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karl ove knausgard

Literarischer Superstar

KnausgardSeit einigen Wochen ist Karl Ove Knausgård in aller Munde. Während sein erster Roman, “Alles hat seine Zeit”, nicht viel mehr war, als ein literarischer Geheimtipp, ist aus dem norwegischen Schriftsteller mittlerweile ein weltweit gefeierter Star geworden. Es ist sicherlich nicht verkehrt, von einem Knausgård-Hype zu sprechen. Berichtet wird darüber praktisch überall: hierdort und auch da. Es ist das ungewöhnliche Romanprojekt “Min kamp” (Sterben, Lieben, Spielen, Leben), das ihn plötzlich in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses katapultiert hat.

In der heutigen Ausgabe der Literarischen Welt gibt es einen Essay von Karl Ove Knausgård, der den Titel “Du bist niemand” trägt und von Ulrich Sonnenberg übersetzt wurde. Dort setzt sich Knausgård mit der Frage auseinander, warum so viele Menschen sich verzweifelt wünschen, gesehen zu werden, berühmt zu werden. Was für ein Bedürfnis dahintersteckt und wie er dieses Bedürfnis im Schreiben stillen konnte.

Ein Blick in diesen lesenswerten Essay lohnt sich sehr! Darüberhinaus lohnt sich auch ein Blick in dieses Video, das Karl Ove Knausgård im Gespräch mit Jeffrey Eugenides zeigt.

 

Brutal ehrlich

Collage Knausgard

Es lohnt sich mal wieder der Gang zum Zeitschriftenladen. Diesmal aufgrund eines großartigen Porträts in der Wochenzeitung “der Freitag” von Mikael Krogerus über den streitbaren Schriftsteller Karl Ove Knausgård.

“Karl Ove Knausgård hat aus seinem Leben einen schmerzhaft offenen Romanzyklus gemacht. Auf 4.000 Seiten erzählt er von seinem Kampf, ein moderner Vater und Ehemann zu sein – und der Sehnsucht nach Freiheit und archaischer Männlichkeit. Seine Frau kam nach der Lektüre in die Psychiatrie.”

Berühmt wurde Karl Ove Knausgård durch seinen Romanzyklus “Min kamp”, von dem im Deutschen bisher drei Bände erschienen sind. Alle drei habe ich mit großem Vergnügen verschlungen, “Lieben” und “Spielen” habe ich auf meinem Blog vorgestellt – der vierte Band “Leben” erscheint in diesem Frühjahr.

Collage Knausgard 2

 

Mikael Krogerus ist ein Porträt über Knausgård gelungen, aus dem ganz viel Liebe für dessen Bücher spricht, in dem jedoch auch die schwierigen und unbequemen Seiten des norwegischen Autors, der mittlerweile in Schweden lebt, thematisiert werden. Über die Bedeutung und die Qualität der 4.000 Worte, die Knausgård über sich, sein Leben und seinen Kampf geschrieben hat, lässt sich streiten und doch haben sie eine Sogwirkung, der man sich nur schwer entziehen kann. Zadie Smith twitterte, dass das Warten auf den nächsten Band sich anfühlt, wie der Wunsch eines Süchtigen nach Crack.

Wer sich Karl Ove Knausgård annähern möchte, dem ist dieses Porträt sehr zu empfehlen!

Spielen – Karl Ove Knausgård

“Spielen” ist der dritte Band eines literarischen Projekts, in dem Karl Ove Knausgård autobiographische Erinnerungen verarbeitet und das auf insgesamt sechs Bände angelegt ist. Ich habe bereits “Sterben” und “Lieben”, die ebenfalls im Luchterhand Verlag erschienen sind, mit Begeisterung verschlungen. Diese sechs Bücher sollten den Norweger Knausgård in seinem Heimatland berühmt machen, sie haben aber auch für kontroverse Diskussionen gesorgt. Darf man sein eigenes Leben und das Leben seiner Angehörigen wirklich so stark in das grelle Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit zerren, oder ist dieses Vorgehen moralisch verwerflich?

“An einem milden und wolkenverhangenen Tag im August 1969 fuhr auf einer schmalen Straße am äußeren Ende einer südnorwegischen Insel, zwischen Wiesen und Felsen, Weiden und Wäldchen, kleine Hügel hinauf und hinunter, durch enge Kurven, mal mit Bäumen zu beiden Seiten wie in einem Tunnel, mal mit dem Meer gleich nebenan, ein Bus.”

In “Spielen”, das aus dem Norwegischen von Paul Berf übertragen wurde, geht Karl Ove Knausgård zurück in seine Kindheit, ganz zurück, bis an die Anfänge. Die Erzählung setzt 1969 ein, damals ist Karl Ove Knausgård gerade einmal ein Jahr alt. Es ist das Jahr, in dem die Familie einen Neuanfang wagt, sie zieht weg aus Oslo und richtet sich in einem anderen Leben neu ein. Das neue Heim ist ein Haus in einem Neubaugebiet auf der Insel Tromøya. Die Eltern sind damals beide vierundzwanzig Jahre alt und gehen mutig einer vielversprechenden Zukunft entgegen: beide haben einen Job, sie haben ein Haus und zwei Kinder – Karl Ove und seinen älteren Bruder Yngve. Die Knausgårds sind eine in “jeder Hinsicht durchschnittliche Familie”. Doch Seite für Seite, Erinnerung für Erinnerung, wird deutlich, dass die Familie nicht so durchschnittlich ist, wie angenommen, denn in ihrem Kern regiert ein Vater, der in dem schönen neuen Haus Angst und Schrecken verbreitet.

“An diese Zeit kann ich mich naturgemäß nicht erinnern. Es ist mir völlig unmöglich, mich mit dem Kleinkind zu identifizieren, von dem meine Eltern Fotos machten, ja, es fällt mir so schwer, dass es beinahe verrückt erscheint, für dieses Baby das Wort “Ich” zu benutzen […]. Ist dieses Geschöpf identisch mit dem Menschen, der hier in Malmö diese Zeilen schreibt?”

Karl Ove Knausgård hat keine Erinnerungen mehr an die ersten sechs Jahre seines Lebens, naturgemäß, denn so geht es vielen von uns. Alles, was er weiß, weiß er aus zweiter Hand: aus Erzählungen und von Fotographien. An die Geschichte selbst, die diese Bilder erzählen, hat Knausgård keine Erinnerungen mehr und doch bilden diese Fotos einen wichtigen und sehr intimen Teil seines Lebens ab: seine Kindheit, errichtet in einem Provisorium aus fehlenden Erinnerungen und Bildern, die diese Leerstellen füllen sollen.

“Man könnte sich vorstellen, dass diese Fotografien eine Art Gedächtnis verkörpern, eine Art Erinnerung bilden, nur ohne das “Ich”, von dem die Erinnerungen normalerweise ausgehen, und daraufhin stellt sich natürlich die Frage, was sie bedeuten.”

“Spielen” beginnt mit Gedanken von Karl Ove Knausgård zu dem Themenkomplex Erinnerung und Gedächtnis, anschließend erzählt er aus seiner eigenen Kindheit, einsetzend zu einem Zeitpunkt, als er ein kleiner Junge gewesen ist. Aus der Perspektive eines Kindes, erschafft der norwegische Autor eine Landschaft der Kindheit, bestehend aus Erinnerungen, sicherlich aber auch aus eigenen (fiktionalisierten) Ergänzungen und Gefühlen, die sich erst im Rückblick auf die eigene Vergangenheit entwickelt haben. Leerstellen, aus den Jahren, an die er sich nicht mehr erinnern kann, werden gefüllt. Für mich als Leserin war es mitunter erstaunlich, mit welcher Detailtreue der Autor sich an seinen ersten Schultag und die damit verbundenen Emotionen zu erinnern meint. Seine Erinnerungen sind assoziativ, schweifen von einem Thema zum nächsten – es bleibt nicht aus, dass der Roman stellenweise zäh ist, doch es gelingt dem Autor, den Leser immer wieder zurück an seine Seite zu holen.

“Das Gedächtnis ist keine verlässliche Größe im Leben, aus dem einfachen Grund, dass für das Gedächtnis nicht die Wahrheit am wichtigsten ist.” 

Die Kindheit von  Karl Ove Knausgård wird geprägt von einem Vater, der unberechenbar ist und das Haus mit einer düsteren, schweren und bedrohlichen Finsternis füllt. Häufig ist Knausgård das Opfer seiner Attacken; er ist sensibler als sein älterer Bruder Yngve und weint viel und häufig. Das Haus der Knausgårds wirkt wie erstarrt in einem Korsett aus Regeln und Vorschriften, werden diese gebrochen, drohen Hausarrest oder auch körperliche Bestrafungen. Auch in der Welt außerhalb seines Elternhauses hat der Autor zu kämpfen: er gilt als ein besserwisserisches Kind, manchmal erscheint er fast schon schmerzhaft naiv, dann wieder arrogant und eingebildet.

“Aber gleichzeitig vergeht die Zeit auch nie so langsam wie in der Kindheit, niemals sonst ist eine Stunde so lang wie in ihr. Verschwindet das Offene, verschwinden die Möglichkeiten, mal hierhin, mal dorthin zu laufen, sei es nun in Gedanken oder in der Wirklichkeit, wird jede Minute zu einem Schlagbaum und die Zeit zu einer Zelle, in der man gefangen ist.”

Der liebevolle Fixstern in der Kindheit des Autors ist seine Mutter, die ihn rettet: “[…] wenn es auf dem Grund jenes Brunnens, der die Kindheit ist, jemanden gab, dann war das sie, meine Mutter, Mama.” Die Mutter erscheint jedoch auch seltsam blass und leblos, beinahe schon abwesend. Das Verhalten ihres Mannes wird von ihr klaglos hingenommen und akzeptiert, sie lebt neben ihm her und ist ihren Kindern zwar eine liebenswerte Mutter, doch gleichzeitig belässt sie sie in diesen quälenden Verhältnissen. Für Knausgård  bleibt die Frage unbeantwortet, ob es ausreicht, die Finsternis auszugleichen; ob das, was seine Mutter getan hat, genug gewesen ist oder ob die Mutter im Gegenteil die Verantwortung dafür trägt, was ihren beiden Kindern passiert ist. Diese Frage bleibt unbeantwortet und doch ist sie in meinen Augen das Garn, aus dem dieser autobiographische Roman genäht worden ist: der Vater steht im Zentrum des Geschehens und doch hat die Mutter ihm diesen Platz ermöglicht.

“Sie rettete mich, denn wenn sie nicht gewesen wäre, hätte ich alleine mit Vater aufwachsen müssen, und dann hätte ich mir früher oder später auf irgendeine Weise das Leben genommen. Aber sie war da, Vaters Finsternis wurde ausgeglichen, ich lebe, und dass ich dies nicht voller Freude tue, hat nichts mit der Balance in meiner Kindheit zu tun. Ich lebe, bin selbst Vater und habe im Zusammenleben mit meinen Kindern im Grunde immer nur ein einziges Ziel verfolgt: dass sie keine Angst vor ihrem Vater haben.”

Karl Ove Knausgård ist ein Roman gelungen, der aus der Perspektive eines Kindes die Magie der Kindheit beschwört. Es ist eine Magie, die von allen emotionalen Facetten geprägt ist: Freude und Liebe, aber auch Angst, Traurigkeit, Wut und Unverständnis. Als Leser begleitet man Karl Ove Knausgård, der damals noch ein kleiner Junge gewesen ist, durch seinen bewegten Alltag: beim Lesen litt ich mit ihm, ich weinte mit ihm, ich freute mich mit ihm. “Spielen” ist für mich ein bewegendes und wichtiges Stück, nicht nur großartiger Literatur, sondern auch einer großen Lebensgeschichte.

Lieben – Karl Ove Knausgard

“Lieben” ist der zweite Teil einer sechsbändigen Reihe, in der der Schriftsteller Karl Ove Knausgard über sein Leben schreibt, im letzten Jahr erschien bereits der erste Teil “Sterben”, ebenfalls im Luchterhand Verlag. Die Lektüre von “Sterben” hat mich vor gut einem Jahr  sehr beeindruckt, vor allem die Szenen, in denen Karl Ove Knausgard gezwungen ist, das verdreckte Haus seines verstorbenen Vaters auszuräumen und sauber zu machen, gehörten zu den intensivsten  literarischen Szenen, die ich in den letzten Jahren gelesen habe. In Karl Ove Knausgards Heimatland Norwegen sind bereits alle sechs Bände erschienen und haben heftige und kontroverse literarische Diskussionen ausgelöst. Die Debatte drehte sich dabei vor allen Dingen um die Frage, ob es angemessen ist, in dieser Form über sein Leben zu schreiben und damit gleichzeitig auch das Leben aller anderen Familienangehörigen – ob gewollt oder nicht – in das Rampenlicht zu stellen. Untertitelt ist “Lieben” mit dem Begriff “Roman”, was natürlich viel Spielraum lässt für die Frage, was in diesem Buch authentische Wahrheit ist und was Fiktion. Vielleicht ist auch gerade dieser Spielraum der Reiz, den das Buch ausmacht – es könnte ja alles wahr sein. Beim Lesen bin ich mir immer wieder wie ein Voyeur vorgekommen, als würde ich hinter einer Gardine versteckt in die Wohnung meiner Nachbarn schauen.

“Lieben” beginnt zu einem Zeitpunkt, als Karl Ove Knausgard bereits mit seiner Frau Linda und ihren gemeinsamen drei Kindern Vanja, Heidi und John im schwedischen Malmö wohnt. Auf den ersten Seiten des Romans erhält man einen direkten Einblick in das Leben der Familie Knausgard. Schnell wird klar, dass es sich nicht um eine rundum glückliche Familie handelt: beide Eltern wirken überfordert mit der Betreuung ihrer Kinder, wirken unzufrieden mit dem Leben, das sie sich ausgesucht haben und streiten sich über alltägliche Kleinigkeiten, wie die Aufteilung der Haushaltsarbeiten.

“Ich wollte sie verlassen, weil sie die ganze Zeit meckerte, sie wollte immer etwas anderes haben, tat jedoch selber nie etwas dafür, meckerte nur, meckerte, meckerte, nahm die Dinge niemals, wie sie waren, und wenn die Wirklichkeit nicht ihren Vorstellungen entsprach, machte sie mir in großen wie in kleinen Dingen Vorwürfe.”

Auch mit sich selbst geht Karl Ove Knausgard hart ins Gericht und bezeichnet sich als “König des Ungefähren”, als “gehemmten und schwachen Mann”, der ein “Leben in der Welt der Worte” lebt. An einer anderen Stelle bezeichnet er sich sogar als “Hure” – als jemanden, der alle seine eigenen Prinzipien über Bord wirft, allein aus der Angst heraus, von anderen nicht mehr gemocht zu werden. Er ist unzufrieden mit seiner Rolle als dreifacher Vater und auch mit den damit verbundenen Pflichten; einen Kinderwagen durch die Stadt zu schieben empfindet er als unmännnlich, der Babyrhythmikkurs zu dem er gehen soll ist für ihn der Gipfel. Dazu kommt, dass er das Gefühl hat, dass das Familienleben ihm die Zeit für das Schreiben raubt. Er fühlt sich eingeengt, gefangen in einem Leben, das ihn nicht ausfüllt, ihn nicht befriedigt. Dieses Gefühl überkommt ihn auch schon zu einem Zeitpunkt, als Linda und er nur ihre Tochter Vanja haben.

“Warum sollte ich nicht ein Jahr darauf verzichten können, zu schreiben und stattdessen für Vanja ein Vater sein, während Linda ihre Ausbildung abschloss? Ich liebte die beiden, sie liebten mich. Warum hörte all das andere nicht auf, an mir zu reißen und zu zerren?”

In vielen Passagen, die um die Rolle als Familienvater kreisen, schont sich Karl Ove Knausgard selbst nicht – häufig ist es schwierig mit ihm zu sympathisieren. Er entscheidet sich dazu eine Familie zu gründen und doch ist das einzige, was er wirklich möchte, seine “Ruhe haben” und “schreiben” – in diesen beiden Punkten ist er kaum zu Kompromissen bereit. Kurz nach der Geburt von Vanja zieht er monatelang in sein Büro, um zu schreiben und lässt Linda mit der Kinderbetreuung alleine.

Nach dem ersten Drittel des Romans folgen viele Rückblicke auf die Zeit, als Karl Ove Knausgard sich von einem auf den anderen Tag dazu entscheidet, Norwegen zu verlassen und sich von seiner ersten Frau Tonje zu trennen. Als er nach Stockholm kommt, kennt er dort nur einen Menschen – seinen Freund Geir, mit dem er im Laufe des Buches viele intellektuelle und philosophische Gespräche führt. Er berichtet darüber, wie er Linda kennengelernt hat, auf die er zum ersten Mal während eines Schreibworkshops getroffen ist, als er noch mit Tonje verheiratet gewesen ist. Später trifft er sich mit ihr in Stockholm wieder und verliebt sich in sie.  Er erzählt sehr offen von der psychischen Erkrankung Lindas, die manisch-depressiv ist. Beide wirken in sich selbst, aber auch in ihrer Beziehung wenig stabil und gefestigt – dennoch entscheiden sie sich dazu, ein Kind zu bekommen. Vanja. Später folgen noch Heidi und John. Diese Rückblicke waren für mich die stärksten Passagen des Buches und zwischenzeitlich habe ich mich wie in einem Sog gefühlt. Irgendwann musste ich einfach immer weiter lesen. Am Ende des Buches schließt sich der Kreis und Karl Ove Knausgard kehrt in die Jetztzeit zurück: sein Leben als Vater und Schriftsteller mit drei Kindern. Nach einem Besuch in seiner alten Heimat Norwegen beginnt er damit, Erinnerungen an die Vergangenheit zu notieren – so entsteht sein Roman “Sterben”.

Den Anfang des Buches habe ich als etwas zäh empfunden: Knausgard beginnt mit einem minutiös anmutenden Bericht über Alltäglichkeiten und es fiel mir schwer Interesse dafür zu empfinden. Aber spätestens als die Rückblicke einsetzten, hat mich das Buch gefangen genommen. Durchsetzt von philosophischen und literarischen Betrachtungen – Knausgard liest sehr viel und besitzt zweieinhalbtausend Bücher – zeichnet Karl Ove Knausgard mit einer schon beinahe zerstörerischen Offenheit sein eigenes Leben nach. Keiner wird dabei geschont, weder schont er sich selbst, noch seine Frau Linda oder andere Angehörigen. Besonders fasziniert haben mich seine Beschreibungen des Schreibprozesses während der Entstehung von “Alles hat seine Zeit”, seinem ersten auf Deutsch erschienenen Roman: nächtelang sitzt Knausgard in seinem Büro am Schreibtisch, schläft höchstens eine oder zwei Stunden, isst nichts mehr – sich selbst bezeichnet er rückblickend als “manisch”. Vielleicht muss man sich als Schriftsteller in einen solchen “manischen” Zustand versetzen, um Großes produzieren zu können. Für Knausgard ist dies als Familienvater nicht mehr möglich. Er fühlt sich in seiner Freiheit beschnitten, seiner Berufung beraubt. Auf der anderen Seite hat er sich natürlich auch freiwillig und bewusst dafür entschieden, diese Freiheit aufzugeben und eine Familie zu gründen.

Ich habe viel darüber nachgedacht, was der Reiz sein könnte, den dieses Buch für mich ausgemacht hat. Wie schon erwähnt, hatte das Lesen für mich zwischendurch voyeuristische Züge, manchmal habe ich mich wie in einer Vorabendserie gefühlt. Spannend finde ich natürlich die Frage, was ist ausgedacht und was ist real – die Knausgard nur selbst beantworten kann. Daran schließt sich natürlich auch eine moralische Frage an: ist es moralisch vertretbar, sein eigenes Leben und das seiner Angehörigen so in die Öffentlichkeit zu zerren. Eine Entscheidung, die vor allen Dingen überrascht, da Knausgard sich sonst als eher scheuen und zurückhaltenden Menschen beschreibt.

Am Ende von “Lieben” schreibt Knausgard, dass er in den vergangenen Jahren den Glauben an die Literatur verloren habe, da sich alles, was er las, jemand ausgedacht hat.

“Das Einzige, worin ich einen Wert erblickte, was weiterhin Sinn produzierte, waren Tagebücher und Essays, die Genres der Literatur, in denen es nicht um eine Erzählung ging, die von nichts handelten, sondern nur aus einer Stimme bestanden, der Stimme der eigenen Persönlichkeit, einem Leben, einem Gesicht, einem Blick, dem man begegnen konnte.”

Diese Stimme habe ich in “Lieben” wiedergefunden. Mein Verhältnis zu ihr ist ambivalent. Wirklich sympathisch ist mir Karl Ove Knausgard nicht, aber er ist eine interessante und faszinierende Persönlichkeit, die eine eigene Stimme hat.

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