist durchzuhalten, mutig zu sein. Wie wichtig es ist, zu träumen und zu lieben. Lasst euch verzaubern von dieser wunderbaren Geschichte!

Dieser Mensch war ich: Nachrufe auf das eigene Leben – Christiane zu Salm

Christiane zu Salm wurde 1966 in Mainz geboren und arbeitete viele Jahre als Medienmanagerin. Sie war unter anderem Geschäftsführerin bei MTV und hat den Privatsender 9Live aufgebaut. Die Anteile daran verkaufte sie im Jahr 2005, seitdem widmet sich die leidenschaftliche Kunstsammlerin verstärkt sozialen Projekten. Sie hat den Verein NFTE (Network for Teaching Entrepreneurship) mitbegründet und ist ehrenamtlich als ambulante Sterbebegleiterin für das Lazarus-Hospiz in Berlin tätig.

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“Warum muss erst deine Zeit ablaufen, damit du reden kannst?”

Dieses Buch ist aus den Eindrücken und Begegnungen einer ambulanten Sterbebegleiterin heraus entstanden, es sind  berührende Eindrücke und Begegnungen mit Menschen, die sich am Ende ihres Lebensweges befinden. Aufgezeichnet wurden diese Eindrücke von Christiane zu Salm, die sich nach vielen Überlegungen dazu entschlossen hat, eine Ausbildung zur Sterbebegleiterin zu machen. Teil dieser intensiven Ausbildung, die sie in einer kleinen Gruppe absolviert hat, war die Aufgabe, einen Nachruf auf das eigene Leben zu schreiben. Es ist diese Aufgabe gewesen, die sie dazu angeregt hat, über die Frage nachzudenken, wie Menschen im Angesicht ihres Todes ihr eigenes Leben bewerten. Es ist diese Aufgabe gewesen, die sie dazu angeregt hat, Menschen zuzuhören, mit ihnen zu sprechen und sie danach zu fragen, wie ihr eigener Nachruf aussehen würde. Geführt hat sie diese Gespräche in Deutschland und in Amerika, manchmal im Hospiz, manchmal aber auch bei den Patienten zu Hause.

“Dies ist kein Buch über das Sterben, sondern ein Buch über das Leben. Das Leben wird hier allerdings von seinem Ende aus betrachtet: Es ist eine Betrachtung des Lebens aus der Perspektive des Sterbens.”

Die Betrachtung des Lebens aus der Perspektive des Sterben heraus ist etwas gewesen, das Christiane zu Salm immer schon interessiert hat, häufig ist sie mit diesem Interesse angeeckt. In ihrem sehr lesenswerten Vorwort – mit dem passenden Titel “Kein Sterbenswort” – geht sie darauf ein, wie Menschen dazu neigen die Tatsache zu verdrängen, dass das Leben endlich ist. Wir verwenden zwar Worte wie sterbenslangweilig, todmüde und ab und an hat man sich auch mal totgelacht, doch der Tod und das Sterben werden darüber hinaus nicht häufig bewusst in unserem Alltag wahrgenommen. Der Eindruck es handle sich dabei um ein Tabuthema ist sicherlich nicht ganz falsch.

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“Ganz egal, ob Mann oder Frau: Der moderne Mensch redet nicht gerne über das Sterben. Darüber verlieren wir in unseren hochzivilisierten westlichen Gesellschaften so gut wie kein Sterbenswort.”

Christiane zu Salm betont, dass ihre Affinität zum Tod nicht nur aus einer Angst resultiert, sondern “aus einer Suche nach dem Verständnis dessen, was wirklich wichtig ist, worauf es ankommt, was eigentlich bleibt vom Leben.” Dem Tod begegnet ist sie zweimal, mit sechs Jahren musste sie den Unfalltod ihres Bruders miterleben, viele Jahre später befand sie sich für einige Minuten unter einer Lawine, sie raste auf Skiern den Hang hinab und hat die Gewissheit gespürt, aus diesem Moment nicht mehr heil herauskommen zu können. Doch sie hat überlebt. Vier Jahre später fasste sie den Beschluss, Sterbebegleiterin werden zu wollen.

“[…] was denkt die Verkäuferin im Supermarkt, was der Kfz-Mechaniker, was die Gemeindemitarbeiterin von nebenan? Wie betrachten ganz gewöhnliche Menschen ihr Leben, wenn sie im Sterben liegen? Sind es Antworten auf die großen Fragen des Lebens, die sie eventuell gefunden haben und hinterlassen könnten? Oder sind es Banalitäten? Aber wer entscheidet eigentlich, was banal ist und was nicht? Was ist wichtig, ganz am Ende? Ist es möglicherweise das Gleiche, das immer schon wichtig war – oder etwas ganz anderes? Und woran erinnert sich jemand – dann, wenn es zu Ende ist, das Leben?”

Insgesamt achtzig Nachrufe auf das eigene Leben versammelt Christiane zu Salm in ihrem Buch, sie stehen dicht an dicht nebeneinander. Die Nachrufe umfassen häufig nur zwei bis drei Seiten, manchmal reicht auch eine aus für das, was der Mensch über sein Leben erzählen möchte. Viele der befragten Menschen sind bereits älter, andere gerade einmal Anfang 40. Viele von ihnen haben Krebs, bei manchen ist die Krankheit vermerkt, bei anderen nicht, bei manchen ist der Zeitpunkt vermerkt, an dem sie gestorben sind, andere leben noch.

“Wo ist bloß die Zeit hin, und was haben wir denn all die Jahre gemacht, in denen wir unsere Träume geträumt haben, statt sie zu leben?”

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Die versammelten Schicksale haben mich natürlich nicht alle gleichermaßen berühren können, doch viele haben mich tatsächlich bewegt, andere haben mich auch betroffen und nachdenklich gemacht. Die Schicksale sind häufig in keiner Form außergewöhnlich, ganz im Gegenteil: es sind die Lebenserinnerungen ganz normaler Menschen. Viele von diesen Erinnerungen sind von dem Gefühl geprägt, zu wenig erreicht zu haben oder an einer Weggabelung den falschen Weg eingeschlagen zu haben. Manche von den Erinnerungen sind von einer tiefen Schuld geprägt, ein Mann erinnert sich daran, Schuld am Selbstmord seines Sohnes zu haben. Andere werden davon belastet, ein Geheimnis mit sich herumzutragen: eine Frau hat ihrer Tochter ein Leben lang verschwiegen, dass sie als Prostituierte gearbeitet hat und der Vater ihrer Tochter einer ihrer Kunden gewesen ist. Ein anderer Mann hat es sein Leben lang nicht geschafft, seiner Frau eine Affäre zu gestehen. Andere berichten über verpasste Möglichkeiten, über vergeudete Chancen, Träume, die nie umgesetzt wurden und über Beziehungen die zerbröckelten oder über Beziehungen, für die man nie den Mut gefunden hat, sie zu führen. Ein Sohn berichtet davon an der Frage zerbrochen zu sein, ob sein Vater stolz auf ihn gewesen ist, ein Vater stirbt mit dem Gefühl, einen seiner beiden Söhne dem anderen gegenüber bevorzugt zu haben.

“Bei den entscheidenden Ereignissen, die im Leben so passieren, weiß man ja immer erst im Nachhinein, wofür es gut war. Dass alles, ganz gleich was, sich irgendwann für irgendetwas als richtig erweist . da bin ich mir sicher. Ich habe mich allerdings oft gefragt, warum wir das immer erst im Rückblick erkennen.”

Doch es gibt auch andere Nachrufe, Nachrufe von Menschen, die ein Leben gelebt haben, auf das sie im Moment ihres Todes mit einer inneren Zufriedenheit zurückblicken können. Menschen, die die richtigen Entscheidungen getroffen haben und den richtigen Menschen begegnet sind oder die sich im richtigen Moment dafür entschieden haben, sich von einem Menschen zu trennen, der einem vielleicht nicht mehr gut tut. Im Anhang des Buches befindet sich eine ausgezeichnete und sehr informative Liste an Buch- und Filmtiteln rund um das Thema Sterben und Tod.

Bewegt und berührt – das sind zwei Worte, die ich in meinen Besprechungen gerne verwende. Noch nie hat sich dies so passend angefühlt, wie bei diesem Buch. Christiane zu Salm hat mich mit den Nachrufen, die sie in diesem Buch versammelt hat, dazu angeregt, nachzudenken – über mein eigenes Leben, aber auch über das Leben der Menschen um mich herum. “Dieser Mensch war ich” ist für mich gleichermaßen Kraftspender und Anstoß gewesen: der Zugang anderer Menschen zu ihrem eigenen Tod hat mich immer wieder getröstet und ermutigt und ihre Lebenserinnerungen haben mir in Erinnerung gerufen, was wirklich wichtig ist im Leben: Zufriedenheit, Glück und der Versuch, die eigenen Träume zu leben.

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