“Spielen” ist der dritte Band eines literarischen Projekts, in dem Karl Ove Knausgård autobiographische Erinnerungen verarbeitet und das auf insgesamt sechs Bände angelegt ist. Ich habe bereits “Sterben” und “Lieben”, die ebenfalls im Luchterhand Verlag erschienen sind, mit Begeisterung verschlungen. Diese sechs Bücher sollten den Norweger Knausgård in seinem Heimatland berühmt machen, sie haben aber auch für kontroverse Diskussionen gesorgt. Darf man sein eigenes Leben und das Leben seiner Angehörigen wirklich so stark in das grelle Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit zerren, oder ist dieses Vorgehen moralisch verwerflich?
“An einem milden und wolkenverhangenen Tag im August 1969 fuhr auf einer schmalen Straße am äußeren Ende einer südnorwegischen Insel, zwischen Wiesen und Felsen, Weiden und Wäldchen, kleine Hügel hinauf und hinunter, durch enge Kurven, mal mit Bäumen zu beiden Seiten wie in einem Tunnel, mal mit dem Meer gleich nebenan, ein Bus.”
In “Spielen”, das aus dem Norwegischen von Paul Berf übertragen wurde, geht Karl Ove Knausgård zurück in seine Kindheit, ganz zurück, bis an die Anfänge. Die Erzählung setzt 1969 ein, damals ist Karl Ove Knausgård gerade einmal ein Jahr alt. Es ist das Jahr, in dem die Familie einen Neuanfang wagt, sie zieht weg aus Oslo und richtet sich in einem anderen Leben neu ein. Das neue Heim ist ein Haus in einem Neubaugebiet auf der Insel Tromøya. Die Eltern sind damals beide vierundzwanzig Jahre alt und gehen mutig einer vielversprechenden Zukunft entgegen: beide haben einen Job, sie haben ein Haus und zwei Kinder – Karl Ove und seinen älteren Bruder Yngve. Die Knausgårds sind eine in “jeder Hinsicht durchschnittliche Familie”. Doch Seite für Seite, Erinnerung für Erinnerung, wird deutlich, dass die Familie nicht so durchschnittlich ist, wie angenommen, denn in ihrem Kern regiert ein Vater, der in dem schönen neuen Haus Angst und Schrecken verbreitet.
“An diese Zeit kann ich mich naturgemäß nicht erinnern. Es ist mir völlig unmöglich, mich mit dem Kleinkind zu identifizieren, von dem meine Eltern Fotos machten, ja, es fällt mir so schwer, dass es beinahe verrückt erscheint, für dieses Baby das Wort “Ich” zu benutzen […]. Ist dieses Geschöpf identisch mit dem Menschen, der hier in Malmö diese Zeilen schreibt?”
Karl Ove Knausgård hat keine Erinnerungen mehr an die ersten sechs Jahre seines Lebens, naturgemäß, denn so geht es vielen von uns. Alles, was er weiß, weiß er aus zweiter Hand: aus Erzählungen und von Fotographien. An die Geschichte selbst, die diese Bilder erzählen, hat Knausgård keine Erinnerungen mehr und doch bilden diese Fotos einen wichtigen und sehr intimen Teil seines Lebens ab: seine Kindheit, errichtet in einem Provisorium aus fehlenden Erinnerungen und Bildern, die diese Leerstellen füllen sollen.
“Man könnte sich vorstellen, dass diese Fotografien eine Art Gedächtnis verkörpern, eine Art Erinnerung bilden, nur ohne das “Ich”, von dem die Erinnerungen normalerweise ausgehen, und daraufhin stellt sich natürlich die Frage, was sie bedeuten.”
“Spielen” beginnt mit Gedanken von Karl Ove Knausgård zu dem Themenkomplex Erinnerung und Gedächtnis, anschließend erzählt er aus seiner eigenen Kindheit, einsetzend zu einem Zeitpunkt, als er ein kleiner Junge gewesen ist. Aus der Perspektive eines Kindes, erschafft der norwegische Autor eine Landschaft der Kindheit, bestehend aus Erinnerungen, sicherlich aber auch aus eigenen (fiktionalisierten) Ergänzungen und Gefühlen, die sich erst im Rückblick auf die eigene Vergangenheit entwickelt haben. Leerstellen, aus den Jahren, an die er sich nicht mehr erinnern kann, werden gefüllt. Für mich als Leserin war es mitunter erstaunlich, mit welcher Detailtreue der Autor sich an seinen ersten Schultag und die damit verbundenen Emotionen zu erinnern meint. Seine Erinnerungen sind assoziativ, schweifen von einem Thema zum nächsten – es bleibt nicht aus, dass der Roman stellenweise zäh ist, doch es gelingt dem Autor, den Leser immer wieder zurück an seine Seite zu holen.
“Das Gedächtnis ist keine verlässliche Größe im Leben, aus dem einfachen Grund, dass für das Gedächtnis nicht die Wahrheit am wichtigsten ist.”
Die Kindheit von Karl Ove Knausgård wird geprägt von einem Vater, der unberechenbar ist und das Haus mit einer düsteren, schweren und bedrohlichen Finsternis füllt. Häufig ist Knausgård das Opfer seiner Attacken; er ist sensibler als sein älterer Bruder Yngve und weint viel und häufig. Das Haus der Knausgårds wirkt wie erstarrt in einem Korsett aus Regeln und Vorschriften, werden diese gebrochen, drohen Hausarrest oder auch körperliche Bestrafungen. Auch in der Welt außerhalb seines Elternhauses hat der Autor zu kämpfen: er gilt als ein besserwisserisches Kind, manchmal erscheint er fast schon schmerzhaft naiv, dann wieder arrogant und eingebildet.
“Aber gleichzeitig vergeht die Zeit auch nie so langsam wie in der Kindheit, niemals sonst ist eine Stunde so lang wie in ihr. Verschwindet das Offene, verschwinden die Möglichkeiten, mal hierhin, mal dorthin zu laufen, sei es nun in Gedanken oder in der Wirklichkeit, wird jede Minute zu einem Schlagbaum und die Zeit zu einer Zelle, in der man gefangen ist.”
Der liebevolle Fixstern in der Kindheit des Autors ist seine Mutter, die ihn rettet: “[…] wenn es auf dem Grund jenes Brunnens, der die Kindheit ist, jemanden gab, dann war das sie, meine Mutter, Mama.” Die Mutter erscheint jedoch auch seltsam blass und leblos, beinahe schon abwesend. Das Verhalten ihres Mannes wird von ihr klaglos hingenommen und akzeptiert, sie lebt neben ihm her und ist ihren Kindern zwar eine liebenswerte Mutter, doch gleichzeitig belässt sie sie in diesen quälenden Verhältnissen. Für Knausgård bleibt die Frage unbeantwortet, ob es ausreicht, die Finsternis auszugleichen; ob das, was seine Mutter getan hat, genug gewesen ist oder ob die Mutter im Gegenteil die Verantwortung dafür trägt, was ihren beiden Kindern passiert ist. Diese Frage bleibt unbeantwortet und doch ist sie in meinen Augen das Garn, aus dem dieser autobiographische Roman genäht worden ist: der Vater steht im Zentrum des Geschehens und doch hat die Mutter ihm diesen Platz ermöglicht.
“Sie rettete mich, denn wenn sie nicht gewesen wäre, hätte ich alleine mit Vater aufwachsen müssen, und dann hätte ich mir früher oder später auf irgendeine Weise das Leben genommen. Aber sie war da, Vaters Finsternis wurde ausgeglichen, ich lebe, und dass ich dies nicht voller Freude tue, hat nichts mit der Balance in meiner Kindheit zu tun. Ich lebe, bin selbst Vater und habe im Zusammenleben mit meinen Kindern im Grunde immer nur ein einziges Ziel verfolgt: dass sie keine Angst vor ihrem Vater haben.”
Karl Ove Knausgård ist ein Roman gelungen, der aus der Perspektive eines Kindes die Magie der Kindheit beschwört. Es ist eine Magie, die von allen emotionalen Facetten geprägt ist: Freude und Liebe, aber auch Angst, Traurigkeit, Wut und Unverständnis. Als Leser begleitet man Karl Ove Knausgård, der damals noch ein kleiner Junge gewesen ist, durch seinen bewegten Alltag: beim Lesen litt ich mit ihm, ich weinte mit ihm, ich freute mich mit ihm. “Spielen” ist für mich ein bewegendes und wichtiges Stück, nicht nur großartiger Literatur, sondern auch einer großen Lebensgeschichte.
Like this:
Like Loading...