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Deutschsprachige Literatur

Meine wundervolle Buchhandlung – Petra Hartlieb

Meine wundervolle Buchhandlung ist ein wundervolles Buch über Bücher und Buchhandlungen und darüber was man mit einer großen Portion Begeisterung, Durchhaltewillen und Energie alles schaffen kann. Es geht um eine Schnapsidee, eine Buchhandlung in Wien und einen gelebten Traum.

Petra Hartlieb

Wir haben eine Buchhandlung gekauft: In Wien. Wir haben eine Mail mit einer Zahl geschrieben, ein Gebot, einen Betrag, den wir gar nicht hatten, und nach einigen Wochen kam die Antwort: Sie haben eine Buchhandlung gekauft!

Es gibt Bücher, die nimmt man in die Hand und legt sie erst wieder weg, wenn man sie ausgelesen hat. Genauso erging es mir mit dem Buch Meine wundervolle Buchhandlung, in dem Petra Hartlieb die Geschichte ihres Ladens erzählt. Genau genommen gehört Hartliebs Bücher, so heißt die Buchhandlung, auch ihrem Mann. Es war eine gemeinsame Schnapsidee, ein spontaner Entschluss aus dem dann Wirklichkeit wurde. Es war die Idee etwas gemeinsam zu machen, etwas zusammen aufzubauen. Beide leben eigentlich in Hamburg als sie auf die Buchhandlung bieten. Mit Geld, das sie nicht haben. Doch dann bekommen sie die Buchhandlung und statt vor lauter Schreck einen Rückzieher zu machen, brechen beide ihre Zelte ab, packen ihr Hab und Gut und die Kinder ein und gehen nach Wien. Beide lassen einen guten Job zurück – Petra Hartlieb war Literaturkritikerin und ihr Mann in einem Verlag tätig – und ziehen in eine ungewisse Zukunft. Doch das tun sie mit ganz viel Mut, Lust und Energie im Gepäck.

Ich verspüre plötzlich eine große Müdigkeit und denke an mein Latte-Macchiato-Leben in Hamburg. Statt Halbtagsstelle, schicker Wohnung und freier Zeiteinteilung nun also Tag und Nacht arbeiten, zunächst mal kein eigenes Zuhause und Schulden für die nächsten zehn Jahre. Oder länger? Wie gut, dass meine Vorstellungskraft dafür nicht ausreicht. 

Petra Hartlieb erzählt die Geschichte ihrer Buchhandlung, die sie erst einmal herrichten musste und über der sie später mit ihrer Familie eingezogen ist. Eine Wendeltreppe verbindet den Ort der Arbeit mit dem Wohnbereich. Es ist eine Geschichte voller Rückschläge, voll von Ängsten und Zweifeln. Es ist aber auch eine Geschichte, die von helfenden Händen erzählt und von dem Mut, die eigenen Träume zu leben. Petra Hartlieb hätte es wohl nie alleine geschafft, die Buchhandlung zu renovieren und bezugsfertig zu machen, auch das Weihnachtsgeschäft hätte sie in den ersten Jahren wohl kaum alleine überstanden – doch ihr Glück ist es, keine Hemmungen dabei zu haben, um Hilfe zu bitten.

Was ich so wunderbar an diesem Buch fand, ist die Tatsache, dass Mut belohnt wird. Eigentlich ist das ambitionierte Projekt zum Scheitern verurteilt, es gibt keinen ausgereiften Businessplan, es gibt nicht einmal eine ausreichende Finanzierung. Doch irgendwie wurtscheln sich die Hartliebs auf unkoventionelle aber herrlich charmante Art und Weise durch die ersten Monate.

Wir wohnen plötzlich in unserer Arbeit. Die Wendeltreppe, die das Hinterzimmer der Buchhandlung mit dem Vorzimmer unserer Wohnung verbindet, wird zum zentralen Dreh- und Angelpunkt unserer Lebens.

Doch auch die Zeit nach den ersten Monaten wird nicht unbedingt leichter, denn eine Buchhandlung zu führen bedeutet ein stetiger Kampf darum, neue Kunden zu gewinnen und alte Kunden zu halten. Dazu muss man im besten Fall innovativ und aufgeschlossen sein: Lesungen müssen organisiert werden und ein Webshop sollte aufgebaut werden. Petra Hartlieb beschreibt all die Menschen, die mit ihr in dieser Buchhandlung werkeln, die mit 40 Quadratmetern übrigens ziemlich klein geraten ist, mit so viel Liebe und Wärme, dass ich irgendwann das Gefühl hatte, selbst mit dabei zu sein. Als ein neues EDV-System ausprobiert wird und die Mitarbeiter regelmäßig zur Verzweiflung bringt, habe ich fast am eigenen Leibe mitgelitten. Auch die Beschreibungen der Weihnachtszeit, in der die Hartliebs noch bis spät in die Nacht hinein im Laden stehen und Bücher einsortieren, hat mein Mitgefühl geweckt. Es sind die Weihnachtsmonate, in denen sie ihr Geld verdienen. Wirkliches Geld, das nicht nur für die Miete und die Personalkosten draufgeht.

Irgendwann steht mitten in Wien die nächste Buchhandlung leer und wider des besseren Wissens – sollte man zumindest meinen – erwerben die Hartliebs auch diese. Doch anders als dem ersten Buchhandlungskauf liegt diesem ein ausgereiftes Konzept zugrunde. Beim ersten Mal hat es auch ganz spontan funktioniert, doch warum sollte man nicht auch einmal ein bisschen planen? Und so betreiben die Hartliebs mittlerweile gleich zwei Buchhandlungen in Wien und das wohl sogar ganz erfolgreich. Wer weiß, was da noch so kommen wird …

Das Bedarf einiger Fantasie, denn vierzig Quadratmeter sind keine Großfläche. Es ist und bleibt ein kleiner Raum, auf dem wir große Buchhandlung spielen, und die Lösung sieht so aus, dass jeder Verkaufspsychologe uns als Negativbeispiel in seinem Seminar anführen würde: Nach oben.

Meine wundervolle Buchhandlung ist ein wundervolles Buch darüber, wohin einen Mut und Begeisterung bringen können. Es ist ein wundervolles Buch darüber, dass es sich lohnt auch mal ein Risiko einzugehen oder etwas zu wagen. Petra Hartlieb lebt ihren Traum, weil sie immer daran geglaubt hat, dass sich dieser erfüllen könnte. Neben allem anderen ist ihr Buch also vielleicht auch ein guter Ratgeber dafür, häufiger auf das eigene Herz zu hören und den Träumen und Wünschen nachzuspüren – bevor es zu spät ist, denn schließlich haben wir nur dieses eine Leben.

[…] wir verkaufen das schönste Produkt, das es gibt. Wir verkaufen Geschichten. Und ich kann mich für einen guten Unterhaltungsroman genauso begeistern wie für die sogenannte ernsthafte Literatur, und manchmal finde ich diese Unterscheidung im deutschen Sprachraum sehr mühsam.

Meine wundervolle Buchhandlung ist aber auch ein wundervolles Buch über Bücher und ein flammendes Plädoyer für die kleinen und inhabergeführten Buchhandlungen. Genau das, wäre auch mein Wunsch, dass uns die kleinen und individuellen Buchläden noch lange erhalten bleiben.

Trümmergöre – Monika Held

Monika Held legt mit Trümmergöre einen lesenswerten Roman über das Wechselspiel von Gegenwart und Vergangenheit vor und erzählt dabei die Geschichte von Jula, die als Trümmergöre im Hamburg der Nachkriegszeit aufwächst und als Erwachsene darüber nachdenkt, in die Vergangenheit zurückzuziehen.

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Böse Geschichten kommen nur zur Ruhe, wenn sie sich irgendwo niederlassen dürfen.

Während sich Monika Held in Der Schrecken verliert sich vor Ort noch mit Auschwitz und dem Holocaust beschäftigt, wendet sie sich in ihrem neuen Roman dem Leben der Nachkriegszeit zu. Jula wächst als Diplomatentochter auf, doch mittlerweile ist sie erwachsen und sucht für sich und ihren Lebenspartner eine gemeinsame Wohnung. Es ist ein Zufall, der sie auf eine ganz besondere Wohnungsanzeige stoßen lässt: das Haus, in dem sie einen großen Teil ihrer Kindheit verbracht hat, steht zum Verkauf. Es ist das Haus, in dem sie mit ihrer Großmutter gelebt hat. Und es ist das Haus, in dem auch ihr Onkel Hans wohnte. All das liegt schon viele Jahre zurück, doch die zufällig entdeckte Anzeige reicht aus, um das Vergangene sofort wieder zurück in das Gedächtnis zu spülen. Jula beschließt die Wohnung zu besichtigen, doch mit dem Moment, in dem sie das Haus betritt, wird aus der geplanten Wohnungsbesichtigung eine schmerzhafte Reise zurück in die Vergangenheit.

Die Reise in die Zeit beginnt mit einer Kartoffel, einem scharfen Messer und der Zeitung von gestern. Ich schäle die Kartoffel wie meine Großmutter. Von oben nach unten, immer im Kreis herum, ohne das Messer abzusetzen. Am Ende liegen zwischen sandigen Girlanden Wortreste, Buchstaben und Silben, aus denen wir kranke Tiere machten. 

Als Jula vier ist, lässt ihr Vater sie bei der Großmutter zurück, um seiner Arbeit als Diplomat nachzugehen. Doch die Großmutter bewohnt das Haus nicht alleine, denn da gibt es auch noch Onkel Hans, der zwar in einem Haus mit seiner Mutter lebt, doch ansonsten nichts mit ihr zu tun haben möchte. Es gleicht einem bedrückenden Kammerspiel, wenn beide immer wieder umeinander kreisen – im Versuch sich so wenig wie möglich zu begegnen, wenn sie sich doch sehen, sprechen sie nicht miteinander. Nur Jula erhält Zutritt zum Zimmer des Onkels, ab und an nimmt er sie auch mit auf den Gebrauchtwagenplatz – dort arbeitet er. Onkel Hans gibt Jula all das, was ihr von ihrem Vater vorenthalten wird, er hört ihr zu, ist für sie da. Doch dem Leben, das er führt, fehlt die kindgerechte Version. Schnell lernt Jula, dass man nicht alles, was man tagsüber erlebt habe, abends erzählen müsse. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold und wer schweigt, kann nicht lügen. Onkel Hans führt sie in eine Welt ein, in der sie auf allerhand seltsame Gestalten trifft, eine Welt mitten im Hamburger Kiez.

Zwei Mal sagte Großmutter streng: Dreh dich um, Rudolf! Tu es für das Kind! Ich flüsterte: Dreh dich um, Vati, du hast mich hier vergessen, bitte dreh dich um. Ich winkte wild mit beiden Händen, das müsste er, dachte ich, im Rücken spüren. Ich schlug die Fäuste gegen die Scheibe. Er verschwand im Schnee, er löste sich vor meinen Augen einfach auf.

Obwohl Jula noch ein kleines Kind ist, als sie ihren Onkel kennenlernt, merkt sie schnell, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Den schönen Erinnerungen an ihre Kindheit haftet ein Schmerz an, für den es kaum Worte gibt. In der Wohnung, in die sie  als junge Frau wieder zurück ziehen möchte, ist sie erwachsen geworden – auf schmerzhafte Art und Weise und viel zu schnell. Monika Held macht deutlich, dass eine Vergangenheit vergangen sein kann, doch manchmal nie ganz vergessen wird. Onkel Hans hat Jula nicht den ersten Schmerz ihres Lebens zugefügt, aber den größten – davon erzählt Monika Held erst sehr viel später, doch das Wissen darum, dass es da eine offene und eitrige Wunde gibt, die nie so ganz verheilen konnte, ist das ganze Buch über präsent.

Lieber Gott, sag ihm, dass er umkehren muss. Wenn er schläft, weck ihn auf. Ich habe noch Schleifen in den Zöpfen und niemand hat mir die Haare gebürstet.

Mit kurzen Sätzen und wenigen Worten gelingt es Monika Held auf beeindruckende Art und Weise die Geschichte von Jula zu erzählen. Es ist eine Geschichte, die mich sehr berührt hat, eine Geschichte, die ich so schnell nicht vergessen werde. Monika Held erzählt nicht einfach nur, sondern schreibt Sätze von einer solchen Kraft und Schönheit, dass sie sich tief in in mein Herz gemeißelt haben. Ihre Figuren sind mit sanften Strichen gezeichnet, man kommt ihnen so nah, dass ihr Schmerz und ihre Verletzlichkeit manchmal nur schwer zu ertragen sind. Jula, ihre Großmutter und Onkel Hans teilen ein Schicksal, ihnen allen wurde Schmerz zugefügt – wenn auch auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Ich glaube, dass Monika Held zu den wichtigsten Autorinnen unserer Zeit gehört – es ist beeindruckend, wie es ihr gelingt, die Schicksale ihrer Figuren mit Leben zu füllen und mit so viel Wärme und Liebe von ihnen zu erzählen.

Monika Held ist mit Trümmergöre ein großartiger Roman gelungen, der mich nicht nur beeindruckt hat, sondern auch tief berührt. Ich hoffe, dass die Geschichte von Jula und ihrem geliebten Onkel Hans noch viele Leser und Leserinnen finden wird. Dieses Buch hätte es verdient.

Susan Sontag. Geist und Glamour – Daniel Schreiber

Essayistin, Filmemacherin, Schriftstellerin. Hochintelligent, wunderschön, charakterlich schwierig. All das – und wahrscheinlich noch viel mehr – ist Susan Sontag. In der großartigen Biographie Geist und Glamour begibt sich Daniel Schreiber auf ihre Spuren. Entstanden ist dabei nicht nur eine dichte und informative Biographie, sondern auch eine höchst lesenswerte.

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I’m happy when I dance.

Geist und Glamour ist die erste deutschsprachige Biographie über Susan Sontag gewesen und erschien bereits 2007 im Aufbau Verlag. Geschrieben wurde sie von Daniel Schreiber, der in Berlin und New York Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Theaterwissenschaft, Slawistik und Performance Studies studiert hat. Er schreibt für zahlreiche Zeitungen und hat im vergangenen Jahr das Buch Nüchtern vorgelegt – ein persönlicher Blick auf unseren Umgang mit Alkohol.

Bei der Lektüre von Geist und Glamour wird schnell deutlich, dass sich Daniel Schreiber intensiv mit Susan Sontag auseinandergesetzt hat – nicht nur mit ihr als facettenreiche und streitbare Person, sondern auch mit ihren Büchern. Hinterlassen hat die Autorin ein umfangreiches Werk: neun Essaysammlungen, vier Romane, zwei Drehbücher und ein Theaterstück. Während sie für ihre Essays mit viel Lob bedacht wurde, wurden ihre restlichen Arbeiten entweder verhalten kritisiert oder gar mit Spott und Häme überzogen. Ihrem Ruf als Intellektuelle hat dies überraschenderweise jedoch nie nachhaltig geschadet. Daniel Schreiber erzählt den ungewöhnlichen Lebensweg von Susan Sontag nach und setzt diesen immer wieder in ein Verhältnis mit ihren Texten und Veröffentlichungen. Entstanden ist dabei ein sehr dichtes und intensives Buch, voller Informationen. Es zeichnet das Bild einer Frau nach, die aus einfachen Verhältnissen stammt, mit einer schwierigen Mutter zusammenlebt und vaterlos aufwächst. Einer Frau, die früh beschließt, aus den Verhältnissen, in die sie hineingeboren wurde, auszubrechen und sich neu zu erfinden – als Intellektuelle und Schriftstellerin. Dieser Wunsch, sich selbst immer wieder neu zu erfinden, ist etwas, dass sich wie ein roter Faden durch das Leben von Susan Sontag zieht.

[…] die avantgardistische Kritikerin, die bei einer Anti-Vietnamkriegsdemonstration festgenomme, politische Radikale, die ernsthafte Filmemacherin in Schweden, die trotz fortschreitenden Alters jugendlich wirkende Intellektuelle und schließlich die engagierte Romanautorin mit Hang zur Künstler-Romantik.

Susan Sontag, die sich angeblich mit drei Jahren bereits das Lesen beigebracht hat, kommt mühelos durch Highschool und College und befreit sich mithilfe ihrer Bücherliebe aus dem Gefängnis ihrer Kindheit. Doch frei ist sie nur kurz, denn dann heiratet sie mit gerade einmal siebzehn Jahren Philip Rieff, einen deutlich älteren Soziologieprofessor. Das Gefängnis ihrer Kindheit wird durch das Gefängnis einer unglücklichen Ehe ersetzt. Es dauert lange, bis sie es schafft, sich daraus zu befreien und endlich auf eigenen Füßen zu stehen. Ihr Leben wird lange von zahlreichen intensiven, aber unglücklichen, Beziehungen geprägt – mit Männern und mit Frauen. Doch trotz ihres turbulenten Privatlebens, gelingt es Susan Sontag erstaunlich leicht, sich als Intellektuelle und Essayisten durchzusetzen – ihre häufig streitbaren Texte, die in zahlreichen Zeitungen veröffentlicht werden, finden viel Beachtung. Ein weiterer zentraler Bestandteil ihres Lebens waren ihre drei schweren Krebserkrankungen, die sie schließlich auch das Leben kosteten.

Die Erfüllung ihres unstillbaren Hungers nach Literatur unterschied sich wenig von ihren Essgewohnheiten am familiären Barbecue-Grill. Susans literarischer Hunger war so stark, dass sie trotz wochenlanger, schamvoller Selbst-Peinigungen sogar Bücher stahl, wie sie schilderte.

Daniel Schreiber greift beim Schreiben dieser beeindruckenden Biografie, die sich trotz aller Informationsdichte flüssig lesen lässt, auf eine Vielzahl an Quellen zurück – das Buch umfasst mehr als 700 Fußnoten. Deutlich wird dabei auch, wie mühevoll die Quellenauswertung gewesen sein muss – Susan Sontag entpuppt sich als hochintelligenter aber wankelmütiger Mensch, Geschichten werden von ihr immer wieder neu und in abgewandelter Form erzählt. Solange, bis um sie herum eine fast schon mythische Legendenbildung entstanden ist.

Ich dachte, ‘Scheiße, das wird >Pruust< ausgesprochen.’ Ich hatte die Recherche natürlich gelesen, aber ich hatte Prousts Namen noch nie ausgesprochen, nur in Gedanken, und ich dachte immer, es würde >Praust< heißen. Es war eigentlich ein wundervolles Gefühl – endlich würde ich lernen, wie man diesen Namen ausspricht. Endlich gab es andere Leute, die lasen, was ich las. Ich war endlich angekommen, und es war wahr, ich war es.

Der Untertitel der Biographie – Geist und Glamour – hätte nicht passender gewählt werden können, denn Susan Sontag vereint beides: einen scharfen Verstand und den Wunsch danach ein Leben mit chic zu führen. Aus diesem Grund bleibt es auch ein lebenslanges Anliegen von ihr, die Unterscheidung zwischen Unterhaltungsliteratur und anspruchsvoller Literatur aufzuheben. Warum muss man sich für The Doors oder für Dostojewski entscheiden? Warum kann man nicht beides schätzen?

Ich möchte nicht viele Bücher schreiben. Ich möchte ein paar wundervolle Bücher schreiben, die Menschen noch in hundert Jahren lesen werden.

Daniel Schreiber, der diese Biographie mit gerade einmal dreißig Jahren geschrieben hat, legt mit Geist und Glamour ein lesenswertes Buch vor, das einen umfangreichen Blick auf das Leben einer spannenden Frau wirft. Deutlich wird dabei, dass Susan Sontag eine schwierige Frau gewesen ist – so schwierig, dass es nicht ganz leicht ist, sie das ganze Buch hindurch zu mögen. Doch meine Bewunderung für Susan Sontag und meine Neugier auf ihre Texte hat dies keinen Abbruch getan: Daniel Schreiber lädt dazu ein, ihr umfangreiches Werk zu entdecken und ich bin gespannt darauf, wohin mich meine Susan-Sontag-Entdeckungsreise noch führen wird.

Auf Buzzaldrins Bücher besprochen wurden bereits die Tagebücher von Susan Sontag sowie der Interviewband The Doors und Dostojewski.

Urwaldgäste – Roman Ehrlich

Es ist noch gar nicht so lange her, dass Roman Ehrlich sein Debüt als Schriftsteller gefeiert hat – vor etwas mehr als einem Jahr erschien sein vielbeachteter Roman Das kalte Jahr. In diesem Herbst nun hat er sein zweites Buch vorgelegt, diesmal einen Erzählband, der den Titel Urwaldgäste trägt. Mit diesem entführt uns Roman Ehrlich in den Urwald der heutigen Arbeitswelt und den scheinbar ganz normalen Alltag.

Roman EhrlichIch fühlte mich ohnehin in diesen Tagen als soziales Wesen, als Mensch unter Menschen, unanbietbar.

Urwaldgäste ist ein seltsames Puzzle, das sich aus insgesamt zehn Erzählungen zusammensetzt. Alle Erzählungen können für sich stehend gelesen werden, manchmal begegnet man Figuren jedoch in mehreren der Erzählungen. Allen Erzählungen gemein ist der lapidare und scheinbar harmlose Ton, mit dem Roman Ehrlich einen ganz normalen Alltag beschreibt, der auf den zweiten Blick jedoch nicht mehr ganz normal wirkt. Gemein ist den Erzählungen jedoch auch das übergeordnete Thema: alle zehn kreisen auf unterschiedliche Art und Weise um unsere heutige Arbeitswelt, die eine etwas seltsam anmutende Welt ist. Eine Welt, die von ökonomischen Gesichtspunkten diktiert wird.

Es ist unmöglich, genau zu sagen, wann das geschehen war – wann dieser Zustand begonnen hatte, in dem ich maulfaul, abwesend und auch taub für die Äußerungen meiner Umwelt wurde. Es war ein Vorgang wie die Ankunft des Winters.

Da gibt es zum Beispiel den Protagonisten aus der ersten Erzählung, der zum Schein Physik studiert, um Zugriff auf die studentische Jobbörse zu erhalten. Er heuert bei dem Unternehmen Grinello Clean Solutions an, wo er einsam am PC seine neue Tätigkeit verrichten soll. Das Büro ist hochmodern ausgestattet, dem neuen Mitarbeiter fehlt es an nichts – nur menschliche Kollegen hat er irgendwie kaum. Wenn es ihm mal zu eintönig wird, dann kann er auf seinen USB-Weihnachtsbaum zurückgreifen. Dieser ganze Büroalltag wird von Roman Ehrlich lapidar geschildert, es erscheint alles so normal und alltäglich – in wie vielen Büros in Deutschland sieht es wohl genauso aus: in hochmodern eingerichteten Zimmern arbeiten Menschen stumpf vor sich hin, alleine mit sich und ihren sinnlosen Aufgaben. Keinem ist bewusst, wie einem dabei Stück für Stück das letzte bisschen Menschlichkeit abhanden kommt und von einem roboterhaften Tun ersetzt wird.

Ich stehe im Licht. Ich bin dran. An der Reihe – Aber halt! Halthalthalt. Hat denn so jemals jemand gesprochen? Hat denn, im Leben, jemals einer so geredet, sich so gegeben? Hat denn, hahaha, hihi hat denn so jemals jemand gelacht, hat sich denn je einer so aufgeregt, verdammt, Scheiße, Fuck, so wütend, war je einer so in Rage, so verzweifelt, so außer sich und ohne Hoffnung war jemals jemand so weit entfernt, so abwesend, versunken, verschlossen, verloren, hat sich jemals einer so gesehnt, so herrlich gesehnt, weil er so, so schrecklich verliebt war? Hat jemand, jemals, so direkt das Wort an Sie gerichtet und Sie gefragt, wollte jemals jemand auf diese Art von Ihnen wissen, was eigentlich mit Ihnen los ist?

Da gibt es auch noch Arne Heym, den Protagonisten einer anderen Erzählung, der ein unbefriedigendes Dasein in seinem Job fristet. Als er eines Abends auf eine spannende Werbeanzeige stößt (Lassen Sie sich täuschen!), verändert sich sein langweiliges und alltägliches Leben von einem Moment auf den anderen: plötzlich befindet er sich in einem lebensechten Rollenspiel, bei dem er nie so genau weiß, was Wirklichkeit ist und was Täuschung.

Ich habe eine große Sehnsucht. Ich gehe jeden Tag zur Arbeit. Und diese Arbeit, das ist es halt, was mir stinkt, ist dieser Ort der offenen Fragen, wo wie nirgends sonst ein Raubbau an meiner Sehnsucht getrieben wird. Eine Ausbeutung meiner Träume und Illusionen. Das findet hier statt. Aber sagen Sie mir mal, hat man Ihnen das nicht schon mal gesagt?

Roman Ehrlich legt mit Urwaldgäste einen vielschichtigen und interessanten Erzählband vor, der sich von vielem abhebt, dass unsere deutschsprachige Gegenwartsliteratur ansonsten zu bieten hat. Ein Grund dafür ist sicherlich die Tatsache, dass sich Roman Ehrlich einem wichtigen Themenkomplex annimmt: der Entindividualisierung unserer Arbeitswelt, vielleicht sogar unseres ganzen Lebens. Wo bleibt der Mensch in einer durchorganisierten und hochtechnisierten Welt? Wo bleibt das Menschliche? Wo bleiben Verletzlichkeit und überraschende Momente? Der Erzählton ist lapidar, fast beiläufig – so erschafft Roman Ehrlich eine Welt, die auf den ersten Blick ganz normal erscheint und doch verbergen sich unter dieser Oberfläche Seltsamkeiten, allerhand Skurriles und Befremdliches. In vielen der Erzählungen wird mit Realität und Phantasie gespielt und dabei werden Charaktere erschaffen, die genauso glatt sind, wie die Büros, in denen sie arbeiten. Das macht die Lektüre nicht immer einfach, aber darum nicht weniger spannend.

Urwaldgäste ist keine Lektüre für zwischendurch, ganz sicherlich nicht. Die Erzählungen erfordern nicht nur Zeit, sondern auch, dass man sich auf die Erzählwelt, die Roman Ehrlich erschafft, einlässt.Urwaldgäste ist kein Literatursnack und kein Wohlfühlbuch, aber ein hochinteressanter Erzählband, der es verdient, gelesen zu werden.

Weitere Besprechungen gibt es hier, hier und hier.

Maulinas erstaunliche Abenteuer …

Als ich die drei Bände rund um die liebenswerte Heldin Maulina zum ersten Mal in den Buchläden ausliegen sah, glaubte ich auf den ersten Blick nicht, dass das etwas für mich sein könnte. Sie sind liebevoll gestaltet und sehen dann doch aus wie … nun ja, wie Kinderbücher und ich bin doch schon lange kein Kind mehr. Dachte ich. Doch bereits nach den ersten Sätzen war es um mich geschehen, ich befand mich plötzlich in Maulinas Welt und wollte am liebsten gar nicht mehr weg.

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Maulen heißt nicht einfach rumstänkern, maulen, das ist eine Lebenseinstellung, aber davon später.

Maulina Schmitt heißt eigentlich Paulina Schmitt, doch es hat seine Gründe, dass sie von allen Maulina genannt wird. Maulina mault und wenn Maulina mault, herrscht akute Explosionsgefahr. Sie hat einen guten Grund zu maulen, denn ihr Leben verändert sich von einem Tag auf den anderen radikal und das ist für Maulina nur schwer auszuhalten, auch wenn es nur noch siebeneinhalb Jahre sind, bis sie endlich erwachsen ist und allein entscheiden kann. Maulina wurde aus ihrem Königreich Mauldawien vertrieben und gemeinsam mit ihrer Mutter an einen langweiligen Zipfel der Stadt verpflanzt. Im Königreich zurückgeblieben ist ihr Vater, den sie nur noch der Mann nennt, denn sie glaubt, dass er für all dies verantwortlich ist. All das, was vorher gut gewesen ist, gibt es plötzlich nicht mehr. Stattdessen wohnen Maulina und ihre Mutter von nun an in Plastikhausen, in einer kleinen Wohnung voller Plastikgriffen, Plastikfenstern, Plastikfensterbänken.

Aus der Wohnung mit den vier Zimmern, dem Dachboden des Grauens, dem Garten, dem wertvollen, bunten Frühwerk auf den Tapeten und der Straße voller Freunde ist ein mickriges Plastikhaus geworden am anderen Ende der Stadt. Wenn das, was wir hatten, ein Pfannkuchen war, ist davon nur noch ein fettiger Abdruck auf dem leeren Teller geblieben und ein Rest von Geschmack auf der Zunge. Und jetzt? Ein muffeliges, kleines, quadratisches Haus, das sich zwischen andere muffelige, quadratische Häuser in eine Straße aus kleinen Häusern duckt.

Doch Stück für Stück muss Maulina feststellen, dass die grausigen Tatsachen des Lebens sogar noch ein bisschen komplizierter sind, als gedacht – ihre Mutter und der Mann haben sich nicht nur getrennt und sie musste ihr geliebtes Königreich verlassen, sondern sie erfährt schließlich auch noch, dass der Grund dafür die Erkrankung ihrer Mutter ist. Einen Namen hat diese Erkrankung nicht, aber es wird schnell deutlich, dass sie der Mutter alle Lebenskraft raubt, aber nicht alle Lebensfreude. Doch das, was Maulina durch den Umzug genommen wird, erobert sie sich Stück für Stück zurück. Eine große Rolle spielen dabei der General für Käse, ihr Schulfreund Paul, Ludmilla Lewandowski, ein geheimnisvolles Eisrezept und die Geheimwaffe Kakao.

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Der Mann hat keinen Namen mehr. Er ist unaussprechlich geworden, wie die Namen der schlimmsten Bösewichte in Kindergeschichten und Märchen, so ein Name, der, wenn man ihn ausspricht, einem die Knie verdreht und Pflanzen eingehen lässt, ein Name, den man nicht in den Mund zu nehmen wagt, weil dann die Schuhsohlen schmelzen, die Brillengläser springen, die Tiere in Ultraschall schreien und fliehen.

Die erstaunlichen Abenteuer von Maulina Schmitt umfassen drei Bände, drei Bände voller Abenteuer, voller Freude und Momenten zum Schmunzeln. Drei Bände die aber auch angefüllt sind mit Traurigkeit, Krankheit, Tod und damit, dass das Leben sich jederzeit ändern kann und wir keine Möglichkeit haben, diese Veränderungen zu kontrollieren oder aufzuhalten. Wir können nur noch entscheiden, wie wir mit diesen Veränderungen umgehen wollen. Finn-Ole Heinrich hat keine typischen Kinderbücher geschrieben, wenn es das überhaupt gibt. Er hat mit Maulina Schmitt eine tapfere und mutige Heldin geschaffen, deren Abenteuer von Menschen allen Altersgruppen gelesen werden kann. Wie schade wäre es gewesen, wenn ich diese großartige Lektüre verpasst hätte, weil ich mich von irgendeiner Etikettierung hätte abhalten lassen. Maulina Schmitt ist für all diejenigen geschrieben worden, die sich irgendwo an dieser mysteriösen Schwelle zwischen Kindheit und dem Leben als Erwachsene bewegen und für all diejenigen, die das Kind in sich immer noch bewahren konnten.

Als erwachsene Leserin habe ich beim Lesen immer einen kleinen Erkenntnisvorsprung gegenüber Maulina, begreife die Erkrankung der Mutter schneller und möchte irgendwann nur noch meine langen Arme um dieses traurige mutige trotzige kleine Mädchen legen, um sie vor dem Leben zu beschützen. Finn-Ole Heinrich erzählt von schweren Themen, von Themen, für die Kinder wohl kaum eigene Worte finden können. Er erzählt von Kaugummischmerz und dem Ende des Universums und er erzählt ganz ohne pädagogischen Zeigefinger. Er erzählt davon, manchmal, wenn einen die schlimmen Wendungen des Lebens erdrücken, vielleicht einfach aus einer anderen Perspektive auf das Leben zu blicken. General Käse würde sagen: Savoir vivre.

[…] diese zwei kleinen Worte, die sind ein Aufruf, ja ein Befehl! Immer das Leben zu untersuchen, alles auszuprobieren. Du musst rausfinden, was du willst und warum, und dann musst du dich auf den Weg dahin machen, mit allen Macken, die du hast. Und das Wichtigste ist, dass du auf dem Weg so viel Spaß hast wie möglich, dass du genießt und das Kleine kapierst, das Einfache siehst, das Mickrige liebst, nicht nur das Allerobermegadollste brauchst, sondern dich schon an ganz wenig freust und den Ausblick genießt. Und dass du, wenn mal was Blödes passiert, es nicht persönlich nimmst, sondern die Schultern zuckst und drüber lachst.

Durch die drei Bände begleiten mich die wunderschönen Zeichnungen von Rán Flygenring, die die Lektüre zu einem ganz besonderen Erlebnis gemacht haben. Und so habe ich drei Bücher, die eigentlich aussehen wie Kinderbücher, an nur einem einzigen regnerischen Samstag durchgelesen und habe dabei nicht nur Maulina ganz tief in mein Herz geschlossen, sondern beim Lesen auch gelacht und geweint, denn selten zuvor war ich so berührt von dem Ende eines Buches. Was bleibt mir nun anderes übrig, als euch diese drei Bände ans Herz zu legen? Genau: bitte lesen, ganz unbedingt.

Das letzte Land – Svenja Leiber

Svenja Leiber erzählt eine Geschichte, die ganze vierundsechzig Jahre umspannt. Es ist eine Geschichte über das Leben und den Tod, über die Liebe, Leidenschaften und Begabungen, die Musik und unsere dunkle Vergangenheit. Es ist eine Geschichte voller Poesie und Musikalität, die vieles in sich vereint: Das letzte Land ist Bildungsroman, Familiengeschichte und Kriegsbuch in einem.

DSC_2129Wer will denn da noch schlafen, denkt Ruven und sieht den Vater gehen. Nie mehr will ich schlafen, wenn ich dafür das Geigen lern.

Die Geschichte, von der Svenja Leiber erzählt, beginnt im Jahr 1911: wir lernen Ruven Preuk kennen, den jüngsten Sohn des Stellmachers. Statt bei der täglichen Arbeit mit anzupacken, steht der sensible Junge häufig abseits und spinnt seine eigenen Gedanken. Ruven hat eine ganz besondere Begabung: er kann Töne sehen und seltsam schöne Melodien auf der Geige spielen. Im rauen Dorfalltag weiß kaum jemand  etwas mit dem Jungen und dessen Begabung anzufangen. Es werden mutige und kräftige Männer gebraucht, die arbeiten und anpacken können, keine Träumer, die glauben Farben zu sehen, wenn sie Töne hören. Es ist ein Zufall, der ihm eine Geige schenkt, doch fortan musiziert der Junge und erhält Unterricht. Es dauert nicht lange und Ruven spielt besser als der Dorflehrer. Auf der Suche nach neuen Lehrern zieht es Ruven immer weiter fort: in der Stadt findet er einen neuen Lehrer. Bei dem Juden Goldbaum lernt er nicht nur seine Geige besser kennen, sondern verliebt sich auch noch in dessen Enkelin Rahel.

Ist ihm langsam ganz fern, dieser Junge. Kommt weder nach ihm noch nach der Mutter, und kam doch aber mal nach ihnen beiden. Er hatte die Formen von ihm und die Farben von ihr. Jetzt sieht es so aus, als habe er vor, einer zu werden, den man nicht kennt, jedenfalls sagte das neulich der Röver und guckte dabei nicht eben freundlich.

Eine Begabung, die in seinem Heimatdorf nicht erwünscht gewesen ist, die – wenn überhaupt – belächelt wurde, verspricht Ruven plötzlich Freiheit und Anerkennung. Auch wenn er seinem Zuhause weiterhin verhaftet bleibt, dringt er mit seiner Geige in der Hand in Gesellschaftsschichten vor, die eigentlich unerreichbar für ihn sind. Doch der Zweite Weltkrieg zerstört nicht nur Deutschland, sondern auch Ruvens Glauben an eine Karriere als Musiker.

[…] dann hat er nach ihrer Hand gegriffen, wie seit Jahren nicht, und sie hat gesagt, das sei eben das Schlimme am Muttersein, dass man seit der Geburt immer nur Abschied nehme. Auch Ruvcn nimmt Abschied, aber davon weiß er noch nichts, weil man mit neun immer nur weiß, dass was kommt, und darüber das Gehen nicht merkt. Das hat er seiner Mutter voraus. Er kann in jedem Moment vergessen, loslassen, wo sich was Neues breitmacht, genau wie sich jetzt das Fieber in Ruven breitmacht, oder die Zukunft.

Svenja Leiber begleitet ihre Figuren bis in das Jahr 1975 hinein: heraus aus dem bäuerlichen Dorf im hohen Norden, bis in die Großstadt nach Hamburg. Es sind 64 Jahre, während denen Ruven, der feinsinnige Junge mit der Geige, zu einem erwachsenen Mann reift – verheiratet ist und Nachwuchs bekommt. Alles könnte so schön sein, doch während Ruven den Ersten Weltkrieg noch unbeschadet übersteht, raubt der Zweite Weltkrieg ihm seine Karriere, seine Leidenschaft, sein Talent. Er wird eingezogen und muss das Musizieren aufgeben, als er nach Hause zurückkehrt, ist nichts mehr so, wie es zuvor gewesen ist. Er musiziert zwar noch, doch nie wieder so erfolgreich wie vor dem Krieg. Doch es nicht nur seine berufliche Laufbahn, die in einem schmerzhaften Prozess in zwei Teile bricht – auch seine Familie löst sich während des Krieges auf. Der Krieg löscht alles aus, löst alles auf, zerstört das, was zuvor gut gewesen ist.

Es ist nicht möglich, auf der Welt zu sein und keinen Vater zu haben. Es ist nicht denkbar. Man müsste verrückt werden, weil man weiterlebt, obwohl der, der immer schon lebte, der immer schon da war, lange vor einem selbst, und der für alles gesorgt hat, nicht mehr ist. Und die Liebe, die man doch für ihn hatte, die läuft jetzt immer ins Dunkle hinaus, als hätte man da irgendwo ein Leck.

Svenja Leiber entwirft in ihrem Roman nicht nur ein groß angelegtes Zeitpanorama, sondern auch eine weit verzweigte Familiengeschichte. Ihre Figuren begleitet sie über viele Jahrzehnte und behält dabei alle Erzählfäden kunstvoll in der Hand. Die Sprache ist etwas ganz Besonderes und wunderbar poetisch, auch wenn sich mancher Satz ungewöhnlich liest, verzaubern die Worte einen zugleich. Auch wenn “Das letzte Land” so viele Themen in sich vereint – zwei Weltkriege, eine große Familie, Tod und ganz viel Liebe – wirkt der Roman keineswegs überladen.

Das letzte Land ist einer der Romane dieses Jahr, die in dem Wust an Neuerscheinungen etwas untergegangen zu sein scheinen, doch diese Geschichte hat es verdient, entdeckt und gelesen zu werden und zwar von möglichst vielen!

Länger als sonst ist nicht für immer – Pia Ziefle

Warum werden wir zu den Menschen, die wir sind? Dieser Frage spürt Pia Ziefle in ihrem neuen Roman Länger als sonst ist nicht für immer nach. Es ist ein Sommertag im Jahr 1976 der das Leben von drei Kindern für immer verändern und sie zu den Erwachsenen macht, die sie später werden sollten.

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Die Dinge entscheiden sich von ganz allein, wenn man ihnen nur genügend Zeit lässt.

Lew ist siebenunddreißig Jahre alt und auf der Suche nach seinem Vater in einem indischen Dorf gestrandet. Das erste Mal in seinem Leben, nimmt der junge Mann sich Zeit, um zurückzublicken. Lew ist in der DDR aufgewachsen, als er noch ein kleines Kind ist, flüchten die Eltern und lassen ihn und seinen Bruder Manuel zurück. Auf sich allein gestellt und mit so unendlich vielen Fragen. Lew und Manuel kommen in eine Pflegefamilie, doch dieser Bruch, der die Kindheit zersplittern und in zwei Teile teilen sollte, den können sie nie so ganz überwinden. Erst mit siebenunddreißig Jahren erfährt Lew, wo sein Vater lebt. Sein Bruder Manuel möchte nicht noch einmal in die Kindheit zurückkehren, doch Lew reist nach Indien – auf der Suche nach Antworten auf Fragen, die sein ganzes bisheriges Leben geprägt haben.

Was wird er diesem Vater erzählen können, wenn er ihn morgen wiedersieht, nach neunundzwanzig Jahren?

Auch Ira reist in Gedanken zurück in ihre Kindheit, sie reist zurück, weil sie Abschied nimmt. Ihr Vater ist schwer krank, er liegt im Sterben und plötzlich zieht all das an ihr vorbei, das ihr Leben geprägt und sie zu dem Menschen gemacht hat, der sie heute ist. Ihre Eltern sind nicht verschwunden und doch waren sie nie wirklich da für Ira. Von der Mutter wurde sie nicht geliebt, der Vater hat sich zwar gekümmert, doch zu nahe durfte sie ihm nicht kommen. Ein Zuhause hat sie nie wirklich gehabt, sie hat sich immer fehl am Platz gefühlt, unerwünscht, überflüssig. Ein Gefühl, das auch als Erwachsene noch wie klebriger Schleim an ihr haftet. Der einzige Ort ihrer Kindheit, der ihr Sicherheit bietet ist die Bäckerei, in der Tag ein und aus Evi hinter der Theke steht. Dort lebt auch Fido, der ihr bester Freund werden sollte.

Fido trägt ein Gepäck an ganz eigenen Geschichten mit sich – auch er wurde von der Mutter verlassen, sie ist nach Deutschland gereist um Geld zu verdienen. Als Fido und sein Großvater nachkommen, hat sich die Mutter schon längst ein eigenes Leben aufgebaut, in dem Fido keinen Platz hat. Er bleibt mit seinem Großvazer zurück und zieht in die Wohnung über Evis Bäckereistube.

Er will in seinem Haus bleiben zum Sterben, weil er glaubt, er kann unsere Geschichte einfach so mitnehmen. Aber sie wird bleiben, wenn er nicht mehr da ist, selbst dann, wenn ich die Möbel verschenke, die Teppichböden herausreiße und die Tapeten von den Wänden ätze, dann wartet sie noch immer in diesem Haus auf die nächsten Bewohner.

Sanft und mit viel Wärme umkreist Pia Ziefle die Frage danach, was uns so werden lässt, wie wir sind. Lew, Ira und Fido spüren dieser Frage selbst nach, wenden sich der Vergangenheit zu, erforschen diese, immer auf der Suche nach Gründen. Warum ist man, wie man ist? Warum ist man ein vorsichtiger Mensch, warum ein trauriger, warum ein ewig besorgter? Es müssen nicht immer die großen Brüche sein, wie die Republikflucht von Lews Eltern, die ein Leben nachhaltig prägen können. Manchmal sind es klitzekleine und ganz alltägliche Ereignisse, die einem Leben eine ganz andere Wendung geben. Manchmal liegt die Vergangenheit wie ein dunkler Schatten über dem eigenen Leben, der alles andere unter sich begräbt. Lew und Ira müssen sich von diesem Schatten befreien, um wieder atmen zu können. Lew muss seinen Vater finden, um all die unbeantworteten Fragen zu den Akten zu legen, Ira muss sich von ihrem Vater verabschieden, um ihre Kindheit endlich hinter sich zu lassen. Erst wenn dies gelingt, gelingt es auch, sich von den eigenen Wurzeln zu lösen. Eine Kindheit ist immer eine prägende Zeit, doch erst wenn man sich von dieser Altlast befreit, kann man irgendwann so leben, wie man leben möchte.

Und als er abermals das Wasser sieht und die winzigen Boote, die Häuserschluchten, die verdorrten Büsche an den rotschimmernden Abhängen und das Blau des Himmels, an den Rändern ein wenig lichter, da wird ihm klar, dass er diese Reise begonnen hat, um einem kleinen Jungen zu begegnen, der noch immer in einem längst verschwundenen Land hinter einer Mauer lebt und hoch oben auf einem Klettergerüst auf ihn wartet.

Pia Ziefle legt mit Länger als sonst ist nicht für immer einen feinsinnigen und nachdenklichen Roman vor, der seinen ganz eigenen Rhythmus hat. Überzeugend werden nicht nur mehrere Perspektiven miteinander verschränkt, sondern auch eine Vielzahl an Figuren und Zeitebenen. So bewegen wir uns wie auf einer sanften Welle durch das Leben von Lew, Ira und Fido und dabei ist nur eines sicher: nichts ist sicher und im Leben kann es immer Überraschungen geben.

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