Browsing Category

Deutschsprachige Literatur

Lexikon der Angst – Annette Pehnt

Annette Pehnt wurde 1967 in Köln geboren und hat in Irland, Schottland, Australien und den USA studiert und gearbeitet. Heutzutage lebt sie als Autorin und freie Dozentin in Freiburg und hat bereits eine Vielzahl an Veröffentlichungen und zahlreiche Preise vorzuweisen. Zuletzt erschien ihr viel beachteter Roman “Chronik der Nähe”, ihr Roman “Mobbing” wurde im vergangenen Jahr für das Fernsehen verfilmt. Mit “Lexikon der Angst” liegt seit dem Herbst des letzten Jahres nun ihr neuestes Buch vor, kein Roman diesmal, aber dennoch eine intensive Lektüre.

Collage Pehnt 1

“Die Angst um ihn wurde zu einem leisen Rauschen.”

Der Begriff Angst, um den sich dieser ganze schmale Erzählband dreht, ist ein Grundgefühl, das wohl bereits jeder von uns gefühlt hat. Wenn man aus einer etymologischen Perspektive auf das Wort blickt, findet man heraus, dass es von dem lateinischen Wort angustus abstammt, das so viel bedeutet wie Enge, Beengung, Bedrängnis.

“Hungrig sein im eigenen Hause. / Stinken, ohne davon zu wissen. / Nicht mehr aufhören können zu lachen. / Das eigene Kind nicht lieben. / Sich an den Rändern auflösen. / Nichts mehr hören können. / Nichts mehr schmecken können. / Nicht mehr gehen können. / Nicht mehr singen können. / Zu viel sehen müssen. / Jemanden lieben und es niemals sagen können.”

Ein schmerzhaftes Gefühl der Enge hat sich auch beim Lesen dieses Lexikons um meine Brust gelegt. Annette Pehnt erzählt in ihren Geschichten, die häufig federleicht und lakonisch wirken, von Angst in all ihren Facetten. Eine Frau hat Angst vor Schweigen; sie fürchtet sich vor dem Autoschweigen, dem Warteschweigen, dem Liebesschweigen und dem Essensschweigen. Eine andere Frau erdrückt ihr Kaninchen, weil sie sich vor all dem fürchtet, was ihm in dieser Welt zustoßen könnte. Ein Mann fürchtet sich vor seinen Kindern, die sich an seinem heimlich Ersparten bereichern könnten. Ein anderer Mann lebt mit der Angst davor, in einen Schatten treten zu können.

Annette Pehnts “Lexikon der Angst” ist ein Sammelsurium der Seltsamkeiten und Kuriositäten.  Die Geschichten sind nach dem Alphabet geordnet. Die Oberbegriffe, unter denen sie versammelt sind, erscheinen auf den ersten Blick seltsam abstrakt und auf einen zweiten Blick schmerzhaft klar. Das Lexikon reicht von A wie Aal bis Z wie Zittern. Die Frau, die sich vor dem Schweigen fürchtet, findet sich unter dem Buchstaben D, wie Deckelchen. Der Mann, der sich vor dem Schatten fürchtet verbirgt sich hinter dem Buchstaben M, wie Morgenlicht. Es werden viele Ängst beschrieben, die seltsam wirken und doch gleichsam kurios. Diese Tatsache sorgt für den verwunderlichen Umstand, dass ein Lexikon der Ängste beinahe schon eine heitere Note haben kann. Dazwischen, zwischen all diesen Seltsamkeiten, verbergen sich aber auch Urängste, die mir erschreckend bekannt vorkommen. Es ist die Angst davor, ein eigenes Kind zu verlieren. Die Angst vor dem, was alles passieren kann. Es ist die Angst vor dem Moment, ein Kind vor den Gefahren dieser Welt nicht mehr schützen zu können: “Seine Welt war jetzt so weit geworden, dass sie mit der Angst nicht mehr hinterherkam.” Da ist ein Kind, das Nacht um Nacht nicht schlafen kann, weil es seinen eigenen Tod fürchtet und von der Mutter keinen Trost erfährt.

“Sie sagt nicht, dass ich sterben muss, oder, dass etwas Schreckliches passiert, sie sagt, dass der Tod kommt. So stellt sie sich ihn auch vor, als jemanden, der zur Tür hereinkommen kann, jemand Schmalen, der sich auf die Bettkante setzt, ganz wie die Mutter jetzt, und der tonlos fragt, was ist denn wieder los.”

In manchen Geschichten geht die Angst in einen Zwang über: da ist eine Frau, die immer wieder nach Hause zurückkehrt, um zu überprüfen, ob die Herdplatte ausgeschaltet ist.  Oder der Mann, der gute Gründe hat, sich vor dem Autofahren zu fürchten, bei dem so viel passieren kann. Sogar ein Date mit seiner Kollegin lässt er sausen, weil er sich fürchtet, zu ihr in den Wagen zu steigen. Was zunächst sonderbar erscheint und wie ein herrliches Plädoyer für die Deutsche Bahn, wirkt bei genauerem Hinsehen erschreckend realitätsnah, weil “die Statistik der Verkehrstoten pro Jahr höher ist als die der Bürgerkriegsopfer in Afghanistan und Irak zusammen.”

“[…] weil verdammt noch mal ein kleiner Herzinfarkt ausreicht oder ein wild gewordener Teenager, der Pflastersteine von einer Brücke schleudert, oder ein einziger besoffener Lkw-Fahrer, oder eine Frau, deren Wehen plötzlich einsetzen, ach, selbst ein Gähnen könnte genügen, ein Sandkorn im Auge, eine Ölschliere, ein geplatzter Reifen, eine kaputte Bremse, ein Hagelschauer, ein Steinchen in der Windschutzscheibe, und all das hat er nicht erfunden, um irgendjemandem Angst zu machen, das sind Tatsachen.”

Collage Pehnt

Es ist egal, welche der Männer und Frauen man aus den Geschichten beschreibt, das übereinstimmende Gefühl beim Lesen der Erzählungen war Beklemmung. Ein Gefühl der Enge, das einem beim Atmen die Luft abschnürt. Keine der Erzählungen ist länger als wenige Seiten, doch der Autorin gelingt es, gerade auch durch die Kürze, die Angstgefühle sehr plastisch abzubilden: Angst ist lähmend, lebenshinderend. Angst kann eine Einschränkung sein, eine Beschränkung. Ich lese von diesen Männern und Frauen und frage mich: was lasst ihr euch durch eure Angst alles vom Leben nehmen?

Während wir uns heutzutage häufig mit den großen Ängsten unserer Zeit beschäftigen, sei es die Angst vor Arbeitslosigkeit, Altersarmut, dem nächsten Krieg oder Atomwaffen, widmet sich Annette Pehnt den Alltagsängsten. Den kleinen Ängsten, die beinahe schon skurril und niedlich wirken und doch so eine erschreckend lähmende Kraft entwickeln können, dass sie sich in die kleinsten Winkel unseres Lebens einnisten und uns die Luft zum Atmen abschnüren können. “Lexikon der Angst” ist ein sensibler, liebevoller und kluger Erzählband über die Angst und über das Leben.

Mittelstadtrauschen – Margarita Kinstner

Margarita Kinstner wurde 1976 in Wien geboren. Nach Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien, legt sie mit “Mittelstadtrauschen” ihr Romandebüt vor. Die Autorin betreibt eine eigene Homepage.

“Die große Liebe ist austauschbar, wie alles im Leben.”

Collage Mittelstadtrauschen

“Mittelstadtrauschen” ist ein Roman, der mich schon durch seinen Titel verzaubern konnte: Mittelstadtrauschen, was soll das eigentlich genau sein? Genauso wunderbar ist das Cover des Romans, das ein undurchsichtiges Beziehungsgeflecht zwischen einer Vielzahl an Personen darstellt. Zu Beginn des Romans konnte ich nicht ahnen, wie häufig ich mir zwischendurch noch das Cover ansehen würde, um über die Beziehungen der Figuren den Überblick behalten zu können. “Mittelstadtrauschen” umfasst gerade einmal 300 Seiten, dafür aber eine ganze Menge an Figuren, die mal auf- und dann wieder abtauchen. Figuren, die mir mal nahe kommen, aber mir dann auch wieder seltsam fremd bleiben.

Ausgangspunkt des Romans und des Beziehungsgeflechts ist ein schicksalhafter Zufall: Marie erschrickt sich in einem Café so sehr über die nackte Brust einer stillenden Frau, dass sie die Kaffeetasse eines jungen Mannes umstößt. Jakob heißt dieser junge Mann, der nicht nur seinem Kaffee dabei zuschaut, wie er auf den Boden tröpfelt, sondern auch Marie in die Augen blickt. Es ist Schicksal. Und es ist Liebe auf den ersten Blick. Zumindest glauben das Jakob und Marie.

“Da kann man nichts machen, da muss man sich fügen. Und so unrecht haben sie nicht, die alten Damen, denn wer bestimmt schon, ob man zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist, oder zur falschen Zeit am falschen Ort, oder zur richtigen Zeit am falschen Ort, oder zur falschen Zeit am richtigen Ort? Wer entscheidet, wenn nicht das Schicksal, und wer traut sich am Ende seines Lebens schon zu sagen, welche Zeit die richtige und welche die falsche gewesen ist, welchen Ort man besser aufgesucht und welchen man besser gemieden hätte?”

Es ist dieser Zufall, der eine Kettenreaktion in Gang setzt: Jakob verliebt sich in Marie und trennt sich deshalb von seiner Freundin Sonja. Der fällt es schwer, lange alleine zu bleiben und so lernt sie kurz darauf Gery kennen. Gery war der beste Freund von Joe, der ein Ex-Freund von Marie ist. Er hat sich vor einigen Wochen mit einem spektakulären Sprung in den Donaukanal das Leben genommen. Und das ist noch längst nicht alles, denn da gibt es noch Maries Eltern, die beide verrückt werden und die Welt verlassen. Maries Mutter nimmt sich das Leben, als Marie noch ein Kind ist, der Vater zerbricht an dem Schmerz über den Verlust seiner Frau. Auch Jakobs Eltern sind Teil des Beziehungsgeflechts, denn Gery ist der Essenslieferant von Jakobs Großmutter. Darüber hinaus gibt es auch noch die Verwandten von Joe. Garniert wird die Verwirrung mit nicht ganz so leicht zu merkenden Namen, im Gedächtnis geblieben sind mir Marianne Schreyvogel und Traude Stierschneider.

“Das Leben geht weiter, geht immer irgendwie irgendwo weiter, spiegelt sich in scheinbarer Unendlichkeit.”

Wer jetzt den Überblick verloren haben sollte, muss sich keine Vorwürfe machen – so erging es mir beim Lesen zwischenzeitlich auch immer wieder. Diese Vielzahl an Figuren, die den Roman stellenweise überfüllt wirken lassen, könnten ein Anlass für Kritik am Buch sein, doch meiner Meinung nach sollte das Gegenteil der Fall sein: Margarita Kinstner hat ihren Roman wunderbar konzipiert. Der Titel, “Mittelstadtrauschen”, wurde nicht zufällig gewählt, sondern ist Programm: statt sich auf die Lebensverläufe und das Schicksal einiger weniger Figuren zu konzentrieren, möchte die Autorin das Rauschen einer Stadt abbilden. Es ist das Rauschen einer Mittelstadt, einer Stadt, in der man manchmal nur noch den Schatten von Menschen wahrnimmt, so rauschend bewegen sich alle umeinander. Es ist eine Stadt, in der der Einzelne nicht mehr gesehen wird, sondern in der Menge zu einer einzigen gesichtslosen Kreatur verschwimmt. So bleiben auch einige der Figuren bei Margarita Kinstner blass, farblos und fremd.

“Mittelstadtrauschen, hatte Joe es genannt. Die Menschen rauschen an dir vorbei, und die meisten von ihnen erkennst du schon am nächsten Tag nicht wieder. Mittelstadtrauschen, das war seine Bezeichnung für Wien. Weder Metropole noch Kleinstadt – Mittelstadt eben.”

Beim Lesen fühle ich mich, als sitze ich in einem rasenden Zug; die Figuren rauschen an mir vorbei und ab und an kann ich einen genaueren Blick erhaschen. Im Zentrum steht Marie, um sie kreist der Text, der eine Geschichte von der Liebe erzählt. Marie selbst, aber auch die Figuren um sie herum, verlieben und entlieben sich, stürzen sich in Affären und beenden Liebesabenteuer. Manchmal hält man aneinander fest, manchmal lässt man sich gegenseitig wieder los. Es geht jedoch nicht nur um die Liebe, sondern auch um den Tod. Joe hat sich das Leben genommen und geistert einem Gespenst ähnlich durch die Gedanken der Hinterbliebenen.

Collage Mittelstadtrauschen 2

“Manchmal überrascht einen die Liebe auch von hinten. Ganz leise schlecht sie sich an dich heran, Katzenpfoten auf Fischgrätparkett, und stupst dir ihre feuchte Nase gegen die Wade.”

Dem, was im Rauschen verloren gehen könnte, setzt Margarita Kinstner eine wunderbare Sprache entgegen. Sie erzählt ruhig und bedächtig, schafft aber stellenweise wunderschöne und sehr poetische Bilder. Ihre Figuren blicken sich aus Märzhimmelaugen an und riechen nach frisch gebackenen Cantuccini, nach Mandeln und Honig, nach Süße und Leichtigkeit.

“Erinnerungen sind eine dumme Sache. Immer wieder rotzen sie Vergangenes hoch, wie ein Kettenraucher am Morgen den Schleim, der sich tags zuvor in seinen Lungen festgesetzt hat. Gelblich-grauer Schleim, zähflüssig nach oben gehustet.”

Wer Zeit und Muße hat, sich durch das doch manchmal dichte Figurengestrüpp zu kämpfen, wird am Ende dafür belohnt. Margarita Kinstner legt mit “Mittelstadtrauschen” einen lesenswerten Roman vor, nicht nur über die Liebe, sondern auch über das Leben und den Tod. Es geht um Erinnerungen und es geht darum, welche Entscheidungen wir im Leben treffen und wie sehr das Schicksal dabei ein Wörtchen mitspricht.

Der Sommer hat lange auf sich warten lassen – Melitta Breznik

Melitta Breznik wurde 1961 in der Steiermark geboren und lebt heutzutage in Basel und Zürich. Im Luchterhand Verlag sind bereits einige viel beachtete Bücher von ihr erschienen, zuletzt im Jahr 2010 ihr Roman “Nordlicht”. Im vergangenen Herbst erschien ihr neuester Roman “Der Sommer hat lange auf sich warten lassen”.

Collage Breznik

Margarethe ist eine starke Frau, auch wenn sie bereits über neunzig Jahre alt ist. Ihr Leben im Altersheim empfindet sie wie das Leben in einer Zelle, in der sie selbst lediglich eine Insassin ist. Lang hat Margarethe an der Seite ihres zweiten Mannes Alexander ein selbstständiges Leben geführt. Ihr Alterswohnsitz war das “Grüne Haus” – ein Gemeinschaftsprojekt mehrere Freunde, die ein Haus renoviert haben, um sich dort niederzulassen. Doch Alexander ist nach einem Schlaganfall verstorben und Margarethe sah sich nicht länger dazu in der Lage, alleine zu leben. Ihre Selbstständigkeit hat sie mittlerweile gegen die Trägheit des Alters getauscht, die immer mehr Besitz von ihr ergreift. Doch Margarethe beschließt, bevor es ganz mit ihr zu Ende geht, noch einmal alle ihr zur Verfügung stehenden Kräfte zu sammeln und sich auf eine letzte Reise zu begeben. Sie flieht aus dem Altersheim, um an den Ort ihrer Kindheit zu reisen. Dort möchte sie sich mit ihrer Tochter Lena treffen, die bereits seit vielen Jahren in London lebt. Mutter und Tochter haben sich über zahlreiche Zerwürfnisse entfremdet, zwischen ihnen herrscht meistens Schweigen – ein Schweigen, das schwer ist von Ungesagtem und Vorwürfen. Reicht den beiden die gemeinsame Zeit, um sich versöhnen zu können?

“Dieser Krieg, der ständig unter der intakt anmutenden Oberfläche zum Vorschein kam.”

Die Reise an den Ort ihrer Kindheit nützt Margarethe zur Reflexion und erinnert sich zurück an die Vergangenheit. An ihr Aufwachsen nach dem Ersten Weltkrieg, das voller Entbehrungen gewesen ist. An ihren ersten Ehemann Max, der als Kind während der Kriegswirren in die Sowjetunion verschickt wurde, als er heimkehrte, kehrte er zu einer völlig veränderten Mutter zurück und in ein Leben, das nicht im Entferntesten dem glich, was er zuvor zurück gelassen hatte. Max und Margarethe lernten sich vor dem Zweiten Weltkrieg kennen und lieben, doch als Max in Kriegsgefangenschaft gerät und nach Griechenland verschleppt wird, kehrt er verändert und traumatisiert nach Deutschland zurück. Es wird ihm nie gelingen, die Erinnerungen an das, was er im Krieg erlebt hat, abzuschütteln – sie verfolgen ihn, Tag und Nacht. Auch Margarethe bewahrt Erinnerungen und Bilder in sich auf, wie in einem geschlossenen Gefäß; nicht einmal Max kann sie sich anvertrauen.

“Ich sehe die Bilder aus der Entfernung von fast siebzig Jahren an mir vorüberziehen und möchte nicht wieder in die Haut von damals schlüpfen und fühlen müssen, wie es wirklich war. Davor habe ich Angst, daran will ich nicht erinnert werden, aber ich weiß, all das liegt in meinem Körper begraben.”

Margarethe steht zwar im Zentrum des Romans, denn die Geschichte kreist um ihre Erinnerungen, doch Melitta Breznik lässt auch Max und Lena zu Wort kommen. Jedes Kapitel ist mit einem Ort und einer Jahreszahl überschrieben: die Handlung springt von Basel und London im Sommer 2011, in das Wien der sechziger Jahre und bis ganz zurück an den Anfang, nach Kapfenberg im Jahr 1934. Dadurch, dass der Roman um die Perspektiven von Max und Lena erweitert wird, entsteht ein vollständiges Panorama einer vom Krieg versehrten Familie. Die Erinnerungen der drei stimmen nicht immer überein, jeder von ihnen hat ein anderes Erleben der Vergangenheit.

“In den letzten Jahren habe ich versucht, Mutter besser zu verstehen, und die Geschichte ihrer und letztendlich auch meiner Familie kommt mir wie die Chronik eines schleichenden Verlusts vor, angefangen mit dem Tod ihrer Eltern, über den sie nie sprach, ich vermute, sie vermied es, um nicht hemmungslos losweinen zu müssen.”

Collage Breznik 1

“Der Sommer hat lange auf sich warten lassen” erzählt eine Geschichte des Krieges. Es ist eine Geschichte darüber, dass Kriege ganze Familie entzweien und zerreisen können. Es ist eine Geschichte darüber, dass Kriege eine Wunde sind, die sich vielleicht irgendwann schließt, die jedoch nie ganz heilen wird. Es ist eine Geschichte der Vergangenheit und der Erinnerungen. Erinnerungen, die immer noch bis hinein in unserer heutige Zeit wirken. Genau das ist vielleicht das Tragischste an diesem Roman: Lena hat den Krieg nicht erlebt, doch sie trägt schwer an den unausgesprochenen Erinnerungen ihrer Eltern, die wie eine Hypothek auf ihrem jungen Leben lasten. Ruth Klüger sagte einmal, dass Familien entweder zu viel oder zu wenig über den Krieg sprechen. Margarethes Familie hat zu wenig gesprochen, dadurch ist jeder von ihnen mit seinen Erinnerungen alleine geblieben. Wenn der Roman von Melitta Breznik eines zeigt, dann ist dies die Tatsache, dass wir sprechen müssen, um zu überleben.

“Nichts hatte ich Max vom Ende des Krieges erzählt, wozu erzählen, was mich seither innerlich verstummen hat lassen, was mich beim Gedanken die Fingernägel in meine Haut hat krallen lassen, um die Erinnerung zu verscheuchen, auszutreiben, die Schüsse, das Krachen, die Schatten, das Getümmel, meine Schreie.”

Melitta Breznik erzählt in “Der Simmer hat lange auf sich warten lassen” eine leise Geschichte, voller Feinfühligkeit und Sensibilität. Mit sanften Pinselstrichen zeichnet sie die Lebenswege ihrer Protagonisten nach und erzählt von deren Schicksalen. Es sind Schicksale, die vollgesogen sind mit Schwere und unausgesprochenen Vorwürfen, doch Melitta Breznik gelingt es aufzuzeigen, dass es möglich sein kann, sich ganz am Ende mit dem eigenen Leben und den eigenen Erinnerungen auszusöhnen.

Zerreißproben – Ruth Klüger

Ruth Klüger, die 1931 in Wien geboren wurde, überlebte als junges Mädchen gemeinsam mit ihrer Mutter den Aufenthalt in drei Konzentrationslagern (Theresienstadt, Auschwitz und Christianstadt). 1947 emigrierte sie in die USA und lehrte dort Germanistik. Heutzutage lebt die Autorin in Irvine/Kalifornien und Göttingen. Bekannt wurde Ruth Klüger in Deutschland vor allem durch ihr Erinnerungsbuch “weiter leben”, das 1992 im Wallstein Verlag veröffentlicht wurde.

Collage Klüger

In dem schmalen und unscheinbaren Bändchen “Zerreißproben”, das im vergangenen Herbst im Zsolnay Verlag erschienen ist, wagt Ruth Klüger etwas, was vor ihr noch nicht viele gewagt haben. Das Wagnis liegt nicht darin, dass sie sich im hohen Alter dazu entschieden hat, einen Gedichtband zu veröffentlichen (das allein ist auch noch keine Überraschung, denn in ihrem Erinnerungsbuch “weiter leben” wird ihre Liebe zum Gedicht vielfach thematisiert), sondern darin, dass zu jedem Gedicht auch gleich – handlich, praktisch – eine Interpretation von der Autorin höchst selbst mitgeliefert wird.

“Mit Gedichten ist es ein wenig wie mit dem weiblichen Geschlecht, von dem man früher gerne sagt, Frauen sollten einfach, in ihrer ganzen Schönheit ‘da sein’; nicht ihr Handeln und ihr Denken mache ihre Anziehung und ihren Wert aus, sondern ihre Existenz als solche genüge. Ihre Meinungen sollten sie für sich behalten und die Männer nicht mit ihrem Geschwätz verunsichern.”

In ihrem eindringlichen Vorwort hält Ruth Klüger die Beobachtung fest, dass Dichter davor zurückscheuen, ihre eigenen Verse zu interpretieren und zu deuten, obwohl der Verfasser des Gedichtes selbst doch eigentlich am Besten wissen sollte, was er sagen wollte. Stattdessen hoffen sie lediglich, verstanden zu werden. Dieses vermeintliche Tabu möchte Ruht Klüger aufbrechen und “mit der Auslegung” ihrer Gedichte ein Exempel statuieren. Entstanden ist bei diesem Versuch ein feinsinnig komponiertes Gesamtkunstwerk aus vierunddreißig autobiographischen Gedichten und den nebenstehenden Erklärungsansätzen und Interpretationsversuchen.

“Denn ein Problem mit dem Lesen von Gedichten ist ja, dass man oft nicht weiß, was man mit dem einzelnen Gedicht anfangen soll.”

Dieser Satz, der zu Beginn des Vorwortes fällt, spricht mir aus dem Herzen. Ich gebe es nicht gerne zu, doch auch wenn ich mich in der Prosa zu Hause fühle, bleiben mir Gedichte doch in den meisten Fällen fremd, wie leere unbewohnte Zimmer. Während mir Prosatexte ans Herz wachsen und sich in allen Nischen meines Körpers einnisten, verbinde ich Gedichte mit quälenden Stunden des Auswendiglernens während der Schulzeit. Wenn ich sie heutzutage lese, geht es mir so, wie es mir häufig geht, wenn ich vor einem Kunstwerk im Museum stehe: ich rufe aus “wie schön!”, doch was ich darüberhinaus fühlen, denken oder gar interpretieren soll, bleibt mir verborgen. Gerade aus diesen Gründen ist das, was Ruth Klüger wagt, für mich etwas ganz großartiges: ich lese Gedichte, doch ich bleibe mit diesen Worten nicht alleine; die Autorin entreißt mir nicht die Möglichkeit, mir selbst Gedanken zu machen und doch nimmt sie mich sanft an die Hand und hilft mir, mich im Dickicht der Worte zunächst zurecht finden zu können.

“Das brachte mich darauf zu erkennen, dass Gedichte, wie Träume, eine Möglichkeit sind, die sich das Freudsche Es vorbehält, um sich Luft zu verschaffen. Die Kommentare handeln von dem, was ich weiß, und dem, was ich glaube zu wissen.”

34 Gedichte sind in diesem schmalen Band versammelt, 34 Gedichte, die in sechs Themenkomplexe aufgeteilt sind: 1. Sprache, 2. Wiener Gedichte, 3. Jüdische Gedichte, 4. Träume , 5. Kindergedichte, 6. Englische Gedichte. Die Themenkomplexe verdeutlichen, dass alle Gedichte autobiographisch sind und um das Leben von Ruth Klüger kreisen. Der Gedichtzyklus beginnt mit einer Auseinandersetzung mit sprachlichen Möglichkeiten, reicht zurück in die jüdische Vergangenheit nach Wien und taucht ein in die Träume, die immer noch an Ruth Klüger zerren und reißen. Im Band sind auch zwei Gedichte versammelt, die Ruth Klüger als Kind erdacht hat und wenig später aus der Erinnerung heraus notiert hat. Die Gedichte sind einfach strukturiert (Ruth Klüger selbst verwendet das Wort banal) und doch wirken sie, durch den Kontext, in dem sie entstanden sind, bewegend und berührend. Ruth Klüger hat damals das Spiel mit Worten und Sprache dabei geholfen, zu überleben. Aufgehört zu schreiben hat sie anschließend nie. Der Band schließt mit einigen wenigen englischen Gedichten: nach ihrer Emigration die USA, hat sich Ruth Klüger das Englische zu einer zweiten Heimat gemacht.

Collage Klüger 2

“Gott, du allein darfst’s doch nur geben, / das große, heilige Menschenleben, / du gibst das Dasein und du gibst den Tod. / Und du, du siehst dieses endlose Morden, / du siehst diese blutigen, grausamen Horden, / und Menschen verachten dein höchstes Gebot!”

Zunächst, bevor ich den Band aufschlug und die ersten Worte las, fragte ich mich, was wohl der Titel – “Zerreißproben” – bedeuten könnte. Nachdem ich anfing zu lesen, mir Wort für Wort erschloss, vor- und zurückblätterte und die Gedichte mehrmals las – laut und leise -, wurde mir die so passende Bedeutung des Titels langsam klar: das Leben von Ruth Klüger muss ihr nach ihrer Emigration wie eine Zerreißprobe vorgekommen sein. Das alte und das neue Leben rissen an ihr und sie musste diesen Kräften standhalten. Die deutsche Sprache war ihr Heimat gewesen, doch gleichzeitig hat sie dort auch Schlimmes erlebt. Diese Form der ambivalenten Beziehung zur Sprache, aber auch zur eigenen Heimat und zu dem, was man gewesen ist, prägt das Leben von Ruth Klüger. Die deutsche Sprache beschreibt sie abwechselnd als Rucksack und als ein Buckel, der angewachsen ist und den sie wie einen Makel empfindet: “[…] die Zerreißprobe zwischen dem Gefühl des Dazugehörens und der Ablehnung […].” Neben dieser Zerreißprobe, die das Leben von Ruth Klüger bestimmt, ist auch Erinnerung ein zentrales Thema der Gedichte: es geht um die unbewältigte Vergangenheit, um den Käfig und das Gestrüpp der Erinnerung und um die Gespenster der Vergangenheit.

“Den Käfig der Vergangenheit / willst du entriegeln? / Gib acht! / Nicht nur ein Kind befreist du, / sondern zugleich die alte, / die blinde Wut, / die nur nach innen sieht / und um sich schlägt.”

Ruth Klüger schließt mit dem Gedicht, der diesem Band seinen Titel geben sollte: in “Zerreißproben” geht es um die Widersprüchlichkeiten des Lebens, um Pech und Glück und wie nah beides beieinander liegen kann. Bisher glaubte ich immer, behaupten zu müssen, dass ich zwar gerne Bücher lese, Gedichte aber nicht verstehe. Dank Ruth Klüger habe ich mich dieser Form der Literatur angenähert. Bestätigt wurde mir dabei erneut, dass die Autorin eine möglicherweise unbequeme, aber wichtige Stimme unserer heutigen Zeit ist.

Frauen und Bücher. Eine Leidenschaft mit Folgen – Stefan Bollmann

Stefan Bollmann wurde 1958 geboren und schloss sein Studium der Literatur, Geschichte und Philosophie mit einer Promotion über Thomas Mann ab. Damals schrieb er also sehr wohl noch über Männer, mittlerweile hat sich Stefan Bollmann vor allem weiblichen Themen zugewandt: “Frauen, die lesen, sind gefährlich” und “Frauen, die lesen, sind gefährlich und klug” avancierten in den vergangenen Jahren zu Bestsellern. Im Zentrum beider Bücher steht ein Wandel der Lesekultur. In seiner neuesten Veröffentlichung, “Frauen und Bücher. Eine Leidenschaft mit Folgen”, begibt sich Stefan Bollmann auf die Suche nach den Ursprüngen des weiblichen Lesens.

Collage Bollmann

“Frauen lesen, um zu leben, nicht selten auch, um zu überleben.”

“Lesen ist mein Lebensglück.” “Ein Buch gibt mich nicht wieder, es definiert mich neu.” “Ich möchte lesen, bis ich schwarz werde.” “Ich vertrockne seit einiger Zeit, weil alle meine Bücherquellen sich verstopfen.” Bei all diesen Sätzen handelt es sich um Zitate von lesewütigen Bücherliebhaberinnen: Elke Heidenreich, Jeanette Winterson, Virginia Woolf, Caroline Schlegel-Schelling. An den Namen der ausgewählten Leserinnen wird deutlich, dass Stefan Bollmann sich nicht nur auf unsere Gegenwart beschränkt. Seine Beobachtungen umfassen einen Zeitrahmen vom 18. Jahrhundert bis hinein in unsere heutige Zeit: vom Beginn der Leselust, bis zu einer modernen Form der Lesepartizipation, bei der aus Fanfiction ganz neue Literatur entsteht.

Ist Lesen weiblich?, diese Frage wird gleich zu Beginn des Buches gestellt. Eine klare und eindeutige Antwort auf diese Frage gibt es höchstwahrscheinlich nicht und doch spricht aus den obigen Zitaten nicht nur Begeisterung für das Lesen, sondern eine allumfassende Begeisterung, eine intensive Begeisterung, eine tiefergehende Begeisterung. Frauen fühlen sich durch ihre Lektüre nicht vom Leben entfremdet, sondern auf eine ganz neue Art und Weise verbunden: das Lesen wird zu einem zweiten Leben, zum Lebensglück und zu einer wichtigen geistigen Nahrung. Bücher werden nicht mehr studiert, sondern konsumiert: Frauen verschlingen das was sie lesen, um es sich einzuverleiben. Bücher werden Teil des weiblichen Lebens. Maryanne Woolf, eine Leseforscherin, bezeichnet weibliches Lesen auch als “deep reading“, andere sprechen etwas abwertend von “Vielleserei” und Lesewut”.

“Die Geschichte, wie es dazu kam, dass die Frauen diese Art des Lesens für sich entdeckten, und die vielen weiblichen Lese- und Lebensgeschichten, die dadurch möglich wurden, erzählt dieses Buch.”

“Frauen und Bücher” ist eine Kulturgeschichte des weiblichen Lesens, die einen besonderen Schwerpunkt auf den Wandel legt, dem das Lesen unterworfen ist. Stefan Bollmann geht ganz zurück ins 18. Jahrhundert, das Jahrhundert, das für ihn den Beginn der Leselust datiert. Von dort aus tastet sich der Autor behutsam vor, beschreibt die zunehmende Macht des Lesens im 19. Jahrhundert, stellt berühmte Bücherfrauen des 20. Jahrhunderts vor und schließt mit einer Betrachtung der Gegenwart – zwischen Fanfiction und Shades of Grey. Auf der Reise durch die Jahrhunderte begegnen dem Leser faszinierende Bücherfrauen, im Gedächtnis geblieben sind mir Caroline Schlegel-Schelling, Mary Wollstonecraft, Jane Austen, Virginia Woolf, später folgen dann Marilyn Monroe und Susan Sontag. Doch auch die Männer bleiben nicht ganz außen vor: James Joyce und F.G. Klopstock sind nur zwei der Männer, die einem während der Lektüre begegnen.

“Männer lesen nicht mehr Romane, außer um sie zu rezensieren. Wer Romane schreibt, muss an die Dame denken, wenn er gelesen sein will. Sie herrschen schon jetzt.”

Besonders die Anfänge der weiblichen Lesewut lesen sich beeindruckend und werden von Stefan Bollmann so authentisch und typisch für ihre Zeit beschrieben, dass man glaubt, mit Haut und Haaren in die weit zurückliegenden Jahrhunderte einzutauchen. Während heutzutage der Großteil der weiblichen Bevölkerung Zugriff auf Literatur und Bücher hat, war die Möglichkeit des Lesens im 18. Jahrhundert noch etwas, was nicht vielen offen stand. Dementsprechend wurde das Lesen von den Frauen nicht nur als Freizeitbeschäftigung betrieben, sondern war ihnen ein grundeigenes Bedürfnis und häufig die einzige Möglichkeit, sich von ihrem Stand und ihrer Herkunft befreien zu können. Für Mary Wollstonecraft, die erste Literaturkritikerin, die vor allem für ihre harschen Verrisse bekannt war, war die Lektüre von Romanen ein Weg für Frauen zu mehr Unabhängigkeit.

“Die Lektüre von Literatur verlieh den Frauen eine Stimme und einen sozialen Status. Und der war nicht gänzlich, aber doch weitgehend unabhängig von ihrer Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht und akademischer, für Frauen in der Regel unerreichbarer Bildung. Lesen verschaffte ein Stück Unabhängigkeit und eröffnete neue Wege, das Leben zu genießen.” 

Collage Bollmann 2

Im 19. Jahrhundert wurden lesende Frauen nicht mehr belächelt, sondern als Gefahr empfunden. Kann das Lesen von Büchern Revolutionen auslösen? Manche Männer glaubten das, zumindest wenn Frauen die falschen Bücher lasen. Dieser Glaube und die gleichzeitige Furcht, wurde durch Romanfiguren wie Emma Bovary noch verstärkt und darauf bezieht sich auch der Untertitel von Bollmanns Kulturgeschichte des Lesens: Eine Leidenschaft mit Folgen … Die Macht der bücherlesenden Frauen führte im 20. Jahrhundert dazu, dass diese Frauen den Schritt in das Verlagswesen wagten, Buchhandlungen eröffneten oder sogar – wie Sylvia Beach – verbotene Romane druckten.

“Lesen, bis zum 18. Jahrhundert eine männliche, mit Tradition, Gelehrsamkeit und Religion verbundene Lebensform, ist restlos weiblich geworden.”

Stefan Bollmann schickt den Leser mit “Frauen und Bücher” auf eine spannende Zeitreise durch drei Jahrhunderte, in denen einem faszinierende Leserinnen und Bücherfrauen begegnen. Beim Blick zurück ist mir noch einmal klar geworden, wie schade es ist, dass man sich in der heutigen Bücherwelt häufig ausschließlich auf Neuerscheinungen konzentriert. Friedrich Schlegel wird mit dem Ausspruch zitiert, dass man neuen Büchern “ungesäumt auf den Fersen sein muss”, zumindest dann, wenn man nicht Gefahr laufen möchte, Bücher zu besprechen, die nicht mehr existieren – außer in verstaubten Bibliotheksregalen. Wie sehr habe ich mich als bloggende Literaturkritikerin darin wiederfinden können: die Jagd auf neue Bücher verschleiert manchmal den Blick auf das, was es bereits gibt. Meine Leseliste an Autorinnen, die ich schon lange einmal lesen wollte, wurde nach “Frauen und Bücher” in schwindelnde Höhen erweitert: Susan Sontag, Virgina Woolf, Jane Austen.

“Ein Buch hat einen Körper, den man berühren muss, um darin zu lesen. Und nicht nur das, man schlägt es auf, blättert es durch, wobei die Seiten ein knisterndes oder klackerndes Geräusch machen (je nach Papierbeschaffenheit). […] Bücher sind eben keine bloßen Gefäße für Gedanken, keine Konservendosen für die beste Qualität intellektueller Ernten. Ein Buch war für Virgina Woolf eine körperlich-seelisch-geistige Gesamtheit, zu der seine Stofflichkeit und Gestalt genauso gehörte wie die Stimmung, in die es seinen Leser versetzt, und der Geist, der ihn bei der Lektüre ergreift.”

“Frauen und Bücher. Eine Leidenschaft mit Folgen” ist ein wunderbares Buch. Stefan Bollmanns Streifzug durch die Kulturgeschichte des Lesens ist eine faszinierende Reise durch drei Jahrhundert und sicherlich nicht nur interessant für begeisterte Leserinnen, sondern natürlich auch für die männlichen Leser. Ich habe mich wiedergefunden, in allen möglichen Ecken und Winkeln dieses Buches und ich fühle mich nun weniger alleine mit meiner leidenschaftlichen Begeisterung für Bücher und für die Welt der Literatur.

Was wir Liebe nennen – Jo Lendle

Jo Lendle ist in den heutigen Tagen vielen wahrscheinlich als neuer Verleger vom Hanser Verlag bekannt. Jo Lendle verlegt jedoch nicht nur Bücher, sondern schreibt auch selber welche. “Was wir Liebe nennen” ist bereits sein vierter Roman und erschien im vergangenen Herbst bei der Deutschen Verlagsanstalt.

Collage Lendle 1

“Was wir Liebe nennen, ist anfangs nur ein Zittern. Ein Schauer, den wir kaum bemerken, der uns nicht frieren lässt, aber daran erinnert, beizeiten nach etwas zu suchen, das uns wärmt.”

Lambert ist Zauberer, aus seinem eingefahrenen Leben heraus zaubern, kann er sich aber nicht. Oder vielleicht doch? Die Entscheidung Zauberer zu werden, wurde von Lambert nicht wirklich getroffen. Es hat sich halt so ergeben. Doch das, was er eigentlich machen möchte, ist es eigentlich nicht. Auch an seiner Beziehung für Andrea zweifelt er. Überhaupt: sein ganzes Leben scheint sich im Moment überhaupt nicht mehr passend und richtig anzufühlen. Da fühlt sich die Tatsache, dass Lambert erst vor kurzem seinen Vater beerdigen musste, beinahe wie eine Nebensächlichkeit an. Die Einladung zum Kleinkunstfestival nach Montreal kommt ihm deshalb gerade recht; es ist eine Verschnaufpause, eine Abwechslung vom Alltag und vielleicht auch eine Flucht. Doch das Unrunde in seinem Leben scheint sich auch auf seiner Reise fortzusetzen, die ziemlich turbulent ist und zunächst mit einer Notlandung endet. Bei seiner Ankunft in Montreal wird Lambert, der Held der Geschichte mit dem seltsamen Namen, schließlich angefahren. Alles nicht so schlimm, zumindest körperlich – darüber hinaus hat dieser Zusammenstoß jedoch lebensverändernde Auswirkungen – zumindest zeitweise.

“Was wir Liebe nennen, ist zu viel und zu wenig. Es ist Mangel und Fülle, Ungenügen und Überfluss, auch wenn die Sehnsucht beim besten Willen nicht weiß, woran hier Überfluss bestehen soll, außer an der Liebe selbst. Nur was uns fehlt, wissen wir immer.”

Die Verursacherin der kleinen Kollision ist Felicitas Touchbourn, oder kurz gesagt: Fe. Fe ist Paläobiologin, sie erforscht ausgestorbene Arten und sie ist mit ihrem Pferdetransporter Lambert in die Kniekehlen gefahren. Bei Lambert ist es Liebe auf den ersten Blick, eine rettungslose Liebe – ohne Seil und doppelten Boden. Während Andrea im gemeinsamen Zuhause auf eine Nachricht ihres Freundes wartet, wird Fe mit Lamberts rettungsloser Liebe konfrontiert. Doch liebt er wirklich Fe oder reizt ihn die Möglichkeit, durch sie ein neues Leben zu beginnen und aus seinem alten, das sich anfühlt wie ein zu klein gewordener Anzug, auszubrechen? Lambert, der das Gefühl hat, in seinem ganzen bisherigen Leben falsche Entscheidungen getroffen zu haben, muss sich plötzlich nicht nur zwischen zwei Frauen entscheiden, sondern zwischen zwei Leben, zwischen zwei Welten. Da möchte man sich doch am liebsten verdoppeln, um keine Entscheidung treffen und niemanden enttäuschen zu müssen.

“Es hieß immer, man könne nicht auf zwei Hochzeiten tanzen. Aber wer sagte das, und warum sollte es nicht gehen, zumindest für ein Tänzchen?”

Fe und Lambert haben eine gemeinsame Nacht, die ihnen bleibt. Es ist eine magische Nacht, der ein besonderer Zauber inne wohnt: an dieser Stelle verlässt Jo Lendle die Pfade der realen Wirklichkeit und betritt eine Welt der Magie. Lambert möchte alle seine Fähigkeiten als Zauberer aufbieten, um die Entscheidung, die er treffen muss, hinauszuzögern und in einer Welt zu leben, in der er beides haben kann: Andrea, die zu Hause auf ihn wartet und das neue und aufregende Leben an der Seite von Fe. Zumindest für ein paar Stunden oder Tage. Lambert wünscht sich übersinnliche Kräfte, er wünscht sich die Kraft Flugzeuge zum Umkehren zu zwingen und einen Vulkan zum Ausbruch zu bringen. Und dann greift Jo Lendle noch zu einem ganz besonderen Trick …

Collage Lendle 2

“Was wir Liebe nennen, lässt alle auf uns los: Dopamin, Endorphin, Adrenalin.”

Jo Lendle legt mit “Was wir Liebe nennen” einen heiter beschwingten Roman vor, der dennoch Tiefgründigkeit besitzt. Er kreist um die Frage, ob es klüger ist, klare Entscheidungen zu treffen und wie es sich in dem Vakuum vor einer Entscheidung lebt. Der Titel des Romans ist auch für den Inhalt Programm: es geht um die Liebe, es geht um das gegenseitige Kennenlernen, es geht um den Moment, in dem zwei Menschen miteinander kollidieren und wie dieser ein ganzes bisheriges Leben aus den Fugen bringen kann. All das wird von Jo Lendle solide erzählt, häufig untermalt von einer heiter-amüsanten Note. Es ist der ausgeprägte Humor, der die Geschichte davor bewahrt, in den Kitsch abzugleiten. Das, was den Roman für mich besonders gemacht hat, war der Moment, in dem Jo Lendle die soliden Pfade des Erzählens hinter sich lässt und verspielt wird. Die Magie, die sich dadurch, dass Lambert ein Zauberer ist, von Anfang an andeutet, zieht zunehmend in den Text hinein.

“Was wir Liebe nennen” ist ein wunderbarer Roman, der mich beim Lesen verzaubert hat. Jo Lendle erzählt eine magische Liebesgeschichte, doch nicht nur das, er erzählt auch von Entscheidungen und von neuen und alten Leben. Er erzählt von dem Moment, in dem sich alles urplötzlich ändern kann. Leicht, heiter und gleichzeitig verzaubernd poetisch ist “Was wir Liebe nennen” ist ein Roman, der mir ans Herz gewachsen ist.

Die Spieluhr – Ulrich Tukur

Ulrich Tukur, der 1957 in Viernheim geboren wurde, ist einer der bekanntesten deutschen Schauspieler. Für seine Arbeit wurde er bereits vielfach ausgezeichnet, zuletzt 2012 mit dem Bambi. Tukur ist jedoch nicht nur Schauspieler, sondern vielfach talentiert: er sing, musiziert und schreibt auch noch. 2005 erschien sein Erzählungsband “Die Seerose im Speisesaal”. Acht Jahre später – im Herbst des vergangenen Jahres – erschien die Novelle “Die Spieluhr”.

Tukur Collage 2

“Wie das Leben in der Rückschau aus einer Flut visueller Erinnerungen besteht, keinem rationalen System und ständiger Verwandlung unterworfen, so besteht ein kinematographischer Film aus einer Unzahl systematisch montierter, unveränderlicher Bilder, die zusammengesetzt eine mehr oder weniger ergreifende Geschichte ergeben.”

Ulrich Tukur erzählt in seiner zeitlosen und opulenten Novelle die Geschichte des Kunstsammlers Wilhelm Uhde und der Malerin Séraphine de Senlis. Wilhelm Uhde gehörte im 20. Jahrhundert zu einem der talentiertesten Kunstkennern, der aus zunächst noch unbekannten Malern, wie Pablo Picasso und Georges Braque, berühmte Künstler machte. Séraphine de Senlis arbeitete zunächst als seine Putzfrau, bevor sie von ihm als talentierte Malerin entdeckt wurde: diese Wandlung von einer einfachen Frau zu einer begabten Künstlerin, die Bilder aus ihren ganz eigenen zusammengebrauten Farben erstellte, hat eine wunderbar magische Note, die von Ulrich Tukur aufgegriffen wird.

“So verbanden sich an diesem heißen Augustabend des Jahres 1912 die Lebenslinien zwei Menschen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können und sich doch trafen in ihrer Verlorenheit und Sehnsucht nach einer schöneren Welt, die nur in der Malerei oder der Musik zu haben war.”

Das sich der Schauspieler diesem Thema widmet, ist kein Zufall: 2008 hat er in der Filmbiographie Séraphine Wilhelm Udhe verkörpert. Eine Rolle, die ihn lange nicht mehr losgelassen hat; vor allem der Gegensatz zwischen der modernen Welt und dem 18. Jahrhunderts, hat ihn fasziniert. Ulrich Tukur lässt seine Novelle in der Filmwelt spielen, am Set eines Films über Wilhelm Uhde und Séraphine de Senlis. Die Parallelitäten zwischen der Geschichte, die die Novelle erzählt und der Realität, sind sicherlich kein Zufall. Vom Beginn der ersten Seite des gerade einmal 150 Seiten schmalen Büchleins, spielt Ulrich Tukur mit Fiktion und Realität.

Auf der Suche nach einem Ort, der sich als passender Drehort für das Atelier der ehemaligen Putzfrau anbieten könnte, verschwindet der Filmassistent für einige Tage und berichtet nach seiner Rückkehr von mysteriösen Vorgängen in einem magischen Schloss. Das, was sich zunächst schier unglaublich anhört, erlebt der Schauspieler und Ich-Erzähler der Novelle später am eigenen Leib, als ihn sein Weg zufällig in das verwunschene Gebäude führt: das Schloss ist ein Ort, an dem die Magie vorherrscht, an dem sich Realität und Fiktion überlappen, an dem Figuren aus Bildern steigen, musiziert wird und Besucher den Eindruck haben, sich von Zeitepoche zu Zeitepoche bewegen zu können. Es ist ein magischer Ort, ein Ort, an dem sich das 19. Jahrhundert und die moderne Welt begegnen.

Collage

“Die Geschichte von Wilhelm und Séraphine ist traurig wie viele Geschichten, die sich auf diesem Planeten ereignen.”

Selten zuvor habe ich mich so schwer getan, eine Rezension zu einem gelesenen Text zu schreiben, wie in diesem Fall. Viel lässt sich über den Inhalt nicht schreiben, ohne nicht gleich zu viel vom Kern der Novelle zu verraten. Das, was den Text für mich besonders gemacht hat, war der magische Hauch, der ihn umweht. Ich habe mich in die Sprache von Ulrich Tukur rettungslos hineinziehen lassen, habe die Worte und Sätze genossen, die manchmal gestelzt wirkten, aber immer wie aus einer anderen Zeit und Welt – direkt aus der Vergänglichkeit hervorgeholt. Mit dem Zuklappen der letzten Seite hatte ich das Gefühl, von einem anderen Ort aufzutauchen. Ich musste erst einmal wieder in unsere Welt zurückkehren, doch das, was mich an diesem anderen Ort gefesselt hat, lässt sich schwer in Worte fassen: ein Hauch Magie, eine verwunschene Welt und ein faszinierender Zeitgeist.

“Alles schien von ihm abgefallen, was jung, frisch und modern gewesen war; er wirkte wie ein Soldat vergangener Zeiten, der unter den Toten eines Schlachtfeldes umherirrt und nach Überlebenden sucht.”

Das zentrale Thema der Novelle ist sicherlich die Abkehr von der modernen Welt und die Hinwendung zu längst vergangenen Zeitepochen. Bereits die Aufmachung des Buches deutet darauf hin: der herkömmliche Schutzumschlag fehlt, stattdessen wirkt das Buch wie ein Relikt aus vergangenen Tagen. In einer Welt, die immer schneller und immer digitaler wird, ist die Abkehr von dieser Entwicklung und unserer hektischen Welt und der mutige Versuch Ulrich Tukurs einen – möglicherweise – antiquierten Zeitgeist herauf zu beschwören, herrlich erfrischend.

Ulrich Tukurs Novelle “Die Spieluhr” bezaubert nicht nur sprachlich, sondern verzaubert auch einen beim Lesen. Man muss sich auf den Autor einlassen, wenn das gelingt, wird man mit einer magischen Reise quer durch drei Jahrhunderte belohnt. Es ist eine Reise voller Magie, eine Reise, bei der man sich zwischen Traum und Wirklichkeit bewegt. Macht euch auf die Reise, sie ist unheimlich lesenswert!

%d bloggers like this: