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Sag ihren Namen – Francisco Goldman

Dem Text von Francisco Goldman ist ein berührendes Zitat von Henry King, dem Bischof von Chichester, vorangestellt: “Geliebte Verlorene! Seit deinem vorzeitigen Hinscheiden / Ist es meine Aufgabe, über dich nachzudenken. / Über dich; du bist das Buch, / Die Bibliothek, die ich betrachte, / wiewohl fast blind.” Auch Francisco Goldman hat jemanden verloren, den er geliebt hat: am 25. Juli 2007 starb seine Frau Aura Estrada bei einem Badeunfall in Oaxaca an der mexikanischen Pazifikküste.

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“Am 24. April, drei Monate vor ihrem Tod, war Aura dreißig geworden. Sechsundzwanzig Tage später wären wir zwei Jahre verheiratet gewesen.”

Nur wenige Jahre nach Auras Tod, beginnt Francisco Goldman über diesen schwerwiegenden Verlust zu schreiben, darüber nachzudenken – nicht nur über den Tod, über den Moment des Unglücks, sondern auch über Aura und das gemeinsame Leben, das viel zu kurz gewesen ist. Der Tod eines geliebten Menschen, der plötzliche Verlust von jemanden, der Teil deines Lebens gewesen ist, ist immer schmerzhaft. Joyce Carol Oates hat in “Meine Zeit der Trauer” über den Verlust ihres Mann geschrieben, der nach 47 gemeinsamen Jahren plötzlich verstorben ist. Beide haben ihr halbes Leben miteinander verbracht. So viel Zeit war Francisco Goldman und Aura Estrada nicht vergönnt, vier gemeinsame Jahre haben sie Seite an Seite gelebt  – zwei davon als Ehepaar.

“Der Gedanke war wie eine stumme Bombe: Aura wird nie wissen, wie es ist, alt zu sein, sie wird nie auf ein langes Leben zurückblicken können. Mehr bedurfte es nicht, nur dieses Gedankens an die Ungerechtigkeit des Lebens und die vollendete alte Dame, zu der Aura gewiss vorherbestimmt gewesen war.”

Aura Estrada wurde in Mexiko geboren und war Schriftstellerin und Doktorandin; an der Columbia University studierte sie spanische Literatur. Francisco Goldman ist bereits in den Fünfzigern, er arbeitet als freier Journalist, Autor und Hochschullehrer. Beide bauen sich ein gemeinsames Leben auf, im Grunde sind es sogar zwei: eines in New York und eines in Auras Heimatland Mexiko, dort wo sie die Sommer verbringen. Es ist ein Leben, geprägt von Büchern, von Literatur, von der gemeinsamen Arbeit an Texten. Während Aura einen festen Tagesablauf hat, lässt sich Francisco häufig an ihrer Seite treiben, begleitet sie zur Universität, geht mir ihr Mittagessen. Das gemeinsame Leben besteht aus lauter kleinen Ritualen, aus Abläufen und gemeinsamen Tätigkeiten. Francisco Goldman schildert immer wieder Momente, in denen er durch Straßen läuft, durch die er  immer mit Aura gelaufen ist, an Orten vorbeikommt, die ihnen gemeinsam gehört haben. Spaziergänge durch die Straßenschluchten Brooklyns sind ohne quälende Erinnerungen eigentlich kaum noch möglich: “So waren meine Spaziergänge durch diese Straßen nun ein stummer Abgesang von Orten.”

“Was Aura sagte, fast das Letzte, was sie je zu mir sagte, war: ‘Quiéreme mucho, mi amor.’ Liebe mich ganz fest, mein Liebling. ‘No quiero morir.’ Ich will nicht sterben. Das muss der letzte vollständige Satz gewesen sein, den sie sprach, vielleicht ihre allerletzten Worte.”

Das Cover und der Titel dieses Buches suggerieren auf den ersten Blick etwas Schwülstiges, doch dieser Eindruck täuscht. Francisco Goldman beschreibt zwar auch den eigenen schmerzhaften Verlust und die Gefühle mit denen er zurückgeblieben ist, doch er tritt gleichzeitig auch einen Schritt hinaus aus dieser bodenlosen Trauer und setzt seiner geliebten Frau ein literarisches Denkmal. “Sag ihren Namen” ist nicht nur ein Trauer- und Erinnerungsbuch, sondern setzt sich zusammen aus vielen Textversatzstücken und Tagebucheinträgen von Aura Estrada. Damit gelingt es Francisco Goldman nicht nur, ein Bild der zerstörerischen Trauer zu erschaffen, sondern auch ein Bild des Lebens, es ist das Leben von Aura und ihrer mexikanischen Familie. Aura wächst mit einer bestimmenden Mutter auf und einem Vater, der irgendwann verschwindet. Sie bekommt einen neuen Papa und sogar eine Halbschwester, doch glücklich ist sie nicht. Die junge Frau ist geprägt von ihrer Herkunft, ihrer Vergangenheit und ihrer besitzergreifenden Mutter. Eine Prägung, die über Auras Tod hinausgeht, denn ihre Mutter macht Francisco Goldman schwere Vorwürfe, den Unfall nicht verhindert zu haben. Sie enthält ihm die Asche ihrer Tochter vor und wirft ihn aus der gemeinsamen Wohnung.

Collage Sag Ihren Namen

“Nicht mehr dieser Mann. Kein Ehemann mehr. Der Mann, der in den Fischladen geht, um das Abendessen für seine Frau und sich einzukaufen. In weniger als einem Jahr wäre ich länger kein Ehemann mehr, als ich einer gewesen war. Aber wir hatten noch zwei Jahre mehr zusammengelebt. Dennoch würde der Tag kommen, an dem ich länger nicht mehr mit Aura lebte, als ich mit ihr zusammen gewesen bin.”

Nichts deutet beim Lesen des Buches zunächst daraufhin, dass man eine wahre Geschichte in den Händen hält und doch schwebt dieses Wissen mit zunehmender Lektüre über dem Text. Dass der Erzähler denselben Namen trägt, wie der Autor, ist ein erster Hinweis. Francisco Goldman schildert seine Liebe zu Aura mit viel Feingefühl, offen erzählt er von ihrer Beziehung, ohne diese dabei jedoch zu entwürdigen. Ich habe mich an keiner Stelle als Voyeur gefühlt und der Autor macht sich an keiner Stelle zum Exhibitionisten. Er geht jedoch schonungslos mit sich ins Gericht, denn auch er selbst macht sich Vorwürfe, den Tod seiner Frau nicht verhindert zu haben. Auch düstere und schamhafte Momente finden Erwähnung und werden nicht verschwiegen. Ergänzt wird all dies mit Briefen, E-Mails, Tagebucheinträgen und Textausschnitten.

“Sag ihren Namen” ist weniger eine Erzählung oder gar eine Geschichte, sondern viel mehr ein Puzzle. Ein Puzzle des Schmerzes – Puzzleteilchen an Puzzleteilchen setzt Francisco Goldman mit viel Geschick zusammen und springt dabei immer wieder zwischen unterschiedlichen Zeiten und Orten hin und her. Der Titel kann dabei als Versuch der Beschwörung verstanden werden, ein Versuch den geliebten Menschen im literarischen Text wiederauferstehen zu lassen. Entstanden ist dabei ein berührendes Dokument der Trauer, des Verlustes und ein Zeugnis dessen, wie man als Zurückgebliebener weiterleben kann. “Sag ihren Namen” ist nicht die erste literarische Auseinandersetzung mit Trauer, die ich gelesen habe und doch hat mich der Text von Francisco Goldman in all seiner Schmerzhaftigkeit, in all der Unfassbarkeit, in all dem, was nur schwer zu begreifen ist, besonders berührt. Die Auseinandersetzung des Autors mit dem schmerzhaftesten Verlust seines Lebens gelingt ihm auf einem hohen literarischen Niveau.

Dieser Mensch war ich: Nachrufe auf das eigene Leben – Christiane zu Salm

Christiane zu Salm wurde 1966 in Mainz geboren und arbeitete viele Jahre als Medienmanagerin. Sie war unter anderem Geschäftsführerin bei MTV und hat den Privatsender 9Live aufgebaut. Die Anteile daran verkaufte sie im Jahr 2005, seitdem widmet sich die leidenschaftliche Kunstsammlerin verstärkt sozialen Projekten. Sie hat den Verein NFTE (Network for Teaching Entrepreneurship) mitbegründet und ist ehrenamtlich als ambulante Sterbebegleiterin für das Lazarus-Hospiz in Berlin tätig.

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“Warum muss erst deine Zeit ablaufen, damit du reden kannst?”

Dieses Buch ist aus den Eindrücken und Begegnungen einer ambulanten Sterbebegleiterin heraus entstanden, es sind  berührende Eindrücke und Begegnungen mit Menschen, die sich am Ende ihres Lebensweges befinden. Aufgezeichnet wurden diese Eindrücke von Christiane zu Salm, die sich nach vielen Überlegungen dazu entschlossen hat, eine Ausbildung zur Sterbebegleiterin zu machen. Teil dieser intensiven Ausbildung, die sie in einer kleinen Gruppe absolviert hat, war die Aufgabe, einen Nachruf auf das eigene Leben zu schreiben. Es ist diese Aufgabe gewesen, die sie dazu angeregt hat, über die Frage nachzudenken, wie Menschen im Angesicht ihres Todes ihr eigenes Leben bewerten. Es ist diese Aufgabe gewesen, die sie dazu angeregt hat, Menschen zuzuhören, mit ihnen zu sprechen und sie danach zu fragen, wie ihr eigener Nachruf aussehen würde. Geführt hat sie diese Gespräche in Deutschland und in Amerika, manchmal im Hospiz, manchmal aber auch bei den Patienten zu Hause.

“Dies ist kein Buch über das Sterben, sondern ein Buch über das Leben. Das Leben wird hier allerdings von seinem Ende aus betrachtet: Es ist eine Betrachtung des Lebens aus der Perspektive des Sterbens.”

Die Betrachtung des Lebens aus der Perspektive des Sterben heraus ist etwas gewesen, das Christiane zu Salm immer schon interessiert hat, häufig ist sie mit diesem Interesse angeeckt. In ihrem sehr lesenswerten Vorwort – mit dem passenden Titel “Kein Sterbenswort” – geht sie darauf ein, wie Menschen dazu neigen die Tatsache zu verdrängen, dass das Leben endlich ist. Wir verwenden zwar Worte wie sterbenslangweilig, todmüde und ab und an hat man sich auch mal totgelacht, doch der Tod und das Sterben werden darüber hinaus nicht häufig bewusst in unserem Alltag wahrgenommen. Der Eindruck es handle sich dabei um ein Tabuthema ist sicherlich nicht ganz falsch.

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“Ganz egal, ob Mann oder Frau: Der moderne Mensch redet nicht gerne über das Sterben. Darüber verlieren wir in unseren hochzivilisierten westlichen Gesellschaften so gut wie kein Sterbenswort.”

Christiane zu Salm betont, dass ihre Affinität zum Tod nicht nur aus einer Angst resultiert, sondern “aus einer Suche nach dem Verständnis dessen, was wirklich wichtig ist, worauf es ankommt, was eigentlich bleibt vom Leben.” Dem Tod begegnet ist sie zweimal, mit sechs Jahren musste sie den Unfalltod ihres Bruders miterleben, viele Jahre später befand sie sich für einige Minuten unter einer Lawine, sie raste auf Skiern den Hang hinab und hat die Gewissheit gespürt, aus diesem Moment nicht mehr heil herauskommen zu können. Doch sie hat überlebt. Vier Jahre später fasste sie den Beschluss, Sterbebegleiterin werden zu wollen.

“[…] was denkt die Verkäuferin im Supermarkt, was der Kfz-Mechaniker, was die Gemeindemitarbeiterin von nebenan? Wie betrachten ganz gewöhnliche Menschen ihr Leben, wenn sie im Sterben liegen? Sind es Antworten auf die großen Fragen des Lebens, die sie eventuell gefunden haben und hinterlassen könnten? Oder sind es Banalitäten? Aber wer entscheidet eigentlich, was banal ist und was nicht? Was ist wichtig, ganz am Ende? Ist es möglicherweise das Gleiche, das immer schon wichtig war – oder etwas ganz anderes? Und woran erinnert sich jemand – dann, wenn es zu Ende ist, das Leben?”

Insgesamt achtzig Nachrufe auf das eigene Leben versammelt Christiane zu Salm in ihrem Buch, sie stehen dicht an dicht nebeneinander. Die Nachrufe umfassen häufig nur zwei bis drei Seiten, manchmal reicht auch eine aus für das, was der Mensch über sein Leben erzählen möchte. Viele der befragten Menschen sind bereits älter, andere gerade einmal Anfang 40. Viele von ihnen haben Krebs, bei manchen ist die Krankheit vermerkt, bei anderen nicht, bei manchen ist der Zeitpunkt vermerkt, an dem sie gestorben sind, andere leben noch.

“Wo ist bloß die Zeit hin, und was haben wir denn all die Jahre gemacht, in denen wir unsere Träume geträumt haben, statt sie zu leben?”

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Die versammelten Schicksale haben mich natürlich nicht alle gleichermaßen berühren können, doch viele haben mich tatsächlich bewegt, andere haben mich auch betroffen und nachdenklich gemacht. Die Schicksale sind häufig in keiner Form außergewöhnlich, ganz im Gegenteil: es sind die Lebenserinnerungen ganz normaler Menschen. Viele von diesen Erinnerungen sind von dem Gefühl geprägt, zu wenig erreicht zu haben oder an einer Weggabelung den falschen Weg eingeschlagen zu haben. Manche von den Erinnerungen sind von einer tiefen Schuld geprägt, ein Mann erinnert sich daran, Schuld am Selbstmord seines Sohnes zu haben. Andere werden davon belastet, ein Geheimnis mit sich herumzutragen: eine Frau hat ihrer Tochter ein Leben lang verschwiegen, dass sie als Prostituierte gearbeitet hat und der Vater ihrer Tochter einer ihrer Kunden gewesen ist. Ein anderer Mann hat es sein Leben lang nicht geschafft, seiner Frau eine Affäre zu gestehen. Andere berichten über verpasste Möglichkeiten, über vergeudete Chancen, Träume, die nie umgesetzt wurden und über Beziehungen die zerbröckelten oder über Beziehungen, für die man nie den Mut gefunden hat, sie zu führen. Ein Sohn berichtet davon an der Frage zerbrochen zu sein, ob sein Vater stolz auf ihn gewesen ist, ein Vater stirbt mit dem Gefühl, einen seiner beiden Söhne dem anderen gegenüber bevorzugt zu haben.

“Bei den entscheidenden Ereignissen, die im Leben so passieren, weiß man ja immer erst im Nachhinein, wofür es gut war. Dass alles, ganz gleich was, sich irgendwann für irgendetwas als richtig erweist . da bin ich mir sicher. Ich habe mich allerdings oft gefragt, warum wir das immer erst im Rückblick erkennen.”

Doch es gibt auch andere Nachrufe, Nachrufe von Menschen, die ein Leben gelebt haben, auf das sie im Moment ihres Todes mit einer inneren Zufriedenheit zurückblicken können. Menschen, die die richtigen Entscheidungen getroffen haben und den richtigen Menschen begegnet sind oder die sich im richtigen Moment dafür entschieden haben, sich von einem Menschen zu trennen, der einem vielleicht nicht mehr gut tut. Im Anhang des Buches befindet sich eine ausgezeichnete und sehr informative Liste an Buch- und Filmtiteln rund um das Thema Sterben und Tod.

Bewegt und berührt – das sind zwei Worte, die ich in meinen Besprechungen gerne verwende. Noch nie hat sich dies so passend angefühlt, wie bei diesem Buch. Christiane zu Salm hat mich mit den Nachrufen, die sie in diesem Buch versammelt hat, dazu angeregt, nachzudenken – über mein eigenes Leben, aber auch über das Leben der Menschen um mich herum. “Dieser Mensch war ich” ist für mich gleichermaßen Kraftspender und Anstoß gewesen: der Zugang anderer Menschen zu ihrem eigenen Tod hat mich immer wieder getröstet und ermutigt und ihre Lebenserinnerungen haben mir in Erinnerung gerufen, was wirklich wichtig ist im Leben: Zufriedenheit, Glück und der Versuch, die eigenen Träume zu leben.

Autoportrait – Édouard Levé

Édouard Levé wurde 1965 geboren, 2007 nahm er sich das Leben. Er war nicht nur ein Schriftsteller, sondern auch Künstler und Fotograf. Neben vier Prosabänden veröffentlichte Levé, der in Paris lebte, auch zahlreiche Fotobände. Sein Roman “Selbstmord” erschien 2012 auf Deutsch, letztes Jahr folgte der zweite Roman. “Autoportrait” wurde von Claudia Hamm übersetzt.

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“Als Jugendlicher glaubte ich, eine Bedienungsanleitung Leben könnte mir beim Leben helfen und eine Bedienungsanleitung Selbstmord beim Sterben.”

Meine Lektüre des Romans “Selbstmord” liegt bereits beinahe zwei Jahre zurück, doch ich erinnere mich immer noch gut an das beklemmende Leseerlebnis – besonders im Gedächtnis geblieben ist mir die ungewöhnliche Perspektive, die Édouard Levé verwendete. Der ganze Roman richtet sich durchgehend an ein namenloses “du”. “Autoportrait” bildet einen ziemlichen Kontrast zu dieser Perspektive, denn der autobiographische Roman wird beinahe gegensätzlich erzählt: vollständig aus einer Ich-Perspektive heraus.

“Ich habe einmal einen Selbstmordversuch unternommen und war viermal versucht, einen Selbstmordversuch zu unternehmen.”

Auf knapp 110 Seiten legt Édouard Levé Zeugnis ab – Zeugnis über sein eigenes Leben, seine Charakterzüge, seine Schwächen und Stärken, seine Vorlieben und Abneigungen, über seine Wünsche und Ängste, seine Träume und Befürchtungen. Es ist ein beeindruckendes Zeugnis, in das man als Leser rettungslos hinein gesogen wird. Édouard Levé ist sich selbst gegenüber schonungslos, nichts wird beschönigt. Ein wiederkehrendes Motiv seines Selbstzeugnisses ist das Motiv einer Idee, die nicht umgesetzt wird.

“[…] ich sage “fast”, denn der Film hat nur zweihundert Bilder und sie wurden in anderthalb Jahren aufgenommen. Ich habe ein Fotoprojekt begonnen, das darin besteht, die einundvierzig Orte zu fotografieren, an denen Charles Baudelaire in Paris gelebt hat, aber nach mittlerweile vier Jahren bin ich immer noch nicht fertig damit, und jedes Mal, wenn ich mir vornehme, mich wieder dranzumachen, entmutigt mich die Vorstellung, dass ich noch einmal von vorn beginnen müsste, um die Aufnahmen aufeinander abzustimmen.”

Édouard Levé ist nicht nur Autor, sondern auch Künstler – seine Ideen sind vielfältig, er hat Ideen zur Eröffnung von unterschiedlichen Museen, zu Fotoprojekten, zu Büchern. Kaum einer dieser Ideen wird jedoch umgesetzt, Levé zeichnet das Bild eines sich fortsetzenden Versagens. Dieses immer wieder auftauchende Motiv (“Ich hatte einmal eine Idee …”) ist beinahe schon tragisch.

“Ich habe manchmal das Gefühl, ein Hochstapler zu sein, ohne sagen zu können, warum, als würde ein Schatten über mir schweben, den ich nicht loszuwerden vermag.”

Édouard Levé betreibt im Grunde eine umfassende Nabelschau – jedoch auf hohem literarischen Niveau. Wir erfahren, wen er geliebt hat, wem er seine Liebe gestanden hat, wir erfahren etwas über sein Verhältnis zu seinen Eltern, über sein Verhältnis zu sich selbst. Wir erfahren, was er gerne isst, wann er gerne arbeitet, wie lange er schläft, welche Bücher er liest, welche Filme er schaut, welche Musik er hört. Mit wem er Sex hatte, wo er Sex hatte. Wir erfahren auch scheinbare Banalitäten des Alltags. Zwischendurch werden immer wieder Sätze eingestreut, die einem die Luft zum Atmen rauben. Zwischen einer Aufzählung seiner Urlaubreisen und seiner ersten Prügelei als zwölfjähriger Junge steht der Satz: “Meine Eltern stellen mir nicht genug Fragen.”

“Ich schlafe lieber ein, als dass ich aufwache, aber ich lebe lieber, als dass ich sterbe.”

“Autoportrait” ist eine Anspielung auf das, was Édouard Levé neben dem Schreiben am liebsten getan hat: die Fotografie. Doch im Grunde ist “Autoportrait” nicht nur ein Portrait, sondern auch eine Biographie – eine Autobiographie. Der Text liest sich wie ein Einkaufszettel, wie ein Protokoll, wie eine Aneinanderreihung von Tatsachen, die – wenn man sie zusammensetzt – das autobiographische Bild eines getriebenen und traurigen Mannes ergibt. “Vielleicht schreibe ich dieses Buch, damit ich nicht mehr sprechen muss.” In allem, was Levé – häufig unzusammenhängend – aufzählt, schwingt das Gefühl der Traurigkeit und der Endlichkeit mit. Hier schreibt ein Autor, der weiß, dass seine Zeit vorbei ist – nicht, weil er an einer unheilbaren Krankheit leidet, sondern weil er seinem Leben selbst ein Ende setzten möchte. Aber wer weiß, vielleicht ist auch Traurigkeit eine unheilbare Krankheit.

“Wenn ich mich in der Lust, mich umzubringen, über den Balkon lehne, rettet mich mein Schwindelgefühl.”

“Autoportrait” ist eine Sammlung von stakkatohaft und ohne einen einzigen Absatz aneinandergereihten Antworten auf Fragen, die niemand gestellt hat. In jeder Antwort schwingt eine Geschichte mit, die viel umfassender ist, als die Antwort – sie wird jedoch nicht erzählt, nicht in diesem Buch. Nie mehr. Diese über allem drohende Macht der vergehenden Zeit, ist vielleicht das Traurigste dieses schmalen Büchleins. Édouard Levé lebt mit dem bedrückenden Gefühl, keine Zeit mehr zu haben.

“Ich verbringe viel Zeit mit Lesen, aber ich glaube nicht, dass ich ein großer Leser bin. Ich bin ein Wiederleser. Ich habe in meinem Bücherschrank genauso viele gelesene wie nicht zu Ende gelesene Bücher. Beim Berechnen der gelesenen Bücher schummle ich, denn ich zähle die nicht fertiggelesenen mit. Ich werde nie wissen, wie viele Bücher ich wirklich gelesen habe.”

Édouard Levé legt mit “Autoportrait” seinen Lebensroman vor und gleichzeitig eine schonungslose Lebensbeichte ab, ohne Beschönigungen und ohne Ausflüchte. Geschrieben ist er im Stile von Twitternachrichten, in kurzen und abgehackten Sätzen, die in all ihrer Kürze jedoch eine tieferliegende Bedeutungsschicht haben. Mit “Autoportrait” hat Levé ein beeindruckendes autobiographisches Kunstwerk geschaffen, bezahlt hat er dafür mit dem Leben, das er sich zwei Jahre später genommen hat.

Eine kurze Geschichte vom Sterben – Linda Benedikt

Linda Benedikt wurde 1972 in Mündchen geboren. Nach einem Politikstudium arbeitete sie viele Jahre lang als freie Journalistin. Seit 2010 steht sie mit einem politischen Musikkaberett auf der Bühne. Die Autorin lebt derzeit in München und veröffentlichte zuletzt einen Essay über Israel. “Eine kurze Geschichte vom Sterben” ist ihr neuester Roman, er erschien im vergangenen Literaturherbst.

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“Du wirst viel mehr als weg sein, du wirst immer da sein und ich werde mit deiner anwesenden Abwesenheit nichts anzufangen wissen.”

“Eine kurze Geschichte vom Sterben” wird im Klappentext als Prosa beschrieben, doch sind diese erschütternden 126 Seiten wirklich fiktive Prosa oder vom autobiographischen Erleben geprägt? Im Buch selbst finde ich für eine Antwort auf diese Frage keinerlei Informationen. Doch ob Linda Benedikt die Trauer um die eigene Mutter beschreibt oder eine rein fiktive Erzählung geschrieben hat, nimmt diesem Werk nichts von seiner Kraft. Die Lektüre war für mich wie ein Schlag in den Bauch. Rumms. Da lag ich, nach Luft schnappend und um Atem ringend. Trauer ist immer schwierig und der Tod ist etwas, mit dem wir uns lieber nicht beschäftigen wollen, aber er ist da und kann immer und jederzeit zuschlagen.

“Ich sitze seit vier Stunden an deinem Bett und schaue zu, wie du stirbst. Stündlich ein bisschen mehr. Aber nicht genug, um dich endlich selbst aus dem Leben zu entlassen.”

“Eine kurze Geschichte vom Sterben” ist eine Geschichte eines langsam voran schleichenden Sterbens. Die Beschreibung eines Prozesses mit tödlichem Ausgang. Linda Benedikt beschreibt sieben Tage. Die Kapitelreihenfolge ist umgekehrt, beginnt bei Kapitel sieben und endet an dem Tag, an dem alles vorbei ist. Die gerade einmal 126 Seiten schmale Erzählung wird aus der Ich-Perspektive erzählt. Es ist das Ich einer trauernden Tochter, die aus London zu ihrer Mutter reist, um sie in den Tod zu begleiten. Die Krankheit hat einen Zustand erreicht, an dem an ein Überleben nicht mehr zu denken ist – es geht lediglich darum, wie lange das Sterben dauert.

“Dein Körper wirkt klein und schmächtig, wie krankgeschrumpft. Als ich dich das letzte Mal sah, konntest du lachen, gehen, stehen und reden. Und irgendwie warst du größer.”

Für die Tochter ist die Begegnung mit der Mutter ein Schock, mit der Mutter, die eigentlich noch jung ist, doch plötzlich knochige Gesichtszüge hat. Ihre starke Mutter ist plötzlich klein, schwach und abhängig. Gespräche mit ihr sind kaum noch möglich. Wenn sie durch die dicke Nebelwand der Schmerzmedikation in ein Gespräch finden, ist die Tochter erschüttert davon, dass die Mutter immer noch daran glaubt, zu überleben. Wie sagt man der eigenen Mutter, dass sie sterben wird?

“Schließlich ist es der Teil eines größeren Plans, den wir beide nicht beeinflussen können: Eine Mutter zieht ihre Kinder auf, und diese wiederum geleiten sie in den Tod.”

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Die Tochter erlebt am Sterbebett ihrer Mutter ein Wechselbad der Gefühle. Sie klammert sich an sie, in dem Wunsch sie nicht verlieren zu müssen. Hofft darauf, dass ihnen beiden noch mehr gemeinsame Tage geschenkt werden. Gleichzeitig wünscht sie sich eine Erlösung für ihre Mutter herbei, ein nahes Ende dieses schmerzhaften Prozesses. Ein Wunsch, an dem man beinahe ersticken kann, so schrecklich fühlt es sich an, der eigenen Mutter den Tod zu wünschen.

“Aber so einfach ist es nicht. Denn dein Tod sagt mir nichts. Wird mir nicht hinterlassen. Du wirst einfach weg sein. Mich allein lassen. Du wirst nicht mehr da sein, wenn ich mit dir reden will. Du wirst mir nicht mehr zuhören, wenn ich dich anklagen will, sodass es eine Klage allein gegen mich selber sein wird. Wenn ich weine, muss ich mich künftig selber trösten. Und wenn ich lache, wirst du es nicht hören. Wirst nicht mehr fragen nach dem Warum.”

Der Tod und das Sterben sind Bereiche, die aus unserem alltäglichen Leben gerne weggedacht werden. Vielleicht sind sie zu schmerzhaft, um ihre Anwesenheit täglich spüren zu können. Linda Benedikt ist es in ihrer kurzen Geschichte vom Sterben gelungen, Worte für etwas zu finden, über das ansonsten lieber geschwiegen wird. Sie verschweigt nichts und beschönigt keines ihrer Gefühle. Sie beschreibt ihren Schmerz und ihre Trauer, aber auch ihre Wut und die immer wieder kehrende Langeweile, die sie im Sterbezimmer ihrer Mutter empfindet. Die eigene Mutter stirbt und ja, die Tochter ist fast schon ungeduldig … irgendwie dauert ihr das alles zu lange. Es gibt weder Kitsch noch Pathos, kein Schmuckwerk. Lediglich die nackten Gefühle, die traurigen aber auch die unschönen und dreckigen Gefühle, die, die man im Nachhinein lieber verschweigt.

“Eine kurze Geschichte vom Sterben” ist eine eindrucksvolle Erzählung über Trauer in all ihren Facetten. Trauer ist etwas, das wohl jeder anders empfindet. Linda Benedikt schreibt über eine Tochter, die den Tod ihrer Mutter mit ganz viel Wut betrachtet, aber auch mit bodenloser Traurigkeit. “Eine kurze Geschichte vom Sterben” ist eine beeindruckende und lesenswerte Erzählung.

Eine lange Nacht auf Erden – Ingvar Ambjørnsen

Ingvar Ambjørnsen wurde 1956 in Tønsberg geboren und ist in Larvik aufgewachsen, seit 1985 lebt der Autor in Hamburg. Einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurde er vor allem mit der Veröffentlichung seiner “Elling”-Romanfolge. Zuletzt erschien von ihm im vergangenen Jahr der lesenswerte Roman “Den Oridongo hinauf”. “Eine lange Nacht auf Erden” ist seine neuste Veröffentlichung und wurde aus dem Norwegischen von der Übersetzerin Gabriele Haefs übersetzt.

“Eine lange Nacht auf Erden” erzählt nicht nur die Geschichte des Autors und Journalisten Claes Otto Gedde, sondern ist auch eine tragikomische Auseinandersetzung mit dem Älterwerden. Claes Otto Gedde blickt der Tatsache älter zu werden mit gemischten Gefühlen entgegen. Bei dem Gedanken daran, dass sich im Laufe der Jahre alles Bekannte verändern wird und vieles sich schneller verändert, als er dies überhaupt noch realisieren kann, ist er ein wenig wehmütig, “aber nur ein wenig”. Der ehemalige Journalist wird am Heiligen Abend gerade einmal sechzig Jahre alt und doch hat er bereits das Gefühl, dass “der Tod ihn demnächst zu sich nähme”. Den Winter vor seinem sechzigsten Geburtstag möchte er alleine in Berlin verbringen, in der Stadt, mit der er sich jahrzehntelang eng verbunden gefühlt hat. Bevor er in Berlin ankommt, besucht er noch schnell die Frankfurter Buchmesse, doch er hofft schon lange nicht mehr auf das Beste oder Zweitbeste und so soll es dann auch eintreten. Für sein Kochbuch “Die alte belgische Küche” erntet der Autor nicht einmal mehr Hohn und Spott, sondern lediglich ein erschlagendes Desinteresse. Auch auf der Frankfurter Buchmesse kann er seinem Werk, dass er sich mehr oder weniger aus dem Internet zusammen kopiert hat, kein Leben einhauchen. Der ehemalige Großjournalist reist, verbittert von seinem gesunkenen Standing im Literaturbetrieb, aus Frankfurt ab und hofft darauf, endlich in Berlin bessere Zeiten erleben zu können, denn die guten Zeiten sind schon lange vorbei. Er gehört einer Generation an, die darauf wartet, abgelöst zu werden. Einer Generation, die abtreten muss, um der nächsten Generation Platz zu machen, sich aber dennoch zwanghaft an die große Bühne klammert – während die anderen darauf warten, endlich einen Nachruf schreiben zu können.

“Nein, nichts war böse gemeint, und Claes Otto Gedde dachte, das sei ja oft das Schlimmste daran, mit all diesen anderen auf Erden anwesend zu sein, und dass es eben dauernd schiefging, auf irgendeine Weise falsch lief, selbst, wenn man den allerbesten Absichten und Taten freundlicher Menschen ausgesetzt war.”

In der Wohnung seiner verstorbenen Freundin Margot möchte der Autor überwintern, er bezeichnet seinen Aufenthalt selbst als Winterschlaf – doch in Berlin kommt alles anders als geplant. Claes Otto Gedde bleibt nicht lange alleine, sondern bekommt Gesellschaft: die mittlerweile 70 Jahre alte Prostituierte Adele Lusthoff zieht bei ihm ein und bringt das Leben dieses kauzigen Autors gehörig durcheinander …

“[…] und als der Applaus versiegt, sind das Geräusch seiner Füße und der ferne Verkehrslärm das Einzige, was zu hören ist, und er weiß nicht, wie er hier herauskommen soll, es gibt keinen Ausweg, und sie sagen nichts, sie lachen nicht, sie ermuntern ihn nicht, er tanzt ganz allein, hin und her über den schmalen Parkettstieg am Fenster, die ganze Zeit die Arme über den Kopf gehoben, mit den Wurstfingern schnippend, das ist der Eingang zu der langen Nacht auf Erden, denkt er, die lange Nacht, wie sie in Wirklichkeit aussieht, hinter Phantasien und Vorstellungen, ganz allein in aufgezwungener Gesellschaft, der letzte Zug ist abgefahren und nirgendwo wartet irgendwer auf mich.”

Ingvar Ambjørnsen legt mit “Eine lange Nacht auf Erden” einen erstaunlich heiteren und unterhaltsamen Roman vor, der jedoch auch eine nachdenkliche Note offenbart. Die Geschichte ist mit den großen Themen Alter, Gesundheit, Verfall und Tod überschrieben und mit lakonischem Tonfall und viel Humor widmet sich der Roman all diesen Facetten des Älterwerdens. Ingvar Ambjørnsen gelingt es wunderbar, dieses Gefühl einzufangen, langsam überflüssig und nutzlos zu werden – Claes Otto Gedde muss diese Erfahrung immer wieder erneut machen. Es sind die Momente, in denen er nicht erkannt wird und sein Name auf der Gästeliste nicht zu finden ist, es sind die Momente in denen er an seine gescheiterten Projekte denkt; an seine ehemaligen Ambitionen, die wie gekenterte Schiffe im offenen Meer gesunken sind.

“Eine lange Nacht auf Erden” liest sich wie eine skurrile und humoristische Komödie, dazu tragen auch die häufig liebenswert-skurrilen Figuren bei, die Ingvar Ambjørnsen mit viel Liebe zum Detail beschreibt. Hinter dieser humorvollen Oberfläche verbirgt sich jedoch eine tieftraurige Geschichte über den langsamen Verfall einer ehemals großen Persönlichkeit. Beschrieben wird dabei nicht nur der zunehmende körperliche Verfall, denn Gedde verliert mittlerweile bereits die ersten Haare und auch den ein oder anderen Zahn, sondern auch die berufliche Niederlage. Der Leser begleitet Claes Otto Gedde bei diesem Prozess, der einem Prozess der Zerstörung gleich kommt: in seinem alten Leben war Gedde ein hochdekorierter und angesehener Kriegsreporter und Nachrichtensprecher, mittlerweile veröffentlicht er als abgehalfterte Persönlichkeit halbgare Kochbücher. Was für ein Niedergang, was für eine Niederlange und wie bekannt ist uns diese Geschichte von ganz vielen Personen, die in der Öffentlichkeit stehen und nicht rechtzeitig den Weg in ein Dasein als Rentner finden? Sprachlich zeichnet sich der Roman vor allem durch einen stetigen Bewusstseinsstrom aus, durch lange Sätze, die sich manchmal über mehrere Seiten erstrecken und nur durch Kommata getrennt die Gedankenwelt von Claes Otto Gedde abbilden.

Ingvar Ambjørnsen legt mit “Eine lange Nacht auf Erden” ein höchst vergnügliches Stück über das Älterwerden vor, das neben all dem Humor, aber auch viel Tiefsinnigkeit bietet. Lakonisch, skurril und humorvoll – aber auch mit dem Potential zum Nachdenken – schreibt der norwegische Autor über die Niederlagen des Lebens, Generationenwechsel, Erinnerungen und die Vergangenheit. Ein lesenswerter Roman, der das vereint, was gute Literatur ausmacht: ein lautes Lachen und eine kleine Prise Traurigkeit. Prädikat: lesenswert!

Nie mehr Nacht – Mirko Bonné

g-Bonne-Mirco-Nie-mehr-NachtMirko Bonné wurde 1965 in Tegernsee geboren und lebt heutzutage in Hamburg. In der Öffentlichkeit bekannt wurde er nicht nur durch seine schriftstellerischen Veröffentlichungen, sondern auch durch sein Werk als Übersetzer. Bisher hat er unter anderem Texte von Sherwood Anderson, E. E. Cummings und Emily Dickinson übertragen, der Autor und Übersetzer schreibt auch selbst Gedichte, Für seine Veröffentlichungen wurde Mirko Bonné bereits mehrfach ausgezeichnet. Mit seinem aktuellen Roman “Nie mehr Nacht”, der bei Schöffling & Co. erschienen ist, steht er auf der Shortlist des Deutschen Buchpreis.

In “Nie mehr Nacht” erzählt Mirko Bonné die Geschichte von Markus Lee und seinem fünfzehnjährigen Neffen Jesse. Beide werden verbunden durch den Verlust eines geliebten Menschen: Ira. Sie hat sich das Leben genommen. In ihrem Auto, in der Garage vor ihrem Haus. Ira war die Schwester von Markus und die Mutter von Jesse. Was Onkel und Neffe nun zusammenhält sind die Erinnerungen an eine geliebte Bezugsperson und ein Verlust, der sich nur schwer in Worte fassen lässt. In den Herbstferien reisen beide gemeinsam in die Normandie: Markus soll im Auftrag eines Kunstmagazins Brücken zeichnen, die bei der Landung der Alliierten im Sommer 1944 eine entscheidende Rolle gespielt haben. Jesse kommt mit, da die Familie seines besten Freundes in der Nähe ein verlassenes Strandhotel hütet. Die Reise ist geprägt von dem, was geschehen ist, Iras Selbstmord liegt einem Schatten gleich über Markus und Jesse, deren gemeinsame Zeit vor allem durch eine tiefgreifende Sprachlosigkeit geprägt ist. Wie soll man auch über einen so schweren Verlust sprechen? Wie kann man sich in seiner Trauer verständlich machen und mitteilen?

“Ich glaubte keinen Augenblick lang, je über Iras Tod hinwegkommen zu können, und wollte es auch gar nicht.”

Im verlassenen Strandhotel L’Angleterre, in dem auch ein Zimmer für Markus frei steht, entsteht eine ganz besondere Atmosphäre – es ist vor allem Melancholie und Traurigkeit, entfacht von den leerstehenden Räumen und der verwunschenen Stimmung, die sich wie eine dicke Schicht um Markus legt. Ein Aufenthalt, der eigentlich eine Woche dauern soll, wird für Markus Lee zum Wendepunkt und zu einem Start in ein neues Leben. Aus den Herbstferien wird ein monatelanger Ausstieg aus dem alten Leben. Dieser Ausstieg und die gleichzeitige Abgrenzung von allem, was vorher war, ist vor allem auch eine Suche nach sich selbst und eine Suche nach Antworten. Antworten auf Fragen, die Markus Lee nach dem Tod seiner Schwester, nicht mehr loslassen: wie kann man das jahrelange Leben mit einem tiefgreifenden Geheimnis unbeschadet überstehen und wie kann man sich, wenn man alleine zurück bleibt, von diesem Geheimnis lösen, um weiterleben zu können?

Mirko Bonné umkreist in seinem Roman “Nie mehr Nacht” mehrere Themen: da ist zum einen Ira, die plötzlich aus dem Leben scheidet. Ira war immer anders. Während Markus gesellig ist und noch nie alleine gelebt hat, sucht Ira die Einsamkeit. Zehn Jahre lang reist die junge Frau durch die Welt, ohne eine Heimat finden zu können. Geprägt wurde ihr Alltag von Angst; ihr Haus bezeichnet sie als “Versteinerungszustand”. Ihre ewige Angst vor der dunklen Nacht hat Ira ausgelöscht, in dem sie in eben jene gegangen ist. Für immer. Geahnt, dass seine Schwester ihr eigenes Leben beenden könnte, hat Markus dennoch nicht. Wie schuldig kann man an dem Selbstmord eines anderen Menschen sein? Wie schuldig kann man daran sein, den Augenblick nicht erkannt zu haben?

“Wie den Augenblick, da das Blatt sich wendete, wie den Moment erkennen? War man denn in der Lage, einen Augenblick zu erkennen? Das hieße doch, sich auf den Zeitpunkt gefasst zu machen, da nichts mehr blieb, wie es eben noch war.”

Aber auch die Vergangenheit wird thematisiert: die Brücken in der Normandie stehen teilweise noch heute für das, was im Juni 1944 passiert ist, als die alliierten Streitkräfte in der Normandie gelandet sind. An den Brücken entzündeten sich die damaligen Begegnungen zwischen den Deutschen, den Kanadiern, den Briten und den Franzosen.

“Ich weiß nicht genau, wie viele es waren, aber es müssen Zigtausende gewesen sein, die ihr Leben gelassen haben, um eine dieser uralten Stahlkonstruktionen entweder halten, sprengen oder erstürmen zu können […].”

Markus Lee reist in die Normandie, um diese Brücken zu zeichnen, um etwas von ihrer Präsenz einzufangen, in dem Versuch abzubilden, was damals für ein Kampf an den Brücken getobt hat – heutzutage verbinden sie als ruhende Stahlkolosse zwei Ufer miteinander, damals ging es für die Soldaten um den Kampf um Leben und Tod. Doch als Markus die Brücken besichtigt, gelingt es ihm nicht, seine Eindrücke auch auf Papier zu bringen.

“Eine Zeichnung entstand, während ich das Gesehene in Bewegung übertrug. Was mich bewegte, ließ meine Hand den Stift übers Papier führen. Oder nichts entstand. Dann lag die Hand nur da, so regungslos auf dem Zeichenblock, wie ich im Innern fühllos blieb.”

Die Reise in die Normandie scheint für Markus,  dem Erzähler des Romans, auch eine Art Reise zu sich selbst zu sein, denn plötzlich ist er mit sich konfrontiert und mit seinem Leben. Mit seiner Einsamkeit, mit seiner Trägheit und mangelnden Zielstrebigkeit, mit dem Verlust seiner geliebte Schwester. In der Normandie kehrt Ira zurück, in Gestalt eines Fotos, das Markus in einem Geschäft in der Innenstadt sieht und auf dem er glaubt, seine tote Schwester zu erkennen. Sein ganzes Denken kreist um die Frage, warum Ira ein Doppelleben in Frankreich hätte führen sollen – doch ist das wirklich Ira oder nur ein Hirngespinst und der Wunsch, nicht ohne sie weiterleben zu müssen. Es ist die falsche Ira, die Markus wieder zurückholt unter die Lebenden. Mirko Bonné zeichnet den Weg von Markus in aller Konsequenz zu Ende; er lässt ihn zum Aussteiger werden, der sich aus seinem alten Leben verabschiedet und mit dem Nötigsten und auf sich selbst zurückgeworfen in einem leerstehenden Hotel zurückbleibt.

“Jede Zeichnung erzählt eine komplizierte Geschichte, in dem sie extrem vereinfacht, dachte ich. Aber die Vereinfachung ist nur ein Durchgangsstadium. Sie muss viel weiter gehen, immer weiter. Nicht nur was und wie ich zeichne, auch ich selber muss immer einfacher werden. Zeichne auf immer weniger Blättern immer weniger Linien. Werde unscheinbarer, Strich für Strich. Ja genau: Zeichne dich ins Verschwinden hinein!”

Das Thema des Romans, das über allen anderen schwebt – unsichtbar und doch zum Greifen nah – wird immer wieder angedeutet, es gibt zahlreiche Hinweise und Anspielungen. Am Ende wird es noch einmal deutlich ausgesprochen. Diese Enthüllung gleicht einem fulminanten Paukenschlag, einem Paukenschlag, der für mein Empfinden nicht nötig gewesen wäre, da er den Roman auf die Enthüllung reduziert und ihm damit ein Stück weit seiner Ernsthaftigkeit beraubt.

Mirko Bonné hat mit “Nie mehr Nacht” einen wunderbar poetischen und tief melancholischen Roman geschrieben, der eine Vielzahl an Themenkomplexe umkreist,  die mich auch nach dem Ende des Romans lange nicht loslassen wollten. “Nie mehr Nacht” ist ein Roman über Einsamkeit, Trauer und Schuldgefühle und über den Wunsch, noch einmal neu anfangen zu dürfen.

Tonio. Ein Requiemroman – A. F. Th. van der Heijden

A. F. Th. van der Heijden – oder auch ausgeschrieben: Adrianus Franciscus Theodorus van der Heijden – wurde am 15. Oktober 1951 geboren und lebt als Schriftsteller in Amsterdam. Bekannt wurde er mit seinem mehrbändigen Werk “Die zahnlose Zeit”, das vielfach ausgezeichnet wurde. Im Moment arbeitet er an einem weiteren Romanzyklus, dessen zweiter Band “Das Scherbengericht” 2010 im Suhrkamp Verlag erschienen ist.

“Wenn ich mein Kind verlöre, könnte ich dann weiterleben, oder würde ich den Schmerz verkürzen, indem ich mich möglichst schnell umbrachte?”

Es ist der Pfingstsonntag des Jahres 2010, im Rückblick bezeichnet A. F. Th. van der Heijden diesen Tag als Schwarzen Pfingstsonntag. An diesem 23. Mai verlieren er und seine Frau Mirjam Rotenstreich ihr einziges Kind. Ihr gemeinsamer Sohn Tonio stirbt in den Morgenstunden, er wird auf seinem Fahrrad von einem Auto erfasst. Der gerade einmal 21 Jahre alte Student wird ins Krankenhaus gebracht und notoperiert, doch noch am selben Tag müssen die behandelnden Ärzte vor den verheerenden Verletzungen kapitulieren. Den erschütterten Eltern, die seit dem frühen Morgen im Krankenhaus ausharrten, kann nur noch der Tod mitgeteilt werden.

“Als Mirjam und ich ihn das letzte Mal sahen, ragten zwei Drainageröhrchen aus seiner Stirn, ein kurzes und ein etwas längeres, wie Hörner.”

A. F. Th. van der Heijden schreibt den Requiemroman für seinen Sohn in den Monaten nach dessen Tod, in den dunkelsten Momenten der Trauer und Verzweiflung, die er gemeinsam mit seiner Frau erlebt. Er berichtet von dem Morgen am 23. Mai 2010 – es ist die schrillende Türglocke, die das Leben von ihm und seiner Frau für immer verändern sollte: zwei Polizisten überbringen die Nachricht, dass Tonio in kritischem Zustand in ein Krankenhaus eingeliefert wurde. Wenige Stunden später ist der geliebte Sohn tot. Die Eltern dürfen sich noch verabschieden, danach stellen die Krankenschwestern die Geräte ab.

“Entsetzen. Es gab kein anderes Wort dafür. […] Mein Entsetzen war ein stilles, kaltes Entsetzen. Blut, Tränen, sonstige Körperflüssigkeit – alles schien, der Oberfläche entzogen, in mein erkaltetes Inneres gelenk zu werden, um dort zu gefrieren.”

A. F. Th. van der Heijden schreibt aber auch über die Vergangenheit, die sich immer wieder in die Gegenwart hinein Bahn bricht: er schreibt über Tonios Kindheit, über die Klippen, die er in seiner Ehe mit seiner Frau überwinden musste und er schreibt über die letzten Tage und Wochen, in denen er Tonio erlebt hat. Herauszufinden, wie er seine letzten Stunden verbracht hat wird für den Vater zu einer Obsession: er lädt Freunde von Tonio ein, befragt Ärzte und Polizisten – nach einigen Wochen des Verdrängens möchte der Vater nun plötzlich alles wissen. Das Unfassbare greifbar machen, in dem man es zu verstehen lern;, bis in das kleinste Detail hinein. Es ist der Drang des Verstehenwollens, der dem Autor zwar keine Heilung ermöglicht (doch inwieweit ist es überhaupt möglich von dem Verlust des eigenen Kindes geheilt zu werden?), der ihm aber Halt gibt und einen Weg aus der Trauer heraus aufzeigt.

Als Tonio starb, war er gerade einmal 21 Jahre alt und hatte eine schwierige Phase hinter sich. Nach einem abgebrochenen Studium, befand er sich gerade auf der Suche nach einem neuen Weg, kurz vor seinem Unfall hatte er endlich das Gefühl, diesen gefunden zu haben. Es ist ein Zufall, der ihn und seine Eltern eine Woche vor seinem Tod gemeinsam zu Abend essen lassen – doch an diesem Abend bekommen die Eltern endlich den Eindruck, ihr Sohn sei glücklich und auf einem guten Weg, zufrieden mit seinem neu aufgenommenen Studium. Er wird um halb fünf am frühen Morgen auf seinem Fahrrad angefahren, als er auf dem Rückweg aus einer Diskothek ist. Er ist ohne Licht unterwegs und er ist angetrunken. Der Autofahrer ist zu schnell, aber Tonio hätte nie dort sein dürfen, wo sein Fahrrad auf das Auto trifft.

“Mein Leben ist vorbei und dient nur noch als Hülle für sein amputiertes Dasein.”

Besonders eindrücklich gelingt es dem Autor, die Atmosphäre der Morgenstunden des Tages zu beschreiben, an dem Tonio sterben sollte. A. F. Th. van der Heijden liegt noch im Bett, es ist ein frühsommerlicher Tag, er empfindet Zufriedenheit und Wohlbehagen und freut sich darauf, mit seiner Frau zu frühstücken. Die Nachricht der Polizisten, dass ihr Sohn Tonio sich in kritischem Zustand befindet, bricht über die Eltern ohne Vorankündigung und Warnung hinein und zieht ihnen den Boden unter den Füßen weg. Die Minuten und Stunden nach dem sie von Tonios Unfall erfahren, verbringen beide in einem Zustand des Schocks, in “etwas Wirbelndem”, das einem “schwarzen Loch” gleicht. Beide bekommen Medikamente, um den Schmerz ertragen zu können – beide sind zu erschöpft und zu betäubt, um sich einander Trost seien zu können. Der Tag nach Tonios Unfall war eigentlich als Tag Null gedacht, als der Tag, an dem A. F. Th. van der Heijden  mit seinem neuen Romanprojekt beginnen wollte – 100 Tage hatte er sich Zeit genommen, um daran zu arbeiten. Doch an Schreiben ist nach Tonios Tod nicht mehr zu denken, so lange, bis A. F. Th. van der Heijden damit beginnt, über Tonio zu schreiben.

“Wir können uns zwar weiterhin einreden, wir könnten sein Leben bis zum 23. Mai 2010 in der Erinnerung behüten, aber es ist nicht mehr das Leben, das wir aus der Nähe gekannt haben. […] Keine Erinnerung ist mehr ungetrübt und unbefangen. Das Gedächtnis erstickt im Schatten von Tonios frühem Ende, und die darin gespeicherten Bilder werden in Form und Helligkeit beeinträchtigt.”

“Tonio” ist ein berührender und schwer auszuhaltender Requiemroman, der geprägt wird von den Erinnerungen an den Sohn, aber auch von den widerstreitenden Gefühlen, die der Vater nach dessen Tod empfindet. “Die Welt ist aus dem Lot” – und der Autor kämpft nach diesem unwiderruflichen Verlust mit ganz unterschiedlichen Emotionen, die ihn zu überschwemmen scheinen: da ist die Wut, auf sich selbst, aber auch auf den Autofahrer und auf Tonio. Da ist Fassungslosigkeit über das, was geschehen ist. Da ist das Gefühl, einen Verrat begangen zu haben, weil man als Vater nicht bei seinem Sohn gewesen ist. Da ist Scham über den Verlust des Sohnes, aber auch darüber, den Verlust nicht verhindert zu haben.

Zu Beginn des Jahres habe ich David Grossmans Roman “Aus der Zeit fallen” gelesen, in dem er den Verlust seines Sohnes in einer fiktiven Erzählung aufarbeitet. Grossman benötigt nur ganz wenige Seiten, um die Fassungslosigkeit von Eltern in Worte zu kleiden, die ihr eigenes Kind verlieren. A. F. Th. van der Heijden braucht sehr viel mehr Worte, knappe 700 Seiten umfasst der Roman – 700 Seiten auf denen der Autor den Verlust seines Sohnes in immer engeren Zirkeln umkreist. “Tonio” ist ein Wagnis, ein literarisches Experiment – 700 Seiten über den Verlust eines Kindes, kann das gelingen? Ja, in diesem Fall gelingt es. “Tonio” liest sich wie ein Bericht von innen heraus, denn er wurde geschrieben in einer Situation der Trauer und der Fassungslosigkeit, er entstand aus Momenten des Entsetzens und des Nichtbegreifenwollens. Schreiben ist für den Autor ein Kampf, ein Kampf mit der Erinnerung und ein Kampf mit sich selbst. Er kämpft darum, schreiben zu können, denn er ist nicht in der Lage zu weinen – wohin dann mit seinen Gefühlen?

“Tonio” ist ein Produkt des Trauerprozesses, den A. F. Th. van der Heijden nach dem Verlust seines Sohnes durchschreiten musste. Dadurch ist dieses Buch zuvorderst natürlich ein ganz persönliches Zeugnis, doch dem Autor gelingt es, seine Gefühle in eine so berührende Sprache zu kleiden, dass auch der unbeteiligte Leser angesprochen wird. A. F. Th. van der Heijden führt einem durch seine schonungslose Auseinandersetzung mit dem Tod seines Sohnes vor Augen, wie vergänglich das Leben ist und wie schnell es vorbei sein kann. Zurück bleiben die trauernden Eltern und ein Leben, das viel zu früh zerstört worden ist.

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