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Autobiographie

Not that kind of girl: Was ich im Leben so gelernt habe – Lena Dunham

Lena Dunham legt mit Not that kind of girl ein seltsames Buch vor. Es ist ein buntes Sammelsurium, das aus Essays, Anekdoten, E-Mails und langen Listen besteht. Doch diesen Versatzstücken, die mal unterhaltsam und mal traurig sind, fehlt auf den ersten Blick der Kleber, der alles zusammenhält. Sie präsentieren sich als bröselige Bruchstücke, denen alles fehlt, was eine gute Geschichte ausmacht. Das Buch konnte ich trotzdem nicht aus der Hand legen …

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Ich glaube, dass ich einer der wenigen Menschen bin, die Lena Dunham nicht gekannt haben – erst im Nachhinein habe ich erfahren, dass sie mit der Fernsehserie Girls berühmt geworden ist. Sie hat die Serie nicht nur geschrieben und produziert, sondern sie hat auch Regie geführt und spielt darin die Hauptrolle. Vor zwei Jahren wurde sie auf die Liste der 100 einflussreichsten Menschen der Welt gewählt und vom Time Magazine zur Coolest Person of the Year gekürt. All das mit gerade einmal achtundzwanzig Jahren.

Not that kind of girl erinnert in der Hinsicht an die Fernsehserie Girls, dass auch hier alles um Lena Dunham kreist – wenn man sich auf einen Themenschwerpunkt festlegen wollen würde, dann wäre es wohl Lena Dunham, in allen Facetten. Sicherlich ist das bei einem autobiographischen Erinnerungsbuch (das wahrscheinlich aber auch fiktional angehaucht ist) nicht ungewöhnlich, doch wie sehr die Autorin um sich und ihr Leben kreist, ist mitunter dann doch ein wenig verstörend: es geht (natürlich) um Liebe und Sex, um die schönen und ekligen Seiten des eigenen Körpers, um Freundschaften, die Arbeit und zwischendurch auch mal um das große Ganze (Ängste, Krankheiten, das Sterben). Es ist eine bunte Mischung, der jede Verbindung fehlt, der Anfang und Ende fehlt, ganz zu schweigen von so etwas wie einem Erzählfaden: Lena Dunham ist mal vier, mal neunzehn, mal neun, mal elf Jahre alt. Beim Lesen hatte ich zwischendurch das Gefühl, dem Redeschwall eines hyperaktiven Kindes zuzuhören. ADHS in Papierform.

Man sieht mir das alles nicht an, wenn ich auf Partys gehe. Unter Leuten bin ich gnadenlos komisch, aufgetakelt in Second-Hand-Kleidern, mit aufgeklebten Fingernägeln, im ewigen Kampf gegen die Müdigkeit von 350mg Tabletten, die ich abends nehme. Ich tanze am wildesten, lache am lautesten über meine eigenen Witze und rede von meiner Vagina wie andere über ihr Auto oder ihre Kommode.

Doch trotz allem: einmal angefangen konnte ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen, ich habe es an einem Sonntagnachmittag in einem Rutsch gelesen und habe alles andere darüber vergessen. Es ist leicht Not that kind of girl nicht zu mögen, es ist dagegen sehr viel schwieriger herauszufinden, warum man dieses seltsame Buch mögen könnte. Wenn man von Not that kind of girl all die selbstbezogene Geschwätzigkeit abkratzt, bleibt darunter nicht viel übrig, doch das, was übrig bleibt, hat mich fasziniert: Lena Dunham ist für ihr junges Alter eine wahnsinnig erfolgreiche Frau, doch dieser Erfolg hat sie in ihrem Inneren kein bisschen selbstsicherer, glücklicher oder zufriedener gemacht. Diesem Erfolg gingen sogar zahlreiche Fehler voraus, viele dunkle Momente und Stunden, ganz viel Unsicherheit und Unzufriedenheit.

[…] ich will meine Geschichten erzählen, mehr noch, ich muss es tun, um nicht wahnsinnig zu werden: Geschichten darüber, wie es ist, morgens in meinem erwachsenen Frauenkörper aufzuwachen, voller Angst und Ekel. Wie es sich anfühlt, bei einem Praktikum den Arsch getätschelt zu bekommen, mich in Meetings vor lauter fünfzigjährigen Männern beweisen zu müssen und zu einer Abendveranstaltung mit der schlimmsten Rotznase zu gehen, die die Welt je gesehen hat.”

Wir lernen in Not that kind of girl ein neurotisches Mädchen kennen, das sich selbst bemitleidet. Ein Mädchen, das kaum Freunde hat, sich hässlich fühlt und mit Jungs schläft, um Aufmerksamkeit zu bekommen und dazuzugehören. Ohne Scham erzählt Lena Dunham von ihren Versuchen, nicht nur Gewicht zu verlieren (Versuche, die häufig in Fressattacken enden), sondern auch ihre Jungfräulichkeit. Sie erzählt von der Abneigung, die sie empfunden hat, als ihre jüngere Schwester geboren wurde. Sie erzählt wenig von ihrem heutigen Erfolg, im Zentrum stehen vielmehr die Ängste, die sie überwinden musste, um überhaupt das Selbstbewusstsein dafür zu haben, kreativ zu sein und erfolgreich zu werden. Und trotz des Erfolgs ist dieses Selbstbewusstsein auch heute noch fragil und leicht angreifbar. Viele ihrer Geschichten sind natürlich auch unterhaltsam und mitunter hochkomisch, doch die Anekdoten und Essays von Lena Dunham funktionieren dort am besten, wo sie sich mit ihren Themen ernsthaft und mit großer Ehrlichkeit auseinandersetzt. An anderen Stellen hatte ich das Gefühl, mussten Lücken gefüllt werden: 13 Dinge, die man besser nicht zu seinen Freunden sagt; 10 Gründe, warum ich New York liebe; 15 Dinge, die ich von meiner Mutter gelernt habe. Diese Listen sind nicht nur banal, sondern auch von zweifelhafter literarischer Qualität.

Nein, ich bin keine Sexpertin, keine Psychologin, keine Ernährungswissenschaftlerin. Ich bin keine Mutter von drei Kindern oder die Besitzerin eines erfolgreichen Strumpfhosenimperiums. Ich bin eine junge Frau mit dem ausgeprägten Interesse zu bekommen, was mir zusteht, und was hier folgt, sind die hoffnungsvollen Nachrichten von der Front, an der ich dafür kämpfe.

Not that kind of girl ist ein schwieriges Buch, das ich keinesfalls empfehlen kann und möchte. Doch wem es gelingt, nicht nur die einzelnen Anekdoten zu sehen, sondern hinter diese Fassade zu schauen, der hat vielleicht ein ähnliches Leseerlebnis wie ich: ich habe ein keinesfalls perfektes Buch gelesen, das von einer mutigen Autorin geschrieben wurde, die ganz ohne Scham dazu einlädt, aus ihren Fehlern zu lernen und dabei vielleicht sich selbst ein Stückchen näher zu kommen – auch auf die Gefahr hin, plötzlich der eigenen Versicherung und Verletzlichkeit ebenso wie seinen Ängsten gegenüberzustehen.

Der große Trip – Cheryl Strayed

Der große Trip trägt den Untertitel Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst und in der Tat könnte man das Buch nicht besser beschreiben. Cheryl Strayed hat ihre eigene Geschichte aufgeschrieben, die sie quer durch Kalifornien geführt hat, bis hin zu der Brücke der Götter. Es ist die Geschichte einer Reise, einer Reise zu sich selbst und einer Reise zurück zu dem Menschen, der man mal gewesen ist. Eine Reise, einer jungen Frau, die von ihrer Trauer erzählt, aber auch von ihrem Weg zurück ins Leben.

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Was kann man tun, wenn man glaubt, dass das eigene Leben auseinander bricht? Cheryl Strayed ist gerade einmal sechsundzwanzig Jahre alt, als sie das Gefühl hat, alles verloren zu haben, was ihr etwas bedeutet hat. Vier Jahre zuvor stand sie kurz vor ihrem Universitätsabschluss, als bei ihrer Mutter Lungenkrebs im fortgeschrittenem Stadium diagnostiziert wird. Der Arzt gibt ihr noch ein Jahr zu leben, doch nur wenige Wochen später ist die Mutter bereits tot. Cheryl Strayed bleibt zurück mit einem Stiefvater, der sich bereits kurz danach eine neue Familie sucht und zwei Geschwistern, zu denen sie kaum Kontakt hat. In kürzester Zeit gelingt es ihr, ihr bis dahin geordnetes Leben zu zerstören, das, was zuvor heil gewesen ist, ist nun in tausend Scherben zersplittert: sie zerstört ihre Ehe, greift zu Drogen und bricht ihr Studium ab, ohne Abschluss.

Ich war allein. Ich war barfuß. Ich war sechsundzwanzig Jahre alt und ebenfalls eine Waise. Eine richtige Rumtreiberin, wie mich ein Fremder ein paar Wochen zuvor genannt hatte, als ich ihm meinen Namen nannte und erklärte, wie verlassen ich auf der Welt war. Mein Vater verschwand aus meinem Leben, als ich sechs war. Meine Mutter starb, als ich zweiunzwanzig war.

Während die Abwärtsspirale immer rasanter Fahrt aufnimmt, fällt Cheryl Strayed eines Tages bei einem Einkauf ein Reiseführer in die Hände, der die Route des Pacific Crest Trails (PCT) beschreibt – einem Wanderweg, der von der Grenze Mexikos bis nach Kanada führt, mehr als 4000 Kilometer, die hinweg über sieben Gebirgszüge führen und quer durch die Wüste, Indianerreservate und Nationalparks. Sie stellt den Reiseführer erst einmal wieder zurück ins Regal, doch da ist die ausgefallene Idee schon in ihr gereift: statt ihr Leben weiter wegzuwerfen, möchte sie diese fremde Welt erwandern: eine Welt, die gut einen halben Meter breit und 4284 Kilometer lang war. Cheryl Strayed fasst den Beschluss, ihr altes Leben in Kisten zu packen und stattdessen los zu wandern, 100 Tage lang – in der Hoffnung nicht nur bei der Brücke der Götter anzukommen, sondern auch wieder bei sich selbst.

Jeden Tag hatte ich das Gefühl, in einem tiefen Brunnen zu sitzen und nach oben zu blicken. Aber auf dem Grund dieses Brunnens machte ich mich daran, eine Solo-Wildnis-Trekkerin zu werden. Und warum auch nicht? Ich war schon so vieles gewesen. Eine liebende Frau und Ehebrecherin. Eine geliebte Tochter, die ihre Feiertage allein verbrachte. Eine ehrgeizige Streberin und ambitionierte Autorin, die sich von einem Verlegenheitsjob zum nächsten hangelte, gefährlich mit Drogen experimentierte und mit zu vielen Männern schlief.

Der große Trip, der von Reiner Pfleiderer ins Deutsche übertragen wurde, erzählt von dieser Wanderung und man kann es vielleicht an dieser Stelle schon ahnen: Cheryl Strayed ist nicht wirklich gut vorbereitet. Ihr Rucksack ist so schwer, dass sie ihn selbst kaum hochheben kann, die Schuhe sind so klein, dass sie sich wunde Füße läuft und für ihren Kocher hat sie das falsche Öl gekauft. Es gibt zahlreiche Momente, die zum Schmunzeln einladen: im Gedächtnis geblieben ist mir der Versuch von Cheryl Strayed, im Motelzimmer zum allerersten Mal ihren Rucksack aufzusetzen, den sie auf den Namen Monster getauft hat. Auch das Tagespensum, das sie sich vornimmt, stellt sich schnell als unrealistisch heraus. Cheryl Strayed ist zuvor nie gewandert und sonderlich fit ist sie auch nicht. Doch trotz mangelnder Planung und fehlender Fitness ist die Solo-Wildnis-Trekkerin unfassbar zäh, auch wenn sie zweifelt und kämpft, durch Hitze und Schnee wandert und ihr zwischendurch immer wieder das Geld ausgeht: ans Aufgeben denkt sie zwar immer mal wieder, doch sie tut es nie. Sie erwandert sich die ruhige und wunderschöne Welt des Pacific Crest Trails und sie erwandert sich diese Welt ganz auf sich allein gestellt. Auch wenn sie immer mal wieder auf andere Wanderer trifft, schließt sie sich diesen nur für kurze Zeit an. Ihr großes Ziel ist es, diesen Weg allein zu beschreiten und dabei vielleicht auch etwas für ihr eigenes Leben zu lernen, das sie fast zerstört hat.

Ich blickte nach Norden, in ihre Richtung – der bloße Gedanke an die Brücke war mir ein Ansporn. Ich blickte nach Süden, wo ich herkam, in das wilde Land, das mich vieles gelehrt und mich demütig gemacht hatte, und erwog meine Möglichkeiten. Mir war klar, dass es nur eine gab. Es gab immer nur eine. Weitergehen.

Cheryl Strayed hat aber natürlich nicht nur ein Wanderbuch geschrieben, sondern gleichzeitig auch ein Buch über sich selbst und ihre Vergangenheit. In Rückblicken erzählt sie immer wieder von Momenten der Trauer und des Schmerzes, von dem frühen Tod ihrer Mutter, von ihrem leiblichen Vater, von ihrer Kindheit, die angefüllt war mit Liebe, aber auch mit viel Verwirrung und Einsamkeit. Ich habe einen Moment gebraucht, bis mir diese Frau, die Kondome in den Wanderrucksack packt, um auf dem Weg vielleicht den einen oder anderen Mann abzuschleppen, sympathisch geworden ist, doch irgendwann konnte ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen: ich habe mitgelitten, mitgefiebert.

Der große Trip hat sicherlich keinen hohen literarischen Anspruch, den braucht dieses Buch aber auch nicht. Es ist auch kein Buch für Menschen, die wirklich am Wandern interessiert sind, denn die Autorin macht fast alles falsch, was man falsch machen kann. Mich hat Der große Trip aufgrund der Lebensgeschichte von Cheryl Strayed fasziniert: auch wenn ich immer wieder schmunzeln musste über ihre Unbedarftheit, hat sie mich doch beeindruckt mit ihrem Durchhaltewillen. Als sie die ersten Schritte auf dem Pacific Crest Trail geht, ist Cheryl Strayed am Boden, doch sie findet auf ihrem Weg nicht nur zur Brücke der Götter, sondern auch zu den Wurzeln ihrer Probleme und zu sich selbst. Der große Trip ist ein Buch, das mich nicht nur unterhalten sondern auch begeistert hat, das mich mutig und nachdenklich gemacht hat. Darüber hinaus ist es ein Buch, das eine ganz andere Art und Weise aufzeigt, wie man mit tiefer Trauer umgehen kann.

Das Buch meiner Leben – Aleksander Hemon

Aleksander Hemon wurde 1964 in Sarajewo geboren, seit Ausbruch des Bosnienkriegs lebt er in Chicago. In Deutschland wurde er vor allem durch seinen Roman “Lazarus” bekannt, der mehrfach auf der SWR- und ORF-Bestenliste stand. “Das Buch meiner Leben” ist seine neuste Veröffentlichung und erschien im vergangenen Jahr im Knaus Verlag. Matthias Fienbork war für die Übersetzung verantwortlich.

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“Der Krieg war gekommen, und nun warteten wir darauf, wer überleben, wer töten und wer sterben würde.”

Aleksander Hemon ist Schriftsteller, Immigrant und Vater. Er ist Vater einer Tochter, die lebt und Vater einer Tochter, die verstorben ist. Der Gedanke, dass dieser Mann nicht nur ein Leben lebt, sondern mehrere, ist nicht abwegig, deshalb ist die Wahl des Titels – “Das Buch meiner Leben” – beinahe zwangsläufig. Aleksander Hemon erzählt in diesem Buch seine eigene Geschichte. Es ist eine Geschichte, die 1964 in Sarajewo beginnt, wo er gemeinsam mit seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester aufwächst. 28 Jahre später, im Jahr 1992, immigriert er in die USA. Ein kultureller Austausch führt ihn nach Chicago. Der Krieg hat ihn aus seiner geliebten Heimat vertrieben. 1993 folgen seine Eltern, seine Schwester und der Familienhund Mek – sie treffen als Flüchtlinge in Hamilton (Ontario) ein.

“Einwanderung führt zu einer Art Selbstverleugnung. In der Emigration bildet sich ein kompliziertes Verhältnis zur Vergangenheit heraus, zu dem Ich, das früher an einem anderen Ort lebte, wo die Eigenschaften, die uns ausmachten, nicht zur Disposition standen.”

Die Immigration spaltet das Leben von Aleksander Hemon in ein Vorher und Nachher. Nüchtern, aber erfrischend ehrlich und immer wieder humorvoll, zieht Aleksander Hemon Bilanz. Er erinnert sich zurück an sein Leben in Sarajewo, das zunehmend vom Bosnienkrieg überschattet wurde. Er erinnert sich an Momente, in denen er um das Leben seiner Freunde fürchtet, an Momente, in denen er um das Leben seines geliebten Hundes fürchtet. Er erinnert sich aber auch an eine natürliche Bindung, die zwischen ihm und seinem Heimatland bestand. In dem Leben, das er in Bosnien geführt hat, hat er sich wohl gefühlt – in einer abgelegenen Hütte verbringt er mit Mek häufig seine Wochenenden, liest manchmal zehn Stunden am Stück. Doch irgendwann lassen die Bomben sich nicht mehr überhören.

“Nach den Erfahrungen meiner Schwester bin ich oft geneigt, auf die Frage ‘Was sind Sie’ stolz zu antworten: ‘Schriftsteller.’ Aber das passiert selten, denn es ist nicht nur prätentiös, sondern auch ungenau – als Schriftsteller empfinde ich mich nur, wenn ich schreibe. Ich sage also, ich sei kompliziert. Ich würde auch gern hinzufügen, dass ich im Grunde genommen ein Wirrwarr unbeantwortbarer Fragen bin, ein Haufen anderer.”

Als Immigrant in Amerika beginnt für ihn ein ganz neuer Lebensabschnitt: der Verlust der Heimat und der Sprache ist einschneidend. Den harten Akzent legt er nur langsam ab. Aleksander Hemon blickt zurück auf seine ersten Wochen in Amerika und darauf, wie es ihm gelungen ist, sich diese neue Welt zu erschließen. Mit dem Sprechen von Englisch tut er sich lange schwer, doch bereits früh beginnt er damit, Englisch als seine Schreibsprache zu nutzen. Es entstehen erste schriftstellerische Texte.

“Zehn Stunden am Stück zu lesen hatte immer einen besonderen Effekt: Es versetzte mich in eine Art Trance, in der ich durchschnittlich vierhundert Seiten pro Tag schaffte. Das Buch verwandelte sich in einen großen Raum, in dem ich mich bewegte, selbst beim Essen, beim Wandern, beim Schlafen – ich bewohnte ihn. In der Woche, die ich für Krieg und Frieden brauchte, träumte ich regelmäßig von Bolkonski und Natascha.”

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Im Juli 2010 ist Aleksander Hemon nicht mehr nur der bosnische Immigrant, sondern ein international erfolgreicher Schriftsteller. Seine beiden Leben hat er so gut er konnte in Einklang bringen können, um eine Identität hat er lange gerungen, doch durch das Schreiben ist es ihm gelungen, ihr nahe zu kommen. Zu Hause warten auf ihn seit einiger Zeit seine neue amerikanische Frau Teri und die beiden Töchter Isabel und Ella. Doch in diesem Moment des größten Glücks und innerer Zufriedenheit muss er die Erfahrung machen, dass sein neues Leben genauso brüchig ist, wie das alte. Glück ist nie fest, es kann einem so durch die Finger rinnen: Isabel erkrankt mit neun Monaten an einem aggressiven Hirntumor. Der Moment der Diagnose ist ein Moment, der das Leben von Aleksander Hemon erneut in ein Vorher und ein Nachher teilt. Er fühlt sich, als wäre er unter Wasser geraten, als würde er in einem Aquarium leben.

“Ich konnte nach draußen sehen, die Leute draußen konnten mich sehen (sofern sie überhaupt Notiz von mir nahmen), aber wir lebten und atmeten in zwei völlig separaten Welten. Isabels Krankheit und unsere Erfahrungen hatten nichts mit den anderen Leuten zu tun, betrafen sie nicht.”

Aleksander Hemon gelingt mit “Das Buch meiner Leben” eine unprätentiöse und lesenswerte Erzählung seines eigenen Lebens, die gespickt ist mit viel Humor (“Unsere Familie war keine demokratische Veranstaltung.”), aber auch mit tieferen Gedanken über den verheerenden Krieg in Bosnien und der Situation des Flüchtlings in Amerika. Er wirft Fragen zur Immigration und Identitätsbildung auf. Darüber hinaus reflektiert Aleksander Hemon die Bedeutung des Schreibens und den Tod seiner eigenen Tochter. Das Sterben eines eigenen Kindes muss wohl immer ein kaum beschreibbarer Moment sein, der das Leben in zwei Hälften teilt: in ein glückliches Vorher und ein bedeutungsleeres Nachher. Es sind wohl diese Passagen, die sich mit dem Sterben seiner kleinen Tochter beschäftigen, die mich am stärksten berührt haben.

“[…] wie tritt man aus solch einem Moment? Wie lässt man sein totes Kind da und kehrt zurück in den leeren Alltag dessen, was man als sein Leben bezeichnen könnte?”

In “Das Buch meiner Leben” setzt sich Aleksander Hemon lesenswert und sehr berührend mit den Momenten des Lebens auseinander, die das, was man Leben nennt, in ein Vorher und Nachher unterteilen. Wie geht man mit einschneidenden Veränderungen um, die sich nicht mehr umkehren lasen? “Das Buch meiner Leben” ist ein intensives Zeugnis über die Leben, die Aleksander Hemon lebt und die Kraft des Erzählens, des Schreibens und die Macht der Worte.

Ich weiß, ich war’s – Christoph Schlingensief

Christoph Schlingensief wurde 1960 in Oberhausen geboren und hat als Film-, Theater- und Opernregisseur gearbeitet. 2008 wurde bei Christoph Schlingensief Lungenkrebs diagnostiziert und er thematisierte seine Krebserkrankung in dem Tagebuch “So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein”. In diesem Buch gelingt es Schlingensief auf beeindruckende Art und Weise, der Sprachlosigkeit, die einer Krebsdiagnose folgt, wieder eine Sprache zu geben; die Ohnmacht in Worte zu kleiden. “So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein” ist ein beeindruckendes und gleichzeitig auch ein schrecklich schwer auszuhaltendes und vor allem auch ein erschütterndes Buch, das dennoch sehr viel Mut machen kann. In den folgenden zwei Jahren, bis zu seinem Tod am 21. August 2010, arbeitete Schlingensief überwiegend an der Realisierung seiner Idee für ein “Operndorf Afrika”, bei dessen Grundsteinlegung im Februar 2010 in Burkina Faso er noch dabei sein konnte.

Christoph Schlingensief war ein vielseitiger und auch streitbarer, kontroverser Künstler, der sich immer wieder selbst ausprobiert hat. “Ich weiß, ich war’s” hat im Gegensatz zu “So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein” keine klare Struktur oder Chronologie. Es ist zusammengesetzt aus Notizen, Aufzeichnungen, E-Mails oder auch Interviewausschnitten, die von Christoph Schlingensief zwischen den Jahren 2009 und 2010 gesammelt wurden und für eine Veröffentlichung vorgesehen waren. Ursprünglich hatte Christoph Schlingensief vor, eine Autobiographie zu veröffentlichen, dazu ist es leider nicht mehr gekommen. Christoph Schlingensiefs langjährige Lebensgefährtin und Frau Aino Laberenz hat seine Notizen geordnet, zusammengestellt und herausgegeben und ihrem Mann damit ein würdiges und eindrucksvolles Denkmal gesetzt.

Vorweg ein Wort zum Cover: Die Figur des Hasen, die sich auch auf dem Buchcover wiederfindet, hat in Schlingensiefs Produktionen immer wieder eine wichtige Rolle gespielt.

“Wo man auch hinkommt, spielt der Hase in Mythen und Geschichten eine wichtige Rolle. Es gibt ihn in Asien als Hase im Mond, es gibt ihn bei Fibonacci, diesem mittelalterlichen Mathematiker, der mit einer Zahlenreihe das Wachstum einer Hasenpopulation beschrieb, es gibt ihn bei Beuys. Und es gibt ihn in Afrika […].”

In dem Vorwort, das dem Buch vorangestellt ist, beschreibt Aino Laberenz die Entstehung von “Ich weiß, ich war’s”. Bereits kurz nach der Veröffentlichung von “So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein” hat Christoph Schlingensief wieder damit begonnen, seine “Gedanken, Erinnerungen und Erlebnisse” auf Tonband festzuhalten.

“Christophs Absicht war es nicht, Resümee zu ziehen oder schleichend Abschied zu nehmen. Er wollte sich ins Leben zurückkatapultieren, sich erinnern, um zu vergessen – und um wieder anzufangen.”

“Ich weiß, ich war’s” – der Titel spielt darauf an, dass Chrisoph Schlingensief immer die volle Haftbarkeit […] in seiner Arbeit und in seinem Leben von sich verlangte” – ist vieles: Biographie, Werkschau, Rückblick und auch ein Blick in die Zukunft von einem Menschen, der lange glaubte noch eine Zukunft zu haben. Aino Laberenz fasst an einer Stelle in ihrem Vorwort die Themen des Buches so wundervoll zusammen, dass mir eigentlich nichts anderes zu sagen übrig bleibt:   

“Er erzählte von Kindheit und Kinomanie, von Kunst in Berlin und Containern in Wien, schlug Bögen vom Wohnzimmer seiner Eltern zum Bayreuther Festspielhaus, von der Faszination für Kameratechnik zur Vorliebe für die Drehbühne, von ersten Filmversuchen in Oberhausen zum Operndorf in Burkina Faso – ein unerschöpfliches Geflecht aus Lebenslinien, Zufällen und logischen Konsequenzen.”

Den besonderen Ton von Christoph Schlingensief, der sein Krebstagebuch so intensiv und lesenswert macht, findet man auch in “Ich weiß, ich war’s” von Beginn an wieder. Schlingensief beginnt am 31. Juli 2009 wieder damit in “seine Maschine” zu sprechen.

“Es wächst immer mehr diese komische Angst, dass doch alles nur eine zeitlich begrenzte Angelegenheit ist, und zwar nicht eine von zwanzig Jahren oder dreißig Jahren, sondern eine Zeitbegrenzung, die mir einfach nur Kummer bereitet. Weil ich denke, es könnte auch sein, dass man schon nächstes Jahr weg ist. Also dass ICH schon nächstes Jahr weg bin.”

Diese Worte lösen Gänsehaut bei mir aus, vielleicht auch gerade deshalb, weil Christoph Schlingensief tragischerweise Recht behalten sollte: etwas mehr als ein Jahr später ist er verstorben.

“Oft heule ich schon beim Aufwachen. Ich kann nicht so einfach Abschied nehmen, will es auch nicht. Auch wenn ich das Gefühl nicht loswerde, dass es doch so sein wird. Irgendwann sowieso, aber im Moment zersprengt es alles.” 

Auf den folgenden Seiten erzählt Christoph Schlingensief mitreißend über seine unterschiedlichen Kunstprojekte. Da ich zum Zeitpunkt von vielen seiner Aktionen noch relativ jung gewesen bin, waren seine Schilderungen neu für mich: er schreibt über die Partei, die er gegründet hat, und seine Idee das Ferienhaus von Helmut Kohl zu fluten, die grandios gescheitert ist. Er berichtet über eine Kunstaktion mit einem Container in der berühmtesten Einkaufmeile Wiens, mit der er auf die unhaltbaren politischen Zustände in Österreich aufmerksam machen wollte und er schreibt über seine vielfältigen Tätigkeiten in der Film-, Theater- und Opernwelt.  Bewundernswert finde ich an seinen Aufzeichnungen, dass Schlingensief immer wieder bereitwillig auch Fehler eingesteht und sich und seine Aktionen im Rückblick selbstkritisch hinterfragt.

“Ich habe also den Hintergedanken, dass es ein zweites Buch gibt. Weil ich glaube, dass es kein gutes Ende nimmt. Und wenn, dann kann ich mich nicht damit begnügen, eine kleine Fahrstrecke beschrieben zu haben. sondern dann, finde ich, ist es auch richtig zu sagen: Ich bin irgendwann im Eis stecken geblieben, ich bin nicht zum Nordpol gekommen, ich habe nicht den Mond erreicht, ich habe meine politischen Ansichten nicht durchsetzen können, ich habe auch keine Massenbewegung erzeugt, ich habe keine Kunst kreiert, die sich durchsetzen wird.” 

Was alle Projekte von Schlingensief gemeinsam haben, ist die Tatsache, dass er sie immer mit ganzem Herzen und vollem Einsatz betrieben hat. Am Ende des Buches beschreibt Schlingensief sein wohl wichtigstes Projekt, dass zum Zeitpunkt seines Todes noch im Entstehen gewesen ist: das “Operndorf Afrika” in Burkina Faso. Dieses Projekt, verbunden mit seinem Engagement für die Bevölkerung in Burkina Faso, hilft Christoph Schlingensief dabei leichter Abschied nehmen zu können.

“Ich weiß, ich war’s” ist ein intensives Zeugnis eines beeindruckenden Künstlers. Eines Künstlers mit vielen Gesichtern: bitterböse, harmoniesüchtig, ängstlich und doch immer auch hoffnungsfroh. “Ich weiß, ich war’s” ist gleichzeitig auch ein unheimlich beklemmendes Leseerlebnis: anders als in Schlingensiefs Krebstagebuch überwiegt hier an vielen Stellen die Hoffnung, der Lebenswille, alles in Christoph Schlingensief ist auf die Zukunft ausgerichtet, an die er bis zuletzt geglaubt hat. Passenderweise endet “Ich weiß, ich war’s” mit einem Drehbuchentwurf, den Schlingensief kurz vor seinem Tod schrieb.

Mich hat “Ich weiß, ich war’s” sehr beeindruckt zurückgelassen. Nach der Lektüre habe ich mich durchlässig gefühlt. Der Fluss der Worte, die diese ganze besondere literarische Stimme von Christoph Schlingensief in mir erzeugt haben, hat mich sehr berührt. Es ist eine interessante, aber keine leichte Lektüre. Man muss vieles aushalten können und doch ist es ein Buch, das ich nur weiterempfehlen kann.

Meine Rezension abschließen möchte ich mit einigen Worten von Christoph Schlingensief, die sich relativ am Ende des Buches finden:

“Das Geschäft läuft gut und Krebs zieht. Das habe ich gemerkt. Ich habe aber auch gemerkt, dass ich keinen Bock mehr habe auf die Nummer, dass die Leute sagen, ah ja, der hat Krebs und jetzt sehe ich erst mal, was der da macht, jetzt sehe ich das mit ganz anderen Augen, der Junge ist viel sensibler, als ich dachte, und hör mal, was der mit der Musik macht, der fühlt jetzt plötzlich auch mehr und der ist ja sowieso bald weg. Alle sind jetzt so zärtlich zu mir und dann kann ich nur sagen: Wer mich heute Abend noch mal umarmt, dem schlag ich in die Fresse! Dem schlag ich wirklich in die Fresse! Das geht so nicht weiter. Bloß weil man Krebs hat. Ich habe immer das Gleiche gemacht. Ich habe mein Leben lang das Gleiche gemacht, ich habe mich noch nie verändert in meinem Leben.”

Blaue Stunden – Joan Didion

didio-blaue-stunden“In manchen Breitengraden gibt es vor der Sommersonnenwende und danach eine Zeitspanne, nur wenige Wochen, in der die Dämmerungen lang und blau werden.”

Auf den ersten beiden Seiten ihres Berichts erklärt Joan Didion das Phänomen der blauen Stunde, das die Franzosen “l’heure bleue” und die Engländer “the gloaming” nennen.

“Blaue Stunden sind das Gegenteil sterbenden Glanzes, aber sie sind auch seine Vorboten.”

Joan Didion wurde hier in Deutschland vor allem durch die Veröffentlichung von “Das Jahr magischen Denkens” bekannt, in dem sie sich mit dem plötzlichen Sterben ihres Mannes John Dunne auseinandersetzt. Später erschien dazu auch ein Theaterstück, das in der Schauspielerin Vanessa Redgrave die einzige Besetzung hatte. Im Vorfeld der Veröffentlichung von “Blaue Stunden” erschienen in vielen Zeitungen (“Die Zeit” und “FAZ” seien an dieser Stelle einmal exemplarisch erwähnt; darüber hinaus gab es noch einen interessanten Artikel in “Der SPIEGEL”, den ich jedoch leider nicht verlinken kann) Berichte über Joan Didion, die mit ihren Essays und Romanen zuvor noch nie so viel Aufmerksamkeit bekommen hatte. Schon nach der Lektüre von “Meine Zeit der Trauer” von Joyce Carol Oates habe ich bereits vor einigen Monaten wieder sehr intensiv an Didions “Das Jahr magischen Denkens” denken müssen. Trotz aller Unterschiede sind sich beide Werke in ihrer Thematik doch sehr ähnlich.

“Blaue Stunden” wollte ich unbedingt lesen; ich habe es als eine Art Fortsetzung von “Das Jahr magischen Denkens” empfunden und wollte wissen, was aus Didions Tochter Quintana geworden ist, die beinahe zeitgleich zum Tod von John Dunne, sehr schwer erkrankt. Genau damit setzt sich Joan Didion in “Blaue Stunden” auseinander. Joan Didion beginnt mit den Aufzeichnungen ihrer Erinnerungen am 26. Juli 2010, dem siebten Hochzeitstag ihrer Tochter.

“Die Erinnerung verblasst, die Erinnerung passt sich an, die Erinnerung fügt sich dem, woran wir uns zu erinnern glauben.”

Genau sieben Jahre zuvor, am 26. Juli 2003 heiratet Quintana ihren Ehemann Gerry. Am Ende desselben Jahres fällt sie nach einer schweren Lungenentzündung ins Koma. Beinahe zwei Jahre später, am 26. August 2005 stirbt Quintana schließlich.

“Zwanzig Monate, in denen sie insgesamt vielleicht nur einen Monat lang stark genug war, um ohne Hilfe zu laufen.”

Am 26. Juli 2010 beginnt Joan Didion zu schreiben, sich mit dem Tod ihrer einzigen Tochter auseinanderzusetzen. Damit, dass sie alleine zurückbleiben wird. Nicht nur ihr Ehemann ist vor ihr gestorben, sondern auch ihr eigenes Kind. Ihre Tochter Quintana.

“Die Zeit vergeht. Könnte es sein, dass ich das nie geglaubt habe? Hatte ich geglaubt, die blauen Stunden würden für immer andauern?”

Ähnlich  wie die Aufzeichnungen in “Das Jahr magischen Denkens” ist das, was Didion schreibt, sehr roh – wirkt zum Teil unfertig, an einigen Stellen wie zerstückelt. Es fehlen Sinnzusammenhänge. Der Tod Quintanas, die Tatsache, dass sie als einzige übrig geblieben ist, bringt Didion zum Nachdenken. Ausgehend vom Tod ihrer Tochter, beginnt sie auch über ihr eigenes Leben zu reflektieren, über ihre Vergangenheit, ihr Alter, den Tod und die eigene Vergänglichkeit. Sie blickt zurück auf das Leben von Quintana, wobei dabei für mein Empfinden sehr stark die eigene Unzulänglichkeit als Mutter im Vordergrund steht. Eine Unzulänglichkeit, die Didion zumindest so empfindet. Es überwiegt das Gefühl, der von Didion und Dunne adoptierten Quintana, keine guten Eltern, keine gute Mutter gewesen zu sein. Didion glaubt, dass sie es sich nie gestattet hat, es sich nicht “erlauben konnte”, ihre Tochter wirklich zu sehen. Die Persönlichkeit ihrer Tochter. Die schöne Zeit, die Augenblicke, die man miteinander hätte genießen können.

“Habe ich ihr ganzes Leben dafür gesorgt, dass es eine schalldichte Wand zwischen uns gab? Zog ich es vor, das, was sie wirklich sagte, nicht zu hören.”

Didion schreibt auch über ihre zunehmende körperliche Schwäche, die sie empfindet, für die die Ärzte jedoch keine Ursache finden können. Zumindest keine medizinische. Eines Tages stürzt sie in ihrer eigenen Wohnung und schafft es trotz dreizehn Telefonen nicht, sich Hilfe zu rufen. Zwei Tage lang liegt sie dort auf dem Boden.

Und doch kann sie am Ende ihrer Aufzeichnungen darüber berichten, dass die Trauer um Quintana stetig geringer wird. Wobei geringer sicherlich das falsche Wort ist – es wird täglich aushaltbarer, erträglicher. Was ihr dabei vor allem hilft, ist ihre Arbeit. “In Schwung zu bleiben” nennt Didion das. Trotz Quintanas Tod schafft sie es kurz darauf zu ihrer geplanten Lesereise aufzubrechen.

“Ich kann es mir jetzt erlauben, an sie zu denken. Ich weine nicht mehr, wenn ich ihren Namen höre. Ich stelle mir nicht mehr vor, wie der Transporter gerufen wird, um sie ins Leichenschauhaus zu bringen, nachdem wir die Intensivstation verlassen haben.”

Was am Ende bleibt, sind viele blinde Flecken, die auch von Didion nicht ausgefüllt werden können. Sie schweigt darüber. Über Quintanas biologische Familie, die sich plötzlich wieder zurück in ihr Leben drängelte. Über Quintanas psychische Verfassung – die Ärzte diagnostizieren eine Borderline-Störung. Und auch Quintanas Alkoholsucht bleibt nahezu unerwährt. Seltsam ausgespart.

“Blaue Stunden” hat mir gefallen. Joan Didion ist eine interessante und bewundernswerte Frau, mit vielen faszinierenden Gedanken. Ihr Bericht beschäftigt sich mit den wohl wichtigsten menschlichen Themen, dem Altern und dem Tod. Die rohe Sprache und der leicht unfertige Anschein verleihen dem Text eine ganz besondere Stimmung und ich habe mich beim Lesen gefühlt, als würde ich ganz sacht Didions Gedankenstrom verfolgen. An dieser Stelle sei auch erwähnt, dass das Buch hervorragend von der Autorin Antje Rávic Strubel übersetzt wurde.

Und dennoch reicht “Blaue Stunden” für mich nicht an “Das Jahr magischen Denkens” heran, das mich damals noch ein bisschen mehr packen und begeistern konnte. Eine gelungen Fortsetzung ist “Blaue Stunden” mit Sicherheit – doch allen Didion-Anfängern würde ich wohl eher “Das Jahr magischen Denkens” zum Einstieg empfehlen.

Man sagt sich mehr als einmal Lebewohl – David Servan-Schreiber

“Wie werde ich reagieren, wenn der Tod kommt, wenn er vor mir steht? Alles, was ich gelernt habe, was ich seit zwanzig Jahren praktiziere, all die Vorbereitungen in Erwartung des Endes – wird es die Konfrontation mit der Realität aushalten?”

Bei dem Arzt und Forscher David Servan-Schreiber, der als Neurowissenschaftler in den USA ausgebildet wurde, wird mit 31 Jahren ein bösartiger Gehirntumor diagnostiziert. Ihm ist es gelungen, nach einer schwierigen Operation und nachfolgenden Behandlungen noch weitere 19 Jahre zu leben.  In diesen 19 Jahren macht er es sich zu einer seiner wichtigsten Aufgaben, anderen Menschen bei ihrem Kampf gegen den Krebs zu helfen und sie zu unterstützen. Er schreibt mehrere Bücher, hält Vorträge, fährt auf Kongresse und gibt seine eigenen Erfahrungen an die Öffentlichkeit weiter, auch wenn er selber einschränkt, kein Patentrezept dafür zu haben, sich gegen Krebs zu schützen:

“Man muss die eigene Gesundheit pflegen, sein seelisches Gleichgewicht pflegen, die Erde um uns herum pflegen. Die Gesamtheit dieser Bemühungen trägt dazu bei, uns vor Krebs zu schützen, individuell und kollektiv, auch wenn es nie eine hunderprozentige Garantie geben wird.”

Nach beinahe zwanzig Jahren kehrt der Tumor zurück, größer und gefährlicher als zuvor  und beeinträchtigt innerhalb kürzester Zeit sehr stark sein Leben. David Servan-Schreiber hat zunehmend motorische Einschränkungen, er kippt immer wieder einfach um, zieht sein linkes Bein nach, schielt. Mit der Zeit wird auch seine Stimme immer brüchiger, häufig kann er nur noch flüstern und kurz vor seinem Ende kann er sich nur noch durch leichtes Heben seiner rechten Hand und Bewegungen seiner Augenbrauen verständigen.  Zwischen dem erneuten Entdecken des Tumors und dem Tod von David Servan-Schreiber liegen nur noch wenige Monate.

An diesem Punkt setzt “Man sagt sich mehr als einmal Lebewohl” ein. David Servan-Schreiber schreibt über den Schmerz, den er dabei empfindet, drei junge Kinder zurücklassen zu müssen. Sein jüngstes Kind Anna wird erst geboren, nachdem  der Gehirntumor schon wieder aufgetreten ist und er hat kaum noch Zeit sie kennen zu lernen. Er schreibt über die Monate nach dem erneuten Auftreten des Tumors – innerhalb kürzester Zeit wird er dreimal am Frontallappen operiert, unterzieht sich unterschiedlicher Therapien. Mitunter sehr schmerzhafter Therapien, die ihn sehr viel Kraft kosten. Und er schreibt über die Angst vor dem Tod, die Angst davor sterben zu müssen, die Angst davor, seine Kinder nicht mehr aufwachsen sehen zu können:

“Heute, wo meine Frist abzulaufen scheint, registriere ich, dass ich im großen Ganzen genauso reagiere wie viele Patienten, die ich als Psychiater behandelt habe, an Krebs oder anderen Leiden Erkrankte, die dem Tod ins Auge blicken mussten. Wie viele von ihnen habe ich Angst zu leiden, aber keine Angst zu sterben. Was ich fürchte, ist unter Schmerzen zu sterben.”

David Servan-Schreiber empfindet es als großes “Privileg”, dass ihm die Möglichkeit gegeben wird, seinen Abschied vorzubereiten. Zeit dafür zu haben, sich zu verabschieden. Er hat ein sehr großes Umfeld, viele Freunde und Verwandte, die stetig bei ihm sind, die ihn unterstützen und liebevoll auf seinem Weg begleiten und auf den Moment des Todes vorbereiten:

“Diesen entscheidenden Augenblick kann man mit der Hilfe guter ‘Verbündeter’ vorbereiten: mit Pflegekräften, Juristen und natürlich mit Freunden und Angehörigen. Ich empfinde diese Prüfung als lebenswichtig und es ist für mich noch eine Quelle der Hoffnung, dass ich sie gut bestehen werde. Und was wird danach ‘auf der anderen Seite’ passieren? Ich weiß es nicht.”

“Man sagt sich mehr als einmal Lebwohl” fällt eigentlich nicht in mein herkömmliches Beuteschema und aus diesem Grund hatte ich vor dem Beginn der Lektüre auch kaum Erwartungen an das Buch. Doch nun nach Beendigung muss ich zugeben, dass es mich sehr tief berührt, sehr nachhaltig beeindruckt hat. David Servan-Schreiber berichtet nüchtern und kühl über seine Ängste und Schmerzen und doch habe ich das, was er schreibt an keiner Stelle als emotionslos empfunden. Er kämpft sehr tapfer einen beinahe aussichtslosen Kampf, ohne aufzugeben. Ohne sich selbst aufzugeben. Nie, an keiner Stelle, habe ich das Gefühl gehabt, dass er die “Lust” am Leben verliert. Trotz der Situation, in der er sich befindet, empfindet er immer noch Glück. Die einfachsten Tätigkeiten wie spazieren gehen, einen Film schauen, ein gutes Essen genießen machen ihn glücklich.

“Ich tue jeden Tag etwas, das mir Freude bereitet, mehrmals am Tag. Ich habe viel Glück.”

Dieses schmale Büchlein ist ein beeindruckendes Zeugnis, eines beeindruckenden Menschen, der unnachgiebig um sein Leben gekämpft hat – dem es aber auch gelungen ist, im richtigen Moment den Tod zu akzeptieren und in Würde Abschied zu nehmen. Gerade dieser Aspekt, die Tatsache, dass das Sterben und der Tod nicht allein etwas sein muss, vor dem man Angst haben muss, etwas was man fürchten muss, hat mich sehr beeindruckt. David Servan-Schreiber bereitet sich mit einem gewissen Abschiedsschmerz auf den Tod vor (er plant seine Beerdigung, stellt eine Playlist zusammen, schreibt sein Testament), fühlt sich jedoch auch getröstet bei der Vorstellung von all dem Leid und den Schmerzen befreit zu sein. Für mein Empfinden gelingt es ihm sehr eindrücklich dem Tod, dem Prozess des Sterbens und der Angst vor dem Ungewissen zumindest ein ganz kleines bisschen den Schrecken zu nehmen und dafür bin ich ihm sehr dankbar.

Ein nüchternes, unsentimentales Buch. Gerade diese Tatsache hat es für mich unendlich beeindruckend gemacht.

Meine Zeit der Trauer – Joyce Carol Oates

“Diese Erinnerungen sind eine Pilgerreise.”

In „Meine Zeit der Trauer“ beschreibt und verarbeitet die amerikanische Schriftstellerin Joyce Carol Oates den Tod ihres Mannes Raymond Smith und die Zeit danach. Den Kampf einer Witwe um ein Überleben. Ein Weiterleben. Joyce Carol Oates und Ray Smith, wie er von allen genannt wird, waren über 47 Jahre verheiratet. Für Oates war Smith der erste feste Freund und seit ihrer Heirat im Januar 1961 waren beide kaum länger als einen Tag voneinander getrennt.

“[…] ich empfinde so viel Liebe für ihn und zugleich die Vergeblichkeit einer solchen Liebe. Denn so, wie mein damals noch junger Mann die kümmerliche Kresse unbedingt am Leben erhalten wollte, so wollen wir den am Leben erhalten, den wir lieben. Wir sehnen uns danach, ihn zu beschützen, ihn vor Unglück zu bewahren. Ein Sterblicher sein heißt zu wissen, dass man das nicht kann, aber dennoch versuchen muss.”

Trotz eigener schriftstellerischer Ambitionen arbeitete Ray Smith vorwiegend als Lektor und Verleger. Gemeinsam mit seiner Frau veröffentlichte er mehr als dreißig Jahre lang die „Ontario Review“, eine angesehene Literaturzeitschrift. Zusammen mit seiner Frau und den beiden Katzen Reynard und Cherie lebten beide in Princeton, ein ruhiges, aber sehr glückliches und zufriedenes Leben. Bis zu einem Tag im Februar, an dem Ray schon sehr früh morgens mit Schmerzen und Fieber aufwacht. Obwohl er das selbst nicht möchte, bringt ihn seine Frau umgehend in das kleine Princetoner Provinzkrankenhaus. Dort wird eine Lungenentzündung diagnostiziert. Nach einer Woche und der Aussicht, dass Ray eigentlich in die Reha entlassen werden soll, stirbt er für alle völlig überraschend und unerwartet an einer Sekundärinfektion, die rasend schnell die zweite Lunge angegriffen hat.

In “Meine Zeit der Trauer” versucht Oates die Schuld die sie empfindet sowie die sehr starken Selbstvorwürfe zu verarbeiten. Es war ihre Entscheidung, ihren Mann in dieses Krankenhaus zu bringen. Außerdem reflektiert sie sehr eindringlich die Ängste, Traurigkeit und Schmerzen die sie bei dem Verlust ihres Mannes und auch noch sehr lange Zeit danach, empfindet. Ihr Zuhause, das für sie immer ein Ort des Wohlfühlens war, ist für sie plötzlich kein Zuhause mehr. Es widerstrebt ihr dort zu sein. Ohne Ray. Selbst die Katzen, hat sie das Gefühl, geben die Schuld an Rays Tod ihr und ignorieren sie die meiste Zeit. Für diesen unendliche schmerzhaften Verlust findet Oates immer wieder beeindruckende Worte und Bilder:

“Einen Menschen zu verlieren, mit dem man 47 Jahre verheiratet war, ist, als verlöre man einen Teil von sich selbst – den wertvollsten Teil. Der gebliebene Rest kommt mir so dezimiert vor, so kaputt.”

“Das Alleinsein hat etwas Grauenvolles. Schlimmer noch als Einsamkeit.”

“Von meinen Studenten ahnt wohl niemand, dass ‘Professor Oates’ frisch amputiert ist, die Wunde blutet noch, und dass in ihrem Kopf außerhalb dieses Seminars das Chaos herrscht.”

Nach dem Tod ihres Mannes fällt es ihr sehr lange sehr schwer normal weiterzuleben. Sie hat sehr viele Formalitäten zu erledigen, von denen sie sich von Beginn an überfordert fühlt. Der Zwang, nach dem Tod ihres Mannes in irgendeiner Form weiter zu funktionieren, wird von Oates sehr eindrücklich und lebensnah beschrieben. Sie muss sich zunächst weiter um die Arbeit ihres Mannes kümmern, für den fast täglich Manuskripte, Briefe oder Nachrichten auf dem Anrufbeantworter eintreffen. Oates selbst ruft – wenn sie nicht zu Hause ist – häufig den Anrufbeantworter an, da die Nachricht auf dem Band von ihrem Mann gesprochen wird. Für sie ist dies die letzte Möglichkeit, immer wieder seine Stimme zu hören.

Oates erreicht im Laufe der Monate nach Rays Tod einen Zustand, in dem sie ohne medikamentöse Hilfe nicht mehr einschlafen und tagsüber kaum noch funktionieren kann. Aus Angst süchtig zu werden – so wie ihre eigene Mutter – versucht sie die Medikamentendosis wieder zu reduzieren. Ihr Glück ist es, dass sie viele gute Freunde hat, die sich um sie kümmern. Auch wenn dies an manchen Stellen fast schon bizarre Züge annimmt und von Oates sehr humoristisch beschrieben wird: fast stündlich klingeln Boten an ihrer Tür, die Fresskörbe vorbeibringen. Irgendwann beschließt die Witwe alles nur noch ungesehen und ungegessen in den Müll zu schmeißen. Zu schmerzhaft ist es für sie, sich mit Rays Tod zu beschäftigen.

Joyce Carol Oates verarbeitet in “Meine Zeit der Trauer” den Tod ihres Mannes. Sie schildert ihren Schmerz, ihre Hilflosigkeit. Verliert zwischendurch aber nicht ihren Humor, der immer wieder zwischen den Zeilen aufblitzt. Sie reflektiert ihre Beziehung zu Raymond Smith und hinterfragt dabei vor allen Dingen auch ihr eigenes Verhalten an vielen Stellen kritisch. Gefallen haben mir auch die vielen literarischen Stellen, sie trifft sich beispielsweise mit dem Schriftsteller Philip Roth zum Essen.

Ein interessantes, berührendes Buch. “Meine Zeit der Trauer” hat große Ähnlichkeiten mit “Das Jahr magischen Denkens” von Joan Didion, auf das Oates auch in ihrem Roman selbst mehrmals Bezug nimmt. Leider gibt es stellenweise auch recht zähe und langatmige Abschnitte – insgesamt habe ich die Lektüre aber als sehr anregend empfunden. Ich denke, dass der Roman vor allem auch für Menschen, die selbst einen Verlust erlitten haben, sehr hilfreich sein kann.

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