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Zeitgenössisches

Lesen als Medizin: Die wundersame Wirkung der Literatur – Andrea Gerk

Kann die Lektüre eines Buches Trost spenden, gar eine heilsame Wirkung haben? Genau dieser Frage widmet sich die Literaturwissenschaftlerin Andrea Gerk. Entstanden ist dabei Lesen als Medizin, eine kluge und lesenswerte Liebeserklärung an die Kraft der Literatur.

Lesen als Medizin

Bücher können Trost schenken, Mut machen, Spiegel vorhalten, Zuflucht sein, Erfahrungen vermitteln, Perspektiven verändern, Sinn stiften. Bücher amüsieren und berühren. Und sie können ablenken – nicht zuletzt von uns selbst.

Die wundersame Wirkung der Literatur lautet der Untertitel von Lesen als Medizin und genau darum geht es auch: welche Wirkung kann die Literatur auf uns haben? Können Bücher in schwierigen Zeiten Trost spenden? Kann Literatur heilen? Bei der Genesung helfen? Was passiert eigentlich in unserem Gehirn, wenn wir lesen? Gibt es Orte, an denen Bücher eine besondere Rolle spielen? Wie sähe eine Welt aus, in der es keine Krankenhausbibliotheken mehr geben würde? Keine Gefängnisbibliotheken? Wird eigentlich auch im Kloster gelesen?

Lesen als Medizin ist, wenn man so will, ein wunderbarer Überblick über all das, was Bücher so einzigartig und unersetzbar macht. Andrea Gerk erzählt von der Bibliotherapie, die in Amerika bereits seit vielen Jahren als Heilverfahren anerkannt ist und auch in Großbritannien und Schweden praktiziert wird. In Deutschland hingegen klingt der Begriff in vielen Ohren immer noch leicht esoterisch angehaucht. Unter der Bibliotherapie versteht man eine besondere Form der Pyschotherapie, bei der die Patienten mithilfe sorgfältig ausgewählter Bücher dazu angeregt werden sollen, ihre Vergangenheit zu reflektieren. Es ist der Glaube daran, dass ein gutes Buch in der richtigen Situation weiterhelfen kann. Mittlerweile kann man auch in Deutschland die Ausbildung zum Bibliotherapeuten machen, doch im Grunde genommen sind auch gute Buchhändler und Bibliothekare bereits so etwas wie Bibliotherapeuten, denn sie empfehlen ihren Kunden die (hoffentlich) passenden Bücher. Ich fühle mich nach einem Einkauf im Buchladen oder einem guten Gespräch mit einem Buchhändler häufig nicht nur glücklicher, sondern manchmal auch besser oder gar geheilter.

Wörter entfalten mitunter eine magische Kraft, die uns nicht nur intellektuell voranbringt, sondern auf vielschichtige Weise im Innersten berührt. Manchmal so sehr, dass ein Vers, eine Erzählung, ein Roman das ganze Leben verändern kann, und sei es nur für ein paar Stunden.

Bibliotheken gibt es übrigens auch an ungewöhnlichen Orten, zum Beispiel im Gefängnis oder in Krankenhäusern. An beiden Orten kann das gedruckte Wort für Insassen und Patienten eine große Bedeutung haben. Es gibt sogar Länder, in denen es für jedes gelesene Buch einen Tag Hafterlass gibt. Andere Jugendrichter geben straffälligen Minderjährigen die Aufgabe, ein Buch zu lesen. In vielen Fällen mag das ohne Wirkung bleiben, für manche ist die Entdeckung der Literatur aber vielleicht auch ein Initiationserlebnis und der Beginn eines besseren Lebens. Auch in Krankenhäusern sind Bücher ein wichtiges Gut: in der Berliner Charité sind vor allen Dingen skandinavische Krimis beliebt, aber auch Charlotte Link. Der Bücherwagen rollt jeden Tag durch die Flure des Krankenhauses und beliefert Patienten mit neuer Lektüre. Andrea Gerk schreibt, dass Krankenhausbibliotheken um das finanzielle Überleben kämpfen, was unheimlich schade ist – die heilsame Wirkung der Literatur ist empirisch nicht nachzuweisen, aber ich glaube doch daran, dass wir mit einem guten Buch in der Hand vielleicht ein wenig schneller gesunden.

Die Erfahrung, dass Lektüre einen in regelrechte Wahnzustände versetzen kann, wird jeder leidenschaftliche Leser schon mal gemacht haben. Immer wieder entdecke ich Texte, die mich so bewegen, dass ich mich fassungslos frage, wie ich sie so lange übersehen konnte. Dann muss ich sofort all das Versäumte nachholen, gerate in einen regelrechten Leserausch, verschlinge ein Buch nach dem anderen, werte parallel dazu akribisch Rezensionen, Interviews und biographische Texte aus und spiele nach, was ich darin finde.

Dass Bücher nic51j51zfiajL._SY344_BO1,204,203,200_ht einfach nur zur Unterhaltung diesen, sondern auch eine medizinische oder gar therapeutische Funktion haben können, ist eine Sichtweise, die sich bereits im 16. Jahrhundert manifestiert hat: damals schrieb Michel de Montaigne seine berühmten Essais und setzte darin sein eigenes Leben und seine Gedanken immer wieder in Bezug zu Werken und Gedichten bekannter Schriftsteller. Während der beiden Weltkriege hat man später Soldaten in Lazaretten mit Büchern versorgt – die Literatur sollte vom Kriegsgeschehen ablenken und dabei helfen, traumatische Wunden zu heilen. In anderen Ländern ist die Bibliotherapie viel anerkannter und ausgereifter, es gibt beispielsweise eine Reading Agency und über Skype wird eine Leseberatung angeboten. In Deutschland gibt es immerhin schon eine Vereinigung von Bibliotherapeuten, wer weiß, ob sich das Angebot in den kommenden Jahren noch stärker durchsetzen wird.

Andrea Gerk schreibt jedoch nicht nur von der heilenden Kraft der Literatur, sondern auch von ihren Schattenseiten: Bücher können Ehen stiften, aber auch zerstören und sind darüberhinaus hochgradig suchtgefährdend. Buchbedingte Psychopathologien sind keine Seltenheit mehr: im Buch finden sie alle Erwähnung, von der Bibliomanie bis zum Biblioholiker. Auch wenn ich glaube, dass es deutlich schlimmere Süchte gibt, nehme ich mich an dieser Stelle nicht aus: es gibt kaum einen Buchladen, an dem ich vorbeikomme, ohne ein Buch zu kaufen (obwohl sich die ungelesen Bücher hier bereits in Stapeln stapeln, unter denen ich drohe begraben zu werden). Wenn ich in den Urlaub fahre, müssen so viele Bücher mit, dass ich den Koffer bald selbst nicht mehr tragen kann – geschweige denn alles lesen, was ich mir eingepackt habe. In solchen Momenten befürchte ich schon manchmal (zumindest ganz leicht) am Bücherwahn zu leiden. Doch könnte es einen schöneren Wahn geben?

Meiden Sie Buchhandlungen und Bibliotheken, solange Sie noch jung sind. Verschenken Sie Ihre Bücher, bevor Ihnen Ihre Sammlung über den Kopf wächst.

Lesen als Medizin ist eine kluge und spannend zu lesende Liebeserklärung an die Literatur. Andrea Gerk gelingt es, leicht verständlich und mitreißend von ihrem bibliophilen Fachwissen zu erzählen. Ihre eigene Begeisterung ist dabei deutlich zu spüren. Es muss erwähnt werden, dass Rogner & Bernhard das Buch wunderbar liebevoll aufgemacht haben. Besonders schön sind die handschriftlichen Bekenntnisse bekannter Schriftsteller, die Andrea Gerk gesammelt hat: da wird Gerhard Roth nach Büchern gefragt, die für ihn die zweite Welt sind und Hanns-Josef Ortheil nach Büchern, in denen er immer wieder gelesen hat. So wirft dieses Buch nicht nur einen Blick auf alle Aspekte unserer wunderbaren bibliophilen Leidenschaft, sondern ist auch noch eine ernste Gefahr für die Wunschliste.

Andrea Gerk legt eine wunderbare Liebeserklärung an die Literatur vor und ich habe das Buch mit dem heilsamen und wohligen Gefühl zugeklappt, mit dieser Leidenschaft zum Glück nicht allein zu sein.

Andrea Gerk: Lesen als Medizin. Rogner & Bernhard Verlag, 2015. 342 Seiten, €22,95. Eine weitere Besprechung findet sich auf dem Blog von Fräulein Julia. Und noch ein passender Buchtipp zur weiteren Lektüre: Die Romantherapie von Ella Berhoud. 

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Die talentierte Miss Highsmith – Joan Schenkar

Patricia Highsmith war eine Schriftstellerin mit Ausnahmetalent, die bekannt wurde durch ihre doppelbödigen Kriminalromane. Doch Joan Schenkar wirft in dieser monumentalen Biographie auch einen Blick auf die Schattenseiten dieses Lebens. Das ist nicht nur unheimlich gut recherchiert, sondern auch sehr vergnüglich zu lesen.

Pat Highsmith

Sie war nicht nett. Sie war selten höflich. Und niemand, der sie gut kannte, hätte sie großzügig genannt.

Das sind die ersten Sätze dieser fast tausendseitigen Biographie (wobei 200 Seiten davon den umfangreichen Anhang ausmachen) und sie machen bereits ganz am Anfang deutlich, dass Patricia Highsmith kein einfacher Mensch gewesen ist. Sie war eine unkonventionelle Künstlerin mit Ausnahmetalent, aber als Mensch war sie ganz und gar nicht nett: sie war krankhaft selbstbezogen, alkoholabhängig, beziehungsgestört und antisemtisch.

So widersprüchlich Miss Highsmith im Leben wie in der Kunst war, so eindeutig bestimmte sie ihr eigenes Ende. Eine letzte treue Besucherin schickte sie aus dem Krankenzimmer – ‘Du sollst gehen’, sagte sie immer wieder, um dann unbeobachtet zu sterben. Alles Menschliche war ihr fremd.

Joan Schenkar spürt der Autorin Patricia Highsmith nach, aber auch dem Menschen – häufig nennt sie die Autorin nur Pat und schreibt in fast schon unglaublicher Detailfülle über deren Leben. Erzählt von den Anfängen einer außergewöhnlichen Karriere: Zwei Fremde im Zug und Der talentierte Mr Ripley machen die Autorin berühmt. Ein anderes Buch hätte sie fast auch berühmt gemacht, doch Salz und sein Preis – ein Buch über lesbische Leidenschaften – wurde damals unter einem Pseudonym veröffentlicht. Zu sehr schämte sich die Autorin ihrer heimlichen Obsessionen.

Patricia Highsmith hat ein langes und ausgefülltes Leben gelebt, die Liste ihrer veröffentlichten Bücher ist ebenso umfangreich wie die ihrer zahlreichen Liebhaberinnen (es ist nicht überraschend, dass das Kapitel über Pats Liebesleben das mit Abstand umfangreichste in diesem Buch ist). Joan Schenkar konnte beim Schreiben dieser Biographie auf eine Flut an Informationen zurückgreifen; bedient hat sie sich vor allen Dingen bei Patricia Highsmith selbst.

Verbissen, gewissenhaft und auf achttausend Seiten, die sie niemandem zeigte, hielt sie ihre Stimmungslagen fest, die Haarfarbe ihrer aktuellen Geliebten, Eigenschaften und Wert einer beendeten Beziehung, den Preis eines Hotelfrühstücks in Paris, die Zahl der Ablehnungen, die sie von ihren Verlagen bekam, Finanzen, Ängste, Falschheiten – daneben Tausende von Seiten mit Notizen für Erzählungen, Romane, Gedichte und Buchkritiken.

In der Einleitung erklärt Joan Schenkar, dass es nicht möglich ist, Pat Highsmith mit einer herkömmlichen, chronologischen Biographie beizukommen. Stattdessen ist diese Biographie geordnet nach den Obsessionen, die das Leben von Patricia Highsmith bestimmt haben. Da gibt es zum Beispiel ihr Spiel mit Identitäten, die Beziehung zur geliebten und gehassten Mutter oder auch ihre zahlreichen Liebschaften, die sie immer wieder nach dem gleichen Muster beginnt und beendet. Es ist jedes Mal erneut ein großes Drama. Diese Obsessionen haben das Schreiben und das Leben der Autorin bestimmt und Joan Schenkar macht sie zum Ordnungsprinzip ihrer Biographie. Das ist spannend und ungewöhnlich, führt beim Lesen aber auch dazu, dass man manchmal Gefahr läuft, den Überblick zu verlieren: aufgrund der fehlenden Chronologie gibt es immer wieder zeitliche Sprünge oder Verweise auf spätere Kapitel. Um es ganz unverblümt zu sagen: manchmal erschien mir das beim Lesen alles wie ein großes Durcheinander. Als Leserin bin ich es zu sehr gewöhnt, dass eine Biographie ganz klassisch und in chronologischer Ordnung erzählt wird, doch hier werden die Fakten in den Anhang verbannt und Pats Leben ganz unkoventionell erzählt. Das ist trotz allem vergnüglich und spannend zu lesen, doch daran musste ich mich erst einmal gewöhnen.

Pat Highsmith Cover

Es ist ein Versuch, den ständigen Wechsel der Identitäten zu fassen – von der Autorin, die am Schreibtisch saß, zu der Frau, die vom Schreibtisch aufstand; von der massiv gespaltenen Persönlichkeit zu den symbolischen Schritten, die es brauchte, sich von dieser Last zu befreien -, aus dem sich die Geschlossenheit, die grimmige Individualität und die sperrig-bizarre Originalität ihres Werkes speisten.

Es ist nicht leicht in der Flut an Informationen den Überblick zu behalten und ich muss gestehen, dass ich ihn ab und an verloren habe. Doch das liegt nicht allein an Joan Schenkar und der Ordnung ihrer Biographie, sondern auch am unsteten Leben von Patricia Highsmith: es gibt kaum einen Monat, in dem sie nicht irgendwo hinreist. Sie ist ständig unterwegs, hat überall Liebschaften, in die sie sich Hals über Kopf verliebt, um sich kurz darauf bitterböse zu zerstreiten und eine Affäre mit der nächsten Frau zu beginnen. Interessanterweise kennen sich die meisten der Frauen auch noch untereinander, so das ein heilloses Durcheinander vorprogrammiert ist und der Leser Gefahr läuft den Überblick zu verlieren bei all den Virginias, Jeans, Jeannes, Joans, Anns, Annes, Ellens, Katherines, Kathryns, Catherines, Carolines, Diones, Sheilas, Helens, Marions, Lynns, Moniques, Marias, Mickeys, Billies oder Marys. Allen Beziehungem, egal wie kurz oder lang sie gewesen sind, ist gemein, dass es Patrica Highsmith eigentlich unmöglich ist, dauerhaft zu lieben.

Sie war grundsätzlich unglücklicher darüber, glücklich zu sein, als dass sie glücklich darüber war, unglücklich zu sein. Anders ausgedrückt: Selbst wenn Highsmith todunglücklich war, war sie gar nicht so unglücklich darüber, unglücklich zu sein – solange sie darüber schreiben konnte.

Wenn man über Patricia Highsmith spricht, muss man natürlich über ihre Kriminalromane sprechen, in denen sie eine häufig grausame Welt entwirft, die von Joan Schenkar auch als Highsmith-Country bezeichnet wird. Man muss auch über ihre Alkoholsucht sprechen, über ihre sexuelle Orientierung und über ihre ein Leben lang andauernde Hassliebe zu ihrer Mutter, denn all dies hat ihr Werk und ihr Schaffen maßgeblich mitgeprägt. Man muss aber auch über ihre weniger angenehmen Seiten sprechen: da gibt es Mordgelüste, Antisemitismus und Rassismus. Im Gegensatz zu vielen ihrer Zeitgenossen interessiert sich Patricia Highsmith während des Zweiten Weltkriegs und auch danach überhaupt nicht für die politische Lage der Welt. Als sie ein Lager für Displaced Persons besucht, lässt sie das seltsam kalt. Im Gegenzug fühlt sie sich wie die Insassin eines Konzentrationslagers, als eine Geliebte sie verlässt. Um es wohlwollend zu formulieren: Pat kreist vor allen Dingen um sich selbst; Juden, Neger oder dicke Frauen sind da eher lästig. Das ist ganz und gar nicht nett und überhaupt nicht sympathisch und doch gelingt es Joan Schenkar auch, Sympathien für diese gequälte, gespaltene und ganz und gar unglückliche Autorin zu wecken.

Mein Toast auf das neue Jahr: An all die Teufel, Lüste, Leidenschaften, an die Gier, an Neid, Liebe, Hass, an seltsame Begierden, Feinde, geisterhafte und reale, an die Armee der Erinnerungen, mit denen ich kämpfe – mögen sie mich niemals ruhen lassen. 

Die talentierte Mrs Highsmith ist ganz sicherlich keine einfache Lektüre, die Detailfülle kann stellenweise erschlagend wirken. Doch Joan Schenkar gelingt es aus dem überbordenden Recherchematerial eine spannende, vergnügliche und mitreißende Lebenserzählung zu machen, die sich stellenweise liest wie ein Roman. Wie ein Roman, den man nicht mehr aus der Hand legen möchte.

Makarionissi – Vea Kaiser

Vea Kaiser erzählt in ihrem neuen Roman Makarionissi eine Familiengeschichte über fünf Generationen, die nicht nur auf einer griechischen Insel spielt, sondern auch in Hildesheim, St. Pölten, Chicago und der Schweiz. Makarionissi ist ein gleichzeitig witziger und berührender Familienroman und eine Geschichte von Helden und Herzensbrechern.

Vea Kaiser

Loslassen heißt nicht verdrängen und nicht vergessen. Sondern einfach vergeben und akzeptieren, dass manchmal die Dinge so sind, wie sind, selbst wenn sie scheiße sind.

Es ist bereits drei Jahre her, dass Vea Kaiser mit ihrem Debütroman Blasmusikpop nicht nur mich begeistert hat, sondern auch viele andere Kritiker. Die Autorin war damals gerade einmal dreiundzwanzig Jahre alt und hatte einen Roman vorgelegt, der sich durch eine unbändige Fabulierlust auszeichnete. Auf diese Lust am Fabulieren trifft man auch in Makarionissi. Da Vea Kaiser nach ihrem Debütroman immer wieder vorgeworfen wurde, dass Dinge nicht so gewesen sein können, wie sie das geschrieben hat, hat sie sich bemüssigt gefühlt, dem neuen Buch noch einen kleinen Hinweis voran zu stellen:

[…] Ebenso gilt bei gewissen Abweichungen zwischen historischen Ereignissen und der Geschichte dieses Buches, dass der Roman der Fiktion verpflichtet ist. Nicht der Realität. Geben Sie, geschätzte Leser, dem Fabulieren eine Chance! Denn bereits Herodot meinte: Oftmals erzählt ein G’schichterl besser, als es die Ereignisse in ihrem echten Ablauf je könnten.

Zu Vea Kaisers Erzähllust gesellt sich aber auch eine große Erzählkunst, die sie auch in diesem Roman wieder unter Beweis stellt: erzählen kann die Autorin und zwar mitunter so mitreißend, dass ich das Buch nur sehr schwer wieder aus der Hand legen konnte. Makarionissi – das den Untertitel Oder die Insel der Seeligen trägt – ist ein fast fünfhundert Seiten starker Roman, der ganze fünf Generationen umfasst. Die Geschichte nimmt ihren Ausgangspunkt in einem kleinen Bergdorf an der griechisch-albanischen Grenze und endet auf Makarionissi, einer bettelarmen (fiktiven) Fischerinsel im Westen Griechenlands. Dazwischen verschlägt es die Figuren in die niedersächsische Provinz nach Hildesheim, die österreichische Stadt St. Pölten, das griechische Viertel nach Chicago und schließlich auch noch in die Schweiz.

Im Mittelpunkt des Romans stehen Eleni und Lefti, die gemeinsam aufwachsen. Sie sind Cousine und Cousin, doch während Lefti als Stammhalter der Familie gesehen wird, wurde Eleni nachträglich gezeugt, um beide miteinander verheiraten zu können. Die Auswahl an Frauen ist in Varitsi nämlich begrenzt. Das war zumindest der Plan von Großmutter Maria, doch Eleni beschließt bereits früh in ihrem Leben niemals zu heiraten: Heiraten werde ich niemals! Ich werde als Heldin durch die Welt reisen und Bestien töten. Statt zu einer tugendhaften Ehefrau heranzuwachsen, die den Fortbestand der Familie sichert, wird Eleni zu einer politischen Aktivistin. Cousine und Cousin heiraten trotz allem, doch eigentlich ist schon vorher klar, dass diese Ehe nicht auf einem festen Fundament gebaut ist.

Lefti glaubte an all das hier nicht mehr. Er saß vor dem Haus, von dem er sich immer gewünscht hatte, er könnte es sein Eigen nennen – und dachte zum ersten Mal, dass es viel zu groß, zugig, dunkel, altmodisch und baufällig war. Er stand kurz vor der Hochzeit mit der Frau, die er immer hatte heiraten wollen, und merkte, dass er sie gar nicht begehrte. Lefti fühlte sich so sanierungsbedürftig wie der Dachstuhl.

Eleni und Lefti gehen nach der Heirat gemeinsam nach Hildesheim, dort wohnen sie zwar zusammen in einer Wohnung, doch leben ansonsten zwei getrennte Leben. Wie es der Zufall, der in diesem Buch eine nicht immer unwichtige Rolle spielt, so will, finden beide fast gleichzeitig in der niedersächsischen Provinz ihre große Liebe. Lefti verliebt sich in Trudi, seine Deutschlehrerin mit österreichischen Wurzeln und Eleni in Otto, einen bayrischen Musiker. Doch ein langes Glück in Deutschland bleibt den beiden verwehrt, während Lefti und Trudi den Versuch wagen, sich eine gemeinsame Existenz in St. Pölten aufzubauen, geht Eleni zurück in ihr Heimatdorf. Doch sie geht nicht alleine, denn sie ist schwanger.

Eleni hasste viele Dinge an Deutschland, doch am meisten hasste sie das deutsche Nein. Das deutsche Nein war absolut. Man konnte nicht darüber diskutieren. Und es wurde nicht begründet. Selbst wenn das Nein keinen Sinn ergab und jeglicher Vernunft widersprach. Eleni empfand es wie das rote Licht einer Ampel. Mit ihm konnte man auch nicht verhandeln.

Die Geschichte ist an dieser Stelle noch längst nicht zu Ende, sondern wird Seite um Seite fortgeführt, Generation über Generation. Entstanden ist dabei ein proppenvoller Roman, der sowohl unfassbar unterhaltsam ist, als auch wunderbar mitreißend. Vea Kaiser webt ihre Erzählung wie einen bunten Teppich, der aus ganz viel Familie besteht, aus Liebe und Glück, Schicksal und Zufall, alten Mythen und der Weigerung sich zu entschuldigen. Es geht um Familien, in denen die Großmütter noch das Geschehen bestimmen – im Falle von Lefti und Eleni wurde die falsche Entscheidung getroffen, denn beide wurde von ihrer Familie nicht mehr als Individuen gesehen, sondern nur noch in ihrer Funktion, die Familie zu erhalten und weiterzuführen.

Makarionissi endet mitten in der griechischen Krise der heutigen Zeit, doch das Buch sollte nicht als politischer Text gelesen werden – für mich ist Makarionissi einfach ein unglaublich unterhaltsamer Familienroman, voller Esprit und ganz und gar mitreißend erzählt. Ähnlich wie in Blasmusikpop wird auch in diesem Roman so einiges durch den Kakao gezogen – ich habe nicht selten herzhaft lachen müssen. Natürlich geht es hin und wieder auch um ernstere Themen, es geht z.B. um die Frage, wie stark die Familie das eigene Leben eigentlich bestimmen darf. Vor allem geht es aber darum, das Loslassen zu lernen und akzeptieren zu lernen, dass manchmal die Dinge einfach so sind wie sind. Der Sommer wagt sich im Moment langsam hervor und passend dazu ist Makarionissi mein Buch des Sommers und eine unbedingt Leseempfehlung.

Vea Kaiser: Makarionnissi oder die Insel der Seeligen. Roman. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2015. 460 Seiten, €19,99. Ein Interview mit der Autorin findet sich hier. Eine weitere Besprechung gibt es auf Leseschatz, dem Blog von Hauke Harder.

Von Geist und Geistern – Hilary Mantel

Hilary Mantel erzählt in ihrer Autobiografie Von Geist und Geistern von ihrem bewegten Leben, ihrer Kindheit und den Geistern, die sie ihr Leben lang begleitet haben. Das Leben der Schriftstellerin wurde durch eine schwere Krankheit geprägt, doch Hilary Mantel hat nie den Mut verloren. Ihre Autobiografie ist schonungslos, offen und wunderbar mutmachend.

Hilary Mantel

Früher habe ich gedacht, eine Autobiografie sei eine Form von Schwäche, und vielleicht denke ich das immer noch. Aber ich glaube auch, wenn du schwach bist, ist es kindisch, so zu tun, als wärst du es nicht.

Bekannt geworden ist Hilary Mantel als erste Frau in der Geschichte, die den Booker-Preis zweimal gewonnen hat. Ausgezeichnet wurde sie für ihre beiden historischen Romane Wölfe und Falken – zwei Bücher, die zur Zeit der Tudors spielen. Doch um ihre Erfolge als Schriftstellerin geht es in dieser Autobiografie nicht, ganz im Gegenteil: Hilary Mantel setzt sich mit den dunklen Momenten ihres Lebens auseinander, mit ihren Geistern, ihrer schwierigen Kindheit und einer Krankheit, die ihr Leben für immer verändern sollte.

Jetzt, da ich einen autobiografischen Text schreibe, lege ich jedes Wort auf die Goldwaage. Ist das Geschriebene klar – oder ist es täuschend klar? Ich sage mir, erzähle einfach, wie du dazu kamst, ein Haus mit einem Geist darin zu verkaufen. Aber diese Geschichte lässt sich nur einmal erzählen, und ich muss sie richtig hinbekommen.

Durch das Leben von Hilary Mantel zieht sich die Wahrnehmung einer zweiten Ebene, einer erweiterten Realität: da gibt es den Geist ihres Kindes, das sie nie bekommen konnte. Oder den Geist des Stiefvaters, der auch nach seinem Tode noch durch das Cottage in Norfolk spukt. Das Vorkommen von Geistern und Untoten mag sich leicht esoterisch anhören, doch diese Erscheinungen sind durch die Erkrankung der Autorin bedingt. Hilary Mantel leidet immer wieder an schweren Migräneanfällen mit Aurawahrnehmung. Nicht nur das Sprechen fällt ihr während dieser Zustände schwer, sondern auch die Wahrnehmung ist verzerrt. Die Migräneanfälle sind eine Begleiterscheinung von Hilary Mantels Erkrankung. Bereits als junges Mädchen hat sie sich jahrelang mit schweren Schmerzen gequält. Von Ärzten wurde sie belächelt, falsch diagnostiziert und schließlich als verrückt abgestempelt. Einige Zeit musste sie in einer Psychiatrie verbringen, doch mit ihrem Kopf war alles in Ordnung, ihr Körper hätte Hilfe gebraucht. Doch diese Hilfe wurde ihr viel zu lange verweigert und als sie endlich richtig diagnostiziert wird, ist es bereits zu spät: mit siebenundzwanzig Jahren erhält sie die niederschmetternde Nachricht, keine Kinder mehr bekommen zu können. Das Kind, das sie sich immer gewünscht hatte, doch nie bekommen konnte, bleibt wie ein Geist in ihrem Leben haften.

Wenn du dich umdrehst und auf die Jahre zurückblickst, erkennst du die Geister anderer Leben, die du hättest führen können. Deine Häuser werden von den Personen heimgesucht, die du hättest sein können. Du denkst an die Kinder, die du hättest bekommen können, aber nicht bekommen hast.

Diese Erkrankung schwemmt die Autorin, die ein Leben lang zu dürr gewesen ist, später auch noch stark auf. Sie muss Hormone einnehmen und ihr Körper verändert sich dadurch, wird fett, massig, gesetzt, grotesk. Hilary Mantel fühlt sich fremd in ihrem eigenen Körper. Ein Gefühl, das sie schon ihr ganzes Leben hindurch begleitet. Als die kleine Hilary eingeschult wird, möchte sie nur wieder zurück nach Hause und glaubt lange daran, dass sie selbst die Entscheidung treffen kann, ob sie zur Schule gehen möchte oder nicht. Sie glaubt auch daran, sich in einen Jungen zu verwandeln. Hofft darauf, möchte ein Ritter werden, der bestialisch Rache nimmt für all die erlittenen Kränkungen. Die einzige Zeit, in der sie glücklich gewesen ist, ist die Zeit, bevor sie in die Schule kam. Es ist die Zeit, in der die Familie noch eine richtige Familie ist. Eines Tages kommt immer häufiger ein fremder Mann ins Haus, der Hilary, ihre Mutter und ihren Bruder irgendwann mitnimmt. Sie ziehen alle gemeinsam in ein Haus nur wenige Kilometer entfernt, doch die Autorin sollte ihren Vater nie wiedersehen, auch auf eine Erklärung hat sie vergebens gewartet.

Und ich weiß auch, dass sich die Erinnerung einer Familie zu verzerren beginnt, wenn sie sich zum Verschweigen von etwas entschließt, da ihre Mitglieder die entstehende Lücke konfabulierend schließen: Du musst immer einen gewissen Sinn und eine Schlüssigkeit in dem erkennen, was um dich herum vorgeht, und so stoppelst du, so gut es geht, eine entsprechende Geschichte zusammen. Fügst etwas hinzu, redest darüber, und die Verzerrungen produzieren weitere Verzerrungen.

Hilary Mantel erzählt ihre Lebensgeschichte, ihre Kindheitsgeschichte, doch sie erzählt diese nicht chronologisch. Sie setzt immer wieder an, beschreibt einzelne Szenen, ohne diese miteinander zu verbinden. Manches bleibt zunächst im Dunkeln, anderes wird erst später klarer. Es ist nicht immer einfach der Autorin gedanklich zu folgen, doch es lohnt sich, ihr zuzuhören und sich auf ihren Ton und die Perspektive einzulassen.

Als diese Autobiografie im Jahr 2003 geschrieben wurde, hatte Hilary Mantel zwar schon einige Bücher veröffentlicht, doch der ganz große Erfolg war damals noch ausgeblieben. Vor diesem Hintergrund ist es umso bewundernswerter, wie viel Mut, Kraft und Stärke in diesem Buch stecken. Der Autorin gelingt es, sich aus einem engen und lieblosen Elternhaus zu befreien und ihr eigenes Leben zu leben. Dieses Leben war nie einfach und immer von Schmerzen bestimmt, doch Hilary Mantel hat nie aufgehört zu glauben, zu leben und zu kämpfen. Eigentlich wollte sie Anwältin werden, doch dann entschied sie sich zu schreiben und wenn man dieses Buch liest, dann kann man nur glücklich darüber sein, dass sie sich dafür entschieden hat. Hilary Mantel setzt sich mit den Geistern ihres Lebens auseinander und tut das auf so beeindruckende und mutmachende Art und Weise, das man sich den Worten von Susan Sontag nur noch anschließen möchte: Eine erstaunliche, hinreißende Autobiografie. Und eine große Leseempfehlung.

Hilary Mantel: Von Geist und Geistern. Autobiografie. DuMont Verlag, Köln 2015. 240 Seiten, €19,99. Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog von Karin Braun.

Wo Frauen ihre Bücher schreiben – Tania Schlie

Es gibt viele Orte, an denen Frauen Bücher schreiben: im Bett, im Café oder auch am Küchentisch. Tania Schlie versammelt in diesem wunderbar gestalteten Buch die Schreiborte von sechsunddreißig Autorinnen, stellt ihre Arbeitsplätze und Lebensräume vor und macht dabei ganz nebenbei neugierig darauf, die Autorinnen näher kennenzulernen.

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Tanie Schlie führt mit Wo Frauen ihre Bücher schreiben in die weibliche Literaturwelt ein. Sechsunddreißig Schriftstellerinnen stellt sie in kurzen Porträts vor, die mit privaten Fotos ergänzt werden. In allen Porträts geht es um die Schreibgewohnheiten der Autorinnen, nicht nur um die Frage, wo man schreibt, sondern auch um die Frage, wie man schreibt und womit man schreibt.

In allen Fällen, belebt oder unbelebt, geben uns diese Momentaufnahmen dennoch einen Eindruck von der jeweiligen Schreiberin. An den Dingen, mit denen sie sich umgibt, an der Atmosphäre eines Schreibtisches oder eines Arbeitszimmers können wir ablesen, in was für Arbeits- und Lebenswelten sich die Schriftstellerin bewegt.

Es gibt diese unbändige Neugier in mir, die sich schon immer dafür interessiert hat, wie Bücher geschrieben werden: wo werden sie geschrieben? Sitzen die Autorinnen an einem Schreibtisch? Haben sie ihr eigenes Arbeitszimmer oder müssen sie vielleicht an einem öffentlichen Ort arbeiten? Schreiben sie am Computer oder doch auf Papier? In insgesamt neun Kapiteln werden zeitgenössische Autorinnen wie Nicole Krauss und Toni Morrison vorgestellt, aber auch viele Autorinnen aus längst vergangenen Zeiten: erwähnt werden, um nur einige von ihnen zu nennen, Charlotte Brontë, Jane Austen oder auch George Sand. Dies macht diesen Band gleichsam auch zu einer kleinen Zeitreise: zur Zeit von Jane Austen hat man für das Schreiben noch ganz andere Hilfsmittel genutzt. Überhaupt waren Autorinnen zur damaligen Zeit noch längst nicht so anerkannt, wie sie das heutzutage teilweise sind. George Sand musste ihre Bücher noch unter einem männlichen Pseudonym veröffentlichen, während Sidonie-Gabrielle Colette in einem Zimmer eingesperrt von ihrem Mann zum Schreiben gezwungen wurde. Da sind die Verhältnisse heutzutage dann doch etwas anders.

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Das Vorwort für diesen anspruchsvoll gestalteten Band hat Elke Heidenreich geschrieben und sie setzt sich darin mit dem Glück des eigenen Schreibtisches auseinander. Sie hat das Glück, gleich drei Schreibtische zu besitzen, an denen sie unterschiedliche Schreibarbeiten erledigt: da gibt es den ernsten Schreibtisch, den schönen Schreibtisch und einen, an dem lediglich die Briefpost beantwortet wird – selbstverständlich per Hand. An einer Stelle schreibt sie:

Wo andere Frauen schreiben und schrieben, kann ich nur ahnen. In diesem Buch erfahren wir viel darüber: Oft unter jämmerlichen Umständen, gewiss nicht so privilegiert wie ich mit gleich drei Schreibtischen. Aber letztlich schreiben wir alle an demselben Ort in unserem Kopf. 

Die kurzen Porträts sind mit spannenden Informationen zu den Autorinnen angereichert, aber auch mit schönen Zitaten und wunderbaren Bilder – häufig sind es Bilder, die die Autorinnen mitten in der Arbeit zeigen. Heutzutage ist es fast bei allen Verlagen üblich, dass es im Buchumschlag auch ein Autorenfoto gibt, so dass man beim Lesen auch automatisch eine Vorstellung des Schreibenden hat. So war es nicht immer, denn vor siebzig oder achtzig Jahren verzichtete man noch auf die Autorenfotos. Dazu gibt es auch ein schönes Zitat der Schriftstellerin Elizabeth Bowen, die sagte: “Fast alle Autorenfotos und ganz bestimmt die der Autorinnen schrecken mich von der Lektüre des dazugehörigen Werkes ab.”

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Wo Frauen ihre Bücher schreiben ist ein wunderbares Buch, das nicht nur davon erzählt, wo Frauen ihre Bücher schreiben, sondern gleichzeitig auch dazu einlädt, bekannte oder auch längst vergessene Autorinnen zu entdecken. Mein Notizbuch hat sich beim Durchblättern des Buches Seite um Seite gefüllt, da sich immer neue Türen zu weiteren Büchern und Autorinnen aufgetan haben.

Tania Schlie lädt ihre Leser ein, die Arbeitsräume der Autorinnen zu entdecken – jedes Portät ist der kurze Blick in ein ganzes Leben, in manchen möchte ich länger verweilen, manche machen mich auch neugierig. Wunderbar ergänzt werden die Texte durch die sorgfältig ausgewählten Bilder, die dieses Buch zu einem kleinen Gesamtkunstwerk machen. Was könnte es Schöneres geben, als eine solche literarische Entdeckungsreise? Wen man diese Reise nicht selbst antreten möchte, ist sie in jedem Fall ein wunderbares Geschenk an jede Leserin und jeden Leser.

Tanie Schlie: Wo Frauen ihre Bücher schreiben. Mit einem Vorwort von Elke Heidenreich. Thiele Verlag. München 2014. 240 Seiten, €25. 

Es bringen – Verena Güntner

Verena Güntner erzählt in ihrem Debütroman Es bringen schonungslos vom Erwachsenwerden: es geht um Saufgelage, Fickwetten, tiefe Freundschaften und um Luis, der auf jeden Fall ein echter Bringer sein möchte.

Es bringen

Es ist ganz einfach. Du brauchst einen Plan. Wenn du keinen Plan hast, geht alles den Bach runter. Das habe ich gelernt. Und wenn ich mal was gelernt habe, verlern ich es auch nicht wieder, ich bin ja nicht blöd.

Luis ist sechzehn Jahre alt und möchte auf keinen Fall ein zarter Junge sein, er ist krass und hart – eben ein richtiger Bringer. Er ist der Trainer und er ist die Mannschaft, das ist sein Motto. Mit seiner Mutter lebt er im fünfzehnten Stock eines Hochhauses. Er hat mal Höhenangst gehabt, aber das ist schon eine Weile her. Irgendwie kann man im Leben dann doch alles besiegen, glaubt Luis. Die fünfzehn Stockwerke ist er immer zu Fuß hochgegangen und jeden Tag ist er einmal auf den Balkon raus, so kann man auch eine lächerliche Höhenangst in den Griff kriegen. Mit seinen besten Freunden schließt er Fickwetten ab, ansonsten mag Luis noch Alkohol und Freibäder – schlaffe Schwänze findet er dagegen doof.

Aber ich hatte ja nur drei Bier, und drei Bier sind bei mir das Gleiche wie kein Bier. Ich könnte jetzt ohne Probleme nen Mathe-Test schreiben.

Bei den Fickwetten gewinnt Luis übrigens fast immer. meistens wegen seiner charmanten Zahnlücke. Die hat ihm seine Mutter vererbt. Seine Mutter nennt er nur Ma und liebt sie ansonsten über alles. Genauso wie seinen besten Freund Milan, der vier Jahre älter und schon ein richtiger Twen ist. Milan ist der Coolste von allen und Luis’ bester Freund. Es gibt da auch noch das Pferd Nutella, das er ziemlich gern hat, aber darüber spricht er lieber nicht.

Sein Leben hat Luis also fest im Griff, er ist ja nicht umsonst Trainer und Mannschaft zugleich. Doch eines Tages muss er feststellen, dass man auch als Bringer nicht alles im Leben kontrollieren kann. Von einem auf den anderen Tag bricht all das zusammen, was Luis so hart gemacht hat und er muss erleben, dass erwachsen werden auch bedeutet, zart und verletzlich zu sein.

Wenn du nicht dumm sterben willst, musst du dir Sachen genau anschauen, sie üben, und zwar: bis du sie kannst. Das ist der Ablauf, und wenn du den nicht kapierst, dann wird das mit deinem Plan nix. Ich will nicht dumm sterben. Ich will auch nicht ZU klug sterben, was manchmal passieren kann, ich kenne Leute, denen das passiert, und das ist übel, könnt ihr mir glauben. Nur eins weiß ich, Leute: Dumm sterb ich auf keinen Fall.

Wenn man Verena Güntners Debütroman liest, darf man nicht allzu zartbesaitet sein, denn die junge Autorin nimmt kein Blatt vor den Mund. Sie umschreibt nicht, sie beschönigt nichts. Titten, Muschi, Fickwetten. Schonungslos und ehrlich schreibt sie über die Welt von Luis, die langsam aus den Fugen gerät. Verena Güntner gelingt es dabei ganz wunderbar, den richtigen Ton zu treffen: der Roman wird aus der Perspektive von Luis erzählt und seine Lebenswirklichkeit wird erschreckend authentisch eingefangen – krass und hart und ganz frei von Klischees. Es gibt vereinzelt auch immer wieder poetische Stellen, in denen es schon fast philosophisch wird, doch meistens lauschen wir dem Ghetto-Slang von Luis, der mit Schimpfworten durchsetzt ist.

Manchmal, und ich kann euch echt nicht sagen, warum, kommt es mir so vor, als kennen wir uns schon seit Ewigkeiten. Als wären wir schon immer befreundet. Ich hab deshalb keine Erinnerung ohne Milan. Wenn ich mich in meinen Erinnerungen umdrehe, auch in denen, wo er gar nicht dabei gewesen sein kann, steht Milan immer hinter mir und schaut mich an. Er strahlt dabei eine unendliche Ruhe aus, die auch mich ruhig sein lässt. Milans Ruhe. Die habe ich immer bewundert und mich in ihren Windschatten gehängt, und weil die meisten Leute dumm sind, hat bis jetzt keiner was gemerkt. Dass ich Milan brauche, wissen nur er und ich. Und Gott, klar. Aber mit Gott bin ich eigentlich genauso close wie mit Milan. Ich würde alles für ihn machen, im Ernst. Bis auf Mord oder so was. Ohne Scheiß jetzt, ich würde wirklich alles für Milan machen.

Was für mich Es bringen zu einer ganz besonderen Lektüre gemacht hat, ist das, was sich hinter der Ghettofassade befindet. Es geht in diesem Roman um viel mehr als Titten, Muschis und Fickwetten. Es geht um einen Jungen, der hart sein möchte, der dazu gehören möchte und der dann doch feststellen muss, wie verletzbar man sein kann, wenn man erwachsen wird. Es geht um die schmale Linie zwischen der Kindheit und dem Moment, in dem man erwachsen wird. Luis erlebt diesen Moment viel zu schnell, viel zu abrupt und muss dabei feststellen, dass in der Welt der Erwachsenen ganz andere Gesetze herrschen. Dabei möchte er doch eigentlich nur, dass alles so bleibt, wie es ist und wie er es kennt. Diese Zerrissenheit zwischen der eigenen Sensibilität und dem Wunsch danach, erwachsen zu sein, beschreibt Verena Güntner mit ungeheuerer Intensität.

Als ich das Buch zuklappe, ist mir gleichzeitig ein bisschen schwer und leicht: Luis ist mir ans Herz gewachsen, trotz all seiner Eigenarten und Fehler und ich möchte ihn eigentlich ungern wieder hergeben. Ich würde ihm gerne die Hand halten bei den nächsten zaghaften Schritten, die er hinein ins Erwachsenenleben gehen muss. Das Buch verschont uns mit einem Happy End und doch habe ich das Gefühl, dass es Luis schaffen kann in dieser Welt. Es bringen ist ein schonungsloser und intensiver Roman, der unter seiner rauen Fassade ganz zart ist und noch lange in mir nachhallen wird.

Verena Güntner: Es bringen. Roman. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2014. 249 Seiten, €18,99. Lesung der Autorin aus dem Roman.

Salinger: Ein Leben – David Shields und Shane Salerno

J. D. Salingers Leben glich am Ende einem Mythos – doch wer war eigentlich der Mann hinter diesem Mythos? Auf diese Frage versucht die große Biographie Salinger: Ein Leben von David Shields und Shane Salerno Antworten zu finden.

Salinger

J. D. Salinger hat mit seinem Werk, mit seinem Leben ein bleibendes Zeichen gesetzt.

Diese Worte von Denis Scheck sind schon fast erstaunlich, wenn man bedenkt, dass J. D. Salinger lediglich ein schmales Oeuvre hinterlassen hat: vier Bücher hat er zu Lebzeiten veröffentlicht. Eines davon war Der Fänger im Roggen, bei den anderen handelte es sich um kurze Erzählungen. 1963 hat Salinger zum letzten Mal etwas veröffentlicht und die Frage, ob er danach weiter schrieb, ist Teil des geheimnisvollen Mythos, der diesen Autor auch noch nach seinem Tod umgibt. Wie ist es also möglich, dass ein Schriftsteller, der lediglich vier schmale Bücher veröffentlichte und ein Leben weitab der Öffentlichkeit führte, tatsächlich ein bleibendes Zeichen setzen konnte?

Salingers schmales Werk – das aus vier nicht besonders umfangreichen Büchern besteht – besitzt einen kulturellen Stellenwert und eine Durchschlagskraft, die in der modernen Literatur nahezu unerreicht bleiben. Über ein halbes Jahrhundert war es unter Kritikern und Lesern ein beliebter Zeitvertreib, seine Person anhand seiner Werke zu ergründen, da er sich selbst nicht äußern wollte. Salingers erfolgreiche narrative Selbsterfindung, seine obsessive Zurückgezogenheit und sein sorgfältig gehüteter Tresor – in dem er all die Arbeiten lagerte, die er nicht veröffentlichen wollte – trugen dazu bei, eine unangreifbare Legende zu schaffen.

J. D. Salinger wurde nicht nur über Nacht mit einem einzigen Buch berühmt, sondern gleichzeitig auch noch zu einem Kultautor einer ganzen Generation. Doch der schlagartige Ruhm, den ihm Der Fänger im Roggen bescherte, trieb Salinger in die Flucht. Er flüchtete bis nach Cornish, wo er bis zu seinem Tod zurückgezogen und hinter hohen Grundstücksmauern lebte. Von dort aus meldete er sich noch vereinzelt zu Wort und veröffentlichte die eine oder andere Erzählung, bevor er sich von 1965 an schließlich ganz aus der Öffentlichkeit zurückzog. Das minderte in den folgenden Jahren aber nicht das Interesse an seiner Person: seine Fans pilgerten genauso regelmäßig zu seinem Grundstück nach Cornish, wie Journalisten und Fotografen versuchten, einen Blick auf den Autor zu erhaschen. Dafür lagen einige von ihnen manchmal sogar tagelang auf der Lauer. Doch die Versuche blieben meistens vergeblich, kaum einer fand etwas über Salinger heraus. Die Frage, ob er nach 1965 noch geschrieben hat, ist eine Frage, die auch nach seinem Tod unbeantwortet blieb. Viele hofften darauf, dass die Erben nach Salingers Tod wahre Schätze bergen können, doch bisher wurde noch nichts geborgen.

Wir wollten herausfinden, warum Salinger aufhörte zu publizieren, warum er von der Bildfläche verschwand und was er in den letzten fünfundvierzig Jahren seines Lebens geschrieben hat.

David Shields und Shane Salerno haben neun Jahre lang recherchiert, um das Geheimnis, das Salinger umgab, zu lüften: um dem Mythos näher zu kommen, zitieren sie aus Briefen, die Salinger an seine engsten Freunde schrieb, an Frauen, die er liebte und an seine Armeekameraden. Neun Jahre lang haben sie darüber hinaus mehr als zweihundert Interviews mit Menschen geführt, die Salinger gekannt haben.

Anhand von Material, das niemals zuvor publiziert worden ist – weit über hundert Fotografien, Notizen, Auszüge aus Tagebüchern, Briefe, Prozessmitschriften, eidesstattliche Aussagen und erst kürzlich freigegebene Militärakten -, hoffen wir, einige Tatsachen richtigstellen und einige wesentliche Erkenntnisse beisteuern zu können. 

Salinger 1

Salinger 2

Salinger 3

Die beiden Autoren nähern sich Salinger chronologisch an: ihre Erzählung beginnen sie in dessen Kindheit, die wenig spektakulär gewesen ist. Schon früh fasst Salinger den Beschluss, später mal ein berühmter Autor zu werden – sein größter Traum ist es, eine Kurzgeschichte im New Yorker zu veröffentlichen. Auch der Frauenwelt war er nicht abgeneigt: vor dem Krieg verliebte er sich in Oona O’Neill und obwohl die Beziehung zwischen den beiden platonisch blieb, sollte Salinger sein ganzes weiteres Leben darunter leiden, dass Oona ihn für Charlie Chaplin verließ. Im Krieg diente er dann als Staff Sergeant, war fast dreihundert Tage lange im Einsatz und überlebte fünf blutige Schlachten. Am Ende des Krieges befreite er mit seiner Einheit das Konzentrationslager Kaufering, ein Nebenlager von Dachau. Das, was er dort erlebte, wird er sein ganzes Leben lang nicht mehr vergessen können. Salinger lieferte sich damals selbst in ein Nürnberger Allgemeinkrankenhaus ein – er war nicht vorbereitet auf das, was er in Kaufering mitansehen musste und hatte einen psychischen Zusammenbruch erlitten. Niemand war darauf vorbereitet.

Salingers 12th Infantry Regiment landet am D-Day, dem 6. Juni 1944, mit knapp 3100 Soldaten am Utah Beach; Ende Juni werden etwa 2500 von ihnen gefallen sein. Salinger wird direkt mit den verheerenden Verlusten konfrontiert, die die gesamten alliierten Truppen und auch seine eigene Einheit hinnehmen mussten. 

J. D. Salinger war während des Zweiten Weltkriegs fast dreihundert Tage lang mit dem Tod konfrontiert. Das, was er erleben musste, ist unvorstellbar. Zurückgekehrt ist er als anderer Mensch: es gibt ein Leben vor dem Krieg und eines danach, doch nichts wird mehr sein, wie es zuvor gewesen. Als Schriftsteller feiert Salinger nach dem Krieg seine größten Erfolge, doch statt weiter zu publizieren, zieht er sich zurück und verweigert sich den Forderungen der Öffentlichkeit. Salinger lebt jedoch keineswegs als Einsiedler, er pflegt vor allen Dingen zu jungen Mädchen Kontakt. Als sollten diese ihn zurück an die Zeit vor den Krieg und mit Oona erinnern – an die Zeit, in der der Krieg ihn noch nicht zerstört hatte. Einige dieser Mädchen sind später an die Öffentlichkeit gegangen, besonders bekannt ist wohl Joyce Maynard, die als achtzehnjähriges Mädchen Teil von Salingers Leben wurde, der damals mehr als vierzig Jahre älter war. Salingers Umgang mit jungen Mädchen ist seltsam und unverantwortlich; vor allen Dingen spricht daraus aber auch eine tiefe Traurigkeit.

Er verlor Oona O’Neill an Charlie Chaplin und mythologisierte seine Beziehung zu ihr für den Rest seines Lebens; fortan war er von Mädchen besessen, die sich an der Schwelle zum Erwachsenenwerden befanden, um sowohl diese verlorene Leben als auch die Zeit wieder aufleben zu lassen […].

Die Entscheidung von Salinger nicht mehr publizieren zu wollen, war eine schwerwiegende Entscheidung, für die David Shields und Shane Salerno zahlreiche – mitunter auch erhellende – Gründe finden, doch keine wirkliche Erklärung. Der Rechercheaufwand der beiden Autoren ist unbestritten, doch darüber hinaus gelingt es ihnen tatsächlich ein spannendes Porträt eines ungewöhnlichen Schriftstellers vorzulegen. Es ist ganz sicherlich kein schmeichelhaftes Porträt, aber ein höchst lesenswertes. Wer weiß, vielleicht gab es im Hause Salingers tatsächlich einen Tresor, in dem die vollendeten Romanmanuskripte lagen. Ich würde mich freuen und ich wäre gespannt darauf, was wir in diesen Texten entdecken könnten.

Das Besondere an dieser Biographie ist die Form, denn Salinger: Ein Leben ist nicht in einem Fließtext geschrieben, sondern liegt als oral history vor. Hunderte von Stimmen kommen zu Wort und werden als große Collage komponiert. Das ist ein ungewöhnlicher, aber interessanter Ansatz und sobald man sich an diese Form gewöhnt hat, wird man das Buch kaum noch aus der Hand legen können und all die unterschiedlichen Stimmen werden einen noch lange begleiten. So erging es mir zumindest und deshalb kann ich Salinger: Ein Leben nur empfehlen: all denjenigen, die Salinger kennen lernen wollen und all denjenigen, die ihn bereits kennen und etwas mehr über seine dunklen Seiten erfahren wollen.

David Shields und Shane Salerno: Salinger, ein Leben. Übersetzt aus dem Amerikansichen von Yamin von Rauch. Biographie. Droemer Verlag, München 2015. 825 Seiten, €34. Parallel zur Biographie ist eine Dokumentation erschienen, den Trailer gibt es hier.

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