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Zeitgenössisches

Ada liebt – Nicole Balschun

Bei manchen Büchern muss ich mich überwinden, sie überhaupt in die Hand zu nehmen. Es ist eine Überwindung aller möglicher Vorurteile und Klischees und eine Überwindung scheinbarer Genregrenzen, die manchmal unüberwindbar erscheinen. Auf den ersten Blick. Ein solches Buch ist “Ada liebt”, der Debütroman von Nicole Balschun, der 2011 im DuMont-Verlag erschienen ist und mit allerlei abschreckenden Werbeslogans beworben wird: “Eine Liebesgeschichte mit Heulgarantie”, “Die schönste Liebesgeschichte, seit es Misthaufen gibt”. Zu allem Überfluss zieren das babyblaue Cover Gummistiefel und rosarote Rosen. Diesen Vorurteilen entgegen steht das Glück und die Zufriedenheit, die ich beim Zuklappen der letzten Seite empfunden habe. Wie schade wäre es doch gewesen, wenn ich dieses Buch verpasst hätte …

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“Ich hatte so viele Wörter, ich liebte die Sprache, ich hatte sie studiert, und nun half sie mir nicht, gab mir keine passenden Worte, nur ein Krächzen, etwas Vorsprachliches, nichts, das Bo verstand, nichts, das es mir selber erklärte.”

Nicole Balschun erzählt eine herrlich ungewöhnliche Liebesgeschichte. Bereits der Roman beginnt außergewöhnlich, denn er beginnt zunächst mit dem Ende, bevor die Geschichte von Beginn an aufgerollt wird – am Ende schließt sich dann wieder der Kreis. Erzählt wird die Geschichte von Ada und Bo; es ist eine Liebesgeschichte mit Hindernissen, eine Geschichte, in der sich Gegensätze zwar anziehen, doch nicht überwinden können. Bo ist Bauer, seine Leitsau heißt Siegfried. Er hat nicht nur Schweine, sondern auch Kühe, dafür aber wenig Interesse an Kultur: das einzige Lesbare, das sich in seinem Haushalt findet, sind seine Landwirtschaftszeitungen. Ada ist das Gegenteil von Bo: sie ist in der Stadt aufgewachsen, studiert Literaturwissenschaft und lebt in der Nähe der Universität. Ihre Welt ist die Welt der Bücher, die Welt der Worte.

“Ich kam schließlich jedes Wochenende hierher in diesen Schweinemief und guckte auf Felder und in Kuhscheiße und Bo hatte mich noch kein einziges Mal besucht in der Stadt mit ihren tausend Möglichkeiten und dem tollen Ausblick.”

Ada und Bo lernen sich auf der Beerdigung von Adas Tante Rosi kennen. Bo ist Sargträger und fällt dadurch auf, dass ihm das Gebetbuch in den Sarg fällt. Wie gesagt: unterschiedlicher könnten die beiden eigentlich nicht sein, Ada und Bo, und doch fühlen sich beide von diesem Moment an zueinander hingezogen. Die nächsten Wochen verbringt Ada am Schreibtisch, sie arbeitet gerade an ihrer Promotion, doch an den Wochenenden zieht es sie hinaus auf den Hof von Bo. Sie lernt Siegfried kennen, die Leitsau und Bo schenkt ihr ein Paar Gummistiefel. Zusammen fahren sie Trecker und schaufeln Mist. Adas Welt besteht aus Worten, doch Bo zeigt ihr, dass man neben all den Worten auch noch leben und atmen muss. Bo haucht Ada, dem Blassgesicht, Leben ein. Bücher kann man zwar lesen, doch man kann nicht in ihnen leben – findet Bo.

“Insgeheim wussten wir, dass ich nie eine Bäuerin und Bo nie kein Bauer sein würde, aber wir fühlten einander und machten ansonsten die Augen zu. Vielleicht übersahen wir deshalb die dröhnende Lawine, die uns mit einem Schlag mitten im blühendsten Sommer überrollen sollte, und vielleicht setzte sie sich schon in Gang, als wir Tante Rosi unter die Erde brachten.”

Ada liest so viele Bücher, doch die Welt der Worte befähigt sie nicht dazu, selbst Worte zu finden; ihr fehlen die “Vokabeln für die Elementarteilchen zwischenmenschlicher Beziehungen”. Bo ist einfach und schlicht gestrickt, doch er liebt und fühlt – Ada fühlt auch etwas, vielleicht, doch sie kann ihre Gefühle nicht artikulieren. Ist das, was sie fühlt Liebe oder nur irgendein Abklatsch? Zur Liebe gehören für Ada “Atemnot, ein Wortstillstand und ein großer Schmerz”. All dies fühlt sie erst, als sie Bo bereits verloren hat.

“Die Bücher, ihr Geruch, das sanfte Rascheln beim Umblättern des Papiers, es knistert nichts mehr unter meinen Händen und mein Herz sprang nicht, weil ein Buch gut war, und auch die klugen Gedanken, die ich einst in Marmeladengläsern einmachen wollte, waren mir irgendwie aus dem Kopf gefallen.”

Nicole Balschun erzählt eine Liebesgeschichte, in der es nicht an der gegenseitigen Liebe fehlt, sondern an einem gemeinsamen Ort an dem diese wachsen kann. Ada ist zu sehr verhaftet in ihrem Wald aus Literatur, als das sie daraus hervortreten könnte, um sich dem Leben zu stellen. Sie lebt ihr Leben aus einer Zuschauerrolle heraus, sie schaut zu, ergreift aber selten selbst die Initiative. Schon ihr Vater hat sich lieber hinter Zeitungen verschanzt. Ada ist passiv und unbeteiligt, am Leben teilnehmen? – das tun doch die anderen. Und Bo? Bo ist durch und durch ein Bauer, der die bäuerliche Welt für nichts aufgeben würde und auch nicht gegen die große Liebe eintauschen. Nicole Balschun seziert einen schmerzhaften Kampf um die Liebe, es ist eine Liebe, die sowohl in Bo als auch in Ada gesät wurde, die jedoch kein Klima findet, um zu gedeihen. Sie erstickt im Mief des Misthaufens und an den gegenseitigen Erwartungen und Ansprüchen, sie erstickt am Schweigen und der Sprachlosigkeit.

“Eine Woche später standen kleine Gummistiefel neben Bos großen und er sagte, melken, musst du trotzdem nicht. Es zuckte durch meinen Bauch, denn bei Bo Stiefel haben war, als würde zu Hause eine zweite Zahnbürste im Becher stehen.”

Ich habe mich beim Lesen in Ada verliebt, in ihre Zwiespältigkeit und in ihr Zaudern, in ihren Wunsch, dass das Blut kochen muss, wenn man sich verliebt – wie beim Lesen eines Romans. In ihre Sprachlosigkeit, in ihre Zweifel. Die Liebe breitet sich in ihr aus, vor allen Dingen in den Momenten, in denen sie glaubt, Bo zu verlieren. Doch artikulieren kann sie das nicht, dabei hat sie doch so viele Worte in ihrem Kopf. Doch keines davon kommt ihr über die Lippen, bis es zu spät ist. Was macht man mit Gefühlen, die man nicht kommunizieren kann? Irgendwann wird einem die Luft zum Atmen genommen.

“Bo hatte sein Wissen aus dem Leben und irgendwie auch aus dem Herzen. Ich hatte meines aus Büchern und es konnte doch nicht gut gehen mit uns, und während mir sein Geruch in die Nase stieg, flüstere ich Bo ins Ohr, du bist so dumm, Bo, und er lachte und flüsterte zurück, und du erst, Ada.”

Wenn ihr dieses Buch in einem Buchladen liegen sieht, dann lasst euch nicht abschrecken von der Aufmachung. “Ada liebt” ist ein kleines Juwel, voller kluger Gedanken, die ich in “Marmeladengläsern einmachen wollte”. Nicole Balschun charakterisiert ihre beiden Figuren mit so viel Wärme und Liebe, das ich gar nichts anderes machen konnte, als mit schwitzigen Händen am Buch kleben, um zu erfahren, wie es weitergeht. Immer in der Hoffnung, dass es doch bitte gut gehen würde zwischen den beiden, zwischen Ada und Bo.

Wie ich mir das Glück vorstelle – Martin Kordić

Martin Kordić wurde 1983 in Celle geboren und arbeitet heutzutage als Lektor bei einem Verlag in Köln. Er studierte in Hildesheim und an der Universität Zagreb. Mit “Wie ich mir das Glück vorstelle” legte er in diesem Bücherfrühjahr seinen ersten Roman vor.

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“Diese Geschichte ist mein Leben. Diese Geschichte darf nicht länger sein als das Heft, in das ich reinschreibe. Ich schreibe sie für dich. Ich schreibe sie für den einen, der sie liest.”

Vorweg muss gesagt werden, dass das Cover des Romans täuscht. Der niedliche Vogel und das Wort Glück suggerieren eine Leichtigkeit, die sich in den Worten – wenn man den Roman schließlich aufschlägt – nicht mehr wieder finden lässt. Martin Kordić verarbeitet in seinem lesenswerten Debütroman ein Stück der eigenen Vergangenheit. Sein Vater stammt aus Bosnien, aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Mostar. Die Familie plante in den achtziger Jahren ihre Rückkehr nach Bosnien, doch dann brach dort der Krieg aus. Diese Ereignisse holt Martin Kordić in seinem Roman wieder zurück in das Bewusstsein, aus dem Vergessen zurück in das Gedächtnis.

“Ich habe einigen Schaden an meinem Körper. Als ich zur Welt komme, haben die Menschen gleich eine Menge mit mir zu tun. Maria, o Maria. Ich habe damals schon ein ordentliches Rückenproblem. Ich bin so schief und steif, dass die Oma und die Mutter mich wochenlang nur in Tücher wickeln können. Dass mit meinem Kopf was nicht stimmt, findet nie ein Doktor raus. Ich selbst weiß auch nicht, was mir da fehlen soll.”

Erst vor kurzem habe ich Aleksander Hemons Roman “Das Buch meiner Leben” gelesen, der Roman ist eine sehr bewusste Auseinandersetzung mit dem Bosnienkrieg und den politischen Hintergründen der damaligen Zeit. Martin Kordić wählt für seine Erzählung, die gerade einmal 170 Seiten schmal ist, einen anderen Weg. Er erschafft Viktor, einen Jungen, der das Kriegsgeschehen aus einer kindlichen Perspektive heraus wahrnimmt. Diese Perspektive ist dafür verantwortlich, dass es weniger um das wie und warum geht, denn die genauen politischen Kriegsprozesse können von Viktor gar nicht erfasst werden, sondern um den einzelnen Moment, den Viktor erlebt. Es ist eine Perspektive, die manchmal diffus erscheint, voller verwirrender zeitlicher Abläufe und mit reichlich rätselhaften Geschehnissen. Das Besondere der Perspektive ist die ständige Momentaufnahme, denn Viktor lebt in einem fortlaufenden Präsens und so ist das Buch auch geschrieben – auch Sequenzen, die rein formal in der Vergangenheit liegen müssten, werden in eine stetige Gegenwart gerückt.

“Als ich zur Welt komme, leben hier vier Erwachsene (die Oma, der Opa, der Onkel und die Frau vom Onkel) und fünf Kinder (die Kinder vom Onkel). Mit den beiden Nachbarhöfen zusammen sind im alten Teil vom Dorf ungefähr dreißig Menschen. Mit den neuen Häusern an der Straße weiter unten sind es ungefähr achtzig. Ich versuche manchmal alle aus meiner Familie auf ein Bild zu malen, aber immer vergesse ich einen. Zusammen sind wir ein Dorf, das alle das Dorf der Glücklichen nennen.”

Viktor lebt in der Stadt der Brücken, bereits seine Geburt ist ungewöhnlich – auch Jahre später spricht man noch über diese blutigen Momente und die Schinkengabel. Viktor kommt mit einem krummen Rücken zur Welt, deshalb muss er ein Korsett und eine Rückenspinne tragen. Er lebt in einer Stadt, die geteilt wurde, verbunden wird sie nur noch durch Brücken, die jedoch häufig unpassierbar sind. Viktor lebt alleine, er hat keine Familie mehr, dafür aber Weggefährten: den Hund Tango, ein Mädchen, das als Prostituierte arbeitet, um zu überleben und einen passionierten Hütchenspieler, den er immer nur den einbeinigen Dschib nennt. Um in der zerstörten Stadt überleben zu können, bettelt Viktor nicht nur, sondern sammelt alles auf, was er auf seinen Streifzügen finden kann. Doch das Einzige, was Viktor wirklich zum Leben braucht, ist sein Heft und der Bleistiftstummel, mit dem er seine Geschichten aufschreibt. Die Geschichte seiner Geburt findet natürlich Erwähnung im Heft, aber er zeichnet auch viele Erinnerungen auf: Erinnerungen an die Zeit mit seiner Familie im Dorf der Glücklichen. Er erinnert sich an seine Großmutter, die ihn lehrt, Eier aus dem Hühnerstall zu stehlen, er erinnert sich daran, wie sie zusammen Teigschnecken machten, er erinnert sich an die Abwesenheit seines Vater, der in den Krieg auszog. Er erinnert sich an Tote, an Leid.

“Der Krieg fängt in den Dörfern an. Dort hört er auf. Krieger kontrollieren die letzten zwei Brücken der Stadt. Auf der einen Seite stehen die Mudschis, auf der anderen warten die Kreuzer auf uns.”

“Wie ich mir das Glück vorstelle” ist ein schmales Büchlein, das gerade einmal 170 Seiten umfasst. Doch es ist ein Buch, das eine solche Nach-Wirkung hat, dass man als Rezensentin fürchtet, dass die Länge der Besprechung, die Länge des Buches übertrumpfen könnte. Martin Kordić schildert einen Krieg, an den man als Leser jedoch nicht herankommt, denn er wird aus der verzerrten Perspektive eines Kindes geschildert. Als Leser erlebt man die Erschütterungen des Kriegs in der ewigen Gegenwart, ohne Vergangenheit und ohne Zukunft. Diese Perspektive aus der heraus erzählt wird, gehört für mich zu dem wunderbarsten Aspekt des Romans, den dank dieser Perspektive kommt man dem Krieg vielleicht doch nah, nicht in seiner politischen Dimension und Bedeutung, doch in dem, was ein Krieg in der Seele eines Kindes anrichten kann. Die Perspektive bannt die Rästelhaftigkeit eines Krieges auf Papier und fängt die Orientierungslosigkeit und Verwirrung von Viktor ein. Es bleibt nicht aus, dass all dies stellenweise auch auf den Leser übergreift.

“Der Fluss trägt alles Leben und alle Toten und alle Geschichten. Aus allen Ländern und aus allen Völkern. Alles versinkt hier. Im Meer. Und wenn es irgendwann mal keine Geschichte mehr gibt, wenn keiner mehr was erzählt, wenn keiner mehr zuhört, ist das die Finsternis. Die Finsternis, aus der hier keiner mehr rauskommt. Auch du nicht. Egal wo du bist.”

Viktor ist ein besonders Kind, er wird als Kretin und Missgeburt beschimpft und von vielen nur als Krüppel gesehen, nicht als vollwertiger Mensch. Körperlich ist Viktor vielleicht eingeschränkt, doch sein Kopf funktioniert: er schreibt sein Heft voll mit Erinnerungen und es ist das Schreiben, das ihn überleben lässt, es sind die Worte, die ihm helfen. Erst der Prozess des Aufschreibens, ermöglicht es ihm, sich an das Glück seiner Kindheit zu erinnern.

Martin Kordić legt mit “Wie ich mir das Glück vorstelle” ein schmales Buch vor, das jedoch umso schwerer wiegt. Viktor ist für mich nicht nur eine Romanfigur; dieses seltsame Kind, voll von Ernsthaftigkeit und Traurigkeit, doch niemals den Mut verlierend, hat sich in mein Herz geschlichen. “Wie ich mir das Glück vorstelle” ist äußert lesenswert und herzzerreißend traurig.

Vampire im Zitronenhain – Karen Russell

Karen Russell wurde 1981 in Miami geboren und studierte an der Northwestern University Englisch und Spanisch. Trotz ihres jungen Alters hat sie für ihre Veröffentlichungen schon zahlreiche Auszeichnungen erhalten, bereits ihr Erzählband “Schlafanstalt für Traumgestörte”, mit dem sie debütierte, wurde für den “Guardian First Book Award” nominiert. Der Roman “Swamplandia” war unter den Finalisten des Pulitzer-Preis und vom New Yorker wurde sie auf die Liste der zwanzig besten Nachwuchsautoren befördert, Seite an Seite mit Jonathan Safran Foer und Nicole Krauss. “Vampire im Zitronenhain” ist ihr neuestes Buch und erschien im vergangenen Jahr. Malte Krutzsch ist für die Übersetzung verantwortlich.

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“Vampire im Zitronenhain” ist ein Erzählband, der insgesamt acht Erzählungen versammelt. Alle acht Erzählungen kratzen an der Grenze unserer Realität,  spielen mit Phantasie und Wirklichkeit. Karen Russell sucht in ihren Erzählungen das Ungewöhnliche und wendet sich ab vom Normalen, das allzu oft alltäglich erscheint. Sie versetzt den Leser zurück in die Vergangenheit, zurück ins 19. Jahrhundert und erzählt eine Geschichte von jungen Frauen, die zur Herstellung von Seide missbraucht werden. Die Frauen verwandeln sich Stück für Stück in Raupen, die mit Maulbeerblättern ernährt werden und den kostbaren Faden produzieren. Es wird auch ein Blick in die Zukunft geworfen: Karen Russell erzählt von antarktischen Fanveranstaltungen, von den Teams Krill und Wal und davon, dass es dabei nicht nur um einen ungewöhnlichen Sport geht, sondern um Leben und Tod.

“[…] sich selbst konnte Nal nicht entkommen. Er versenkte Bälle, und immer war es Nal, der sie versenkte; er warf vorbei, und immer war es Nal, der vorbeiwarf. Er fühlte sich außerstande, spontan zu handeln: Bei allem musste ein kleines Männchen in seinem Kopf erst ein Ablaufdiagramm entwerfen. Wenn p, dann q; wenn z, dann zurück nach a.”

Karen Russell widmet sich in ihren Erzählungen dem Ver-rückten, den Dingen, die nicht mehr an ihrem Platz sind, wendet sich Orten zu, an denen die Ordnung verloren gegangen ist. Sie erzählt von Vampiren, die statt Blut Zitronenlimonade trinken, um ewig leben zu können. Sie erzählt von mysteriösen Vogelscheuchen und von Seemöwen, die die Zukunft beeinflussen können. Ihre Erzählungen sind phantastisch, es ist eine Phantasie, der etwas Magisches anhaftet. Karen Russell spielt mit den Grenzen unserer Vorstellungskraft und lotet diesen dunklen Ort im Nirgendwo aus, dem man sich nicht gerne freiwillig nähert. Sie beweist dabei immer wieder viel Humor, sinnbildlich steht dafür die Geschichte “Der Stall am Ende unserer Amtszeit”, in der ehemalige Präsidenten im Körper von Pferden wiedergeboren werden.

“‘Ich bin auch nicht tot, John Adams’, sagte Eisenhower. ‘Ich bin nur inkognito hier. Der Secret Service hat sich wohl dieses Versteck für mich ausgedacht, bis ich in meinem Körper zurückkehren und die Regierung des Landes abermals übernehmen kann. Für die anderen kann ich ja nicht sprechen, aber ich bin kein Pferd.”

Wenn man die phantastische Schicht vom Text abkratzt, offenbart sich darunter eine tieferliegende Ernsthaftigkeit. In der Geschichte “Die grablose Puppe des Eric Mutis” geht es vordergründig um eine mysteriöse Vogelscheuche, doch es geht auch darum, dass ein schlechtes Gewissen einen manchmal bis in die Nächte hinein verfolgen, von innen heraus auffressen und in tiefe Abgründe stürzen lassen kann. Jede der acht Geschichten widmet sich unter der häufig phantastischen Oberflächenschicht elementaren menschlichen Themen wie der Liebe und dem Leben, aber auch der Trauer und dem Tod. Die Geschichte, die mich am stärksten beeindruckt hat und die auch jetzt immer noch irgendwo in meinem Gedächtnis sitzt und dort kratzt und pocht, ist die einzige Geschichte im Erzählband, die fast auch wahr sein könnte. In “Die neuen Veteranen” massiert Beverly nicht nur normale Kunden, sondern auch ehemalige Soldaten, die durch ein besonderes Förderungsprogramm auf ihrem Tisch landen. Einer dieser Soldaten ist Derek, der die Erinnerungen an den Krieg nicht auslöschen kann. Sinnbildlich dafür steht die Tätowierung auf seinem Rücken, die ihn für immer an seinen verstorbenen Kameraden erinnern wird. Beverly entdeckt bei der Massage von Derek, dass sie die Fähigkeit hat, nicht nur körperliche Schmerzen wegzumassieren, sondern auch die Erinnerungen. Doch kann es wirklich hilfreich sein, etwas, das man erlebt hat, zu vergessen? Kommt es nicht immer wieder, verkleidet oder in abgewandelter Form, zurück? Kann das Vergessen eine Lösung sein, eine Rettung?

“Und wenn sich herausstellt, dass sie seine Erinnerungen doch von außen beeinflussen kann? Die Karten seiner Vergangenheit neu mischen kann, indem sie einige auslässt, durch freundlichere aus einem anderen Deck ersetzt, was soll daran schlimm sein? War nicht gerade das andere schlimm? Zuzulassen, dass die erste Wahrheit Metastasen bildete, die einen umbringen konnten? Dass ein einziger Tag die ganze Lebensspanne eines Körpers zerfraß – sollte man das nicht verhindern?”

Karen Russell legt mit “Vampire im Zitronenhain” einen skurrilen und aberwitzigen Erzählband vor, der voller Humor und Ernsthaftigkeit ist. Über dem Text liegt eine dicke Schicht Phantasie, Magie und ganz viele märchenhafte Elemente, doch darunter schimmert ganz zart auch das ungewöhnliche Talent dieser jungen Autorin: Karen Russell gelingt es auf einem hohen literarischen Niveau zu erzählen. Sie erzählt mit leichter Hand und erschafft dabei Königreiche der Phantasie, die sie mit einer tieferen Bedeutung und Moral unterlegt. Die Fledermaus, die das Cover ziert, fungiert als inhaltliche Klammer, die die Geschichten zusammenhält, denn in allen acht findet sie auf die ein oder andere Weise Erwähnung, wie ein wiederkehrendes Motiv.

Erzählbände sind immer eine schwierige Sache, Karen Russell ist mit “Vampire im Zitronenhain” jedoch ein höchst lesenswerter Erzählband gelungen. Ihre Erzählungen sind ein fortlaufendes Spiel mit den Erwartungen des Lesers. Sie erschafft skurrile Figuren, denen sie jedoch mit ganz viel Wärme und Liebe so viel Leben einhaucht, dass ich mich als Leserin kaum von ihnen trennen konnte. Karen Russell ist eine beeindrucke und mutige Autorin und “Vampire im Zitronenhain” sicherlich nicht das letzte Buch, das ich von ihr gelesen habe.

Im Rachen des Alligators – Lisa Moore

Lisa Moore wurde 1964 in St. John’s, Neufundland, geboren. Am Nova Scotia College of Art and Design studierte sie Kunst. Im Jahr 2010 erschien im Hanser Literaturverlag ihr vielbeachteter Roman “Und wieder Februar”. Im vergangenen Jahr wurde ihr zweiter Roman veröffentlicht, doch  wenn man’s genau nimmt, ist”Im Rachen des Alligators” das eigentliche Debüt von Lisa More als Schriftstellerin, das im Original bereits im Jahr 2005 erschien. Aus dem Englischen übersetzt wurde das Buch von Kathrin Razum.

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“Die gewaltige neue Einsamkeit ihrer Mutter war ein Stigma, sie verwehrte ihr jede Freude und Unbeschwertheit, ohne Wenn und Aber; es war eine Einsamkeit, die Colleen ansteckend vorkam.”

Der Alligator, der titelgebend gewesen ist und auch das Buchcover schmückt, spielt im Roman selbst nur eine untergeordnete Rolle. Die Geschichte rund um ihn, ist schnell erzählt: ein Mann steckt hauptberuflich zur Erheiterung von Touristen seinen Kopf in den Rachen eines Alligators. Es handelt sich um eine diffizile Tätigkeit, bei der jeder Fehler tödlich sein kann. Der Mann vergisst ein einziges Mal, sich den Schweiß vom Gesicht zu wischen; als er den Kopf in den Rachen des Alligators legt, schnappt dieser zu. Der Mann überlebt schwer verletzt. Das Unglück ist durch die Videokamera der Dokumentarfilmerin Madeleine für die Ewigkeit festgehalten. Doch viel wichtiger als diese unglaubliche Geschichte, ist die Metapher, die im Titel steckt: Im Rachen des Alligators ist ein Zustand, der nur schwer auszuhalten ist, ein Zustand der Bedrängung, ein Zustand, in dem jede Kleinigkeit ein tödlicher Fehler sein kann. Ein Schweißtropfen reicht aus, um eine Existenz auszulöschen oder schwer zu beschädigen. Im Rachen des Alligators ist ein Bild für die Fragilität des Lebens, eine Metapher, die auf alle Figuren von Lisa Moore angewendet werden kann.

“David hatte nach dem Rasieren nie das Waschbecken saubergemacht. Das von Stoppeln übersäte Porzellan fehlte ihr, obwohl es jedesmal wieder ein kleiner Schock gewesen war, es vorzufinden. Sie hatte nie damit gerechnet, doch jetzt fehlte es ihr schmerzlich, als stieße ihr jemand eine Nadel ins Herz. Wie weiß und kalt so ein Waschbecken aussehen kann, wenn man ohne Mann lebt. Wie steril. Was ihr fehlt, ist der Geruch von Sex, das ist es, was ihr fehlt, ein vager Geruch nach verstreichender Zeit und Seetang und gemähtem Gras.”

Lisa Moore lotet in ihrem feinsinnigen Roman fragile Existenzen aus, die Situationen extremer Bedrohung erleben. In kurzen Sequenzen, in denen kein Wort zu viel ist, widmet sich die Autorin ihren Figuren. Da gibt es die siebzehnjährige Colleen, deren behütete Kindheit mit dem überraschenden Tod ihres Stiefvaters abrupt endet. Mittlerweile ist aus dem zwölfjährigen Mädchen, das sie vor dem Tod gewesen ist, ein rebellischer Teenager geworden, der alle Grenzen der Scham und des Anstands testet und immer wieder überschreitet. Weil sie Zucker in die Tanks mehrere Bulldozer kippt, wird sie als Ökoterroristin abgestempelt. Wenn man so will, steht Colleen im Zentrum des Romans. Die anderen Figuren werden um sie herum angeordnet. Im Gedächtnis geblieben ist mir Frank, ein liebenswerter junger Mann, der jede Nacht an seinem eigenen Stand Hotdogs verkauft. Mit verzweifelter Hoffnung kann er nicht aufhören, an das Gute im Leben zu glauben, dabei hat ihm dieses Leben schon früh seine Mutter genommen. Ein Tod, den er nie verwunden hat. Colleens Tante Madeleine ist Dokumentarfilmerin, von ihrem ersten Mann ist sie schon lange getrennt, doch lieben tut sie ihn immer noch. Um nicht fühlen zu müssen, arbeitet sie wie besessen und ignoriert dabei ihre eigene Gesundheit. Colleens Mutter Beverly hat erst ihren Mann verloren und nun überkommt sie immer häufiger das Gefühl, auch ihre Tochter zu verlieren.

“Öko-Terroristen hatten ihre Tochter gekidnappt und sie von ihrer Mutter und allem, was sie je gelernt hatte, abgebracht – höflich zu sein etwa, komme was da wolle, Stoffservietten zu verwenden, angetrocknete Zahncreme vom Waschbecken abzuwischen, in der Schule hervorragende Noten zu schreiben, keinen Geschlechtsverkehr zu haben und keinen Oralverkehr hinten im Schulbus, was gerade angesagt war, den Abfall zu trennen und zu essen, was man auf dem Teller hat – das alles war wie ausgelöscht.” 

Doch das Figurenensemble ist immer noch nicht komplett: da gibt es noch die Schauspielerin Isobel, die in dem neuen Film von Madeleine die Hauptrolle spielt. Aus dem Gefühl heraus, an einer schmerzhaften Einsamkeit zu ersticken, lässt Isobel den mysteriösen Valentin in ihr Leben – kurze Zeit später ist nichts mehr so, wie es zuvor war.

Colleen, Frank, Madeleine, Beverly, Isobel, Valentin – wir lernen sie alle kennen. Jedes Kapitel ist mit einem Namen überschrieben, in kurzen und dichten Sequenzen widmet sich Lisa Moore ihren Figuren, die alle an irgendetwas kranken, etwas mit sich herumschleppen – sie alle haben ihren Kopf in den Rachen eines Alligators gelegt und können jetzt nur noch hoffen, dass sie nicht anfangen zu schwitzen. Jedes Kapitel widmet sich einer Figur, doch alle diese Figuren hängen irgendwie miteinander zusammen, manche von ihnen begegnen sich, andere leben voneinander getrennte Leben.

“Er war auf eine kalte, hässliche Insel geraten, die kaum existierte, auf vielen Landkarten gar nicht verzeichnet war. Er war im Nirgendwo.”

Die besondere Atmosphäre des Romans wird durch den exotischen Handlungsort bedingt: die Geschichte spielt im neufundländischen St. John’s. Eine Stadt, die in meiner Vorstellung kalt und unwirtlich ist. Ein abgelegener Ort, an dem nicht viele eine Perspektive für sich  selbst sehen können, in dessen Hafen jedoch täglich große Kreuzfahrtschiffe einlaufen, um die Menschen an alle möglichen Orte dieser Welt zu bringen. Genauso kalt und unwirtlich mir dieser Ort erschienen ist, ist auch die Sprache des Romans, die weit davon entfernt ist, poetisch zu sein. Nüchtern und sachlich erzählt Lisa Moore aus dem Leben ihrer Figuren, die allesamt Gestrandete sind, gestrandet im Rachen des Alligators. Wenn der Roman eine Moral haben sollte, dann vielleicht diese: um zu leben, muss man sich aus der Erstarrung lösen, statt im Rachen zu verharren, sollte man damit beginnen, zu leben. Leben bedeutet Schmerz und Unglück, wenn man lebt, können einem aber auch Schönheit und Liebe begegnen.

“Wir haben nur ein Leben, Colleen. Es gibt nicht das Leben, das wir leben, und das Leben, das wir hätten leben können. Verstehst du, was ich meine?”

Lisa Moore hat einen feinsinnigen Roman geschrieben, der durch seine wunderbaren Figuren lebt. Es sind Figuren, die allesamt den holprigen Weg nehmen, voller Stolpersteine. Es sind Menschen, die das Glück verlassen hat – Pechvögel, die zu viel gewollt oder sich zu wenig getraut haben. Ein gutes Ende gibt es für keinen von ihnen, aber auch kein schlechtes: der Leser wird mit dem Wissen entlassen, dass das Leben weitergeht, wie es genau weitergehen wird, haben alle von ihnen selbst in der Hand.

Frühling auf dem Mond – Julia Kissina

Julia Kissina wurde 1966 in Kiew geboren. In den 80er Jahren gehörte sie zum Kreis der Moskauer Konzeptionalisten um Vladimir Sorokin und Pawel Pepperstein. Bekannt wurde sie durch zahlreiche spektakuläre Kunstaktionen, aber auch durch ihre Arbeit als Fotokünstlerin. 2005 erschien mit “Vergiß Tarantino” ihr erster Roman, es folgte das Kinderbuch “Milin und die Zauberkreide”. Die Autorin lebt heutzutage in Deutschland. “Frühling auf dem Mond” ist ihr neuster Roman, er erschien im vergangenen Jahr im Suhrkamp Verlag und wurde übersetzt von Valerie Engler.

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“Wir alle sitzen im Empfangssaal des Herrn und warten auf unsere Stunde. Sein Empfangssaal ist riesig, dort stehen für die Wartenden Bänke.”

In “Frühling auf dem Mond” verarbeitet Julia Kissina – mal humorvoll, mal nostalgisch, mal mit tragischer Note – ihre eigenen Erinnerungen an ihre Kindheit. Geboren wurde sie 1966 in Kiew, in eine Stadt hinein, die damals in Trümmern lag. Ganze Straßenzüge lagen in Schutt und Asche, Abrissbagger verwandelten Kiew in ein Trümmerfeld. Julia Kissina erinnert sich an eine Zeit zurück, in der sie gerade einmal elft Jahre alt war, doch gleichzeitig auch ein bereits seltsam frühreifes Mädchen – bei Begegnungen mit anderen Menschen macht sie sich ein Jahr älter, um “älter und seriöser zu erscheinen”.

“Meine ganze Kindheit spielte sich in diesen Schrunden der verschlungenen Straßen ab. Aber das Schlimmste war gar nicht die Kindheit. Das Schlimmste war das Bedauern, das später kam.”

Julia Kissina erzählt von einer Kindheit, die von der Vergangenheit eines Krieges und der Gegenwart hinter dem Eisernen Vorhang geprägt ist. Sie wächst mit einer Mutter auf, die eigentlich als Lehrerin arbeitet. Ihre Mutter ist eine wunderschöne Frau, die nur einen Fehler hat: sie findet keine Ruhe, wenn sie nicht arbeitet, sucht sie sich neue Aufgaben. Sie kümmert sich um die alten Menschen in der Irrenanstalt oder quartiert arme und haltlose Frauen bei sich zu Hause ein. Wie ein Geschwür, schleicht sich die Mutter in das Leben fremder Menschen hinein – sie möchte helfen, doch über die Pflege der anderen, vernachlässigt sie ihre eigene Familie. Mit dem Versuch der Mutter, sich bedürftigen Menschen anzunehmen, endet allmählich die Kindheit von Julia Kissina. Der Vater schreibt Texte für eine Zirkusrevue und ermöglicht seiner Familie immer wieder exklusive Plätze bei den beliebten Zirkusvorstellungen; gleichzeitig lebt er in der Angst, aufgrund seiner politischen Ansichten denunziert zu werden.

“Man zwingt mich zu wachsen. Man zwingt mich, das papierene Rückgrat zu strecken. Man misst mich mit dem Lineal, ob mein Wachstum nicht stockt, man wiegt mich und spickt mich mit Vitaminen. Meine Eltern achten sorgfältig darauf, dass ihr mickriges Geschöpf Fleisch ist.”

Der Krieg ist in den 60er Jahren schon lange vorbei, doch sein drohender Schatten konnte aus der Stadt noch nicht vertrieben werden. Julia Kissina erzählt von einer Nacht im Juni 1941, es ist die Nacht, in der ihre Mutter zur Welt kommt und es ist die Nacht, in der erste Bomben auf Kiew fallen. Auch das Krankenhaus wird getroffen, das Bett in dem Mutter und Großmutter liegen, ist das einzige Bett, das nicht getroffen wird. Auch die Auswirkungen des Lebens hinter dem Eisernen Vorhang sind spürbar: überall herrscht die Angst vor Denunziation, vor Wanzen, vor Abhörung. Ausländische Lebensmittel werden heimlich nach Kiew geschmuggelt. Eines Abends isst Julia Kissina mit ihren Eltern bei Verwandten zu Abend, die englisches Salz nach Kiew geschmuggelt haben. Das Salz wird mit einer Vorsicht und Begeisterung probiert, als könnte es sich um ein Wundermittel handeln.

“Die Brachen in unserer Stadt waren wie echt endlose Steppen. Denn sobald man ein Haus abriss, überzogen sich die Ruinen mit langem kräftigem Gras, sofort schlug die Natur zu, und gelbe Weiden tauchten auf, wie aus dem Nichts, vom Dnepr herausgehinkt, und diese Weiden weinten mit ihren Peitschenzweigen, darum hießen sie auch Trauerweiden.” 

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“Frühling auf dem Mond” ist ein ungewöhnlicher Roman, ein außergewöhnlicher Text und eine gleichzeitig quälende Lektüre. Selten zuvor habe ich einen Roman gelesen, der mich auf der einen Seite angezogen hat, zu dem ich auf der anderen Seite aber nur sehr schwer einen Zugang gefunden habe. Etwas, das dieser Roman im Überfluss hat, ist Humor: es ist ein manchmal gewollter Humor, ein erzwungener Humor, der förmlich einen heiteren Dunst über die Vergangenheit legt.

“Kein Mensch auf dieser Welt kann die ganze Zeit Gutes tun, das schafft er gar nicht. Leiden können wir dagegen von morgens bis abends, sogar im Schlaf.”

Erst als ich diesen Humor wie eine Schicht vom Text abgekratzt habe und mich auf das, was dahinter liegt, konzentriert habe, habe ich besser in diesen Text hineinfinden können. Julia Kissina taucht mit einer rückhaltlosen Ernsthaftigkeit in ihre eigenen Erinnerungen hinab, hinab zu dem Menschen, der sie als Kind gewesen ist. Es ist ein frühreifer Mensch, ein Mensch voller Ernst und schwerer Gedanken. Als Kind schreibt Julia Kissina Briefe an sich selbst, sie schreibt Briefe in die Zukunft, an ein späteres Ich, dem sie Belehrungen und Ermahnungen erteilt. Die Zirkusvorstellungen genießt sie nicht, stattdessen hinterfragt sie die Fassade der Zirkusartisten, von denen die meisten eine unglaubliche Lebensgeschichte haben: “viele waren Kriegsveteranen.” Die erwachsene Julia Kissina widmet sich ihrem kindlichen Ich mit viel Wärme und Liebe, ihre Erinnerungen – an die Stadt, in der sie aufwuchs, an die Eltern, mit denen sie lebte und an die erste Liebe, die sie liebte – sind mit einer feinen Nostalgie durchwebt.

“Manchmal scheint es, dass die Ziegelsteine der Vergangenheit so dicht aneinanderkleben, dass es dort überhaupt keinen Platz für Neues gibt. […] Mit der Zeit verlor ich das mystische Gefühl, das mich damals begleitet hatte, ein Gefühl, das wohl niemals zu mir zurückkehren wird.”

“Frühling auf dem Mond” ist herrlich schrill und gleichzeitig von einer tiefen Ernsthaftigkeit geprägt. Ich habe etwas Zeit gebraucht, um mich auf die Stimme dieses seltsamen Mädchens einzulassen, das tieftraurig, altersweise und rebellisch ist. Ich glaube aber, dass genau solche Romane wichtig sein können für die Literatur: “Frühling auf dem Mond” ist verrückt, doch dieses Verrückte muss einen nicht abstoßen, es kann etwas mit einem machen. Julia Kissina hat einen lesenswerten Roman geschrieben, über die Liebe, Nostalgie und Kindheitserinnerungen.

 

Viviane Élisabeth Fauville – Julia Deck

Julia Deck wurde 1974 in Paris geboren und studierte Literatur an der Sorbonne. Heutzutage arbeitet sie als Redaktionsassistentin bei dem Branchenmagazin Livres Hebdo. “Viviane Élisabeth Fauville” ist ihr erster Roman und wurde von Anne Weber übersetzt, von der zuletzt der Roman “Tal der Herrlichkeiten” erschien.

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Viviane Élisabeth Fauville ist die Frau, die im Zentrum dieses Romans steht. Sie ist Anfang vierzig, geschieden und Mutter eines zwölf Wochen alten Kindes. Ihr Mann hat sie verlassen, nachdem er sie mit einer jüngeren Kollegin betrogen hat.  Die Trennung von ihm hat ihr den Boden unter den Füßen weggezogen, zurückgeblieben ist sie mit ihrer kleinen Tochter, die Bedürfnisse hat, die so leicht zu befriedigen sind. Wie kann man nur so zufrieden mit der Welt sein? Viviane ist schon lange nicht mehr zufrieden. In einer Bäckerei hat sie einen Nervenzusammenbruch, doch niemand nimmt sie ernst, niemand möchte ihr helfen. Auch der Psychoanalytiker, den sie anschließend aufsucht, kann sie nicht aus dem retten, in dem sie gefangen zu sein scheint. Er nimmt sie nicht einmal ernst, jedenfalls nicht so wirklich. Und dann ist er plötzlich tot.

“Sie sind nicht ganz sicher, aber Sie haben das Gefühl, vor vier oder fünf Stunden etwas getan zu haben, was Sie nicht hätten tun sollen. Sie versuchen, sich die Abfolge Ihrer Gesten in Erinnerung zu rufen, deren Faden wiederaufzunehmen, aber jedesmal, wenn Sie eine zu fassen bekommen, fällt sie, statt automatisch die Erinnerung der nächsten nach sich zu ziehen, wie ein Stein auf den Grund jenes Loches, das nun Ihr Gedächtnis ist.”

Der Umzug, die Scheidung, das Kindergeld für Alleinerziehende – Viviane erstickt an den Formalitäten, die zu erledigen sind und verliert sich irgendwo dazwischen selbst. Gemeinsam mit ihrer Tochter und unter wechselnden Namen verirrt sie sich zwischen den Straßen von Paris, bis sie selbst nicht mehr weiß, wer sie ist und was sie getan hat. Sicherheit bietet ihr nur noch ihre Tochter, die immer da ist und nicht verschwindet.

“[…] am 16. November, also gestern, haben Sie Ihren Psychoanalytiker umgebracht. Sie haben ihn nicht symbolisch umgebracht, wie man irgendwann den Vater umbringt. Sie haben ihn mit einem Messer der Marke Henckels Zwilling, Serie Twin Profection, Modell Santoku, umgebracht.”

“Viviane Élisabeth Fauville” ist ein schmaler Roman, der vor allen Dingen durch die gewagten Erzählperspektiven überzeugen kann. Julia Deck wechselt fortlaufend die Perspektiven, aus denen heraus sie ihre Geschichte erzählt. Beim Lesen hat mich das Gefühl übermannt, mit jedem Perspektivwechsel tiefer hineingezogen zu werden in die Geschichte. Julia Deck macht unzweifelhaft deutlich, dass ihre Hauptfigur eine Mörderin ist. Sie erklärt Viviane Élisabeth Fauville für schuldig, doch hat sie ihren Psychoanalytiker wirklich umgebracht? Was ist Wahn und was ist Realität? Wie viel bildet sich diese haltlose und verwirrte Frau ein? Wie viel davon stimmt? Mit zunehmendem Verlauf des Romans, nehmen auch die Zweifel am Tathergang und an der Täterschaft zu. Es werden andere Varianten aufgeworfen und wieder verworfen. Das Spiel mit Perspektiven, Identitäten, Wahn und Realität, gelingt Julia Deck in virtuoser Manier, so virtuos, das man als Leser selbst in dieses Vexierspiel hineingezogen wird.

“Anschließend weiß ich nicht, warum ich tue, was ich tue, aber ich tue es. Denken Sie bloß nicht, ich würde das für eine gute Idee halten oder ich sei stolz darauf, es ist einfach nicht anders zu machen: Meine Füße gehen vorwärts und ich hinterher.”

Julia Deck hat einen poetischen Roman geschrieben (“Sein himmelblaues Hemd reimt sich mit seinem Blick, sein sandfarbenes Jackett mit seiner Haut.”). “Viviane Élisabeth Fauville” enthält aber auch Momente eines Kriminalromans, doch dieses Etikett würde für die Geschichte, die erzählt wird, viel zu kurz greifen. Es ist nicht nur ein Kriminalroman, sondern auch ein meisterhaftes Vexierspiel aus Wahn und Realität. Julia Deck bildet eine psychische Erkrankung ab, in kurzen Worten, mit wenigen Sätzen, doch so authentisch, dass man sich beim Lesen wie in den Kopf der Hauptfigur gepflanzt fühlt.

“Viviane Élisabeth Fauville” ist ein meisterhaft erzählter Roman, der nicht nur mit dem Leser spielt, sondern auch mit der Erzählperspektive und mit unserer herkömmlichen Vorstellung von Realität.  Julia Deck schlägt ein rasantes Erzähltempo an, doch es gelingt ihr dabei stets, die Fäden in der Hand zu behalten. Selten zuvor habe ich einen Roman gelesen, der mich so atemlos zurückgelassen hat.

Das dritte Licht – Claire Keegan

Claire Keegan wurde 1968 geboren und wuchs auf einer Farm in Irland auf. Für ihr Studium zog es sie nach New Orleans, Cardiff und Dublin. Die Autorin, von der bisher “Wo das Wasser am tiefsten ist” und “Durch die blauen Felder” erschienen,  wurde bereits vielfach ausgezeichnet. Claire Keegan wohnt heutzutage immer noch in Irland. Übersetzt wurde ihr Roman, der im Steidl Verlag erschien, von Hans-Christian Oeser.

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“An einem Sonntagmorgen, nach der Frühmesse in Clonegal, fährt mein Vater, statt mich nach Hause zu bringen, ins tiefste Wexford, zur Küste, wo die Leute meiner Mutter herkommen.”

Claire Keegan erzählt in ihrem Roman “Das dritte Licht” eine Geschichte, die gerade einmal 100 Seiten umfasst. Es ist die Geschichte eines namenlosen Mädchens, das von ihren Eltern zu Beginn der Sommerferien zu Verwandten gebracht wird. Die Mutter ist erneut schwanger und die Eltern sind sich einig, dass es für sie eine Entlastung wäre, wenn ihre älteste Tochter bis zum Beginn der Schule nicht mehr zu Hause leben müsste. Das Mädchen muss dieses Gespräch mitanhören, ohne es wirklich begreifen zu können. Ihre Eltern arbeiten in der Landwirtschaft, doch das Geld, was sie verdienen, verliert der Vater beim Spielen und Trinken. Es gibt kaum genügend Essen für all die Münder, die gestopft werden müssen. Der Vater lässt das Mädchen zurück, ohne sich zu verabschieden und ohne das Versprechen, zurückzukehren.

“Die Wagentür wird geöffnet, und ich werde herausgehoben und abgeküsst. Mein Gesicht wird ganz heiß von ihren Küssen.”

Untergebracht wird das Mädchen bei den Kinsellas und bereits kurz nach ihrer Ankunft begreift sie, dass es auch andere Formen des familiären Zusammenlebens gibt, als sie dies von ihrem Zuhause kennt. Die Unsicherheit bei den kinderlosen Kinsellas ist spürbar und auch das Mädchen weiß im ersten Moment nicht, wie sie sich verhalten soll. Doch trotz aller Unsicherheit begegnen die Kinsellas ihr mit sehr viel Freundlichkeit, mit Wärme, mit Offenherzigkeit. Es ist herzzerreißend, wie fremd dem Mädchen diese Form der Fürsorge und Herzlichkeit ist. Als sie nach ihrer ersten Nacht bei den Kinsellas auf einem nassen Bettbezug aufwacht, erfolgt keine Bestrafung, sondern liebevolles Verständnis.

“Durch die Diele gehen wir in die Wärme der Küche, wo ich aufgefordert werde, mich zu setzen und mich wie zu Hause zu fühlen. Es reicht nach Gebackenem, aber auch nach Desinfektionsmitteln, nach irgendeinem Bleichmittel.”

Das Mädchen, das von ihrem eigenen Zuhause gewohnt ist, mitarbeiten zu müssen, blüht während ihres Sommers bei den Kinsellas förmlich auf. Endlich gibt es Essen und zwar reichlich, auch neue Kleider werden ihr gekauft. Bereits einfachste Dinge beglücken sie, sie erfreut sich daran, dass es in ihrem neuen Zuhause “Raum und Zeit zum Denken” gibt und an der Tatsache, noch nie in so tiefem Badewasser gebadet zu haben, das nicht einmal schmutzig ist. Ihr neues Zuhause ist ein Ort, ohne Geheimnisse, ein Ort, an dem man auf Scham verzichten kann.

“Und so vergehen die Tage. Dauernd warte ich darauf, dass etwas passiert, dass die Leichtigkeit, die ich verspüre, endet – dass ich in einem nassen Bett aufwache, etwas falsch mache, mir einen richtig groben Schnitzer leiste, etwas zerbreche -, aber jeder Tag ist fast so wie der vorhergehende.”

Es hat mir beim Lesen beinahe das Herz zerrissen, dass die Tage des Mädchens an diesem wunderbaren neuen Ort zeitlich begrenzt sind. Tagtäglich fürchten die Kinsellas sich davor, den Brief zu erhalten, in dem die Eltern die Rückkehr des Mädchens fordern. Als es soweit ist, ist es für sie eine Rückkehr in ein Leben, dass sich fremd anfühlt und in eine Welt, der sie entwachsen ist. Die Fürsorge, Liebe und Wärme, die sie den Sommer über genossen hat, hat aus ihr ein Mädchen gemacht, das zum ersten Mal ganz neue Seiten des Lebens kennengelernt hat. Wie soll man mit all diesem Wissen und der neuen Identität, die man endlich entfalten konnte, wieder zurück in das Leben kehren, was man vorher geführt hat? Claire Keegan setzt einen berührenden Schlusspunkt unter ihren Roman, berührend und bewegend, aber nie kitschig. Sprachlich ist der Roman in all seiner Nüchternheit poetisch und zart, er liest sich wie aus einem Guss.

Ich habe das schmale Büchlein in die Hand genommen und erst wieder zur Seite gelegt, als ich die letzte Seite umgeblättert und das Buch zugeklappt habe. Claire Keegan hat nicht nur einen berührenden Roman geschrieben, sondern ein kleines Kunstwerk geschaffen. Ein feinfühliges und poetisches Kunstwerk, in dem sich jedes Wort an der richtigen Stelle befindet und keines zu viel ist. Das einzige, was ich bei diesem Roman bedauere ist, dass er nur 100 Seiten hat – ich hätte liebend gerne weiter den Erlebnissen und Gedanken diesen starken und bewundernswerten Mädchen gelauscht.

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