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Kämpfen – Karl Ove Knausgård

Mit Kämpfen liegt nun auch endlich auf Deutsch der sechste Band von Karl Ove Knausgårds autobiographischem Romanprojekt vor – und damit gleichzeitig auch der Abschluss. Kaum ein anderer Schriftsteller polarisiert zurzeit so wie der Norweger, denn die Meinungen über Knausgård gehen immer wieder weit auseinander. Für die einen ist er ein Narzisst, für die anderen ein literarischer Star. Ich gehörte bisher zu seinen begeisterten Lesern, denn seine Bücher berühren mich und hauen mich gleichzeitig um.

“Dieser Roman hat allen in meiner Umgebung wehgetan, und er hat mir wehgetan, und in einigen Jahren, wenn sie groß genug sind, um ihn zu lesen, wird er meinen Kindern wehtun.

Während sich Karl Ove Knausgård in den ersten fünf Bänden seines Romanprojekts – das im Norwegischen den Titel Min kamp trägt – vor allem der Vergangenheit widmet und von seiner Kindheit und den Erfahrungen, die er als junger Mann gemacht hat, erzählt, liest sich der sechste Band ein wenig anders. Er berichtet darin von der Zeit zwischen 2008 und 2011. Das ist die Zeit, in der in Norwegen der erste Band seines Romanprojektes erschienen ist.

Knausgård erzählt von den Schwierigkeiten, die es mit der Veröffentlichung gegeben hat. Dazu muss man wissen, dass er in Min kamp schonungslos über sich und seine eigene Familie schreibt. Vor allem erzählt er davon, wie sein Vater Alkoholiker wurde und sich im Haus seiner eigenen Mutter zu Tode getrunken hat. Vor der Veröffentlichung seines Buches hat er das Manuskript seinen nächsten Angehörigen zum Gegenlesen gegeben. Sein Onkel Gunnar war nicht einverstanden damit, wie sein Bruder im Buch dargestellt wird und strengte deshalb eine Klage an.

Meine Frage ist, warum wir geheim halten, was wir geheim halten. Worin besteht das Schamvolle am Verfall? Ist es diese vollständige menschliche Katastrophe? Die vollständige menschliche Katastrophe zu erleben, ist furchtbar, aber darüber zu erzählen? Warum Scham und Geheimniskrämerei gegenüber Dingen, die im Grunde genommen vielleicht das Menschlichste überhaupt sind? Was ist daran so gefährlich, dass wir es nicht laut sagen können?

Einen Großteil des Buches machen die Sorgen und Ängste von Karl Ove Knausgård aus, der sich nicht nur vor den Reaktionen seiner Verwandten fürchtet, sondern auch davor, dass seine Wahrheit und Wahrnehmung in Zweifel gezogen wird. Während er selbst glaubt, dass sein Vater an Alkoholismus gestorben ist, glaubt Gunnar, dass das Herz seines Bruders einfach stehen geblieben ist.

Die Beschreibungen dieser Auseinandersetzungen werden immer wieder abgelöst durch Beschreibungen des banalen Alltags mit drei Kindern – diese Alltagserlebnisse aus dem Leben eines Vaters erstecken sich häufig über mehrere Seiten. Anders als in den anderen fünf Bänden gibt es dieses Mal aber auch viele essayistische Einschübe: Karl Ove Knausgård analysiert nicht nur Gedichte, sondern begibt sich auch zurück ins 20. Jahrhundert und erzählt aus dem Leben von Adolf Hitler und dem Aufstieg der Nationalsozialisten. Seine Betrachtung dieser Zeit liest sich – gerade auch vor dem aktuellen Hintergrund – beängstigend.

Ich halte es für richtig zu sagen, dass alles, was damals geschah, eben nicht unmenschlich, sondern menschlich war, und dass es gerade deshalb so schrecklich und so eng, ganz eng mit uns selbst und unserem Leben verbunden ist, und dass wir es, um es zu sehen und dadurch zu beherrschen, an einen Ort außerhalb des Menschlichen rücken, als etwas Unantastbares, das nur erwähnt werden kann, wenn es auf eine bestimmte, sorgsam kontrollierte Weise geschieht.

Leider ist es aber auch so, dass sich die essayistischen Einschübe mit der Zeit sehr angestrengt lesen – man hat das Gefühl, Karl Ove Knausgård wirft viele Themen in einen Topf und rührt dann einmal kräftig um. Das eine oder andere Mal verirrt er sich dann selbst in dieser Mischung, beispielsweise dann, wenn er über 50 Seiten lang ein Gedicht von Paul Celan interpretiert. Ich muss deshalb ganz ehrlich sagen: auch wenn ich ein großer Fan des norwegischen Autors bin, habe ich den einen oder anderen dieser Einschübe dann doch auch großzügig überblättert. Kämpfen ist mit großer Sicherheit nicht das stärkste der sechs Bände – vielleicht, weil Knausgård darin zu viel über sein Projekt erzählt und zu wenig von sich selbst. Der große Lesesog stellt sich bei mir dann wieder ein, wenn er über die Erkrankung seiner Frau Linda schreibt, die psychisch labil ist und nach dem Lesen des Manuskripts einen furchtbaren und sehr erschreckenden Zusammenbruch erlebt. Sie erhält die Diagnose einer bipolaren Störung und ist wochenlang nicht mehr in der Lage ein normales Leben zu führen. Hier öffnet Knausgård wieder alle Türen zu der privaten Sphäre seiner Familie und schreibt von seinen intimsten Gedanken und Gefühlen und hier schafft er es auch wieder – anders als bei seinen essayistischen Einschüben – mich zu packen.

Das, was mich für Karl Ove Knausgård so eingenommen hat, war die Art und Weise, wie er schonungslos und mit großer Offenheit Einblicke in sein Leben gegeben hat. In das tägliche Glück und Unglück, in seine dunklen Stunden, seine Schwächen und Schwierigkeiten, in Scham und Verzweiflung und in den banalen Alltag. Fünf Bände lang war ich fast eher eine Voyeurin und keine Leserin. Leider funktioniert all das im letzten Band nur noch bedingt – statt zu erzählen, liefert Knausgård über weite Strecken eher einen erklärenden Kommentarband ab.

Auf der anderen Seite ist dies ein Buch über mich und meinen Vater, es geht um meinen Versuch, ihn und das, was mit ihm passiert ist, zu verstehen. Um das zu tun, bin ich gezwungen, bis zum Kern vorzudringen, in das Inferno, das er am Ende entfachte, wo er nicht nur sich selbst und ihr Haus ruinierte, sondern auch Grußmutters letzte Jahre, abgesehen davon, dass er auch allen anderen um sich herum schadete.

Für mich hat sich nie die Frage gestellt, ob die Bücher von Karl Ove Knausgård große Literatur sein mögen: seine Bücher rühren mich, seine intensive Selbstreflexion regt mich dazu an, über meine eigene Vergangenheit nachzudenken. An anderer Stelle habe ich einmal geschrieben, dass das Lesen der Bücher von Karl Ove Knausgård mich nachdenklicher, weicher, offener und durchlässiger macht. Es gibt wohl keine anderen Bücher, aus denen ich so viel über mich selbst gelernt und so viel für mich mitgenommen habe. Ich glaube, dass das für viele einen großen Reiz bei der Lektüre ausmacht: wer Lust darauf hat, über sich selbst und sein eigenes Leben nachzudenken, wer Seite an Seite mit einem Autor nachforschen möchte, warum er so geworden ist, wie er ist, der sollte die Bücher von Karl Ove Knausgård lesen – aber vielleicht besser nicht mit dem sechsten Band anfangen.

SterbenLiebenSpielenLebenTräumen

Karl Ove Knausgård: Kämpfen. Aus dem Norwegischen von Paul Berf und Ulrich Sonnenberg. Luchterhand, 2017. 1260 Seiten, €29. 

Bloomsday

In der Literarischen Welt, die der letzten Ausgabe der Welt beilag, gab es unter dem Titel Joyce und ich einen wunderbaren Essay über den Schriftsteller James Joyce – geschrieben von Karl Ove Knausgard. In diesem Jahr ist es bereits 100 Jahre her, dass “Ein Porträt des Künstlers als junger Mann” erschien, für Knausgard ist das Buch aber auch heute noch eines, das eine wichtige Rolle in seinem Leben spielt. Für ihn ist es ein Bildungsroman über Identität und darüber, was uns zu dem formt, was wir sind – ihm zeigte es, was Individualität eigentlich bedeutet.

Joyce und ich

Auch Ulysses, das größte und sicherlich bekannteste Werk von James Joyce, hat Knausgard gelesen … oder, man müsste schon fast sagen, studiert:

Ich las das Buch wie ein Archäologe, der eine Erinnerung an die Vergangenheit ausgräbt, indem er Schicht für Schicht freilegt, Teilchen um Teilchen, und dann versucht, daraus ein sinnvolles Ganzes herzustellen; und die ganze Zeit stand mir meine eigene Unterlegenheit und Begrenzung diesem Werk gegenüber klar vor Augen. 

Karl Ove Knausgards Essay, der von Ulrich Sonnenberg übersetzt wurde und auch auf Englisch bereits in der New York Times erschien, ist eine schöne Erinnerung an einen Schriftsteller, dessen Name mir in meinem Leben zwar immer wieder begegnet ist, den ich bisher aber noch nicht gelesen habe.

Ein schöner Anlass dazu, wäre vielleicht der heutige Tag, also der 16. Juni, an diesem Tag wird nämlich der Bloomsday gefeiert. Der Bloomsday geht auf die literarische Figur Bloom aus Joyce’ Ulysses zurück und ist damit wohl einer der wenigen Feiertage, die sich tatsächlich auf eine literarische Person berufen – wie könnte man diesen Tag also besser zelebrieren, als mit der Lektüre von James Joyce?

PicMonkey CollageEin Porträt des Künstlers als junger MannUlyssesDublinerFinn’s HotelJames Joyce Lesebuch

Alternativ könnt ihr an diesem Tag aber auch modemäßig an Joyce erinnern und dunkle Kleidung und einen „Qualitätshu“ tragen – so heißt die Kopfbedeckung im Ulysses, denn Bloom trägt einen „Hu“, weil das „t“ der Aufschrift im Lederband schon abgerieben ist.

Wie auch immer ihr den Bloomsday begehen wollt, für mich war Knausgards Essay eine schöne Erinnerung an einen spannenden Schriftsteller, den ich nun doch unbedingt noch entdecken möchte.

Träumen – Karl Ove Knausgård

Kaum ein anderer Schriftsteller polarisiert zurzeit so sehr, wie der Norweger Karl Ove Knausgård. Die einen finden ganz viel in seinen Büchern, den anderen ist das, was er schreibt viel zu wenig – und schon gar nicht handelt es sich dabei um große Literatur. Für mich gleichen die Bücher von Karl Ove Knausgårds einer Lesesucht: ob große Literatur oder auch nicht, sie rühren und berühren mich und lassen mich kaum wieder los. Ist das nicht das Wichtigste?

Träumen

“Ich wusste so wenig, wollte so viel, brachte nichts zustande.” 

Träumen ist der fünfte Band von Karl Ove Knausgårds autobiographischem Projekt Min Kamp – zuvor sind bereits Leben, Spielen, Lieben und Sterben erschienen. In Träumen schreibt Karl Ove Knausgård mit großer Gelassenheit über all die Ängste und Selbstzweifel, die ihn sein ganzes Leben lang verfolgt haben. Auf fast 800 Seiten erzählt er von den vierzehn Jahren, die er in der norwegischen Stadt Bergen verbrachte, bevor er schließlich die Flucht nach Stockholm angetreten ist. Es waren vierzehn Jahre, die geprägt gewesen sind von dem Wunsch Schriftsteller zu werden – ein Jahr hat er dafür sogar an der Schreibakademie studiert. Vierzehn Jahre, die gleichzeitig aber auch von dem andauernden Gefühl bestimmt waren, nicht gut genug dafür zu sein. Nicht gut genug schreiben zu können.

“Die vierzehn Jahre, die ich  in Bergen lebte, von 1988 bis 2002, sind längst vorbei, geblieben sind von ihnen lediglich einige Episoden, an die sich manche Menschen eventuell erinnern, ein Geistesblitz hier, ein Geistesblitz da, und natürlich alles, was mir selbst aus jener Zeit im Gedächtnis geblieben ist.”

In Träumen begleiten wir also einen jungen Karl Ove Knausgård durch sein Leben: Seite an Seite mit ihm erleben wir seine ersten ungelenken Beziehungen, wir erleben den Rausch und die darauf folgenden Abstürze, und wir erleben all die dunklen und düsteren Stunden, in denen Knausgård so verzweifelt versucht Schriftsteller zu werden und dabei immer wieder heimgesucht wird von Selbstzweifeln und der Angst davor, an den eigenen Ansprüchen zu scheitern: “Ich habe das Gefühl, nicht gut genug zu sein, um dazuzugehören. Ich schreibe einfach nicht gut genug.”

“Ich wollte nur eins, weitertrinken, dieses Leben führen, auf alles scheißen, aber wenn ich es tat, stieß ich jedes Mal an eine Grenze, eine Art Mauer aus Kleinbürgerlichkeit und Mittelschicht, die sich nicht ohne gewaltige Qualen und Ängste überwinden ließ. Ich wollte, konnte aber nicht. Im tiefsten Inneren war ich bieder und anständig, ein Streber, und vielleicht, so überlegte ich, war das ja auch der Grund dafür, dass es mir nicht gelingen wollte zu schreiben.”

Was mich dabei am meisten beeindruckt, ist die Schonungslosigkeit des Autors: Knausgård scheut nicht davor zurück, sich auch mit unangenehmen Gefühlen und Erinnerungen auseinanderzusetzen. Immer wieder seziert er sein eigenes Verhalten, das zwischen Selbstüberschätzung und Selbstzweifeln schwankt, zwischen unbändiger Wut und tiefer Traurigkeit, zwischen dem Wunsch danach zu gefallen und dem Bedürfnis sich abzugrenzen. Er erzählt davon, wie er im Schreibseminar die Geschichte einer Mitstudentin abgeschrieben und als seine eigene ausgegeben hat. Er erzählt von dem Neid auf seine Kollegen, von denen viele schon ihren Buchvertrag in der Tasche haben. Und er erzählt von seinem Alkoholkonsum: bereits früh im Buch wird deutlich, dass Knausgård zu viel trinkt. Jeder Versuch von ihm ein gutes Leben zu führen, scheitert dann, wenn er sich wieder einmal bis zur Besinnungslosigkeit betrinkt: er betrügt seine Freundin, verletzt im Streit seinen Bruder und bringt auch sich selbst immer wieder in Gefahr.

Knausgard-Autogramm

“[…] dass ich ein Wannabe war, der in Wahrheit überhaupt nicht schreiben konnte, dass ich nichts zu sagen hatte, mir selbst gegenüber aber nicht ehrlich genug war, um daraus die Konsequenz zu ziehen, weshalb ich versuchte, um jeden Preis in der literarischen Welt Fuß zu fassen. Allerdings nicht als jemand, der selbst etwas erschuf, als jemand, der schrieb und veröffentlicht wurde, sondern als ein Schmarotzer, als jemand, der schrieb, wie die anderen schrieben, ein Sekundärmensch.

Für mich ist die Frage danach, ob die Bücher von Karl Ove Knausgård große Literatur sein mögen gar nicht so wichtig: seine Bücher rühren mich, seine intensive Selbstreflexion regt mich dazu an, über meine eigene Vergangenheit nachdenken. Knausgård hat keine Scheu davor, sich auch mit Dingen auseinanderzusetzen, die man eigentlich lieber vergessen möchte und er scheut sich auch nicht davor, Gefühl zu zeigen: in Träumen wird immer wieder ganz viel geweint. Mich machen die Bücher von Karl Ove Knausgård nachdenklicher, weicher, offener, durchlässiger. Es gibt wohl keine anderen Bücher, aus denen ich so viel gelernt und so viel für mich mitgenommen habe. Auch Träumen macht da keine Ausnahme.

Ich glaube, dass das für viele einen großen Reiz bei der Lektüre ausmacht: wer Lust darauf hat, über sich selbst und sein eigenes Leben nachzudenken, wer Seite an Seite mit einem Autor nachforschen möchte, warum er so geworden ist, wie er ist, der sollte die Bücher von Karl Ove Knausgård lesen. Am besten alle. Am besten von vorne. Anfangen kann man aber natürlich auch direkt mit Träumen oder mit einem der anderen Bände. Hauptsache Knausgård lesen.

 

Karl Ove Knausgård bewegt Hamburg

Am Dienstagabend hat Karl Ove Knausgård in Hamburg gelesen – ausgerichtet wurde die Lesung vom Literaturhaus Hamburg, aufgrund des großen Interesses ist man aber in das Rolf-Liebermann-Studio ausgewichen. Gelesen hat der norwegische Autor vor fast fünfhundert Menschen, von denen sich viele schon eine Stunde vor Beginn der Lesung vor den Türen herumdrückten. Ein junger Mann reiste extra aus Göttingen an, ein Ehepaar berichtete, aus der Schweiz gekommen zu sein, um Knausgård lesen zu sehen. Ich hatte tatsächlich das Gefühl, das Konzert eines Popstars zu besuchen und nicht die Lesung eines Schriftstellers.

kNAUSGARD Lesung

Uwe Englert (Skandinavist und freier Übersetzer), Karl Ove Knausgård und Helmut Mooshammer (Schauspieler)

Der Tisch, der in der Mitte der Bühne platziert war, wurde von drei Herren besetzt: Helmut Mooshammer, Uwe Englert und natürlich Karl Ove Knausgård. Während Helmut Mooshammer die deutschen Passagen las, führte der Skandinavist Uwe Englert gekonnt durch den Abend und gab dabei Einblicke in das Werk des norwegischen Autors. Seine Ausführungen unterbrach er immer wieder, um Knausgård auf Norwegisch Fragen zu stellen und dessen Antworten ins Deutsche zu übersetzen. Zwischendurch las Helmut Mooshammer zwei längere Passagen aus dem zuletzt erschienenen Band Träumen.

Die Atmosphäre während der Lesung war von einer beeindruckenden Konzentration – das Publikum lauschte dem Gespräch zwischen Englert und Knausgård gebannt, vor allen Dingen aber auch den vorgelesen Passagen von Helmut Mooshammer. Ich habe es selten zuvor erlebt, wie sich tatsächlich eine komplette Stille und ein – so fühlte es sich zumindest an – angehaltener Atem in einer Zuschauermenge ausbreitet. Das war unheimlich intensiv und wahnsinnig beeindruckend. Gleichzeitig habe ich mir natürlich auch die Frage gestellt, was eigentlich das so Beeindruckende an Knausgård ist – wenn man ihm selber glaubt, hätte er nie mit diesem Erfolg gerechnet und hat viel mehr für sich selbst geschrieben. Wenn man diese Begeisterung und das Interesse ernst nimmt, muss man daraus schlussfolgern, dass es ein vermehrtes Interesse an Autobiographischem, an Selbstreflexion und Selbstanalyse gibt. Doch woher das kommt, diese Begeisterung für einen Autor, der eben auch ganz viele Banalitäten und Alltagsgeschehnisse beschreibt, konnte auch an diesem Abend nicht endgültig entschieden werden. Mich begeistert wohl am meisten diese Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst

Knausgard Autogramm

Am Ende des Abends las Karl Ove Knausgård noch eine Miniatur aus seinem allerneusten Roman vor (einem Brief an seine ungeborene Tochter, der vergangene Woche in Norwegen erschien) und tat das mit so viel Inbrunst und ansteckender Begeisterung, dass es selbst Helmut Mooshammer die Sprache verschlug. Die anschließende Autogrammschlange zog sich übrigens durch das ganze Foyer und es dauerte fast eine Stunde, bis auch der letzte zufriedene Zuschauer das Gebäude verließ. Auch ich bin zufrieden nach Hause gegangen, voller Gedanken, Fragen und wunderbaren Glücksgefühlen. Wenn ihr (noch einmal) die Chance bekommen solltet, dann lasst euch Karl Ove Knausgård nicht entgehen. Es ist ein Lesungsbesuch, der sich nachhaltig lohnt. Bei mir hat diese Lesung auf jeden Fall dazu geführt, dass ich mir vorgenommen habe, wieder häufiger nach für mich interessanten Autoren zu schauen, die auf Lesereise sind. Wie sieht das bei euch aus? Welche Erfahrungen habt ihr mit Lesungen? Habt ihr mal eine besucht, die euch besonders beeindruckt hat?

Knausgard Lesung

Karl Ove Knausgård – FAQ

Knausgard ff

Gestern ist endlich Karl Ove Knausgårds lang erwarteter Roman Träumen erschienen – es ist der mittlerweile fünfte Teil eines auf sechs Teile angelegten autobiographischen Romanprojekts. Da es immer noch Menschen gibt, die Karl Ove Knausgård nicht kennen, oder sich bisher nicht an sein Werk herangewagt haben, habe ich mir überlegt, ein paar der wichtigsten und drängendsten Fragen rund um diesen genialen Schriftsteller zu beantworten.

1. Wie schreibt man Karl Ove Knausgård richtig und wie spricht man diesen Namen überhaupt aus?

Karl Ove Knausgård (kɑːɭ ˈuːvə ˈknæʉsˌgɔːɾ/) ist gebürtiger Norweger – bei der Schreibweise seines Namens ist der Kreis auf dem a zu beachten. Den Kreis bekommt man ganz einfach über die Tastenkombination Alt + 134 (auf dem Nummernblock). Alternativ kann man das å natürlich auch immer kopieren und wieder einfügen. Ausgesprochen wird das ganze dann übrigens so: Karl Oov-uh K’NOUSE-gourd. Wem das nicht reicht, der kann hier hören, wie der Schriftsteller selbst seinen eigenen Namen ausspricht.

2. Worum geht es eigentlich?

Vor einigen Jahren war Karl Ove Knausgård noch so etwas wie ein literarischer Geheimtipp – als 2007 sein Roman Alles hat seine Zeit erschien, kannten ihn nur eingefleischte Literaturkenner. Heutzutage kann der Autor mit Fug und Recht als literarischer Superstar bezeichnet werden. Doch was ist in der Zwischenzeit eigentlich passiert? Karl Ove Knausgård hat in seinem Heimatland mit dem autobiographischen Projekt Min Kamp für Aufsehen gesorgt. Schonungslos und mit einer kaum zu ertragenden Offenheit schreibt er darin über sein Leben, auf insgesamt mehreren tausend Seiten wird förmlich eine Gedankenflut über den Leser ausgeschüttet. Mittlerweile ist die Knausgård-Begeisterungswelle nicht nur durch Deutschland, sondern auch bis nach Amerika geschwappt. In diesen Tagen erscheint nach Sterben, Lieben, Spielen und Leben endlich der fünfte Band der Reihe: in Träumen geht es um Knausgårds erste Jahre als Schriftsteller – wir dürfen gespannt sein.

3. Muss ich die anderen vier Bände gelesen haben?

Nein, auf gar keinen Fall. Natürlich ist es sinnvoll, die Lebensgeschichte des Autors vom ersten Band an mitzuerleben, doch die einzelnen Bände lassen sich auch als für sich stehende Romane lesen. (Kleiner Tipp am Rande: die ersten Bände gibt es bereits als Taschenbuchausgaben. Sperrt euch über’s Wochenende ein und lest Knausgård).

4. Und warum sollte ich diesen norwegischen Autor nun lesen?

Karl Ove Knausgård spaltet immer ein wenig die Gemüter: die einen lieben ihn, die anderen können mit seinen Büchern nichts anfange. Ich gehöre zur ersten Fraktion und kann euch nur empfehlen, euch heranzuwagen an dieses außergewöhnliche literarische Experiment. Knausgård schreibt über Banalitäten und Alltäglichkeiten, er tut das aber auf eine Art und Weise, der ich mich kaum entziehen kann. Seine Schonungslosigkeit ist ebenso beeindruckend wie verstörend: er schont weder sich noch andere. Während er im ersten Teil die Beziehung zu seinem Vater seziert, nimmt er im zweiten seine Ehe auseinander. Als Leser schaut man dabei bis in die vollgekackte Windel – das ist manchmal schwer auszuhalten. Teilweise ist das sogar ein wenig langatmig – und doch habe ich alle seine Bücher bisher verschlungen. Bei Knausgård lernt man nicht nur viel über sich selbst, sondern auch viel über das Schreiben und das Lesen.

5. Was mache ich, wenn ich mich vor dem Bücherkauf doch noch weiter informieren möchte?

Karl Ove Knausgård gehört zu den Autoren, über die im Moment wohl am meisten geschrieben wird. Es berichten: die Süddeutsche Zeitung, der SPIEGEL und die WELT. Es gibt Essays von Knausgård über Anders Bering Breivik oder Peter Handke, zwischendurch gibt es auch Reiseberichte zu lesen. Viele Informationen gibt es auch auf einem Blog, der sich ausschließlich mit dem norwegischen Schriftsteller beschäftigt.

So. Wer noch Fragen hat, immer her damit. Ich lese derweil Träumen und freue mich darauf, bald die Lesung von Karl Ove Knausgård in Hamburg zu besuchen.

Die Tage danach – Erika Fatland

Erika Fatland hat ein beeindruckendes Buch über die Terroranschläge in Norwegen geschrieben. Die Lektüre von Die Tage danach ist nur schwer zu ertragen, ich habe es atemlos und mit großem Entsetzen gelesen. Es ist ein Buch über das Böse, das uns überall und zu jeder Zeit treffen kann. Es ist ein Buch über die Opfer, aber auch über den Täter. Es ist ein wichtiges und erschütterndes Buch, das man lesen sollte.

Fatland 2

In den 189 Minuten zwischen 15:25 Uhr und 18:34 Uhr am 22. Juli 2011 erlebte Norwegen nicht nur die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg, der Zeitraum hat auch unsere friedliche, nahezu idyllische Gesellschaft verändert. Jeder Norweger wird sich für immer daran erinnern, wo er an jenem Tag war und was er gerade tat.

Vor kurzem jährten sich die Terroranschläge in Norwegen zum vierten Mal. Im Regierungsviertel in Oslo zündete Anders Behring Breivik eine Bombe, auf der Insel Utøya machte er Jagd auf Jugendliche, die ein Sommercamp besuchten. Erika Fatland hat sich dazu entschieden, darüber zu schreiben. Über den Tag, der Norwegen in seinen Grundfesten erschütterte, aber auch über die Tage danach. Über den Täter, aber vor allen Dingen über seine Opfer. Nicht nur die siebenundsiebzig Toten gehören zu seinen Opfern, sondern auch die vierhundert traumatisierten Überlebenden und all diejenigen, die in Oslo und auf Utøya ihre Angehörigen verloren haben. Die Autorin reist von Longyearbyen im Norden Norwegens bis nach Mandal im Süden, um mit den Hinterbliebenden und den Überlebenden zu sprechen. In Die Tage danach erzählt sie ihre Geschichten. Es sind erschütternde und tief berührende Geschichten. Geschichten, die mich gefangen genommen und nicht mehr losgelassen haben.

Erika Fatland wurde 1983 geboren und arbeitet als Sozialanthropologin. Sie studierte in Lyon, Helsinki, Kopenhagen und Oslo und spricht sieben Sprachen. Spezialisiert hat sie sich auf Opfer und Überlebende von Terroranschlägen. Ihre Masterarbeit schrieb sie über das Massaker an der Schule 1 in Beslan. Zu den Terroranschlägen in Norwegen hat sie einen besonderen Bezug, nicht nur, weil das Land ihre Heimat ist, sondern auch weil sie persönlich betroffen ist: ihr jüngerer Cousin Lars hat sich politisch engagiert und die Ferien auf Utøya verbracht, im Sommercamp der AUF (Arbeidernes Ungdomsfylking). Anders Behring Breivik hat ihm in den Rücken geschossen, ein Lungenflügel wurde zerstört. Das Leben des jungen Mannes hing am seidenen Faden. Er hat überlebt, viele andere sind an diesem Tag auf der Insel gestorben.

Mit jeder neuen Geschichte scheinen die Zuhörer im Saal ein wenig mehr abzustumpfen. Während ein junger AUFler, der die für Schulabgänger typische Latzhose trägt, dem Gericht von der Knallerei erzählt, die er zunächst für Chinaböller gehalten habe, checken die Journalisten ihre E-Mails oder lesen im Internet die neuesten Nachrichten. Einige schauen sich den Langzeitwetterbericht an, andere spielen am Laptop Karten. Abgestumpft nach zehn, zwanzig, dreißig dramatischen Utøya-Geschichten. 

Erika Fatland reist durch ganz Norwegen, um Opfern und Hinterbliebenen eine Stimme zu geben. Dem Buch gelingt es dennoch, frei von jeglichem Betroffenheitskitsch zu sein, denn die Autorin bewahrt auch immer eine gewisse Distanz. So geht es in diesem Buch nicht nur um die Geschichten der Opfer, die einen tief betroffen machen, sondern auch um die Frage nach dem Warum. Erika Fatland betreibt Ursachenforschung, sie schaut sich den Täter ganz genau an und zieht Vergleiche zu anderen Tätern und Taten. Hat die Tat von Anders Behring Breivik Ähnlichkeiten mit einem Schulamoklauf? Was verbindet ihn mit dem Una-Bomber? Die Autorin fährt nach Deutschland, um die Stadt Winnenden zu besuchen und nach Amerika, um auch dort mit Opfern von Terroranschlägen zu sprechen.

In diesem Buch gelingt es, beide Ebenen – die persönliche und die sachliche – miteinander zu verbinden. Erika Fatland erzählt einerseits vom Tod, von unbegreiflichen Schmerzen, vom Schrecken, von Angst und Panik und vom Kampf ums Überleben. Andererseits lässt sie nüchterne Fakten einfließen, erzählt vom Prozess gegen den Angeklagten, von Gutachten und von vergleichbaren Taten und Täterprofilen. Erika Fatland klammert auch die Kritik am Polizeieinsatz nicht aus. An diesem Tag ist vieles schief gelaufen, einige Kinder hätten nicht sterben müssen, wenn Polizei und Behörden besser vorbereitet gewesen wären, besser zusammengearbeitet hätten. Sinnbildlich dafür steht das gekenterte Polizeiboot, das viel zu schwer beladen gewesen war.

“Ich hatte nicht gedacht, dass es möglich sei, noch einmal ein Kind zu verlieren, wenn man schon eins verloren hat”, sagt sie. Die Tränen laufen ihr über die Wangen. Sie lässt sie laufen. “Es ist ein großer Unterschied, ob man ein Baby oder ein 16-jähriges Mädchen verliert. Manchmal ziehe ich Astas Sachen an, ihre Pullis, ihre Socken, weil ich sie so sehr vermisse.”

Obwohl die Autorin sich selbstverständlich auch mit Anders Behring Breivik beschäftigt, stellt sie doch die Geschichten der Überlebenden und Angehörigen in den Mittelpunkt. In vielen medialen Berichterstattungen ist das genau umgekehrt: wir wissen, wie der Täter heißt und wir wissen, dass er siebenundsiebzig Menschen getötet hat, doch wir kennen von keinem Opfer den Namen. So ergeht es einem auch mit vielen anderen Amokläufen und Terroranschlägen: wir kennen Tim Kretschmar und Robert Steinhäuser, doch keines ihrer Opfer. Karl Ove Knausgard hat in einem vielbeachteten Essay einen wichtigen Satz dazu geschrieben: Die Henker haben Namen, ihre Opfer sind Zahlen.

Erika Fatland ist ein einfühlsames Buch gelungen, das sich kompetent und sachlich mit den Fakten beschäftigt und gleichzeitig eine Geschichte von Schmerz, Trauer, Wut und Zorn erzählt. Den Leser lässt sie alles miterleben: die Trauer der Überlebenden, die Angst der Opfer und die kaum vorstellbare Brutalität des Täters. Das ist nicht leicht zu lesen und nicht leicht zu ertragen und dennoch ist Die Tage danach ein ganz wichtiges Buch. Ein wichtiges Buch, dem ich viele Leser wünsche.

Erika Fatland. Die Tage danach. Erzählungen aus Utøya. Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger und Stephanie Elisabeth Baur. btb Verlag, München 2012. 512 Seiten, €21,99.

Liebe im Miniaturformat (2)

Vor fast drei Monaten habe ich euch auf Bücher aufmerksam gemacht, die ich viele Monate zuvor gelesen und geliebt habe und die nun endlich auch im Taschenbuch erscheinen. Ich habe das damals Liebe im Miniaturformat genannt. Ich liebe Literatur und ich liebe es, andere Menschen mit meiner Begeisterung für bestimmte Bücher anzustecken. Doch manchmal liest man zwar eine Besprechung, kann (oder möchte) sich ein gerade erschienenes Hardcover aber eben nicht sofort leisten, setzt den Titel nur auf die Wunschliste und vergisst das Buch dann irgendwann wieder. Aus diesem Grund habe ich mich in der vergangenen Woche erneut durch die Vorschauen gewühlt, um nach Büchern Ausschau zu halten, die ich vor vielen Monaten gerne gelesen habe und die nun in der schmalen und kostengünstigeren Taschenbuch-Variante erschienen sind oder noch erscheinen werden.

Es macht mir eine große Freude, euch ganz besondere Bücher auf diesem Weg noch einmal ans Herz legen zu können, es ist gleichzeitig aber auch für mich spannend, mich an Bücher zurückzuerinnern, die ich vor vielen Monaten gerne gelesen habe. Meinen Blog bezeichne ich ja auch immer wieder als literarisches Gedächtnis und es ist schön, auf diesem Weg noch einmal in Geschichten einzutauchen, die einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen haben.

PicMonkey Collage

Elliot Perlman – Tonspuren (erscheint am 15. Juni 1015)

Jens Steiner – Carambole (erscheint am 21. Mai 2015)

Karl Ove Knausgård – Spielen (erscheint am 11. Mai 2015)

Anthony Marra – Die niedrigen Himmel (erschien am 9. Mai 2015)

Sarah Stricker – Fünf Kopeken (erschien am 14. April 2015)

Aleksander Hemon – Buch meiner Leben (erschien am 14. April 2015)

Ich finde es, gerade auch weil momentan so viele mit kribbeliger Begeisterung durch die neuen Vorschauen blättern, wichtig noch einmal an Bücher zu erinnern, die es ebenfalls verdienen, entdeckt und gelesen zu werden. Ich wünsche euch viel Spaß beim Stöbern!

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