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Deutschsprachige Literatur

Einen solchen Himmel im Kopf – Stephanie Gleißner

“Ich werde zurückkehren. Natürlich nur zu Besuch, ein paar Tage, aber auch das erst nach einigen Jahren, in denen ich mich so verändert haben werde, dass sie mich nicht sofort wiedererkennen.”

Stephanie Gleißner erzählt die Geschichte von Johanna und Annemut. Beide wachsen in einem kleinen Dorf auf, im Hinterland. Johanna wird als “hochmütig” beschrieben, Bekundungen von Individualität widern sie an, Gruppen verachtet sie. Die beiden Mädchen freunden sich an und teilen einige Jahre alles miteinander. Annemut zieht zu Johanna in ein kleines Häuschen im Garten ihrer Eltern. Als beide erwachsen werden, beginnt die Freundschaft zwischen ihnen langsam zu bröckeln. Annemut zieht wieder zurück zu ihren Eltern, die enge Verbindung franst aus, löst sich auf. In einer Nacht, die die beiden Freundinnen gemeinsam verbringen, eskaliert die Situation zwischen ihnen plötzlich.

Johanna bricht die Schule ab und beginnt mit einer Ausbildung. Annemut gelingt es dagegen sich aus der starren Dorfgemeinschaft zu lösen, sie zieht weg, um zu studieren. Statt weiter im Hinterland zu leben, zieht es sie raus in die große Welt. Sie entscheidet sich dazu, für einige Monate nach Timbuktu zu gehen.

Die Geschichte von Stephanie Gleißner beginnt mit dem Entschluss von Annemut, ihre Eltern im Hinterland zu besuchen. Ihr vordergründiges Interesse ist, rauszufinden, was aus ihrer besten Freundin Johanna geworden ist. Johanna, die jetzt bei der Krankenkasse arbeitet und Annemut nur noch mit professioneller Höflichkeit mit “Frau Murr” anspricht.

“Ihr schlechtsitzender Anzug hatte geglänzt, Synthetik, ihr Gesicht, als hätte lange ein Stein draufgelegen, war ausgebleicht und aufgeschwemmt, ihr Haar, das ich für unzerstörbar gehalten hatte, klebte an diesem Gesichtskrater wie ein Büschel welker Wiesenblumen. Das Schildchen auf ihrer Brust behauptete: ‘Freundlichkeit hat einen Namen: Johanna Luger.'”

Nach dem Besuch bei Johanna fühlt Annemut sich wie nach einem Unfall. Für die ehemals so starke Freundschaft, für die lange Zeit intensive Verbindung, gibt es keine Worte mehr. Es herrscht Schweigen. Verständnislosigkeit.

“Wir haben Schaden genommen. Ich frage mich, wann es angefangen hat.”

Stephanie Gleißner gelingt es in ihrem Roman, einen ganz besonderen Ton zu treffen. Erzählt wird aus der Perspektive von Annemut, ihre Stimme ist nüchtern, doch gleichzeitig intensiv, an vielen Stellen sprudelnd. Annemut ist eine ambivalente Erzählerin, die mich als Leserin des Romans sowohl begeistert, als auch befremdet hat.

Besonders fasziniert hat mich die Schilderung der Heimkehr von Annemut, die nach ihrer Rückkehr ins Hinterland feststellen muss, wie weit sie sich von ihren Eltern und der Dorfgemeinschaft entfernt hat. Ihre Eltern verstehen nicht mehr, was sie macht – Begriffe wie digitalisieren sagen ihnen nichts mehr. Da ist jetzt eine Kluft. Zwischen den Leben von Annemut und ihren Eltern liegen Welten.

Genauso begeistert haben mich die Schilderungen und Beschreibungen des Dorflebens, das in Riten und Strukturen erstarrt ist. Im Hinterland soll alles so sein, wie es schon immer war. Diese Hinwendung von jungen Schriftstellern zu dörflichen Beschreibungen ist nichts Neues in der zeitgenössischen Literatur: ich denke mit Freude an den großartigen Roman “Gegen die Welt” von Jan Brandt, in dem ein ostfriesisches Dorf im Zentrum steht.

Der wichtigste Ort des Hinterlandes ist die Pension Malinowski, das letzte Haus im Hinterland. Die Pension stellt eine Gegenwelt, einen Gegenentwurf, zum dörflichen Leben dar. Bei den Beschreibungen der Geschehnisse in derPension hatte ich manchmal Schwierigkeiten zu entscheiden, was Realität ist und Fiktion ist. Sie ist der Ort, an dem die Dorfbewohner das ausleben, was sie in ihrem starren Dorfalltag unterdrücken (müssen). Ein Ort der Sünde, der für mich utopische Züge hatte.

Es gibt eine Stelle im Roman, die für mich eine zentrale Stelle ist bei der Beschreibung des Hinterlands und den unterschiedlichen Lebenswegen von Annemut und Johanna:

“Johanna, das sahen die engagierten Deutsch-, Kunst und Musiklehrer auf den ersten Blick, war begabt und gefährdet. Auch sich selbst hatten sie einmal für begabt und gefährdet gehalten. Jetzt waren sie nicht mehr begabt und auch nicht mehr gefährdet, jetzt waren sie verbeamtet und verstrahlten die begabt-gefährdete Jugend mit wehmütigem Lächeln, das präventiv sämtliche Ikarusflügel einschmolz.”

Annemut hat sich raus in die Welt getraut, sie hat gewagt, sich von alten Strukturen zu lösen und einen Schritt in eine Welt zu gehen, in die sie ihre Eltern nicht mitnehmen konnte. Sie musste sie zurücklassen. Johanna hat sich für etwas Gegensätzliches entschieden und Annemut hofft darauf, herausfinden zu können, warum.

Stephanie Gleißner ist ein außergewöhnliches, ein interessantes Debüt gelungen. Sie trifft einen ganz eigenen, individuellen Ton, der mich von der ersten Seite an in den Bann gezogen hat. Am Ende des Romans nimmt die Handlung eine rasante Geschwindigkeit auf, der ich nicht immer ganz folgen konnte. Ich musste immer wieder nachlesen, Passagen erneut lesen, um alles verstehen zu können. Ich hätte mir gewünscht, dass es am Ende mehr Seiten gegeben hätte, um die Geschichte zu Ende zu führen.

Trotz dieser Kritik ist “Einen solchen Himmel im Kopf” ein sehr lesenswerter Roman. Darüberhinaus freue ich mich, dass Stephanie Gleißner bereit war, meinen Fragebogen zu beantworten.

Sunrise – Patrick Roth

Der Untertitel – “Das Buch Joseph” – von Patrick Roths neuem Roman “Sunrise” gibt einen ersten Hinweis darauf, wie Patrick Roth seinen Roman gestaltet hat. Der Text hat einen archaischen Charakter, seine Sprache ist uralt, biblisch und lässt einen an Homer und Platon denken. Patrick Roth wurde 1953 in Freiburg geboren, wuchs in Karlsruhe auf und zog 1975 nach Los Angeles. Dort arbeitete er lange als Regisseur und Filmjournalist. 1991 wurde er mit seinem Roman “Riverside” berühmt. Daraus entstand die so genannte Christus-Trilogie. Bereits in diesen Texten zeigt sich das Interesse von Roth an biblischen Themen, weswegen er im Feuilleton auch als Solitär bezeichnet wird. Patrick Roth ist in der Tat ein außergewöhnlicher, ein ungewöhnlicher Schriftsteller, der weit ab von einem aktuellen Literaturtrend schreibt.

Ich muss gestehen, dass ich mit “Sunrise” terra incognita betreten habe, da ich weder viel biblisches Wissen habe, noch jemals biblische Literatur gelesen habe.

Patrick Roth erzählt in “Sunrise” die Geschichte Josephs, des Ziehvaters von Jesus. Nachdem sich Joseph entschieden hat, bei Maria zu bleiben, wird er in den Evangelien nicht mehr erwähnt. Über seine Geschichte und seinen Lebensweg erfährt man fast nichts. Im Neuen Testament bleibt Joseph nur eine Nebenrolle: kein Wort ist von ihm überliefert, als wäre er verstummt. Er ist ein Mann ohne Geschichte, dem nicht einmal einmal ein “Buch” gewidmet wurde. Dafür sorgt nun Patrick Roth. Die Geschichte Josephs erzählt er nicht selbst, sie wird von Neith, einer Ägypterin, erzählt.

“Ich rede vom Vater Jesu, rede von Joseph. Vor siebenundsiebzig Jahren war derselbe entrückt ins Paradies und hörte unaussprechliche Worte. […] Wollt  ihr sie suchen, zu hören?”

Die Erzählung über Joseph ist in eine  Rahmenhandlung eingebettet, die 70 nach Christus spielt: römische Truppen belagern Jerusalems Mauern, doch zwei Männer – Balthazar und Monoimos – wagen sich hinein in die zerstört Stadt, um das Grab Jesu zu schützen. Während eines Sandsturms gelangen sie zufällig in die Hütte der Neith. Neith kennt das Ziel der beiden Männer, doch möchte sie ihnen nichts über Jesus erzählen, sondern über Joseph.

“Joseph, dem Nazoräer:

Daß ihm Gott befahl zu opfern den Sohn.

Daß er sich widersetzte Gott, zu retten den Sohn.

Daß er auferstand aus dem Grab seiner Trennung, zu leben tot unter Menschen.

Daß er aufstieg aus seinem Abgrund, erstarkt am Blut seines Sohns, das er trank bewußtlos im Traum, mit Räubern und Mördern in die Hölle zu kosten bei Tag.”

Auf den folgenden fast fünfhundert Seiten wird der Leser eingeführt in die Geschichte Josephs, mitgenommen in visionäre Räume, eingetaucht in Traumbilder. Nicht alles was Patrick Roth schreibt, ist biblisch korrekt – Roth dichtet um, schreibt Joseph Erlebnisse zu, die anderen Personen der Bibel widerfahren sind. Joseph, der von Gott den Auftrag erhält, seinen Sohn zu opfern und sich diesem widersetzt – er wird mit Blindheit und Taubheit dafür bestraft, sein eigener Sohn löscht Josephs Namen aus.

Das Faszinierende an Patrick Roths Text ist dabei für mich, dass er zwar in einer archaischen Form gehalten, in einer alten, biblischen Sprache verfasst ist, aber dennoch modern wirkt. Zwischendurch glaubt man, eine Abenteuergeschichte zu lesen, dann taucht man ein in eine Räubergeschichte, später trägt die Geschichte Züge eines Liebesdramas – Joseph der Maria unterstellt, fremd gegangen zu sein. Sprache und Inhalt verbinden sich. Durch die besondere, die ungewöhnliche Form, erhält der Text einen ganz eigenen Rhythmus, beinahe wie Musik. Besonders bewusst wird dies, wenn man ihn laut liest. Bei Patrick Roth ist schon allein die Sprache und die Form ein Kunstwerk.

Das, was Patrick Roth schreibt, erinnert mich von der Technik her in vielen Szenen an den Film: actionreiche Szenen werden verlangsamt, beinahe so als würde man sie in Slow-Motion betrachten. Als besonders beeindruckend ist mir die Szene im Gedächtnis geblieben, in der Joseph sein erster Sohn während eines Sturms auf dem Wasser aus der Hand glitt:

“Leerer Hand hört er den Schrei.

In ihm noch springt er ins Meer, taucht nach dem Kind.

Und da:

Er sieht’s unter Wasser.

Schwach zwar im Dunkeln

erkennt er’s.

Eine Menschenlänge nur

unter ihm.

Und stößt nach

stößt

tiefer.

Erkennt:

das Kind

fallend unter

ihm

abwärts

fällt

rasch

außer 

Reichweite

von tieferer Strömung

erfaßt.

Und wie wahnsinnig

greift

er

nach

unten

stößt

nach und

nach

und

abermal

nach

mit

immer wilderen

Zügen.”

Neith, die auch Scherbenmädchen genannt wird, weil sie jede Scherbe sorgsam aufliest und sogar Zerbrochenes wieder zusammenfügen kann, bildet das Zentrum der Erzählung, sie hält buchstäblich die Fäden in der Hand. Leitmotivisch steht dafür ein Tuch, an dem Neith webt – dieses Tuch ist die Metapher des Erzählens. Nicht nur Balthazar und Monoimos hören ihr zu, auch sie hat zugehört. Sie hat Joseph so lange zugehört, bis sie in seiner Erzählung sich selbst wiedererkannt hat, bis sie ihr eigenes Schicksal annehmen konnte. So lange bis sie sich selbst sehen konnte. Erst dann ist sie in der Lage das Tuch fertig zu weben. Ich finde die Metapher des Webens, des Tuchs, sehr schön, denn auch Patrick Roth gelingt es mit seinen homerischen Versen den Leser einzuweben und “Zerbrochen-Zerschlagenes” zu finden, zu sammeln und wieder zusammenzufügen.

“Denn, versteht ihr, mir war, während er sprach, als webte ich’s ein, als verwebte ich Leinen und Sprache. Als trage mein Schiff hin die Worte, die er gesprochen, trage sie hinüber und, neu beladen, trage sie wieder her. Als spreche am Faden haftend das Wort, als folge es ihm. Mehr noch: als spreche es den Faden, das Wort. 

“Sunrise” besteht aus insgesamt sechs Büchern und war für mich eine Reise in eine bisher ganz fremde Welt. Ich habe diese Reise als sehr aufregend empfunden, als anregend, lehrreich. Ich habe sie genossen, Passagen manchmal mehrmals gelesen, um die Schönheit der Sprache zu begreifen, sie in mich aufnehmen zu können. Wirklich begreifbar wird der Roman sicherlich erst, wenn man ihn mehrmals liest.

“Sunrise” ist ein Buch, das diametral zu den aktuellen Literaturtrends steht und doch ist es so ungeheuer lohnenswert es zu entdecken. Aufgrund meines geringen Hintergrundwissens und mangelnden biblischen Verständnisses, kratzt meine Rezension leider nur an der Oberfläche. Ich kann an dieser Stelle nur auf sehr viel fundiertere Rezensionen in den Feuilletons verweisen: in der Neuen Zürcher Zeitung, in Die Zeit und in der FAZ.

ohnegrund – Schulamit Meixner

Die Schriftstellerin Schulamit Meixner studierte Judaistik und Theaterwissenschaft in Wien, wo sie anschließend als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Jüdischen Museum arbeitete. Daneben war sie auch an einem Gymnasium und in der Erwachsenenbildung tätig. Seit 2006 lebt die Autorin in London. “ohnegrund” ist ihr Romandebüt und ist im Picus Verlag erschienen. Ich habe es von Blogg dein Buch erhalten.

Obwohl der Roman “ohnegrund” nur ein schmales Büchlein ist und gerade einmal 180 Seiten umfasst, spielt er an insgesamt vier unterschiedlichen Handlungsorten: in London, Wien, Tel Aviv und in Indien. Es gibt keine linear verlaufende Handlung; die Geschichte wird aus mehreren Perspektiven erzählt und es gibt immer wieder abrupte Sprünge zwischen den unterschiedlichen Zeitebenen. Es gibt Sequenzen aus der Gegenwart, aus dem Jahr 2004, und aus der Vergangenheit. Im Mittelpunkt steht die erst zwanzigjährige Jüdin Emily Bloom, die sich selber Amy nennt. Sie wächst bei ihren Eltern Ashley und Clara in London auf, der Vater arbeitet als Maler, die Mutter als Bildhauerin. Amy fühlt sich von dem Künstlerehepaar nicht wahrgenommen, sieht sich selbst als ungesehen und ungeliebt. Sie wird von ihren Eltern zum Studium nach Tel Aviv geschickt. Sie erhoffen sich, dass Amy erfolgreich ein Innendesignstudium absolvieren kann – dazu muss sie jedoch zunächst einmal zu einem Aufnahmegespräch. Doch Amy ist orientierungslos und leidet unter der Gleichgültigkeit ihrer Umgebung. Und als sie in Tel Aviv landet, kommt auch noch ihr Onkel Zvi, der sie eigentlich vom Flughafen abholen sollte, nicht …

Statt zum Aufnahmegespräch zu gehen, lernt Amy schon am ersten Tag in Tel Aviv den jungen Israeli Nimrod kennen und verliebt sich in ihn. Zum ersten Mal in ihrem Leben orientiert sich Amy nicht mehr an den Erwartungen ihrer Umwelt, ihrer Familie, sondern baut sich in Tel Aviv ihr eigenes Leben auf. Zur Überraschung ihrer Eltern, von denen sie zwar auf der einen Seite unabhängig sein möchte, mit deren Kreditkarte sie aber immer noch alles bezahlt, was sie zum Leben braucht. An einer Stelle beschreibt Nimrod Amy als “verwöhnt, behüteter als wir, und dennoch so alleine.”

Amy und Nimrod heiraten, bekommen eine gemeinsame Tochter, Sharona. Doch mit den Jahren bekommt ihr gemeinsames Glück die ersten leichten Risse. Amy muss erleben, wie sich das wiederholt, worunter sie schon bei ihren Eltern gelitten hat: Nimrod stellt seinen beruflichen Idealismus über die familiären Bedürfnisse. Über Amy und ihre gemeinsame Tochter Sharona. Er entscheidet sich dazu, nach Indien zu gehen und verschwindet ganz plötzlich aus dem bisherigen gemeinsamen Leben. Sharona bleibt nur noch eine verblasste Erinnerung an ihren Vater.

“In diesem Augenblick hatte Sharona erstmals jenen ohnmächtigen Schmerz verspürt, den der Verlust ihres Dads ihr immer wieder bereiten sollte. Wieso konnte er nicht wie alle anderen Väter einfach zurückkommen? Sie in der Früh in den Kindergarten bringen und ihr einen Kuss geben?”

Zehn Jahre später, als Amy schon längst wieder als alleinerziehende Mutter nach London zurückgekehrt ist, ist sie konfrontiert mit  der Tatsache, dass ihr Lebensentwurf gescheitert ist und muss sich schweren Herzens auseinandersetzen mit ihrem Unglück und mit den Scherben ihres Lebens.

Auf der letzten Seite des Romans verrät Schulamit Meixner, dass Teile ihres Textes auf unveröffentlichten Interviews und persönlichen Recherchen beruhen. “ohnegrund” ist eine leichte Lektüre, der Roman ist leicht und flüssig zu lesen, auch wenn er sich mit einem schweren Thema beschäftigt.

Der Holocaust und auch das Judentum spielen in Meixners Roman nur am Rande eine Rolle. Es gibt nur wenige Stellen, die in eine politische Richtung tendieren.

“Fritz Grünbaum ist jetzt ein Platz und Jura Soyfer eine Gasse, über die man drübergeht und drüberfährt. Ihr Name ziert eine Hauswand, nicht weil sie ausgezeichnete Kabarettisten und Dramatiker waren, sondern weil sie von den Nazis umgebracht wurden. Mit toten Juden ist leicht auszukommen, derer kann man jahrelang gedenken. Ist dies jedoch eine Angelegenheit der anderen? Juden sind sehr wohl imstande, sich ihrer Toten selbst zu erinnern.”

Mein Urteil über das Romandebüt von Schulamit Meixner fällt sehr zwiespältig aus. Der Roman ist schön konzipiert und erzählt eine interessante Geschichte und doch hat er mich leider nicht begeistern können. Bei der Bewertung des Romans empfinde ich zwei Kritikpunkte als zentral: ich habe mich immer wieder an der Sprache und an einigen Formulierungen gestört.  Der Roman ist in einer leichten, an vielen Stellen humorvollen Sprache geschrieben. Doch zwischendurch gibt es Passagen, die ich als sehr klischeehaft empfunden habe:

“Amy flog hemmungslos in seine Umarmung und die harten Knöpfe seines Militärhemdes drückten schwer durch ihren dünnen Pyjama. […] ‘Keine Panik, Mädchen. Das ist für mich ein Frühlingsspaziergang.”

“Vollkommen schön bist du, meine Geliebte, und kein Fehl ist an dir. – Ich werde nicht in dich eindringen, solange du nicht willst.”

Mir ist es während des Lesens nicht gelungen, mit dieser Sprache warm zu werden. Für mein Empfinden arbeitet Schulamit Meixner an vielen Stellen mit zu offensichtlichen Klischees: die vernachlässigte Tochter eines Künstlerehepaars, der idealistische Psychologiestudent, … viele Dialoge, viele Passagen haben sich für mich einfach als nicht passend angefühlt. Zwischendurch gibt es dann auch immer wieder österreichische Begriffe, die sich mir nicht immer erschlossen haben.

Ich hoffe, dass meine zwiespältige Einschätzung des Romans deutlich geworden ist, der eine interessante Geschichte erzählt, mich jedoch sprachlich leider gar nicht erreichen konnte.

Die Glücksparade – Andreas Martin Widmann

Download (88)Nachdem ich nun mehrere Debütantinnen vorgestellt habe, ist Andreas Martin Widmann der erste Schriftsteller in dieser Reihe. Der junge Autor – 1979 in Mainz geboren – studierte Germanistik, Anglistik und Theaterwissenschaft. 2008 promovierte er in Neuer Deutscher Literatur und unterrichte sogar zeitweise an der University of London. “Die Glücksparade” ist sein erster Roman.

“Egal, worum es ging, ich hatte begriffen, dass man Pläne für sich behalten und nur heimlich in die Tat umsetzen sollte. Wenn es schiefging, merkte es keiner.”

Andreas Martin Widmann erzählt die Geschichte des fünfzehnjährigen Simon. Simon lebt dort, wo andere Urlaub machen: in einem Container auf einem Campingplatz. Er lebt dort mit seinen Eltern, sein Vater hat auf dem Campingplatz einen Job als Platzwart gefunden. Viel Raum gibt es nicht für die drei, am Anfang war es zumindest noch neu und eng. Irgendwann ist es nur noch eng.

Simons Leben ist von Unsicherheiten geprägt, so etwas wie Stabilität ist ein Begriff, der kaum auf sein Leben zu übertragen ist. Geprägt wird dieses durch das unstete Verhalten seiner Eltern: erst vor zwei Jahren war Simon aus Hanau in eine andere Stadt umgezogen, nun wollen seine Eltern schon wieder umziehen. Damals hatte seine Mutter ihre Stelle im Reisebüro verloren. Simons Vater blieb – wenn er Arbeit hatte – selten für längere Zeit bei ein und derselben Arbeitsstelle: er arbeitete bei einem Wachdienst, lieferte für UPS Pakte aus oder war als Hilfsfahrer tätig. Es kommt immer wieder zu Umzügen und Planänderungen und Simon ist der Unstetigkeit seiner Eltern ausgeliefert.

“Ich weiß nicht, was damals dahintersteckte, aber er sagte, er wollte einen Schnitt machen und sich woanders umschauen. Jetzt war es wieder so weit.”

Auch wenn es nicht explizit formuliert wird, wird doch an vielen Stellen deutlich, dass Simon unter dem Leben mit seinen Eltern leidet. Der Container gibt ihm kein Gefühl der Sicherheit, kein Gefühl von Heimat – es ist schwer für ihn, sich dort zu Hause zu fühlen.

“Ich weiß nicht, ob das Gefühl, das ich hatte, Angst war oder etwas anderes, jedenfalls hatte ich alle möglichen unguten Gedanken. Ich dachte, dass mein Vater seine Stelle hier verlieren könnte und wir nie wieder auf die Beine kämen, dass der Container das Einzige wäre, was uns blieb und stellte mir vor, er würde abbrennen und dass wir dann nirgendwo mehr hingehen könnten.”

Glücklicher wird Simon erst, als sein Vater einen Wachhund anschafft. Danach ist der junge Schäferhund Benni Simons täglicher Begleiter. Abwechslung bieten im Sommer auch die unterschiedlichen Campingplatzbesucher. Vor allem die junge Lisa Heller, die eine eigene Fernsehshow mit dem Namen “Glücksparade” bekommen soll, zieht Simons Aufmerksamkeit auf sich. Haben Lisa und sein Vater vielleicht sogar ein gemeinsames Geheimnis?

Als es jedoch auf den Winter zugeht und der erste Schnee fällt, verändert sich die Stimmung auf dem Campingplatz. Simon und seine Eltern sind bald die einzigen, die übriggeblieben sind und es ist unsicher, wie es für die drei weitergehen wird …

“Glaubst du, dass diese ganze Geschichte noch irgendwie gut ausgeht?”

Andreas Martin Widmann ist ein tolles Debüt gelungen, das sich für mich vor allem durch seine atmosphärische Dichte und bedrückende Stimmung auszeichnet. Simon ist ein toller Junge, eine Figur mit Identifikationspotential, die dem Strudel eines unsteten Lebens ausgesetzt ist.

“Es kann immer noch schlimmer kommen, solange man noch nicht tot ist, dachte ich, und ich fand den Gedanken auf eine merkwürdige Art und Weise schön, als läge ein Ausweg darin.”

Ich finde es traurig, dass Simon so wenig Stabilität und Sicherheit spürt, dass er mit seinen fünfzehn Jahren bereits so denkt. Das Leid Simons ist kein greifbares Leid. Das bedrückende Gefühl, das sich beim Lesen in meiner Brust ausgebreitet hat, ist kaum in wirkliche Worte zu fassen. Es passiert nichts “Schlimmes” und doch hat mich der Roman sehr bedrückt. Vielleicht liegt es am fehlenden Glück: Simons Familie strampelt sich ab, um irgendwie zurecht zu kommen. Doch die Stellen, die Orte, die mit Glück besetzt sein sollten, sind verwaiste Leerstellen. Weder die Eltern selbst empfinden Glück, noch empfinden sie Glück oder Freude aneinander. Sie reiben sich auf und Simon befindet sich irgendwo dazwischen. Sehr eindrücklich ist mir folgender Dialog in Erinnerung geblieben:

“‘Das ist keine Wohnung, das ist ein Hamsterkäfig’ sagte meine Mutter.

Mein Vater seufzt.

‘Dafür bezahlen wir keine Miete. Außerdem finde ich um diese Jahreszeit keinen, der uns den Container abkauft. Und du willst bloß wieder alles hinschmeißen.’

‘Das stimmt nicht.’

‘Doch, es stimmt. Mit Büchern machst du dasselbe, du fängst eins an, aber nach hundert Seiten hörst du auf.’

‘Und du liest gar nicht.’

‘Mir fehlt die Geduld, aber ich weiß es.’

‘Wenn Bücher dich langweilen, ist das nicht meine Schuld.’

‘Verstehst du nicht, worum es geht? Die ganzen Bücher über Diäten oder Pilates oder was weiß ich.’

‘Hör auf damit, Robert’ sagte meine Mutter. Ihre Stimme klang schrill und gleichzeitig müde. Seit langem hörte ich sie meinen Vater wieder beim Namen nennen. Fast war es, als hörte ich es zum ersten Mal.

‘Ich versuch nur, den verdammten Laden zusammenzuhalten’, sagte mein Vater. ‘Aber es haut einfach nicht hin, so einfach ist das.'”

“Die Glücksparade” ist ein toller Debütroman eines jungen und talentierten Autors, der mich sehr begeistert hat. Es passiert nicht viel, doch wer Spaß an einem dichten und atmosphärischen Text hat, der viel zwischen den Zeilen verbirgt, dem kann ich “Die Glücksparade” nur empfehlen. Beim Lesen hatte ich nicht das Gefühl, den Text eines Debütanten zu lesen – ganz im Gegenteil: der Text strahlt sehr viel Ruhe, Souverenität und Gelassenheit aus. Eine Leseempfehlung!

Chucks – Cornelia Travnicek

Download (89)Von der jungen österreichischen Autorin Cornelia Travnicek sind 2009 bereits die Erzählungen “Fütter mich” im Verlag Skarabaeus erschienen. “Chucks” – im März 2012 erschienen – kann aber sicherlich dennoch als ihr Romandebüt bezeichnet werden. Cornelia Travnicek wurde 1987 geboren. Sie studierte Sinologie und Informatik und arbeitet heutzutage als Researcher in einem Zentrum für Virtual Reality und Visualisierung. Trotz ihres noch jungen Alters hat sie bereits zahlreiche Arbeits- und Aufenthaltsstipendien erhalten. Beim FM4 Wortlaut Wettbewerb 2009, einem Nachwuchswettbewerb in Österreich, hat sie mit Auszügen aus “Chucks” den dritten Platz belegt. Cornelia Travnicek hat eine eigene Homepage, einen Blog und ist daneben auch bei Twitter aktiv.

“Wir sind eine Collage […], wir setzen uns zusammen aus sehr vielen kleinen Einzelheiten, physisch und psychisch, und jeden Tag müssen wir darum kämpfen, dass wir nicht auseinanderfallen, dass davon nichts verloren geht, dass wir bleiben, wer wir sind.”

Mae heißt eigentlich Maeva, “das sagt aber niemand”. Sie ist Anfang zwanzig, hat die Schule noch nicht abgeschlossen, wobei es auch unklar ist, ob es dazu noch mal kommen wird und zieht als Punk durch die Straßen von Wien. Ihre Zeit verbringt sie am liebsten mit Tamara, die von allen nur Mara genannt wird.

“Mae und Mara, das waren wir, nicht mehr ganz unbeschadet, der einen fehlte die erste, der anderen die letzte Silbe. Dafür hatten wir einander.”

Mit Tamara diskutiert Mae gerne über Moleküle und Metaphysik und eine ganze Weile gibt es zwischen den beiden etwas, das mehr ist als Freundschaft. Doch während Mae in ihrer Freizeit gerne Vorlesungen an der Uni besucht – auch wenn sie noch nicht einmal die Schule abgeschlossen hat – experimentiert Tamara bereits mit harten Drogen. Als Mae eines Tages während einer Hausbesetzung den zukünftigen Architekten Jakob kennen lernt, werden beide ein Paar. Mae zieht zu ihm in die Wohnung, doch auch wenn der wesentlich ältere Jakob ihr ein Zuhause und damit verbunden sehr viel Sicherheit bieten kann, fängt Mae schnell an, sich zu langweilen.

Ablenkung findet Mae im Aids-Hilfe-Haus, in dem sie Sozialstunden ableisten muss. Dort lernt sie Paul kennen, der an Aids erkrankt ist. Der Kontakt zu Paul weckt in Mae viele Erinnerungen. Erinnerungen an ihren Bruder Sebastian. Von ihrem Bruder sind ihr nur die roten Chucks geblieben, die sie am Tag nach seinem Todangezogen hat. Seitdem hat sie nie wieder andere Schuhe getragen. Sebastian ist an Krebs gestorben. Sein Tod hat Mae nicht nur ihren Bruder genommen, sondern auch die Familie geraubt, die daran zerbrochen ist.

“Seit jenem Tag, an dem mein Vater über eine Stunde lang vor der Tür unseres Hauses den Namen meiner Mutter gebrüllt, zuerst mit der Faust und dann mit der flachen Hand dagegengeschlagen hatte, war alles anders. Nicht viel, nur wie wenn man beim Radfahren das Gefühl hat, dass der Reifen eiert, man stehen bleibt, sich hinunterbeugt, aber keine Veränderung erkennen kann. Nicht dass vorher alles normal gewesen wäre. Aber nach dem, was geschehen war, war das Wort ‘normal’ in Bezug auf uns relativ geworden. Meine Mutter und ich hatten gemeinsam überlebt, im Schweigen, mit dieser verschlossenen Tür im ersten Stock.”

Auch wenn Mae ihren Bruder nicht häufig besuchen durfte, hat sie doch miterleben müssen, wie er langsam gestorben ist. Wie die Ärzte versucht haben, mit einer Chemotherapie den Krebs zu töten, doch dabei eigentlich ihren Bruder langsam aufgelöst haben. Bis er verschwunden ist und nichts mehr von ihm übrig geblieben ist. Die Tür zu seinem Zimmer blieb nach seinem Tod verschlossen, es wurde nie wieder betreten.

“Sebastian. Se-bas-ti-an. Jede Silbe dieses Namens nahm in meinem Kopf Anlauf, stieß mir von hinten gegen die Augäpfel wie ein Meißel, wollte Tränen absprengen wie kleine Gesteinssplitter. Das ist ein unaussprechlicher Name.”

Kurz nachdem Mae Paul kennenlernt, zieht sie bei Jakob aus und bei Paul ein. Paul geht es zu diesem Zeitpunkt bereits schlecht. Obwohl sie am Anfang noch gemeinsame Ausflüge machen können, verschlechtert sich sein Zustand in den kommenden Wochen zunehmend. Bis Mae eines Tages entscheidet, einen Krankenwagen zu rufen, damit Paul in ein Krankenhaus kommen kann.

Maes Bruder Sebastian ist  einfach verschwunden, er hat sich aufgelöst und zurückgeblieben sind lediglich die roten Chucks, die sich wie ein Leitmotiv durch den Roman ziehen. Mae möchte verhindern, dass dasselbe noch einmal mit Paul geschieht. Auf einer Tupperparty bei ihrer Mutter bestellt sie 13 kleine Tupperdöschen. Nach Ausbruch der Krankheit beginnt sie damit, Paul in diesen Döschen zu sammeln. Unter dem Sofa findet sie abgeschnittene Fußnägel, im Krankenhausbett schneidet sie Paul eine Haarsträhne ab oder fängt die Luft in seinem Krankenhauszimmer ein. Die kleinen Döschen lagert sie in dem Gefrierschrank. In den kleinen Döschen befindet sich ein Stück von Paul, ein Stück der gemeinsam verbrachten Zeit, eine Erinnerung, die man immer wieder herausholen und befühlen kann. Ein Stück von Paul.

“Auf dem Heimweg stelle ich mir vor, wie das sein wird, wenn ich alleine in unserem Bett liege und darauf warte, dass die kleinen Döschen langsam warm werden in meinen Händen. Wie ich Paul aus ihnen herausnehme, immer wieder.”

Paul löst sich auf und verschwindet, aber Mae sammelt ihn in dreizehn kleinen Tupperdöschen, um sich ein Teil von ihm bewahren zu können. So wie sie seit dem Tod ihres Bruders dessen Chucks trägt.

Cornelia Travnicek ist mit “Chucks” ein beeindruckendes Romandebüt gelungen. “Chucks” wird sehr flott, sehr rasant erzählt. Die Sprache ist einfach und eingängig, doch zwischen den Zeilen verbirgt sich sehr viel mehr. Es gibt viele beeindruckende Passagen, dementsprechend viele Postits musste ich auch bei dieser Lektüre wieder verwenden. Der Schreibstil von Cornelia Travnicek ist außergewöhnlich, obwohl nüchtern und sachlich, vermittelt der Roman dennoch sehr intensive Gefühle. Beim Lesen fühlt sich das, was man liest einfach nur echt und authentisch an, was sicherlich auch an den interessanten Figuren, besonders an Mae, liegt. Trotz des traurigen Inhalts, strahlt das Buch eine gewisse Leichtigkeit aus. Mae, die durch Pauls Krankheit mit dem Tod, mit der Tatsache, das Paul jederzeit sterben kann, konfrontiert ist, beginnt damit, sich viele Fragen zu stellen. Paul ist trotz seiner Erkrankung sehr lebensfroh. Die Idee, Stücke von Paul in den Tupperdöschen zu sammeln fand ich wunderschön traurig.

Schwierig sind die vielen zeitlichen Sprünge, da die Handlung immer wieder zwischen der Vergangenheit und Gegenwart hin- und herspringt und mir beim Lesen nicht immer klar war, wo ich mich gerade eigentlich befinde. Das Ende des Romans ist offen gehalten und ich bin mir noch nicht sicher, ob es mir gefällt – es lässt auf jeden Fall Raum für eigene Spekulationen und Interpretationen.

Eine reine Randbemerkung, die ich aber interessant fand, ist die Tatsache, dass Paul als Haustier zwei Axolotls besitzt – was ich als kleinen Verweis auf Helene Hegemann gelesen habe.

“Chucks” ist ein schöner, ein eingängiger Roman, dem es gelingt, ein schwieriges Thema sehr nüchtern und sachlich und dennoch mit viel Gefühl zu erzählen. Mae ist eine tolle Protagonisten, eine Figur, mit der man sich identifizieren kann und die ihre eigene Stimme hat.

Lieblingskinder – Traudl Bünger

Traudl Bünger gehört zu einer ganzen Reihe von jungen Autorinnen, die in diesem Jahr debütieren. Für Traudl Bünger, die in Köln Literaturwissenschaft und Mathematik studiert hat und über das Thema “Narrative Computerspiele” promovierte, ist dies jedoch eigentlich kein wirkliches Debüt mehr in der Buchbranche. Nach einem Volontariat beim Verlag Kiepenheuer & Wietsch ist sie bereits seit mehreren Jahren Programmredakteurin des internationalen Literaturfestivals lit.Cologne und Kritikerin im Literaturclub.

Traudl Bünger erzählt die Geschichte von Rosalie, die als Staatsanwältin arbeitet. An einem Sonntag im Frühsommer trifft sie sich mit ihrem Vater zum Schweinebratenessen. Schon während der ersten Passagen wird dem Leser deutlich, dass etwas mit Rosalies Vater nicht stimmt. Das Gespräch ist geprägt von wahnhaften und fixen Ideen – es geht um die pazifische Auster und den asiatischen Buschmoskito. Am nächsten Tag ist Rosalies Vater verschwunden und Rosalie wird dazu gezwungen, sich mit ihrer Kindheit, mit ihrer Vergangenheit, auseinanderzusetzen. Beides kommt einem Minenfeld gleich.

“Und ich bin zu einem Rendezvous gebeten worden. Einem Rendezvous mit der kleinen Rosalie, der Rosalie, die glaubte, die Welt retten zu können, der Rosalie, die frei von Zynismus war und der es möglich gewesen ist, mehr als fünf Minuten mit ihrem Vater zu sprechen, ohne wütend oder traurig oder beides zu werden. Und die niemals drei Tage lang untätig geblieben wäre, wenn ihr Vater verschwunden wäre.”

In der Folge springt die Erzählung zwischen der Vergangenheit – ausgehend vom Jahr 1978, als Rosalie noch ein Kind war – und der Gegenwart hin und her. Rosalie ist zusammen mit ihren Eltern und ihrer älteren Schwester Lily aufgewachsen. Das Verhalten ihres Vaters hat das Familienleben schon früh geprägt. Die Mutter und Lily leiden unter dem wahnhaften Verhalten des Vaters, der in endlosen statistischen Tabellen die Brenndauer von Glühbirnen dokumentiert. Für Rosalie, die noch sehr jung ist, ist der Vater ein wichtiger Bezugspunkt, ein Orientierungspunkt. Auch wenn es schon damals immer wieder zu Situationen kommt, in denen sie unglücklich ist. Es gibt ganze Abende, die sie mit ihrem Vater auf dem Dachboden verbringt, um ihm Zahlenkolonnen zu diktieren – während der Rest der Familie Abendbrot isst.

“Rosalie fühlt sich wie nach dem Kinderturnen, wenn alle schon laut schreiend rausgelaufen sind und niemand wartet, bis sie sich die Schuhe zugebunden hat.”

Mit der Zeit wird das Verhalten von Rosalies Vater immer neurotischer, immer krankhafter. Während die Mutter und Lily sich distanzieren und abwenden, hat Rosalie weiterhin ein enges Verhältnis zu ihrem Vater, dem sie glaubt und den sie dafür bewundert, dass er versucht die Welt zu verändern. Dies führt immer wieder zu Streit und Schwierigkeiten, in deren Zentrum häufig Rosalie steht.

“Wenn man seine Ohren verschließen könnte, dann hätte Rosalie ihre Ohren am Abend ihres siebten Geburtstages ganz fest um all die Aufregung, das Glück und die Erschöpfung verschlossen und sie hätte nicht gehört, wie sich ihre Eltern in der Küche anschrien. […] Sie hätte nicht Lilys vorwurfsvollen Blick ertragen müssen, als sie hörten, dass es um Rosalie ging. Ein Blick, der sie prüfte, als die Mutter sagte, dass der Vater Rosalie mit seinen Verrücktheiten gefährde. Der verächtlich wurde, als die Mutter weitersprach: Rosalie sei allzu empfänglich für Fantastisches und könne sich zwischen seinen Geschichten und der wirklichen Welt nicht orientieren. Der sich in reinen Hass verwandelte, als der Vater der Mutter entgegnete, dass sie nur eifersüchtig sei, weil er diese besondere Verbindung zu Rosalie habe und nicht sie.”

Rosalie glaubt lange daran, die Arbeit ihres Vaters fortsetzen zu können und möchte deshalb Journalistin werden. In der neunten Klasse hält sie ein Referat über den AIDS-Virus und die Theorie ihres Vaters, dass dieser von der amerikanischen Regierung gezüchtet worden ist. Im Anschluss organisiert Rosalie eine Ausstellung in der Schule zum dem Thema “AIDS – Dichtung und Wahrheit”. Erst spät gelingt es Rosalie zu erkennen, dass ihr Vater sich auch irren konnte. In einem Beitrag im Radio erfährt sie die Wahrheit über den AIDS-Virus. Wenn sie heutzutage an diesen Moment denkt, kommen ihr immer noch die Tränen. Es war der Moment, in dem sie sich entschieden hat, Jura zu studieren und nicht mehr Journalistin werden wollte.

“[…] und muss erfahren, dass die Wahrheit, die der kleinen Rosalie erzählt wurde, eine Kindergeschichte war. Eine Schnittfassung, eine zensierte Version der Wirklichkeit, bereinigt um die gruseligen Details. Dass damals alles darangesetzt wurde, die kleine Rosalie in dem Glauben zu lassen, dass das Gute am Ende triumphiert.”

Neben der Vergangenheit gibt es auch immer wieder den Sprung zurück in die Gegenwart und zu der Suche von Rosalie und Lily nach ihrem Vater. Unterstützt werden die beiden von Tobias Ochsenmeyer, einem Nachbar des Vaters. Tobias hatte schon während Rosalies Kindheit im Nachbarhaus gelebt. Er hat sein Elternhaus umbauen lassen und ist als erwachsener Mann dorthin zurückgekehrt. Es musste umgebaut werden, da Tobias im Rollstuhl sitzend in sein Elternhaus zurückkehrt. Es gelingt ihm, Zugriff auf den Computer von Rosalies Vater zu bekommen und beide durchsuchen gemeinsam die angelegten Ordner und Dokumente. Am Ende der dreiundzwanzigtägigen Suche ist Rosalie nicht nur Tobias näher gekommen, sondern glaubt schon wieder fast daran, dass ihr Vater tatsächlich einer heißen Spur auf der Fährte gewesen ist.

Doch am Ende war Rosalie wahrscheinlich nur sich selbst auf der Spur, der Beziehung zu ihrem Vater, der eine Vergangenheit generiert hat, die der Realität heute nicht mehr Stand halten kann, der ihre Kindheit bestimmt hat, die sich mittlerweile als Illusion herausgestellt hat. Bestimmt ist die Beziehung heutzutage durch ein Gefühl der Schuld, den Vater in seinem Wahn zurückgelassen zu haben.

„Ich will nicht dahin. Von dort ist es nicht mehr weit zu dem Ort, wo die kleine Rosalie wohnt. Die kleine Rosalie, die mich verachtet, weil ich den Kampf aufgegeben habe. Nicht nur den Kampf mit meinem Vater, auch den Kampf um meinen Vater.“

Doch dann ist da auch immer noch Tobias, mit dem Rosalie eine gemeinsame Vergangenheit hat. Auch diese Vergangenheit ist bestimmt von einem diffusen Gefühl der Schuld.

Ich glaube, dass die Geschichte über Rosalies Vater nicht unbedingt im Zentrum des Romans steht. Am Ende rückt die Beziehung zwischen Rosalie und Tobias immer stärker in den Mittelpunkt, die sich sehr sanft und vorsichtig entwickelt. Doch für mein Empfinden ist auch diese Beziehung nicht zentral für den Roman. Für mich steht eindeutig Rosalie im Mittelpunkt. Rosalies Kindheit und damit verbunden natürlich auch das Schuldgefühl, das Rosalie in sich trägt. Schuld habe ich als ein ganz zentrales Thema empfunden. Kann man für das Tun anderer Menschen verantwortlich sein, kann man sich an den Taten anderer Menschen mitschuldig machen? Macht man sich schuldig, wenn man jemanden aufgibt, um sein eigenes Leben führen zu können? Wie verantwortlich kann man für einen anderen Menschen sein?

Mir hat der Roman von Traudl Bünger ausgesprochen gut gefallen. “Lieblingskinder” ist ein rasanter Roman, der sehr pointiert und humoristisch erzählt wird. Eigentlich gefallen mir humoristische Texte häufig nicht, doch Traudl Bünger gelingt es, dass Rosalie genau den richtigen, den passenden Ton trifft. Rosalie ist eine tolle Figur mit einem hohen Identifikationspotential. Sehr gut gefallen hat mir auch die wirklich rasante Entwicklung am Ende des Romans, über die ich jedoch nicht zu viel schreiben möchte, aus Angst zu viel zu verraten.

Für mich ist “Lieblingskinder” eine Parabel dafür, dass eine kindliche Märchenwelt irgendwann zwangsläufig Gefahr läuft, an der Realität zu zerbrechen. Abschließend bleibt mir nur zu sagen, dass ich am liebsten zu Rosalie gehen, sie umarmen und ihr ein bisschen von ihrer Schuld abnehmen würde.

Suna – Pia Ziefle

Suna-9783548611655_xxlPia Ziefle arbeitet als freie Autorin und Bloggerin, sie betreibt den sehr interessanten und sehenswerten Blog Denkding. “Suna” ist ihr Debütroman und für mich gehören die 304 Seiten, die sich zwischen den beiden Buchdeckeln befinden, zu dem Besten, was ich dieses Jahr gelesen habe. Pia Ziefle wird als eine der neuen literarischen Stimmen in Deutschland bezeichnet und ich kann dieser Einschätzung nur zustimmen. Ich fühle mich wie eine Entdeckerin, die einen seltenen Schatz gefunden hat – ich bin aufgeregt, dieses besondere Buch in den Händen zu halten und rezensieren zu dürfen (und dann auch noch als Besitzerin der ersten Ausgabe!). Dankenswerter Weise war Pia Ziefle dazu bereit, mir 5 Fragen zu beantworten – die Antworten findet ihr hier.

Pia Ziefles Roman “Suna” beginnt mit einem Kind, das nicht schläft. Weder auf dem Arm, noch im Kinderwagen. Das Kind schläft einfach nicht.

“Wochenlang habe ich dich umhergetragen, mein schönes und unermüdliches Kind. Wochenlang. Damit du für ein paar Minuten wenigstens einnicken könntest – bis ich nicht mehr wusste, dass es einen Unterschied gibt zwischen Tag und Nacht […]”.

Erzählt wird die Geschichte von Luisa, die mit ihrem Mann Tom von Berlin aufs Land gezogen ist, denn die Kinder sollten auf dem Land groß werden dürfen, so wie auch schon Luisa und Tom aufgewachsen sind. Weil Luisa “eine so starke Sehnsucht nach einem einfachen und übersichtlichen Leben hatte.” Luisa ist zufrieden auf dem Land, sie wohnen dort, wo Tom als Kind aufgewachsen ist. Sie hat dort ihre Pflanzenihre Blumenihre Sträucher und ihre Obstbäume. Und Luisa liebt das Haus, in dem sie wohnen:

“Ich aber liebte das Haus vom ersten Augenblick an, besonders wegen seiner knarzenden Treppenstufen, den beiden Kaminöfen, wegen seiner undichten Fenster und seiner niedrigen Decken, an denen Tom sich den Kopf stieß, wenn er aufrecht stand. Ich liebte es, obwohl jeder, der uns besuchte, etwas daran auszusetzen hatte.”

Doch ihr Kind findet einfach keinen Zugang zur Welt, keine Ruhe, es schläft nicht. Ein Arzt sagt zu Luisa: “Sie kann keine Wurzeln schlagen […]. Finden Sie Ihre.” Luisa beschließt sich auf die Suche zu machen nach ihren Wurzeln und sie erzählt ihrem Kind alles, was sie über sich, ihre Eltern und ihre Großeltern herausfinden kann. Sie begibt sich auf eine Reise in die Vergangenheit, bucht einen Flug in die Türkei, in die Heimat ihres unbekannten türkischen Vaters – in den sieben Tagen und Nächten bis zum Beginn der Reise erzählt sie ihrer Tochter ihre Geschichte.

“Du solltest Wurzeln schlagen können, kızım, und wenn es für mich bedeutete, noch einmal durch schmerzhafte alte Geschichten zu gehen und mich an nie gefragte neue zu wagen.”

Luisa geht weit in die Vergangenheit zurück, erzählt von ihrem Vater, dem glücklosen anatolischen Eselhändler. Berichtet über ihre serbische Mutter, deren Leben eine neue Wendung bekam durch ein fürchterliches Unwetter. Beide treffen die Entscheidung – wenn man in diesem Fall überhaupt von Entscheidung sprechen kann – nach Deutschland auszuwandern und dort kreuzen sich ihre Wege. Die Wege von Julka und Kamil. Julka und Kamil sind Luisas leibliche Eltern, Julka nennt ihre Tochter Marina, Kamil ist schon wieder zurück in der Türkei, als sie geboren wird. Luisa wird von einem Ehepaar adoptiert, das glaubt keine eigenen Kinder bekommen zu können. Auch die Lebensgeschichten ihrer Adoptiveltern, Magdalena und Johannes, verfolgt Luisa zurück. Luisa erzählt aber auch ihre eigene Lebensgeschichte, berichtet über den Moment, in dem sie erfährt, dass sie adoptiert ist und wie der Wunsch in ihr reift, mehr über ihre leiblichen Eltern herauszufinden.

Amputiert. So klingt es in den Ohren von Luisa, wenn sie daran denkt, dass sie adoptiert ist.

“Wir machen kleine Schritte, Magdalena und ich. Wir suchen nach Worten und nach schmalen Durchlässen. Nicht immer gelingt das. Das Sprechen über die andere Mutter, über Julka, über die leibliche Mutter, ist in der Zwischenzeit zur Insel geworden, auf der wir einander begegnen können, ohne an die eignen Sehnsüchte, die wir aneinander gerichtet haben, rühren zu müssen.”

Die Lebensgeschichten, die Luisa erzählt, sind randvoll, zum Bersten gefüllt. Zwischendurch hatte ich das Gefühl, das Buch weglegen zu müssen, weil ich es nicht mehr ertragen, nicht mehr aushalten konnte. Am besten beschreiben lässt sich all dies wohl als ein Gemisch aus Liebe und Schmerz. Sehr stark in Erinnerung geblieben ist mir Julkas Vater, der seine Frau verliert und damit auch sein ganzes Leben, bis er schließlich auch sich selbst zerstört. Auch Magdalenas Vater leidet unter einem schweren Schicksal, er kehrt aus dem Krieg nach Hause zurück, in eine Familie, in die er nicht mehr hineinpasst, in eine Welt, in der er nicht mehr Anschluss finden kann. Erschreckend ist auch die Geschichte von Julka, die in Deutschland am Fließband arbeitet und zwei Kinder von Kamil bekommt. Keines kann sie behalten.

Was bleibt, ist die Liebe, mit denen die Figuren beschrieben werden, die Wärme, die mich immer wieder umspült hat beim Lesen. Die Figuren, die beschrieben werden, machen nicht alles richtig, einige machen sogar viel falsch, doch irgendwie können sie auch einfach nicht anders. Vielleicht verhindern es die Umstände, dass sie sich anders verhalten könnten. Frei von Schuld. Es gab viele Stellen, an denen mir die Tränen gekommen sind, einfach weil sie so toll geschrieben sind, weil die Worte sich so passend angefühlt haben beim Lesen.

“Weil es stimmt, was die Leute sagen, dass man weniger ist als die Hälfte, wenn der andere fort ist, und weil sie an ihren Vater denkt, der nicht mehr leben wollte, als ihre Mutter starb, und jetzt, jetzt endlich versteht sie und weiß, wie man grau werden kann im Gesicht, einfach nur, weil man übrig ist.”

Luisa gibt ihrer Geschichte Raum in ihrem Leben, um selber wieder atmen zu können, um genug Platz zu haben, um wieder Luft schnappen zu können. Mit Hilfe ihres Kindes begreift Luisa, “dass man Worte finden muss – und weinen darf über das, was zerbrochen ist. Damit es nicht zum Nebel wird, der uns alle erstickt.”

Pia Ziefle ist ein großartiger Roman gelungen, ein fantastisches Debüt. Ich fühle mich nicht wirklich in der Lage dazu, Worte zu finden, die ausdrücken, was ich beim Lesen von “Suna” empfunden habe. Luisa hat eine ganz besondere Stimme und es gelingt Pia Ziefle sie ganz ruhig und unaufgeregt erzählen zu lassen. Und dennoch haben ihre Worte, ihre Geschichten eine so intensive Wirkung auf mich gehabt. Diese Mischung aus Intensität und dem ruhigen Erzählton von Luisa hat mich von Beginn an begeistert. Bei “Suna” stimmt einfach alles, die Sprache ist wunderschön und auch die Geschichte, die erzählt wird, hat mich begeistert.

Pia Ziefles Wörter haben sich eingebrannt. Sie haben sich mir ins Gehirn eingebrannt. Ich möchte sie dort einschließen, konservieren und überall hin mitnehmen können.

“Dass man dünn wird und dünner, wenn man nicht aufhört, mit dem Rücken an den Wänden des eigenen Lebens entlangzugleiten, nur weil man nicht weiß, wer man ist.”

Beim Lesen von Suna musste ich immer wieder an das Lied “Bring mich nach Hause” von Wir sind Helden denken, das ich deshalb hier auch gerne noch mal kurz erwähnen würde.

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