Browsing Category

Zeitgenössisches

Wenn die Wale an Land gehen – Kathrin Aehnlich

Kathrin Aehnlich wurde 1957 in Leipzig geboren. Nachdem sie zunächst an der Ingenieursschule für Bauwesen studierte, folgte später ein Studium am Literaturinstitut Leipzig. Einem breiteren Publikum bekannt wurde die Autorin, die bereits Hörspiele, Erzählungen und ein Kinderbuch veröffentlicht hat, durch ihren Roman “Alle sterben, auch die Löffelstöre”. Seit 1992 arbeitet Kathrin Aehnlich nicht nur als Autorin, sondern auch als freie Mitarbeiterin für den mdr Figaro. “Wenn die Wale an Land gehen” ist ihre neueste Veröffentlichung und erschien im vergangenen Jahr im Antje Kunstmann Verlag.

Wenn die Wale

 “Wahrscheinlich gab es Träume, die man sich nie erfüllen sollte.”

Roswitha Sonntag ist fünfzig Jahre alt und gerade frisch geschieden, doch statt um die gescheiterte Ehe mit Wladimir zu trauern, entscheidet sie sich für eine Scheidungsreise – für Roswitha ist dies das Äquivalent zu einer Hochzeitsreise. Ihre Scheidungsreise führt sie nach Amerika, in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Es ist eine Reise zurück in die Vergangenheit, zurück zu den Träumen, die sie als junge Studentin geträumt hat. Sie ist nie zuvor in Amerika gewesen, doch Mick, der eigentlich Michael heißt, ist aus der ehemaligen DDR nach Amerika geflüchtet. Ihre Beziehung zu Mick war immer etwas kompliziert: war es eine sexuelle Freundschaft oder war es sogar Liebe? Darüber gesprochen haben Roswitha und Mick nie, verbunden hat sie die Musik – vor allem die Stimme von Janis Joplin ließ ihre beiden Herzen immer wieder gemeinsam schlagen, doch mit der Zeit wurden diese Momente immer weniger. Beide drifteten voneinander weg: während Mick nicht bereit war, sich mit der politischen Situation abzufinden und stets wütend aufbegehrte, flüchtete sich Roswitha mit einem neuen Mann in das häusliche Glück der Langeweile – das erste Kind folgte kurz darauf.

“Erstmals seit ihrer übereilten Abreise gestand sie sich ein, dass sie von Mick nichts als die Adresse auf einer alten Postkarte hatte, keine Telefonnummer, keine Mail, nur eine Ortsangabe, die wie die Zahlenkombination für ein Schließfach anmutete.” 

Kathrin Aehnlich erzählt eine Geschichte, die angesiedelt ist, zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Roswitha macht sich alleine auf den Weg nach Amerika, ohne zu wissen, wohin genau die Reise sie führen wird – nur mit der Vorstellung im Kopf, Mick wiederzusehen und dadurch vielleicht etwas Vergangenes aufleben zu lassen, dass in der Zwischenzeit schon lange verloren gegangen ist. Jeder Schritt, den sie in Amerika geht – auf fremden Gehwegen, an unbekannten Orten – erinnert sie zurück an die 80er Jahre, die sie in der DDR verbracht hat. Sie hat an einer Fachhochschule studiert, doch sie hatte neben dem trockenen Ingenieursstudium auch immer den Wunsch danach, ihre künstlerischen Interessen auszuleben. Es ist die Fotografie, die sie begeistert und die sie ganz unterschiedliche Orte der damaligen Zeit mit ganz anderen Augen entdecken lässt – sie fotografiert im Tagebau, hält mit ihrer Kameralinse Arbeitssituationen und Lebensbedingungen fest, die lieber verschwiegen werden. Die Freundschaft mit Mick führt sie ein in eine große künstlerische Gemeinschaft an Menschen, die alle auf der Suche nach einem Platz auf dieser Welt sind, nach einem Ort, an dem sie ihre Wünsche und Träume, ihre Interessen und Leidenschaften ausleben können.

“Alles war endlich. Die Nächte voller Musik und Poesie, das Treibenlassen durch den Tag, die Unbeschwertheit, die Freundschaft, vielleicht auch Liebe.”

Copyright: http://www.bildatlas-ddr-kunst.de/item/14796

“Wenn die Wale an Land gehen” ist mit 250 Seiten ein verhältnismäßig schmaler Roman, doch er ist reich an Geschichten und Erinnerungen. Roswitha ist eine stille Frau, doch sie ist gleichzeitig auch ungeheuer mutig, kreativ und stark. Es hat zwanzig Jahre gedauert, bevor sie sich getraut hat, in das Land zu reisen, was bis dahin immer nur in Micks Kopf existiert hat. Im Laufe ihrer Zeit in Amerika kristallisiert sich immer stärker heraus, das Roswithas Reise nicht nur eine Reise zu Mick ist, sondern vor allen Dingen eine Reise zu sich selbst, zu ihren eigenen Bedürfnissen, zu ihren eigenen Wünschen und Träumen. Zum ersten Mal reflektiert sie ihre Studentenzeit, aber auch die schwierige Ehe, die sie mit ihrem schwer kranken Mann geführt hat. Die Wale, die im Titel Erwähnung finden, tauchen im Roman nicht wirklich auf. Ich habe den Titel viel mehr als Metapher für Roswithas Situation gelesen: sie ist in Amerika gestrandet, nachdem sie lange Zeit herumgeirrt ist und die Orientierung verloren hat. Bei Walen gibt es keine Erklärungen für den Orientierungsverlust, ihre einzige Chance ist es – mithilfe der Menschen – wieder zurückzukehren ins offene Meer, um sich neue Wege und Routen zu bahnen. In Amerika ist es das “Shelter Park House”, in dem Roswitha auf Menschen trifft, die bereit sind, ihr dabei zu helfen, ins Leben zurückzukehren und zu der Frau zu werden, die sie vielleicht irgendwann einmal gewesen ist.

“Drei Jahre nach seiner Flucht hatte Mick ihr die erste Postkarte geschickt, die schwarz-weiße Ansicht eines Hochhauses, über dem der Mond stand. Auf der Rückseite der Karte hatten nur zwei Worte gestanden: Bin da!”

“Wenn die Wale an Land gehen” ist ein leiser Roman, der vermeintlich leicht und heiter daherkommt, unter dieser Schicht jedoch auch viel Stoff zum Nachdenken bietet und dabei einige traurige Fragen aufwirft. Es sind Fragen danach, wie wir leben wollen und was wir mit unseren Träumen machen, diese Fragen werden mit der Hoffnung verbunden, dass es nie zu spät ist, sich diese zu erfüllen. Kathrin Aehnlich hat einen Roman voller Musik geschrieben, über eine Frau, die am liebsten in Liedtexten sprechen würde. Großartig!

Autoportrait – Édouard Levé

Édouard Levé wurde 1965 geboren, 2007 nahm er sich das Leben. Er war nicht nur ein Schriftsteller, sondern auch Künstler und Fotograf. Neben vier Prosabänden veröffentlichte Levé, der in Paris lebte, auch zahlreiche Fotobände. Sein Roman “Selbstmord” erschien 2012 auf Deutsch, letztes Jahr folgte der zweite Roman. “Autoportrait” wurde von Claudia Hamm übersetzt.

DSC_9817

“Als Jugendlicher glaubte ich, eine Bedienungsanleitung Leben könnte mir beim Leben helfen und eine Bedienungsanleitung Selbstmord beim Sterben.”

Meine Lektüre des Romans “Selbstmord” liegt bereits beinahe zwei Jahre zurück, doch ich erinnere mich immer noch gut an das beklemmende Leseerlebnis – besonders im Gedächtnis geblieben ist mir die ungewöhnliche Perspektive, die Édouard Levé verwendete. Der ganze Roman richtet sich durchgehend an ein namenloses “du”. “Autoportrait” bildet einen ziemlichen Kontrast zu dieser Perspektive, denn der autobiographische Roman wird beinahe gegensätzlich erzählt: vollständig aus einer Ich-Perspektive heraus.

“Ich habe einmal einen Selbstmordversuch unternommen und war viermal versucht, einen Selbstmordversuch zu unternehmen.”

Auf knapp 110 Seiten legt Édouard Levé Zeugnis ab – Zeugnis über sein eigenes Leben, seine Charakterzüge, seine Schwächen und Stärken, seine Vorlieben und Abneigungen, über seine Wünsche und Ängste, seine Träume und Befürchtungen. Es ist ein beeindruckendes Zeugnis, in das man als Leser rettungslos hinein gesogen wird. Édouard Levé ist sich selbst gegenüber schonungslos, nichts wird beschönigt. Ein wiederkehrendes Motiv seines Selbstzeugnisses ist das Motiv einer Idee, die nicht umgesetzt wird.

“[…] ich sage “fast”, denn der Film hat nur zweihundert Bilder und sie wurden in anderthalb Jahren aufgenommen. Ich habe ein Fotoprojekt begonnen, das darin besteht, die einundvierzig Orte zu fotografieren, an denen Charles Baudelaire in Paris gelebt hat, aber nach mittlerweile vier Jahren bin ich immer noch nicht fertig damit, und jedes Mal, wenn ich mir vornehme, mich wieder dranzumachen, entmutigt mich die Vorstellung, dass ich noch einmal von vorn beginnen müsste, um die Aufnahmen aufeinander abzustimmen.”

Édouard Levé ist nicht nur Autor, sondern auch Künstler – seine Ideen sind vielfältig, er hat Ideen zur Eröffnung von unterschiedlichen Museen, zu Fotoprojekten, zu Büchern. Kaum einer dieser Ideen wird jedoch umgesetzt, Levé zeichnet das Bild eines sich fortsetzenden Versagens. Dieses immer wieder auftauchende Motiv (“Ich hatte einmal eine Idee …”) ist beinahe schon tragisch.

“Ich habe manchmal das Gefühl, ein Hochstapler zu sein, ohne sagen zu können, warum, als würde ein Schatten über mir schweben, den ich nicht loszuwerden vermag.”

Édouard Levé betreibt im Grunde eine umfassende Nabelschau – jedoch auf hohem literarischen Niveau. Wir erfahren, wen er geliebt hat, wem er seine Liebe gestanden hat, wir erfahren etwas über sein Verhältnis zu seinen Eltern, über sein Verhältnis zu sich selbst. Wir erfahren, was er gerne isst, wann er gerne arbeitet, wie lange er schläft, welche Bücher er liest, welche Filme er schaut, welche Musik er hört. Mit wem er Sex hatte, wo er Sex hatte. Wir erfahren auch scheinbare Banalitäten des Alltags. Zwischendurch werden immer wieder Sätze eingestreut, die einem die Luft zum Atmen rauben. Zwischen einer Aufzählung seiner Urlaubreisen und seiner ersten Prügelei als zwölfjähriger Junge steht der Satz: “Meine Eltern stellen mir nicht genug Fragen.”

“Ich schlafe lieber ein, als dass ich aufwache, aber ich lebe lieber, als dass ich sterbe.”

“Autoportrait” ist eine Anspielung auf das, was Édouard Levé neben dem Schreiben am liebsten getan hat: die Fotografie. Doch im Grunde ist “Autoportrait” nicht nur ein Portrait, sondern auch eine Biographie – eine Autobiographie. Der Text liest sich wie ein Einkaufszettel, wie ein Protokoll, wie eine Aneinanderreihung von Tatsachen, die – wenn man sie zusammensetzt – das autobiographische Bild eines getriebenen und traurigen Mannes ergibt. “Vielleicht schreibe ich dieses Buch, damit ich nicht mehr sprechen muss.” In allem, was Levé – häufig unzusammenhängend – aufzählt, schwingt das Gefühl der Traurigkeit und der Endlichkeit mit. Hier schreibt ein Autor, der weiß, dass seine Zeit vorbei ist – nicht, weil er an einer unheilbaren Krankheit leidet, sondern weil er seinem Leben selbst ein Ende setzten möchte. Aber wer weiß, vielleicht ist auch Traurigkeit eine unheilbare Krankheit.

“Wenn ich mich in der Lust, mich umzubringen, über den Balkon lehne, rettet mich mein Schwindelgefühl.”

“Autoportrait” ist eine Sammlung von stakkatohaft und ohne einen einzigen Absatz aneinandergereihten Antworten auf Fragen, die niemand gestellt hat. In jeder Antwort schwingt eine Geschichte mit, die viel umfassender ist, als die Antwort – sie wird jedoch nicht erzählt, nicht in diesem Buch. Nie mehr. Diese über allem drohende Macht der vergehenden Zeit, ist vielleicht das Traurigste dieses schmalen Büchleins. Édouard Levé lebt mit dem bedrückenden Gefühl, keine Zeit mehr zu haben.

“Ich verbringe viel Zeit mit Lesen, aber ich glaube nicht, dass ich ein großer Leser bin. Ich bin ein Wiederleser. Ich habe in meinem Bücherschrank genauso viele gelesene wie nicht zu Ende gelesene Bücher. Beim Berechnen der gelesenen Bücher schummle ich, denn ich zähle die nicht fertiggelesenen mit. Ich werde nie wissen, wie viele Bücher ich wirklich gelesen habe.”

Édouard Levé legt mit “Autoportrait” seinen Lebensroman vor und gleichzeitig eine schonungslose Lebensbeichte ab, ohne Beschönigungen und ohne Ausflüchte. Geschrieben ist er im Stile von Twitternachrichten, in kurzen und abgehackten Sätzen, die in all ihrer Kürze jedoch eine tieferliegende Bedeutungsschicht haben. Mit “Autoportrait” hat Levé ein beeindruckendes autobiographisches Kunstwerk geschaffen, bezahlt hat er dafür mit dem Leben, das er sich zwei Jahre später genommen hat.

Eulenrod – Hans Stilett

Hans Stilett wurde 1922 geboren, damals noch unter seinem gebürtigen Namen Hans Adorf Stiehl. Von 1953 bis 1983 arbeitete er  als leitender Redakteur im Bundespresseamt in Bonn, nach seiner Pensionierung zog es ihn zurück an die Universität: ein Studium der Komparatistik, Germanistik und Philosophie schloss er 1989 an der Universität Bonn mit einer Promotion ab. Bekannt wurde er durch eine Neuübersetzung von Montaignes Essais, die 1998 erschien.

DSC_9818

“Kein Zweifel: Ich werde gewesen sein. Woraus folgt, daß ich, da gewesen, sein werde. Denn alles, was je war, bleibt dem Buch des Lebens eingeschrieben. Wie die Menschen, von denen hier die Rede sein wird. Wie jedes Glühwürmchen auch. Wie jeder Stern.”

“Eulenrod” ist keines der Bücher, wie man sie heutzutage in einer schier erschlagenden Masse in den Buchläden ausliegen sieht. Es ist wunderbar gestaltet, bereits äußerlich erscheint es wie ein ungewöhnlich schönes Kleinod. Es ist deutlich kleiner als sonstige Bücher, auch der herkömmliche Schutzumschlag fehlt. Das Buch trägt den mysteriösen Titel “Eulenrod”, das Cover zeigt einen dichten Wald, in den dennoch ein Schimmer Licht hinein fällt. Der Untertitel ist mir sofort ins Auge gesprungen und hat mich neugierig gemacht: Biographisches Mosaik.

“Noch wese ich im Hier und Jetzt, doch der Abschied naht. Desto dichter drängen nun Gestalten heran, die ich längst vergessen glaubte, und Szenen aus dem Dämmer meiner ersten Lebensjahre leuchten wieder auf.”

Dem Buch voran gestellt ist passenderweise ein Satz von Montaigne: “Ein kleiner Mensch ist ein ganzer Mensch, genauso wie ein großer.” Hans Stilett versetzt sich zurück in die Gedankenwelt und in die Gefühle seiner Kindheit, er tut dies mit einer großen Ernsthaftigkeit – ein Kind mag ein Kind sein und dennoch erfährt es die Welt in einer Art und Weise, die nicht weniger wahr ist, als das Erleben von Erwachsenen. In kurzen Texten widmet er sich dem Leben, das er als Kind geführt hat.

“Wir leben arm, doch sehr gesund.”

Hans Stilett wächst vaterlos und in ärmlichen Verhältnissen auf. Die Wohnung, in der er lebt hat nur eine Stube und eine Schlafkammer. Die Mutter ist häufig nicht zu Hause und lässt lässt den Jungen bei seinen Großeltern zurück. Trotz der Abwesenheit der Mutter, bleibt sie für ihn eine wichtige Bezugsperson: sie schreibt nicht nur ihren Lebensroman, sondern auch Gedichte und mit Vögeln kann sie sprechen, sie beherrscht “Finkisch” und “Meisisch”. Auch die Großmutter ist sehr mit der Natur verbunden, sie lehrt ihm, Heidelbeeren zu pflücken. Hans Stilett übernimmt die Lieber zur Natur von ihr und liebt es bereits in jungen Jahren, sie zu erforschen – manchmal liegt er stundenlang bäuchlings auf einem Kiesweg, um Stiefmütterchen zu beobachten.

Der Ort in Thüringen an dem der Junge aufwächst, heißt eigentlich Zeulenroda – es sind nur zwei Buchstaben, die diesem abgenommen werden und schon wird aus der beengten und dörflichen Kleinstadt Zeulenroda Eulenrod, ein Ort an dem ein Junge wie Hans, jeden Tag ein anderes Abenteuer erleben kann.

“Neulich ein wildes Gewitter, schwarz, zerfetzt vom Gold der Blitze. Ich greif mir Bleistift und Papier und renn ans linke Stubenfenster, um sie im Niedersausen zu packen, Blatt um Blatt: ein rätselhaftes Gewirr von Linien, das vielleicht wer entziffern kann. Drum heb ich alles auf.”

Der Autor beschwört seine Kindheit auch durch eine besondere Sprache wieder herauf. Im Text stolpere ich über mir unbekannte Begriffe, an einer Stelle kriegt Hans von seinem Großvater eine gedachtelt, an anderer Stelle schneidet die Großmutter einen Runks vom Rundbrot ab. Die Erinnerungen an die damalige Zeit sind jedoch nicht nur in heitere Farben getönt – auch Tod und Krankheit spielen im Leben des Jungen eine Rolle. Ganz am Rande seiner kindlichen Perspektive wird auch die zunehmende Verschiebung der politischen Situation deutlich, immer mehr Menschen in Zeulenroda gebrauchen den Hitlergruß.

Hans Stilett wirft in “Eulenrod” einen eigenwilligen Blick auf seine Kindheit, er erinnert sich zurück an das Leben in den 20er Jahren und betrachtet diese Zeit aus den Augen des Kindes, das er damals gewesen ist. Die Bezeichnung Biographisches Mosaik habe ich im Laufe der schmalen Lektüre als immer passender empfunden: die kurzen Texte und aneinandergereihten Kindheitserinnerungen ergeben in der Tat eine Art Mosaik es ist ein Mosaik des eigenen Lebens – der eignen Biographie.

“Eulenrod” ist eine Zusammenstellung von Erinnerungssplittern, von Kürzesterinnerungen, die Seite an Seite, auf engem Raum, nebeneinander stehen und einen unverwechselbaren und einzigartigen Blick auf eine Kindheit gewähren. Genauso wunderschön wie die äußere Gestaltung, ist auch der Inhalt dieses schmalen Büchleins äußert lesenswert. Die Kindheit von Hans Stilett ist höchst gewöhnlich, ungewöhnlich und schön ist jedoch der Zugang den er zu ihr gefunden hat und die Art und Weise, in der er seine Erinnerungen wieder aufleben lässt.

Bäume reisen nachts – Aude Le Corff

Aude Le Corff wurde 1977 in Tokio geboren, zunächst studierte sie Psychologie und Wirtschaft, anschließend eröffnete sie den Blog Nectar du Net, der mit dem Prix ELLE ausgezeichnet wurde. “Bäume reisen nachts” ist ihr Debüt als Schriftstellerin, der Roman wurde aus dem Französischen von Claudia Steinitz übersetzt.

DSC_9816

“Er stellt sich vor, wie sich ganze Wälder von den Sternen geleitet durch ein Meer der Finsternis bewegen, er sieht sie vor sich, die entwurzelte Masse, die in betäubender Stille durch die Welt zieht, ihre Regungslosigkeit hinter sich zurücklässt und dann im Schutz der Dunkelheit vor dem Morgengrauen an ihren Platz zurückkehrt.”

“Bäume reisen nachts” wird von einem ganz und gar ungewöhnlichen Figurenquartett bevölkert. Da gibt es zum einen Manon, ein liebenswertes Mädchen, das jedoch nach dem Verschwinden ihrer Mutter fürchterlich einsam ist. Ihr Vater versinkt im Selbstmitleid, an manchen Tagen schafft er es kaum noch aus dem Bett – Manon bleibt sich selbst überlassen und verbringt ihre Tage am liebsten mit einem Buch unter einer Birke sitzend. Dazu gesellen sich zwei weitere exzentrische Hausbewohner: Anatole und Sophie. Anatole ist ein ehemaliger Lehrer, der seit seiner Pensionierung immer stärker vereinsamt und körperlich abbaut. Sophie ist die Tante von Manon, seit dem Verschwinden von Manons Mutter, findet sie keinen Zugang mehr zu dem jungen Mädchen. Die eigentliche Hauptdarstellerin des Buches ist abwesend – es ist die Mutter von Manon und die Ehefrau eines verzweifelten Mannes: Anaïs.

“Sie öffnet die Tür, die über den weißen Teppich schabt, jeden Tag mit der Hoffnung, ihre Mutter zu sehen. Die aber hat nur einen Stapel Bücher und ein Armband auf dem Nachtisch zurückgelassen. Sie darf auf keinen Fall nachlässig werden. Ihre Mutter kommt nur dann zurück, wenn Manon bestimmte Ausgaben gewissenhaft erfüllt.”

Aude Le Corff beginnt ihren Roman zu einem Zeitpunkt, als Anaïs bereits mehrere Monate verschwunden ist. Die Enge und Bedrückung in der kleinen, dusteren und immer häufiger ungelüfteten Wohnung, in der Manon und ihr Vater Pierre alleine zurück geblieben sind, ist förmlich greifbar. Es droht Erstickungsgefahr. Die Zeichen der Abwesenheit, die über alles andere einen schweren, dunklen Schleier legen, sind spürbar, An der Wand hängt das Bild eines einsamen Seglers, die Blumen sind vertrocknet, das Wasser schon lange verdunstet und die Blätter zerfallen im Staub. Es ist ein Sinnbild für das plötzliche Verschwinden von Anaïs, die sich in Luft aufgelöst hat, als wäre sie ein Blütenblatt, das in Staub zerfällt. Seit vier Monaten ist Anaïs verschwunden, seitdem interessiert sich Pierre nicht mehr für seine Tochter – die Rollen haben sich verkehrt, statt in ihrer Einsamkeit getröstet zu werden, übernimmt Manon die Pflege ihres gestrandeten Vaters.

“Das Mädchen steigt über die leeren Bierflaschen neben dem Sessel hinweg, geht zum Tisch und kontrolliert den Computer, wie eine Krankenschwester den Puls des Patienten. An manchen tagen vergisst er zu essen und zu arbeiten.”

Die vier Figuren, um die die Geschichte von Aude Le Corff kreist, bewegen sich in engen und festgefahrenen Grenzen. Die Stimmung ist gedrückt, als hätte jemand zeitgleich mit dem Verschwinden von Anaïs auf einen Pauseknopf gedrückt – der Alltag wirkt wie angehalten, die Figuren wie festgefroren. Anatole ist der Einzige der vier, der Anaïs zuvor nicht gekannt hat. Er ist ein alter Mann, der lediglich im selben Haus wohnte. Doch auch er lebte ein festgefrorenes Leben, in dem bereits der Gang zur Bäckerei wie ein “mit Steinen und Wurzeln übersäter Hochgebirgsweg” erscheint. Die Begegnung mit Manon, die er lesend unter einer Birke entdeckt, verändert nicht nur sein Leben, sondern vor allem die Sicht auf dieses Leben. Zuvor fühlte er sich gebrechlich und zum Alleinsein verurteilt, nun wagt er sich endlich wieder aus seinem selbstgezimmerten Gefängnis heraus.

“Und nun plötzlich, da er nichts mehr erwartet, setzt sich ein kleines Mädchen unter die Birke und fängt an, mit den Katzen, dem Wind und den Wolken zu sprechen.”

Die Geschichte nimmt Fahrt auf, als sich aus heiterem Himmel Anaïs bei ihrer Familie meldet. Sie schickt jedem einen Brief, auch ihrer Schwester und ihrer Mutter und erzählt jedem von ihnen einen Teil ihrer Geschichte und einen Teil der Beweggründe, die sie dazu getrieben haben, Mann und Tochter im Stich zu lassen. Abgestempelt ist der Brief in Marokko. In Pierre und Manon wecken die Briefe Hoffnungen und Begehrlichkeiten, im Wunsch seine Frau zurück nach Hause zu holen, beschließt Pierre Hals über Kopf, ihr nach Marokko zu folgen – und genau zu wissen, was ihn dort erwartet. Pierre und Manon reisen jedoch nicht alleine, auch Sophie und Anatole kommen mit und plötzlich wird aus dem bedrückten Kammerstück ein rasantes Roadmovie, bei dem niemand der vier genau weiß, wie es ausgehen wird …

“Der Roman, der ganz Frankreich bezaubert hat”, steht auf der Rückseite des Buches. Auch mich hat dieser sanfte und feinfühlige Roman bezaubern können, doch nur stellenweise, denn die lesenswerte Geschichte nimmt sich durch ein leicht kitschiges Ende leider selbst ihre eigene Tiefsinnigkeit und Ernsthaftigkeit. Wie schade, habe ich beim Zuklappen des Buches gedacht. Aude Le Corff beginnt ihren Roman unheimlich vielversprechend, man taucht ein in diese Welt der Bedrückung, in dieses erstarrte Leben einer Familie, die sich vom Verschwinden der Mutter nicht erholen kann. Die Verzweiflung von Manon und ihr gleichzeitiger Glaube daran, selbst für die Rückkehr ihrer Mutter verantwortlich zu sein, haben mir beim Lesen immer wieder die Luft zum Atmen abgeschnürt. Es ist der Moment, in dem Anatole in ihr Leben tritt, der vieles verändern sollte – es ist der Moment, in dem er ihr aus Der Kleine Prinz vorliest, der dem Mädchen so viel Trost gibt. Der Autorin gelingt es mit leichter Hand fabelhafte Figuren zu erschaffen, die nicht nur liebenswert und warmherzig sind, sondern auch authentisch. Doch mit dem Aufbruch nach Marokko teilt sich der Roman in ein Davor und ein Danach und während mich das Davor bezaubern konnte, hat mich das Danach tief enttäuscht: das Ende ist zu gewollt, zu platt, zu kitschig und viel zu unglaubwürdig!

Aude Le Corff legt mit “Bäume reisen nachts” eine lesenswerte und nette Geschichte vor, der jedoch durch ein unpassend triviales Ende viel von ihrer Kraft und Wirkung genommen wird. Die erste Hälfte des Romans habe ich als ein warmherziges und bezauberndes Märchen empfunden, die zweite Hälfte hat diesen Erwartungen jedoch nicht mehr standhalten können. Was bleibt ist ein Roman, der Hoffnung, Zuversicht und Trost vermittelt – dabei jedoch Gefahr läuft, in eine nicht notwendige Banalität zu kippen.

Das Lachen und der Tod – Pieter Webeling

Pieter Webeling wurde 1965 geboren, 2008 veröffentlichte er seinen ersten Roman. Webeling arbeitet jedoch nicht nur als Autor, sondern auch als Journalist und hat im Rahmen dieser Tätigkeit bewegende Interviews mit Holocaust-Überlebenden geführt. Einige von diesen Gesprächen sind auf seiner Homepage nachzulesen. Ein ständiges Thema in diesen Gesprächen war die Frage nach Humor und inwieweit einem ein Witz dabei helfen kann, zu überleben. In seinem Roman “Das Lachen und der Tod” (im Original De lach en de dood) lotet er genau diese Frage mit sehr viel Feingefühl und Empathie aus. Aus dem Niederländischen übersetzt wurde der Roman von Christiane Burkhardt.

DSC_9813

“Humor ist nichts weiter als die strikte Weigerung, der Tragödie das letzte Wort zu überlassen.”

Ernst Hoffmann ist ein niederländischer Komiker, sein Vater war Deutscher und kämpfte im Ersten Weltkrieg, seine Mutter war eine holländische Schauspielerin und Jüdin.  “Es war der dritte Sonntag im Februar 1944, um kurz nach vier, und es war eiskalt”, als Ernst Hoffmann mit unzähligen anderen Menschen nach Auschwitz deportiert wird.

“Es war und blieb merkwürdig, dass ich halb deutsch war. Ich konnte die Sprache, mehr allerdings nicht. Deutschland war zwar das Land meines Vaters, aber nicht mein Vaterland.”

Lange hatte die Kulturpolitik versucht den Halbjuden zu beschützen, doch die Versuche blieben am Ende vergebens. In dem Viehwaggon, in den Ernst Hoffmann während des Transports gesperrt wird, trifft er auf Helena Weiss – ihre Begegnung ist kurz, doch sie hinterlässt bei beiden tiefe Spuren. Bei ihrer Ankunft im Konzentrationslager werden Ernst und Helena voneinander getrennt, wie alle Männer und Frauen im Lager – es sollte lange dauern, bis sie sich wiedersehen.

Von Beginn an bemüht Ernst Hoffmann sich darum, in der Masse der Lagerinsassen unterzugehen. Die Aufseher sind sadistisch und unberechenbar, ein falscher Blick, eine falsche Bewegung und schon kann das Leben vorbei sein. Doch er kann nicht aufhören, an Helena zu denken und darüber nachzudenken, ob sie überhaupt noch lebt und wie es ihr geht. Mit Hilfe des Blockältesten gelingt es ihn, Helena einen Brief zu schicken und er erhält sogar ein Antwortschreiben – als Gegenleistung fordert Schlomo von ihm, vor den Mitgefangenen aufzutreten und sie mit Witz und Humor zu unterhalten.

“Es war mir oft aufgefallen, wie hässlich Menschen werden, wenn sie lauthals lachen. Ich sah die verzerrten Grimassen, den weit aufgerissenen Mund, das vibrierende Gaumenzäpfchen. Ich hörte die harten Kehllaute, die salvenartig hervorgestoßen wurden, als würden sie erbrochen. Wahrscheinlich, weil sie die Kontrolle verlieren, und dann werden Menschen schnell hässlich.”

Humor hat im Leben von Ernst Hoffmann schon immer eine wichtige Rolle gespielt. Bereits als Jugendlicher versuchte er mit Humor seinen Vater wieder ins Leben zurückzuholen, der die Schrecken des Ersten Weltkriegs nicht vergessen konnte. Er scheitert, sein Vater nimmt sich am Morgen nach Ernsts einundzwanzigsten Geburtstag das Leben. Tagtäglich erzählt der Komiker nun seinen Mitgefangenen Witze und ahmt Charlie Chaplin nach – über allem schwebt das Ziel, die traumatisierten und halbtoten Menschen im Lager zum Lachen zu bringen. Wenn auch die Muselmänner lachen, dann war der Abend ein Erfolg.

“Humor ist eine Flucht. Diesen Satz hatte ich schon oft gehört. Ich fragte mich, ob der Mensch dem Leid entfliehen kann, indem er einfach mit einem Lachen darüber hinweggeht. Oder muss man die Qualen erst durchleiden, um sie endgültig hinter sich lassen zu können? Ist das Lachen nur dann gerechtfertigt? Ist Humor erst dann Humor, wenn es sich um verarbeitetes Leid handelt?”

Ernst Hoffmann stellt sein Leben im Lager von nun an unter das Motto: “Jeden Tag ein Lacher!” Es gelingt ihm, seine Mitgefangenen zu unterhalten, ihr Leid zu lindern – zumindest für diesen Moment, doch sein Dasein als Komiker bleibt auch den Mächtigen und Befehlshabern nicht lange verborgen. Der Lagerkommandant möchte Ernst dazu zwingen, seine Witze vor einem nationalsozialistischen Publikum zu erzählen, der weigert sich vehement, doch als ihm im Gegenzug die gesundheitliche Versorgung von Helena, die an Fleckfieber erkrankt ist, zugesichert wird, wird sein Gewissen auf eine harte Probe gestellt. Welche Grenzen ist man bereit zu überschreiten, um selbst zu überleben, aber auch, um zu wissen, dass die, die man liebt, überleben wird?

“Denn so groß das Entsetzen auch ist  – das Lachen wird uns nie vergehen.”

Pieter Webeling legt mit “Das Lachen und der Tod” einen höchst lesenswerten Roman vor, der gleichermaßen schön und schrecklich ist. Im Zentrum des Romans stehen nicht nur das Lachen und der Tod, sondern auch die Liebe. Der Beginn einer Liebe zwischen Ernst und Helena wird am schlimmstmöglichen Ort gesät, es ist ein Ort des Hasses, des Bösen und des Todes. Es ist ein Ort, an dem der Boden viel zu trocken ist, als dass die Liebe wachsen könnte. Nüchtern und erschreckend detailliert zeichnet Pieter Webeling das Grauen im Vernichtungslager nach. Die erdrückende Macht des Bösen, aber auch die schreckliche Sinnlosigkeit all der Taten, schnürt einem beim Lesen die Luft zum Atmen ab. Diesem Bollwerk des Bösen entgegen gesetzt wird der Humor und das Lachen. Ernst Hoffmann hat auch in Situationen der absoluten Ausweglosigkeit immer einen Witz parat – vielen bleibt bei dem Wort Vernichtungslager das Lachen wahrscheinlich im Halse stecken, doch es ist der Humor, der dafür verantwortlich ist, dass die Menschen nicht ihren Überlebenswillen verlieren: “Wir lachen, um nicht wahnsinnig zu werden, um uns einen Rest geistiger Gesundheit zu bewahren.” 

“Das Lachen und der Tod” ist ein grausames Buch, das nur schwer zu ertragen und auszuhalten ist und doch ist es gleichzeitig ein seltsam hoffnungsvolles Buch: es ist die Hoffnung darauf, überleben zu können. Es ist die Hoffnung darauf, dass das Bollwerk Humor dem Bösen seine Kraft nehmen kann, zumindest für einen Moment.

Palo Alto – James Franco

James Franco wurde 1978 im kalifornischen Palo Alto geboren. Er ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch Schauspieler, Regisseur, Filmproduzent, Maler und Performancekünstler. Bekannt wurde er durch seine Rollen in Spider Man und Milk, darüber hinaus war er in der Verfilmung Howl und an der Seite von Julia Roberts in Eat Pray Love zu sehen. Für seine Rolle in 127 Hours wurde er für den Oscar als “Bester Hauptdarsteller” nominiert. “Palo Alto” ist sein Debüt als Autor und wurde übersetzt von Hannes Meyer.

DSC_9775

“Wahrscheinlich ist es bei manchen Leuten so, dass ihnen nie einer sagt, was sie sein sollen, also sind sie nichts. Früher wurde man einfach in irgendetwas reingeboren, alles stand schon fest, also war man Bauer, bis man starb, oder man putzte das königliche Klo.”

“Palo Alto” ist eine Sammlung von insgesamt elf Stories, die in zwei Hälften geteilt ist, in Palo Alto I und Palo Alto II. Den Erzählungen vorangestellt ist ein Zitat von Marcel Proust, das dem Buch “Im Schatten junger Mädchenblüte” entstammt: “[…] die Jugend aber ist die einzige Zeit, in der man etwas lernt.” Es ist genau diese Zeit, die auch James Franco in seinen Erzählungen in den Mittelpunkt rückt. Eindringlich und erschütternd berichtet er von einer Generation, die verloren scheint – es ist eine Generation, die sich selbst verloren hat.

“Ich konnte nicht mehr über April reden. Barry hatte mit ihr geschlafen, mit der einen, die ich liebte, und es hatte ihm nichts bedeutet; Tanya würde sterben und es würde allen egal sein; die Erde war voll von Menschen, Milliarden Körper, die alle beerdigt werden und zu Dreck zerfallen; und Picasso war mit sechzehn schon ein Meister, und ich war bloß ein Stück Scheiße.”

Alle Stories sind in der kalifornischen Stadt Palo Alto angesiedelt, die einzelnen Erzählungen sind nicht miteinander verknüpft, doch immer wieder tauchen dieselben Namen auf, so lange, bis ich beim Lesen das Gefühl hatte, das all die Mädchen und Jungs zu einer einzigen Person verschwimmen. “Vor zehn Jahren, in meinem zweiten Jahr auf der Highshool, habe ich an Halloween eine Frau getötet.” James Franco erzählt von Jugendlichen, die eigentlich noch Kinder sind, doch ihre Kindheit viel zu schnell abschütteln mussten, um erwachsen zu werden. Von Jugendlichen, die Alkohol trinken, Drogen nehmen und Bewährungsstrafen erhalten. Er erzählt von Jugendlichen, die Sex haben, um anerkannt zu werden. Die alles dafür tun würden, gesehen zu werden. Jugendliche, die Tiere töten, um sich zu spüren, die Gegenstände zerstören, um am Leben teilzunehmen.

“Komisch, wie manchmal plötzlich neue Tatsachen auftauchen und einen am Guten in der Welt zweifeln lassen. Alle tun so normal, als ob sie deine Freunde wären, aber eigentlich führen sie ein ganz anderes Leben, von dem man nichts weiß. Wenn wir alle immer gefilmt werden würden, könnten wir uns die Filme der anderen ansehen, und dann wüssten wir von allen, wie sie wirklich sind.”

James Franco fängt in seinen Erzählungen ein ganz spezielles Lebensgefühl ein, er fängt die dunklen Seiten des Lebens ein und bannt sie auf Papier. Ohne Rücksicht, ohne Beschönigung – ungefiltert. Das ist bewegend, aber auch immer wieder erschütternd und schockierend. Der Autor tut das in einer nüchternen Art und Weise, wirft den Leser in das Leben seiner Figuren, nur um ihn nach wenigen Seiten wieder hinauszuwerfen. Vielleicht ist dies der einzige Vorwurf, dem man James Franco machen könnte: die Erzählungen entfalten ihre Stärke und Kraft durch die Kürze, doch gleichzeitig hätte ich mir immer wieder gewünscht, tiefer in das Leben der Figuren eintauchen zu können. Alle Geschichten kreisen um die Schwierigkeiten von Kindern, die erwachsen werden. Es sind verlorene Kinder, denn sie haben niemanden um sich, der sich kümmert, der tröstet – keinen Ratgeber, keinen Freund.

“Man kann gegen das Teerbaby nicht ankmäpfen, das will es gerade. Wenn du das Teerbaby schlägst, zieht es dich rein. Sobald es dich in seinen Fängen hat, verliert es seine Form, wird zu einem klebrigen, schwarzen Monster und umhüllt dich ganz und gar. Je mehr du kämpft, an ihm zerrst und reißt, desto mehr verklebt es dich, bis du dich nicht mehr bewegen kannst und nur noch ein Klumpen Teer bist. Und irgendwann bist du das Teerbaby. Nur dass du statt der Knopfaugen echt Augen hast, die unter dem Teer hindurchschauen.”

Die Stories von James Franco erinnern an J. D. Salinger oder auch an Bret Easton Ellis – sie sind frei von Helden und stattdessen bevölkert von Jugendlichen, die fürchterlich einsam und alleine sind und diese innere Leere auch mit Alkohol, Drogen oder Sex nicht füllen können. Die Erzählungen sind mitunter schockierend und verstörend, wie ein Messer schneiden sie einem beim Lesen brutal in das eigene Fleisch und doch konnte ich das Buch zwischendurch kaum noch aus der Hand legen.

“Ich fahre gerne den leeren, dunklen Freeway entlang, der hin und wieder von Lichtern an der Straße erleuchtet wird, und wenn ich diese Lichter sehe, denke ich an die ganzen kleinen Welten da draußen, all die kleinen Tiere, die dort in ihren Revieren leben, und daran, dass wir einfach an der Seite ranfahren und in jeder beliebigen dieser kleinen, vergessenen Ecken der Welt ein Abenteuer erleben könnten, in diesen Nicht-Zonen, den wertlosen Abfallgrundstücken im Kielwasser der großen Freeways, und ich fahre gerne an ihnen vorbei, wenn ich über den Freeway rase wie durch einen Tunnel in die Nacht und dabei trotzdem noch eine ganze Actionszene mit Joe inszenieren kann, und ich denke, das ist das Leben, weil ich Gas gebe und die Zeit mich vorantreibt und nie aufhört, und manchmal hat man eben einen Beifahrer im Wagen, und dann kann man sich zusammen die Landschaft anschauen oder Musik hören, die beiden gefällt, oder ein kleines bisschen mit dem Messer spielen, weil man wissen will, ob der andere auch wirklich da ist.”

In “Palo Alto” fängt James Franco in unnachahmlicher Art und Weise das Lebensgefühl von gestrandeten Jugendliche ein. Es sind brutale Erzählungen, die verstören und schockieren. “Palo Alto” ist kein schönes Buch, es ist dreckig und rau, ich habe mich an den Erzählungen gestoßen und das Buch mit dem Gefühl zugeklappt, von blauen Flecken übersät zu sein und doch habe ich darin auch ein tiefes Gefühl von Menschlichkeit gefunden.

Es wird leicht, du wirst sehen – Martin Winckler

Martin Winckler ist nicht nur Autor, sondern auch Arzt und Übersetzer. 1955 wurde er in Algier geboren und immigrierte bereits als Kind nach Frankreich. Bekannt wurde er durch seinen Bestseller “La maladie de Sachs” (in der deutschen Übersetzung trägt das Buch den Titel “Doktor Bruno Sachs”), der nicht nur vielfach verkauft, sondern auch verfilmt wurde. Der Autor lebt heutzutage in Quebec.

DSC_9811

“Das war es. Wenn der andere Schmerzen hat, habe ich Schmerzen. So war ich immer.”

“Es wird leicht, du wirst sehen” ist ein schmaler Roman, in dessen Zentrum Emmanuel Zacks steht. Emmanuel Zacks ist Arzt geworden, um anderen Menschen helfen zu können. In kurzen Episoden, die manchmal gerade einmal wenige Seiten umfassen, wird sein Lebensweg nachgezeichnet. Es ist ein Weg, der geprägt ist von dem Verlust seiner Eltern, ein Weg, der ihn beinahe schon zwangsläufig in einen helfenden Beruf hinein geführt hat.  Nach seinem Studium hat er zunächst Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen, so lange, bis er diese Arbeit nicht mehr ertragen konnte. Er wechselte in die Schmerzmedizin, dort fühlt er sich endlich zu Hause.

“Es gab Schmerzen, die allem standhielten. Schmerzen, die man nicht lindern konnte. Gesichter, die man nicht zu erhellen vermochte.”

Emmanuel Zacks ist ein besonderer Mensch, der mit der Gabe eines photographischen Gedächtnisses ausgestattet ist. Dieses hat ihm schon während seines Medizinstudiums einen guten Dienst erwiesen, doch auch danach hilft es ihm dabei, die Geschichten, die ihm Patienten erzählen, aufzusaugen und zu seinen eigenen zu machen. Als seine Mutter ihn vor vielen Jahren bat, ihre Schmerzen zu lindern, verweigerte er sich noch – er weigerte sich, ihre Schmerzen zu lindern, er weigerte sich aber auch, mit ihr über ihre Lebensmüdigkeit zu sprechen. Seinen Patienten begegnet der Arzt dagegen mit einer ausgesprochenen Empathie, er lässt sie reden und hört ihnen zu.

“Ich entgegnete, ich würde mir nur das Wichtigste merken. Das stimmte nicht. Ich merkte mir alles, und ich musste mich ständig selbst zensieren. Es war ermüdend. Ich konnte nicht anders als hören oder zuhören. Ich konnte nicht anders als es mir merken – außer wenn ich zu viel getrunken hatte, und den Zustand mochte ich nicht.”

Als Schmerztherapeut muss Emmanuel Zacks jedoch auch wiederholt die schmerzhafte Erfahrung machen, dass es Schmerzen gibt, die nicht gelindert werden können und dass es Momente gibt, in denen Patienten ihr Leben nur noch beendet wissen wollen. Nicht alle Schmerzen sind heilbar. Im Wunsch zu helfen, gerät der Arzt immer wieder in Konflikt mit dem hippokratischen Eid, den er als Mediziner geschworen hat. Es gibt eine Grenze im Helfen, die er lange nicht überschreitet. Doch eines Tages erhält er einen Anruf von André, einem ehemaligen Kollegen: er ist todkrank und möchte sich bewusst dafür entscheiden, jetzt zu sterben und nicht mehr weiter zu leiden.

“Auch die Abwesenheit der anderen ist eine Hölle. Es ist weder Schmerz noch Depression, noch Einsamkeit. Es ist ein noch schmerzhafteres Gefühl. Das Gefühl, genug zu haben. Des Daseins überdrüssig.”

Emmanuel Zacks erfüllt seinem Freund diesen Wunsch – er erfüllt ihn, ohne lange zu zögern, ohne zu hadern und André sagt den Satz zu ihm, der auch titelgebend für diesen schmalen Roman ist: “Es wird leicht, du wirst sehen.” André ist der Erste von vielen, die noch folgen sollten. Es läuft immer nach dem selben Schema ab: die Lebensmüden kontaktieren Emmanuel Zacks, erzählen ihm ihre Geschichte und bitten um Erlösung. Manche offenbaren sich ihm in ihren letzten Minuten, erzählen etwas, das sie bitter bereuen, etwas, das ihnen auf der Seele lastet – Emmanuel Zacks ist in diesen Minuten nicht nur Mediziner, sondern auch ein Beichtvater. Der Arzt merkt sich alles und legt Heft für Heft an, in jedem finden sich die Geschichten seiner heimlichen Patienten, von denen niemand etwas erfahren darf, denn in der französischen Öffentlichkeit wird jede Form der Sterbehilfe abgelehnt. Für den Arzt ist die Weigerung der Politik über mögliche Formen der Sterbehilfe zu sprechen eine “Heuchelei”, an einer Stelle konstatiert er, dass Prinzipien über die Linderung von Leid gestellt werden.

“Beim Sterben will ich nicht sehen, dass meine Brust sich gegen meinen Willen hebt und senkt, ich will nicht an meiner statt eine Maschine atmen hören. Ich will meiner Familie Auf Wiedersehen sagen können. Mit meinem Mund, meinen Lippen, meiner Kehle.”

Emmanuel Zacks stellt die Richtigkeit seines Handelns an keiner Stelle in Frage. Er tötet, auch wenn  er natürlich aus einem Gefühl der Menschlichkeit heraus tötet. Die moralische Antwort auf die Frage danach, ob wir unser Leben selbst beenden lassen dürfen, ist für ihn eindeutig. Er beginnt erst an seinen Entscheidungen zu zweifeln, als er Nora kennenlernt und sein Leben eine ungeahnte Wendung nimmt …

Das Thema Sterbehilfe ist nicht erst seit der SPIEGEL-Ausgabe mit dem Titel “Sterben in Würde” immer wieder ein Thema, das eine Auseinandersetzung erfordert. Zuletzt ist es mir im Tagebuch von Wolfgang Herrndorf begegnet, der eine für alle frei zugängliche Form der Selbsttötung fordert und diese auch für sich selbst in Anspruch genommen hat: “Was ich brauche, ist eine Exitstrategie.” Der Roman von Martin Winckler, der vor allem durch eine sensible Hauptfigur getragen wird, verführt dazu, dem Arzt in seiner Handlungsweise zuzustimmen und die Taten von Emmanuel Zacks nicht mehr moralisch zu hinterfragen. “Es wird leicht, du wirst sehen” wirft viele Fragen auf, es sind Fragen nach den Grenzen der Beziehung zwischen Arzt und Patient: darf ein Arzt den Wunsch erfüllen, sterben zu wollen? Wie weit darf das Bedürfnis danach zu heilen, zu helfen und Schmerzen zu lindern gehen? Wie kann man als Arzt in den letzten Stunden Trost spenden? Wie sieht ein würdevoller Tod überhaupt aus?

“Aber letzten Endes haben wir nur das. Geschichten. Sie helfen uns zu leben und bereiten uns auf den Tod vor.”

Martin Winckler legt mit “Es wird leicht, du wirst sehen” einen leisen Roman vor, der beim Lesen dennoch eine unheimliche Kraft entfaltet. Im Vordergrund steht natürlich die moralische Frage nach der richtigen Anwendung von Sterbehilfe, die Auseinandersetzung mit dieser Frage ist jedoch eingebettet in einen höchst lesenswerten Text, der nicht nur die berührende Geschichte eines außergewöhnlichen Arztes erzählt, sondern darüber hinaus auch die bewegenden Geschichten seiner Patienten. Eine wichtige Leseempfehlung!

%d bloggers like this: