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Zeitgenössisches

Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst – Shani Boianjiu

Manchmal ist der Weg, auf dem Bücher zu mir gelangen, verschlungen und rätselhaft. Ich kann mir selbst nicht erklären, was mich direkt nach der Lektüre von “Die irre Heldentour des Billy Lynn” zu Shani Boianjius Roman greifen ließ. Manchmal ergeben sich beim Lesen von Büchern seltsam anmutende Querverbindungen und in diesem Fall ist es nicht nur der sogenannte “dog tag” auf dem Buchcover, sondern auch das Thema Krieg, was beide Bücher miteinander verbindet. Während der Krieg bei Ben Fountain lediglich eine Nebenrolle spielt, rückt er bei Shani Boianjiu ins Zentrum des Geschehens. Die Autorin wurde 1987 in Jerusalem geboren und hat irakische und rumänische Wurzeln. Mit “Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst” legt sie ihren ersten Roman vor. Aus dem Englischen übertragen wurde der Roman von Maria Hummitzsch und Ulrich Blumenbach.

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“Das lag daran, dass ich nicht begreifen konnte, dass ich eine Soldatin war. Ich dachte, ich wäre immer noch ein Mensch.”

Lea, Avishag und Yael sind drei Mädchen, die in einem israelischen Dorf an der Grenze zum Libanon leben. Es ist ein kleines Dorf, in dem es keinen Handyempfang gibt, doch dafür ein Münztelefon und einen Videoautomaten. Eine kleine Schule gibt es auch, Lea, Avishag und Yael vertreiben sich dort ihre Zeit, wenn sie nicht gerade in Tagträumen bei Avishags älterem Bruder Dan sind. Der Dorflangweile wird der immer im Hintergrund lauernde Krieg entgegengesetzt. Da der Militärdienst auch für Mädchen verpflichtend ist, muss man sich kaum Gedanken über die eigene Zukunft im Anschluss an die Schule machen – der Weg ist vorgezeichnet und führt für viele junge Frauen zwangsläufig in den Krieg. Um die Ängste und Ungewissheiten auszulöschen, trinken die Mädchen Bier, rauchen und machen rum. Eingezogen werden sie trotzdem: als Frauen müssen sie die wahre Gefahrenzone des Krieges nicht betreten und doch nehmen sie an den Außenrändern dieses Krieges teil.

“Bald sind Avishag und ich mit der Schule fertig. Und gehen zur Armee. Und alles. Sogar Prinzessin Lea muss zur Armee. Alle müssen.”

Die Kriegsmaschinerie zieht Frauen ein, um sie nach ihrem Militärdienst wieder auszuspucken. In der Zwischenzeit sollen sie ihre Funktion erfüllen, ihre Rolle spielen und dabei möglichst wenige Fragen stellen. Die Situationen, die Shani Boianjiu einfängt und beschreibt, muten stellenweise fast schon kafkaesk an, sie sind aberwitzig und spotten jeder Beschreibung. Einer der Mädchen muss Stunde um Stunde auf einen Zaun starren, einer anderen fallen beim stundenlangen Betrachten eines Bildschirms beinahe schon die Augen aus dem Kopf.

“Und ich rede. Ich habe so lange gewartet. Das ist die Gelegenheit. Solange ich kurz vorm Ersticken bin, darf ic das. Yael und Lea sind nicht da, um mich mit ihrem Geplapper abzuwürgen. Von meiner Familie ist auch keiner da, der mich ignorieren kann. Meine Worte dienen einem Zweck. Meine Worte und Tränen sind eine Angelegenheit der nationalen Sicherheitspolitik. Ein Teil unserer Ausbildung. Dadurch bin ich auf einen Angriff mit nicht-konventionellen Waffen vorbereitet. Ich könnte das ganze Land retten, so gut bin ich vorbereitet. Mein ganzer Kopf brennt, aber die Worte purzeln mir nur so aus dem Mund, sie schmecken nach Bananen, und es kommen immer mehr.”

Shani Boianjiu erzählt in “Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst” die Geschichte von drei Mädchen. Es sind drei ganz unterschiedliche Geschichten, drei verschiedene Lebensläufe, drei Menschen, die voneinander getrennte Erfahrungen machen und doch von der Tatsache vereint werden, dass sie dazu gezwungen sind, viel zu schnell und viel zu früh erwachsen zu werden. Die Kapitel werden abwechselnd aus der Perspektive von Lea, Yael und Avishag erzählt. Es ist nicht immer leicht, die unterschiedlichen Ichs auseinander zu halten und zuzuordnen.

“Wenn du wirklich willst, dann verrate ich dir die Worte, die ich geschrien habe, ich verrate dir die Laute und Wörter und Buchstaben. Aber zuerst musst du schwören, dass du sie von mir hören willst.”

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Während Ben Fountain mit “Die irre Heldentour des Billy Lynn” ein wahrlich flotter und leicht lesbarer Roman gelungen ist,verweigert sich “Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst” einem einfachen Zugang. Der Roman ist aufgebaut wie ein Mosaik; zusammengesetzt aus Einzelteilen, die nicht immer zueinander passen wollen. Die Sprache wirkt mitunter ungelenk und holprig, dann wiederum gibt es Passagen, die eine enorme Sogwirkung auf mich hatten, die vor Wut und Kraft so stark glühten, dass man fürchten musste, sich an ihnen zu verbrennen. Und doch wird der Roman von einer seltsamen Emotionslosigkeit bestimmt. Dem, was die Mädchen im Krieg erleben, nähert sich Shani Boianjiu nur bis auf eine gewisse Distanz. Sie erzählt, sie verweigert sich aber jeder Deutung oder näheren Beschreibung. Sie zeigt etwas, verzichtet jedoch auf eine Erklärung. Von den Geschehnissen im Roman bleibe ich deshalb immer wieder seltsam getrennt, wie durch eine Glaswand. Ich kann hindurch sehen, ich kann aber nicht auf die andere Seite gelangen. Weder das Geschehen, noch die Mädchen – die vor meinem inneren Auge immer wieder zu einer Person verschwimmen, kommen mir dadurch nahe.

“[…] ich begriff, dass es Menschen gab, die für den Kampf lebten, für den Moment, bevor man gewann oder verlor. Menschen, denen diese Welt nicht genug war; sie wollen eiskaltes Wasser in den Adern, Schönheit um jeden Preis, Klettern aus Gräben unter Beschuss, explodierende Granathalsketten. Faszinierende Menschen, die sich noch nicht einmal vorstellen konnten, dass es Folter gab. Und ich schaute die vielen Männer auf dem Sand an. Jeder Einzelne hatte Schultern, die breiter waren als meine, aber ich wusste, dass sie ihnen in dem, was kommen würde, nichts nutzen würden. Und da wusste ich: Ich war nie einer von diesen faszinierenden Menschen.”

Shani Boianjiu hat einen Roman geschrieben, der den Leser aussperrt. Ich habe keinen Zugang gefunden, weder zu der Sprache, noch zu den jungen Frauen und ihrem Schicksal. Der Versuch, sich dem Text zu nähern und sich auf ihn einzulassen, erfordert Zeit und Mühe. Dennoch gewährt die Autorin in “Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst” einen faszinierenden und bemerkenswerten Blick auf die Institution Militär, aber auch auf die Traumatisierungen, die man in einem Krieg erleben kann.

Die irre Heldentour des Billy Lynn – Ben Fountain

Ben Fountain, der in North Carolina geboren wurde, ist Jurist und Literaturwissenschaftler. Für seine Erzählung “Brief Encounters with Che Guevara” wurde er bereits vielfach ausgezeichnet, mit “Die irre Heldentour des Billy Lynn” liegt nun sein erster Roman vor. Das Buch war ein Bestseller der New York Times und wurde mit dem National Book Critics Circle Award ausgezeichnet. Die Filmrechte liegen bei Simon Beaufoy, dem Regisseur von Slumdog Millionaire. Übersetzt wurde der Roman von Pieke Biermann.

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“Diese über allem hängende monströse Hohlheit macht ihn irre […].

Gerade einmal vier Monate lang war Billy Lynn mit seinem Bravo-Team im Irak im Einsatz gewesen, als sie in ein schweres Gefecht verwickelt werden. Zufällig vor Ort ist ein Kamerateam von Fox-News, das den heldenhaften Kampf der zehn Soldaten auf Filmmaterial bannt und damit nicht nur für die Ewigkeit festhält, sondern gleichzeitig für die Gesellschaft freigibt: das Video, das im Fernsehen und im Internet ausgestrahlt wird, macht die Soldaten über Nacht zu Superstars. Die amerikanische Regierung holt ihre erfolgreichen Soldaten vorübergehend zurück nach Hause und schickt sie auf eine Victory Tour quer durch Amerika. In einer Limousine werden die zehn Männer durch das Land gekarrt. Bei den zehn Männern handelt es sich um die acht übrigen Soldaten der Bravo-Squad – Shroom war bei dem Gefecht verstorben, Lake wurde schwer verwundet. Mit dabei sind außerdem noch Major Mac, der Presseoffizier und Albert Ratner, ein Filmproduzent, der beim Anblick der Soldaten die Kinokassen klingeln sieht. Er ist bereits in Gesprächen mit Oliver Stone, Brian Grazer, Mark Wahlberg und George Clooney.

“‘Und was haben Sie so gedacht bei  dem Gefecht?’, hatte eine hübsche Fernsehreporterin in Tulsa gefragt, und Billy hatte es versucht. Er hatte es weiß Gott versucht. Er versucht es unaufhörlich, aber immer wieder entgleitet und entwischt es, trudelt einfach weg, dieses Ding, dieses Es, dieses unaussprechliche Sonstwas.”

Das alles klingt nicht nur aberwitzig, es ist es auch. Der vierhundert Seiten starke Roman umfasst die Beschreibung eines einziges Tages, angereichert mit Rückblicken auf den Krieg und Billy Lynns Rückkehr in sein Elternhaus. Es ist ein Tag im Kopf des Soldaten Billy Lynn und es ist der letzte Tag der Victory Tour. Die Soldaten der Bravo-Squad verbringen diesen Tag in einem Footballstadion, zwischen Cheerleadern und kreischenden Fans. Billy Lynn ist gerade einmal neunzehn Jahre alt und genauso unbeholfen wie seine sieben Kollegen. Vom Blitzlichtgewitter sind sie geblendet, von den Interviews überfordert. Plötzlich lernen diese einfachen Jungs Logenbesitzer und schwerreiche Männer kenne, plötzlichen besuchen diese unbeholfenen Männer, die eigentlich noch halbe Kinder sind, das Weiße Haus und bekommen einen Silver Star überreicht.

“Da sind dieselbe Schwere, dieselbe Dumpfheit und Melancholie, eine Art ekelhaft süßer Emo-Funk, der aber fast angenehm wirkt, weil er immerhin auf etwas Wirkliches verweist. Ist Leid etwa die andere Wirklichkeit?”

Ben Fountain hat einen Kriegsroman geschrieben, in dem das Kriegsgeschehen lediglich eine Nebenrolle spielt. Der Autor benutzt das Footballspiel als Folie für das, was in der amerikanischen Gesellschaft falsch läuft. Die Soldaten werden zu Dressurpferden gemacht, die in einem einzigartigen Medienspektakel ihre Rolle spielen sollen. Die Regierung rund um George Bush braucht diese Helden, um einen Krieg rechtfertigen zu können, für den es eigentlich keine Rechtfertigung gibt. Nach der Victory Tour werden die Soldaten wieder zurück in den Irak geschickt, ihre Einsatzzeit ist noch lange nicht vorbei.

“Es ist das irrwitzig Zufällige, was einen mürbe macht, die Differenz zwischen Leben und Tod und schrecklicher Verwundung ist manchmal so hauchdünn wie bei der Frage, ob man sich auf dem Weg zum Essenfassen zum Stiefelbinden bückt oder nicht oder als Dritter in der Schlage vorm Scheißhaus steht und nicht als Vierter oder den Kopf nach links dreht und nicht nach recht. Zufällig.”

Die Tatsache, dass dieser Roman erfolgreich in Amerika verkauft wurde, mag überraschen, denn Ben Fountain findet wenig positive Worte für dasLand und für die amerikanische Regierung. Die amerikanische Gesellschaft wird immer wieder aufs Korn genommen: als Überflussgesellschaft, als kriegsverrherlichendes Land. Das Footballspiel ist eine einzige Inszenierung – in der Halbzeitpause tritt Destiny’s Child auf, die Soldaten essen eine opulente Mahlzeit und hören sich die Reden des Teambesitzers der Dallas Cowboys an.

“Das war grob. Das war total versiffte Scheiße. Das war ein Geblute und Gekeuche wie bei der schlimmsten Abtreibung der Welt, das Jesukind ausgeschissen in Menschengestalt.”

“Die irre Heldentour des Billy Lynn” ist wahrlich kein perfekter Roman. Vieles wirkt überzeichnet und mit so starken Wattstrahlern ausgeleuchtet, dass die Konturen verschwimmen und es kaum noch etwas Greifbares im Roman gibt. Ben Fountain spielt mit typographischen Merkmalen, darüber hinaus ist die Sprache jedoch eher schlicht gehalten. Es ist gerade diese nüchterne Sprache, die stellenweise eckig und simpel wirkt, durch die es gelingt, diese unbeholfenen halben Kinder einzufangen und auf Papier zu bannen.

“Die irre Heldentour des Billy Lynn” ist eine lesenswerte Lektüre. Ben Fountain beschreibt auf 400 Seiten einen einzigen Tag und tut das so rasant, dass ich das Buch stellenweise nur schwer aus der Hand legen konnte. Der Roman ist sicherlich ein politisches und gesellschaftskritisches Buch, genauso wie eine nachträglich Verdammung der Bush Regierung, es ist aber auch ein aufregendes, irrwitziges und flottes Buch, das ich gerne gelesen habe.

 

Traumsammlerin – Patti Smith

Patti Smith ist Punk- und Rockmusikerin, von manchen wird sie auch als “Godmother of Punk” bezeichnet. Sie singt jedoch nicht nur, sondern ist darüber hinaus auch als Dichterin, Malerin und Fotografin bekannt. Neben einigen Gedichtbänden, erschien im Jahr 2010 die Autobiographie “Just Kids. Die Geschichte einer Freundschaft”, die die Geschichte der Freundschaft von Patti Smith und Robert Mapplethorpe erzählt. Im vergangenen Jahr erschien schließlich der schmale Band “Traumsammlerin”, im Original: “Woolgathering”, eine Zusammenstellung aus kurzen Texten, Zeichnungen und Fotografien.

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“Jemand hat mich gefragt, ob ich Traumsammlerin als Märchen sehe. Ich mochte solche Geschichten immer sehr, aber ich fürchte, es fällt nicht darunter. Alles in diesem kleinen Buch ist wahr und so erzählt, wie es war. Es zu schreiben, löste mich aus meiner seltsamen Erstarrung, und ich hoffe, dass es den Leser bis zu einem gewissen Grad mit einer unbeschwerten, eigentümlichen Freude erfüllt.”

Viele der Texte, die in diesem wunderbaren Band versammelt sind, sind im Original bereits im Jahr 1992 bei Hanuman Books erschienen. Es handelt sich um Reflexionen und Gedankensplitter, die Patti Smith zu Beginn der 90er Jahre gesammelt und zu Papier gebracht hat. 1991 lebte Patti Smit gemeinsam mit ihrem Mann und zwei Kindern in einem alten Steinhaus am Stadtrand von Detroit. Das Haus liegt direkt an einem Kanal, Efeu und Purpurwinde winden sich die bröckelnden Mauern entlang. Doch sinnbildlich für die damalige Gemütsverfassung von Patti Smith sind wohl eher die beiden alten Trauerweiden.

“Ich liebte meine Familie und unser Zuhause aufrichtig, doch in diesem Sommer litt ich an einer schlimmen und unbeschreiblichen Schwermut.”

In dieser düsteren Gemütsverfassung beginnt Patti Smith damit Texte für die “Traumsammlerin” zu verfassen. Sie setzt sich in dem Moment an die Arbeit, als die Birnen anfingen zu reifen.

“Ich schrieb mit der Hand auf kariertes Papier, und am 30. Dezember 1991, meinem fünfundvierzigsten Geburtstag, war ich fertig mit dem Manuskript.”

“Traumsammlerin” ist eine lose Sammlung an Gedankensplittern und Erinnerungsfetzen; ohne Zusammenhang und chronologische Ordnung. Patti Smith erinnert sich in allerlei kurzen Texten und Sequenzen zurück an ihre Kindheit, greift einzelne Ereignisse heraus, beschreibt Menschen, denen sie begegnet ist, erinnert sich an Dinge, die sie getan hat. Angereichert sind die kurzen Erzählungen mit Fotografien und Zeichnungen. Auch wenn die Autorin selbst sich dagegen verwahrt, dass es sich bei ihren Texten um Märchen handelt, erwecken diese mitunter einen märchenhaften und beinahe magischen Eindruck. Der Stil, in dem Patti Smith ihre Erinnerungen notiert, ist assoziativ – sie überschreitet beim Schreiben immer wieder die unsichtbare Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit und versetzt sich selbst und den Leser in eine Form von Traumland, in dem einem nicht mehr bewusst ist, was Realität und was Einbildung ist.

“Ich wusste schon immer, ich würde ein Buch schreiben, wenn auch nur ein kleines, das einen fortträgt in eine Welt, die weder zu vermessen ist noch in Gedanken zu fassen.”

Patti Smith beschreibt sich selbst als “melancholisches” und “staksiges” Kind, mit ungeschickten Armen. Und in der Tat: Die Stimmung der Melancholie ergreift einen beim Lesen, sie lässt sich aus den Texten herausschälen und setzt sich irgendwann wie ein Kloß im Hals fest. Dies ist umso erstaunlicher, da Patti Smith überwiegend positive Erinnerungen an ihre Kindheit hat. Sie wächst mit vielen Geschwistern in ärmlichen Verhältnissen auf, zu acht wohnen sie in einem kleinen Häuschen, doch auf ihre Kindheit blickt sie nicht zurück im Zorn, sondern mit viel Gleichmut und mitunter auch mit “unbändiger Freude”. Vielleicht ist dieses Glück, was aus den Erinnerungsfetzen von Patti Smith spricht, das Befremdlichste und gleichzeitig Schönste dieses schmalen Bändchens. Selten kann wohl alles, was man als Kind erlebt hat, ausschließlich positiv besetzt sein, doch Patti Smith gelingt es, nicht verbittert und verletzt zurückzublicken, sondern als gereifte Frau. Möglicherweise liegt in diesem Blick auch eine Form der Verklärung und doch habe ich ihre Perspektive auf das, was sie in ihrer Kindheit erlebt hat, als eine starke und mutige Perspektive empfunden.

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“Wie glücklich wir doch als Kinder sind. Wie die Stimme der Vernunft dieses Licht verdunkelt. Wir wandern durchs Leben, eine Fassung ohne Stein, bis wir eines Tages um eine Ecke biegen und er vor uns auf der Straße liegt, ein geschliffener Tropfen Blut, realer als ein Geist, strahlend. Wenn wir uns rühren, wird er vielleicht verschwinden. Wenn wir nicht handeln, werden wir nichts gewinnen.”

Patti Smith sammelt Träume, Erinnerungen und Gedanken, Seite an Seite mit wunderbar mystischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Sie selbst erhoffte sich, dem Leser eine unbeschwerte und eigentümliche Freude schenken zu können. Ich habe dieses Geschenk annehmen können, ich habe Texte  gelesen, die wie Juewelen funkelten. In einer wunderbaren Prosa gehalten. Ich habe Erinnerungen voller Magie aufgesaugt und bin eingetaucht in die Familiengeschichte und Träume voller Wolle. Patti Smiths “Traumsammlerin” ist ein Buch mit Zauberkraft – lasst euch verzaubern!

Das Buch meiner Leben – Aleksander Hemon

Aleksander Hemon wurde 1964 in Sarajewo geboren, seit Ausbruch des Bosnienkriegs lebt er in Chicago. In Deutschland wurde er vor allem durch seinen Roman “Lazarus” bekannt, der mehrfach auf der SWR- und ORF-Bestenliste stand. “Das Buch meiner Leben” ist seine neuste Veröffentlichung und erschien im vergangenen Jahr im Knaus Verlag. Matthias Fienbork war für die Übersetzung verantwortlich.

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“Der Krieg war gekommen, und nun warteten wir darauf, wer überleben, wer töten und wer sterben würde.”

Aleksander Hemon ist Schriftsteller, Immigrant und Vater. Er ist Vater einer Tochter, die lebt und Vater einer Tochter, die verstorben ist. Der Gedanke, dass dieser Mann nicht nur ein Leben lebt, sondern mehrere, ist nicht abwegig, deshalb ist die Wahl des Titels – “Das Buch meiner Leben” – beinahe zwangsläufig. Aleksander Hemon erzählt in diesem Buch seine eigene Geschichte. Es ist eine Geschichte, die 1964 in Sarajewo beginnt, wo er gemeinsam mit seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester aufwächst. 28 Jahre später, im Jahr 1992, immigriert er in die USA. Ein kultureller Austausch führt ihn nach Chicago. Der Krieg hat ihn aus seiner geliebten Heimat vertrieben. 1993 folgen seine Eltern, seine Schwester und der Familienhund Mek – sie treffen als Flüchtlinge in Hamilton (Ontario) ein.

“Einwanderung führt zu einer Art Selbstverleugnung. In der Emigration bildet sich ein kompliziertes Verhältnis zur Vergangenheit heraus, zu dem Ich, das früher an einem anderen Ort lebte, wo die Eigenschaften, die uns ausmachten, nicht zur Disposition standen.”

Die Immigration spaltet das Leben von Aleksander Hemon in ein Vorher und Nachher. Nüchtern, aber erfrischend ehrlich und immer wieder humorvoll, zieht Aleksander Hemon Bilanz. Er erinnert sich zurück an sein Leben in Sarajewo, das zunehmend vom Bosnienkrieg überschattet wurde. Er erinnert sich an Momente, in denen er um das Leben seiner Freunde fürchtet, an Momente, in denen er um das Leben seines geliebten Hundes fürchtet. Er erinnert sich aber auch an eine natürliche Bindung, die zwischen ihm und seinem Heimatland bestand. In dem Leben, das er in Bosnien geführt hat, hat er sich wohl gefühlt – in einer abgelegenen Hütte verbringt er mit Mek häufig seine Wochenenden, liest manchmal zehn Stunden am Stück. Doch irgendwann lassen die Bomben sich nicht mehr überhören.

“Nach den Erfahrungen meiner Schwester bin ich oft geneigt, auf die Frage ‘Was sind Sie’ stolz zu antworten: ‘Schriftsteller.’ Aber das passiert selten, denn es ist nicht nur prätentiös, sondern auch ungenau – als Schriftsteller empfinde ich mich nur, wenn ich schreibe. Ich sage also, ich sei kompliziert. Ich würde auch gern hinzufügen, dass ich im Grunde genommen ein Wirrwarr unbeantwortbarer Fragen bin, ein Haufen anderer.”

Als Immigrant in Amerika beginnt für ihn ein ganz neuer Lebensabschnitt: der Verlust der Heimat und der Sprache ist einschneidend. Den harten Akzent legt er nur langsam ab. Aleksander Hemon blickt zurück auf seine ersten Wochen in Amerika und darauf, wie es ihm gelungen ist, sich diese neue Welt zu erschließen. Mit dem Sprechen von Englisch tut er sich lange schwer, doch bereits früh beginnt er damit, Englisch als seine Schreibsprache zu nutzen. Es entstehen erste schriftstellerische Texte.

“Zehn Stunden am Stück zu lesen hatte immer einen besonderen Effekt: Es versetzte mich in eine Art Trance, in der ich durchschnittlich vierhundert Seiten pro Tag schaffte. Das Buch verwandelte sich in einen großen Raum, in dem ich mich bewegte, selbst beim Essen, beim Wandern, beim Schlafen – ich bewohnte ihn. In der Woche, die ich für Krieg und Frieden brauchte, träumte ich regelmäßig von Bolkonski und Natascha.”

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Im Juli 2010 ist Aleksander Hemon nicht mehr nur der bosnische Immigrant, sondern ein international erfolgreicher Schriftsteller. Seine beiden Leben hat er so gut er konnte in Einklang bringen können, um eine Identität hat er lange gerungen, doch durch das Schreiben ist es ihm gelungen, ihr nahe zu kommen. Zu Hause warten auf ihn seit einiger Zeit seine neue amerikanische Frau Teri und die beiden Töchter Isabel und Ella. Doch in diesem Moment des größten Glücks und innerer Zufriedenheit muss er die Erfahrung machen, dass sein neues Leben genauso brüchig ist, wie das alte. Glück ist nie fest, es kann einem so durch die Finger rinnen: Isabel erkrankt mit neun Monaten an einem aggressiven Hirntumor. Der Moment der Diagnose ist ein Moment, der das Leben von Aleksander Hemon erneut in ein Vorher und ein Nachher teilt. Er fühlt sich, als wäre er unter Wasser geraten, als würde er in einem Aquarium leben.

“Ich konnte nach draußen sehen, die Leute draußen konnten mich sehen (sofern sie überhaupt Notiz von mir nahmen), aber wir lebten und atmeten in zwei völlig separaten Welten. Isabels Krankheit und unsere Erfahrungen hatten nichts mit den anderen Leuten zu tun, betrafen sie nicht.”

Aleksander Hemon gelingt mit “Das Buch meiner Leben” eine unprätentiöse und lesenswerte Erzählung seines eigenen Lebens, die gespickt ist mit viel Humor (“Unsere Familie war keine demokratische Veranstaltung.”), aber auch mit tieferen Gedanken über den verheerenden Krieg in Bosnien und der Situation des Flüchtlings in Amerika. Er wirft Fragen zur Immigration und Identitätsbildung auf. Darüber hinaus reflektiert Aleksander Hemon die Bedeutung des Schreibens und den Tod seiner eigenen Tochter. Das Sterben eines eigenen Kindes muss wohl immer ein kaum beschreibbarer Moment sein, der das Leben in zwei Hälften teilt: in ein glückliches Vorher und ein bedeutungsleeres Nachher. Es sind wohl diese Passagen, die sich mit dem Sterben seiner kleinen Tochter beschäftigen, die mich am stärksten berührt haben.

“[…] wie tritt man aus solch einem Moment? Wie lässt man sein totes Kind da und kehrt zurück in den leeren Alltag dessen, was man als sein Leben bezeichnen könnte?”

In “Das Buch meiner Leben” setzt sich Aleksander Hemon lesenswert und sehr berührend mit den Momenten des Lebens auseinander, die das, was man Leben nennt, in ein Vorher und Nachher unterteilen. Wie geht man mit einschneidenden Veränderungen um, die sich nicht mehr umkehren lasen? “Das Buch meiner Leben” ist ein intensives Zeugnis über die Leben, die Aleksander Hemon lebt und die Kraft des Erzählens, des Schreibens und die Macht der Worte.

Lucy im Himmel – Daniella Carmi

Daniella Carmi wurde 1965 in Tel Aviv geboren und studierte Kommunikationswissenschaften und Philosophie. Heutzutage schreibt sie Theaterstücke, Drehbücher und Romane. Ihre Texte wurden bereits vielfach ausgezeichnet, zuletzt erhielt sie für “Lucy im Himmel” den Ministerpräsidentenpreis für Hebräische Literatur. Übersetzt wurde der Roman von Anne Birkenhauer.

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“Hätten Nonnen heutzutage eine etwas höhere Moral, wäre das alles vielleicht nicht passiert.”

Nadja und Salim sind glücklich miteinander verheiratet. Dies zu erreichen, war gar nicht so ganz einfach, denn während Nadja einer christlichen Familie entstammt, gehört Salim der arabischen Kultur an. Von ihrem Vater wird sie verstoßen, als sie sich dazu entscheidet, einen Moslem zu heiraten. Nadja ist Sozialarbeiterin, doch eigentlich erledigt sie nur den nervigen Papierkram, erst als ihre Kollegin in den Mutterschutz geht, übernimmt sie die Betreuung einiger menschlicher Fälle. Auf diesem Weg lernt sie auch ein russisches Ehepaar kennen, das ihr Leben noch gehörig durcheinander bringen sollte. Salim ist Rechtsanwalt, doch in seinem Beruf arbeitet er aufgrund mangelnder Aufträge schon lange nicht mehr – stattdessen repariert er alte Autos und verdient sich auf diesem Weg etwas dazu.

Zur Vollendung ihres Glücks fehlt eigentlich nur noch ein gemeinsames Kind, doch weil es auf natürlichem Wege nicht klappt, beschließen Nadja und Salim ein Kind zu adoptieren. Drei Jahre lang stehen sie auf einer Warteliste, ohne einen einzigen Anruf zu erhalten. Schließlich erhalten sie völlig überraschend doch noch das Angebot ein Kind zu adoptieren.

“Hier ist ein Kind, das können Sie sofort mitnehmen, Frau Yassin, allerdings nur als Pflegekind. Sonst lassen wir die Sache gleich wieder fallen.”

Nadja kriegt einen Koffer in die Hand gedrückt und wird dann zusammen mit einem dreizehnjährigen Jungen aus der Tür geschoben. Netanel ist kein süßes Baby, kein niedliches Kleinkind, sondern ein schweigsamer Junge. Er spricht und isst nicht, seinen neuen Eltern schaut er nicht in die Augen und am Liebsten verbringt er seine Zeit hoch oben in der Krone des Feigenbaumes. Salim ist Nadja in diesen Tagen keine Unterstützung, er zieht sich immer stärker zurück – er hatte sich ein Baby gewünscht, keinen ausgewachsenen Jungen.

“Wenn ich hier schon einen tauben Jungen habe, dann habe ich jetzt auch noch einen stummen Mann.”

Nadja widmet sich diesem Jungen, der stumm und abweisend ist, mit viel Geduld und Fürsorge. Es ist eine Geduld, die sie bereits tagtäglich auf der Arbeit aufbringen muss; nun braucht sie diese auch für den Umgang mit ihrem schwierigen Mann und dem schweigsamen Netanel, der eigentlich ein pflegeleichtes und süßes Baby sein sollte und kein verstockter Teenager. Erst über die Musik gelingt es Nadja, einen Zugang zu Netanel zu finden, die Melodien, die der Junge ständig summt, sind Lieder der Beatles. Er scheint in einer Welt zu leben, die aus Musik und Noten besteht, aus Liedern und Gesang. Er möchte keine Mutter und kein Zuhause, sondern eine Traumwelt, in der er Figuren begegnen kann wie Eleanor Rigby oder denen aus “Lucy in the Sky with Diamonds”. Es ist ein Kassettenrekorder, der die erste Annäherung zwischen den fremdelnden Eltern und ihrem Pflegekind ermöglicht und ein alter Käfer, der in der Tradition der Yellow Submarines gelb gestrichen wird, der das zarte Band zwischen den dreien festigt.

“Abends hörten wir die Kassette, und wenn ich nicht zu müde war, war ich Lucy im Himmel, winkte zwischen den Zweigen, schwebte über den Knospen des Mandarinenbaums und zwinkerte. Ich gab mir solche Mühe, wie Diamanten zu funkeln. Ich leuchtete aus den Wolken, die im Marmeladenhimmel trieben, und die ganze Welt strahlte aus meinen Kaleidoskopaugen.”

Als Nadja und Salim mysteriöse Schreiben in ihrem Briefkasten finden und Nachts immer häufiger ein fremdes Auto in der Einfahrt parkt, müssen sie sich eingestehen, dass Netanel ein größeres Geheimnis umweht, als sie bisher angenommen hatten … als der Junge urplötzlich verschwindet, braucht es die Hilfe von Lucy im Himmel, um ihn wieder zurück nach Hause zu holen.

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“[…] unser Netanel bewegt sich unter uns mit all dieser Einsamkeit auf seinen schmalen Schultern. Wir wissen ja weiß Gott nicht viel von ihm. Auch nachdem er das erste Mal vom Baum gestiegen war und sich zu uns gesetzt hatte, hat er ja nicht gerade viel aus seinem Leben erzählt. Nur durch seine Lieder bekamen wir das Ende eines roten Fadens zu packen und konnten vielleicht ein bisschen verstehen, was er schon erlebt hatte.”

Daniella Carmi wirft in ihrem ungewöhnlichen Roman “Lucy im Himmel” einen einzigartigen Blick auf die schwierige Lebenswelt in Israel. Sie erzählt eine Geschichte der unterschiedlichen Kulturen, die Israel heutzutage prägen – besonders im Fokus steht dabei die arabische Welt. Nadja und Salim holen Netanel in ein Leben, das geprägt ist von den unterschiedlichen Kulturen, Religionen und Erwartungen, die an beiden ziehen und zerren und dennoch gelingt es ihnen, Netanel in dieser Welt einen Halt zu geben. Das Besondere an “Lucy im Himmel” ist sicherlich der beißende Humor: die Geschichte wird in einem schnodderigen Ton erzählt. Die Sprache ist dabei nüchtern gehalten, manchmal sogar ein bisschen spröde.

Genauso schräg, wie das Cover des Romans, ist auch die Geschichte, die in “Lucy im Himmel” erzählt wird. Doch hinter dieser Schrägheit verbirgt sich ganz viel Liebe und Wärme für die Figuren, von denen Daniella Carmi erzählt. Es sind Figuren, die sich am Rand der Welt bewegen und denen es schwer fällt, eine Sprache für ihr Erleben zu finden. “Lucy im Himmel” ist ein lesenswerter Roman voller Humor und Musik, über die Liebe und das Leben und über die heilenden Kräfte, die Lieder manchmal haben können.

 

Portrait eines Süchtigen als junger Mann – Bill Clegg

Bill Clegg erzählt in “Portrait eines Süchtigen als junger Mann” seine eigene Geschichte. Bill Clegg ist Anfang 30, als er Mitbegründer einer erfolgreichen Literaturagentur in Manhattan wird, die es ihm ermöglichte, eine Menge Geld mit dem zu verdienen, was er gerne macht: dem Lesen von Büchern. Auch im Privatleben ist er glücklich: Er lebt in einer langjährigen Partnerschaft mit dem Filmemacher Ira Sachs, der im Buch das Pseudonym Noah erhält. Bill Clegg sieht gut aus, hat einen liebenden Partner und das Bankkonto ist prall gefüllt – niemand konnte damals ahnen, dass sich hinter dieser erfolgreichen Fassade ein zerbrechlicher Mann befindet.

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2005 verliert Bill Clegg für kurze Zeit jeglichen Bezug zu der Welt, die ihn umgibt. Er ist gerade einmal 33 Jahre alt, als er für zwei Monate in ein Delirium aus Crack, Alkohol und Sex stürzt. Es ist ein beispielloser Absturz, ein Absturz, der Bill Clegg alles entreißt, was ihm wichtig ist und alles zerstört, was er sich in jahrelanger Arbeit selbst aufgebaut hat. Er verliert nicht nur die Literaturagentur, sondern auch seinen Lebenspartner – die Beziehung zu Noah zerbricht an den Lügen und den Drogen. Irgendwann erträgt Noah nicht mehr die ständige Angst, die er um seinen Freund hat. 

“Ich weiß noch nicht, dass ich – hier und an ähnlichen Orten – über einen Monat so weitermachen werde. Dass ich dabei fast zwanzig Kilo abnehmen werde und mit 34 dann weniger wiege als in der achten Klasse.”

In dem Portrait eines Süchtigen als junger Mann legt Bill Clegg eine erschütternde Beichte ab und erzählt seine Geschichte, die Geschichte eines erfolgreichen und talentierten jungen Mannes, aus dem innerhalb kürzester Zeit ein paranoides und zum Skelett abgemagertes Wrack wird, das den Tag nur noch mithilfe von Alkohol und Drogen übersteht.

“Der schleichende Horror der letzten Wochen: Rückfall; weg von Noah, meinem Freund, knapp acht Tage vor Ende des Sundance Film Festivals; E-Mail an meine Geschäftspartnerin Kate, dass sie mit unserer Firma machen kann, was sie will, weil ich nicht wiederkomme; An- und Abmeldung in einer Entzugsklinik in New Canaan, Connecticut; die Übernachtungen im 60 Thompson Hotel und das Abtauchen in die kniestige Cracklandschaft von Marks Wohnung mit den Schnorrern, die immer da sind, wenn es jemand krachen lässt.”

Doch die Geschichte, die Bill Clegg erzählt, besteht eigentlich aus zwei Geschichten. In mehreren Rückblenden versetzt er sich zurück in seine Kindheit. Während alle anderen Abschnitte des Buches aus der Ich-Perspektive erzählt werden, werden die Passagen aus der Kindheit von einem personalen Erzähler erzählt, als müsste Bill Clegg sich selbst von diesen Ereignissen abschneiden, um sie überhaupt erzählen zu können. Er erzählt von einem Jungen, der nicht pinkeln konnte. Der manchmal Stunden auf der Toilette brauchte, ohne am Ende einen Erfolg verzeichnen zu können. Als er fünf Jahre alt ist, beginnen die Probleme, für die selbst ein Arzt keine Lösung finden kann. Seine Eltern reagieren mit Unverständnis, mit Ablehnung, mitunter sogar mit Herablassung. Diese Passagen erklären nicht die Sucht von Bill Clegg, sie sind keine Entschuldigung für sein Verhalten, aber sie sind vielleicht ein kleiner Baustein dessen, was später passiert.

Quelle: http://portraitofanaddict.com/

Beim Lesen wird schnell deutlich, dass Alkohol und Drogen bereits früh das Leben von Bill Clegg bestimmt haben. Den ersten Schluck Alkohol trinkt er bereits mit 12 Jahren, danach gibt es kaum eine Phase in seinem Leben, in dem Alkohol keine Rolle spielt. Während seines Studiums kifft und kokst er, später probiert er dann Crack. Doch Bill Clegg glaubt lange daran, dass er all dies noch unter Kontrolle hat. Er glaubt, dass er entscheiden kann, wann er wieder aufhören möchte. Doch diese Entscheidung wird ihm im Jahr 2005, als er zwei Monate lang lediglich nur noch eine Marionette der Drogen ist, abgenommen.

“Ich merke nichts von dem, was passiert ist oder noch passieren wird, während das Konstrukt, das mein Leben war, aus den Fugen geht – Schloss für Schloss, Klient für Klient, Dollar für Dollar, Vertrauen für Vertrauen.”

Nimmt man “Porträt eines Süchtigen als junger Mann” erst einmal in die Hand, ist es schwer, es wieder zur Seite zu legen. Bill Clegg zieht einen hinein in eine dunkle Welt des Untergrunds, eine Welt voller Drogen, eine schmutzige Welt der Hotelzimmer, überzogen von einer klebrigen Schicht aus Schweiß und Sperma, eine Welt, die man kaum betreten oder gar aushalten kann, wenn man nüchtern ist. Der Absturz wird schonungslos geschildert, auch dunkelste Momente werden nicht ausgespart und verschwiegen. Es ist bestürzend und erschreckend, wie Bill Clegg auf der Jagd nach der nächsten Crackpfeife das letzte bisschen Selbstachtung und Würde verliert. Es ist erschreckend, dass selbst die unerschütterliche Liebe und Sorge seines Freundes ihn nicht vor diesem bodenlosen Absturz bewahren können. Manchmal wollte ich dieses Buch weglegen, es zuklappen, weil ich vor lauter Scham angesichts dessen, was Bill Clegg tut, nicht mehr weiterlesen konnte.

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“Ich frage mich, ob irgendwo in diesem Haufen der Krümel steckt, der den Infarkt, den Hirnschlag oder den Herzanfall herbeiführt. Den Anfall, der all das zu einem jähen, willkommenen Ende bringt. Der Brustkorb wummert, die Finger sind versengt, und ich fülle meine Lunge mit Rauch.”

Bill Clegg durchlebt eine Hölle, die zwei Monate dauert. Zu Beginn dieser Zeit hatte er einen Freund, eine Literaturagentur und 70.000 Dollar auf dem Konto. Am Ende hat er nichts mehr. Doch es gelingt ihm , durch diese Hölle hindurch zu gehen und einen Weg hinaus zu finden. Nicht unbeschadet, aber immerhin immer noch am Leben. Es war ein Selbstmordversuch, der ihn in den Entzug führt. Es ist der erste Schritt auf dem Weg in ein gesünderes Leben. So ist es fast schon zwangsläufig, dass Bill Clegg sein Buch für diejenigen geschrieben hat, die sich noch inmitten dieser tosenden Hölle befinden: “Für alle, die noch da draußen sind”. 

In den Regalen von Buchhandlungen gibt es viele Bücher über die verheerenden Auswirkungen der Sucht, selten zuvor habe ich jedoch eines auf einem so hohen literarischen Niveau gelesen. Bill Clegg hat einen eleganten Roman geschrieben, der in eine wunderbare Sprache gegossen wurde.  “Portrait eines Süchtigen als junger Mann” ist eine schmerzhafte Lektüre: intelligent, scharfsinnig und ohne ein Fünkchen Selbstmitleid erzählt Bill Clegg seine Geschichte. Ich kann ihm nur möglichst viele Leser und Leserinnen wünschen.

Interessanterweise hat auch Ira Sachs, der langjährige Freund von Bill Clegg, die gemeinsame Beziehung aufgearbeitet, dabei entstanden ist der Film “Keep the lights on”.

Gefährliche Arten – Svealena Kutschke

Svealena Kutschke wurde 1977 in Lübeck geboren. Nach einem Studium der Kulturwissenschaft und Ästhetischen Praxis in Hildesheim lebt sie heutzutage als freie Autorin in Berlin. 2008 gewann sie den Open Mike, ein Jahr später wurde ihr vielbeachteter Debütroman “Etwas Kleines gut versiegeln” veröffentlicht. Im vergangenen Literaturherbst erschien im Eichborn Verlag ihr zweiter Roman “Gefährliche  Arten”.

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“Auch wenn ich wusste, dass es nur die Erinnerung an Glück war, fehlte mir im Gegensatz zu den anderen jede ironische Distanz.”

“Gefährliche Arten” beginnt mit einem Moment, der schockiert, entsetzt, verstört. Es ist der Moment in dem Sasha, eine junge Künstlerin, eine obdachlose Frau im Schlaf ermordet, in dem sie ihren Fuß auf ihre Kehle stellt. Während sie mit ihrem nackten Fuß der Frau die Luft zum Atmen abdrückt, telefoniert sie mit ihrer kleinen Tochter Lizzy. Diese Szene ist dem Buch in Form eines Prologs vorangestellt. Es ist ein Prolog, der sich schattengleich auf die Figur von Sasha in allen weiteren Szenen legt, wie ein Abdruck auf der Netzhaut, der sich nicht mehr wegwischen lässt.

“In den nächsten Wochen würde ich Freunden wie Fremden bei der ersten Gelegenheit, auf Partys und in Cafés, im Supermarkt und in der U-Bahn unaufgefordert mitteilen, dass meine Mutter versucht hätte, sich zu erhängen, ertränken, ersticken, erschießen, und die irritierten, peinlich berührten oder auch verärgerten Blick fotografieren.”

Sasha ist Künstlerin. Wenn man so wollen würde, könnte man sie als Konzeptkünstlerin bezeichnen. Das Konzept hinter ihrer Kunst ist der Wunsch danach, zu verstören. Sie möchte Kunst schaffen, die berührt und wenn sie allein dadurch berührt, dass sie verwirrt und schockiert, Entsetzen und Ekel hervorruft oder auch provoziert. Die Kunst ist für Sasha eine Möglichkeit ihr Leben zu verlassen und fremde Welten zu betreten: für ihre Kunstprojekte schlüpft sie in fremde Leben, verkleidet sich als Apothekerin, stempelt als Postangestellte Briefe oder handelt mit ausgestopften Tieren. Ihr Privatleben ist ähnlich turbulent wie ihre Performance-Kunst. Mal schläft sie mit Mo, mal mit Tim, dann mit Jannis. Dabei ist Jannis doch eigentlich mit Sophie zusammen, die wiederum eine Affäre mit Tim hat. Gemeinsam nimmt man Drogen, liebt und streitet sich.

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“Mit Jannis zu reden war wie eine Line zu ziehen, zusammen entwickelten wir Gedanken, die in der Lage waren, Glas zu schneiden.”

Das Leben von Sasha ist spielerisch, nicht spielerisch leicht, aber spielerisch wie ein Abenteuerspielplatz. Als wäre das ganze Leben von Sasha ein Ausstellungsstück ihrer eigenen Konzeptkunst. Nichts ist ernst, nichts bleibt. Doch dann bleibt Jannis, mit dem sie gemeinsam ein Kind bekommt: Lizzy. Doch kaum ist Lizzy auf der Welt, treibt es Sasha und Jannis bereits wieder auseinander: “Dass wir Lizzy zeugten, in dem Moment, wo wir erkannten, dass wir einen Fehler gemacht hatten.” Sasha bricht aus, aus den Erwartungen an sie und aus den Erwartungen die ein Leben mit Kind schüren. Sie setzt sich ab, aufs Land, später nach Nanjing – Lizzy lässt sie bei Jannis zurück.

“Die ganze Wohnung kam mir vor, als wäre sie eine Kulisse. Auch Jannis und Lizzy blieben zweidimensional, wenn auch eine beunruhigend echte Körperwärme von ihnen ausging.”

Sasha gerät in einen Strudel, aus dem sie nicht herausfindet. Während Jannis die Geburt seiner Tochter zum Anlass nimmt, die wilden Zeiten zurückzulassen und ein ruhigeres Leben zu beginnen, stürzt Sasha ab. Die Drogen, die sie nimmt, führen irgendwann dazu, dass sie selbst kaum noch zwischen Kunst und Leben, zwischen Wahn und Realität, zwischen Phantasie und Wirklichkeit unterscheiden kann.  Sie beginnt Liebe die vergeht, mit Hass zu verwechseln. Sie wird gemein, perfide, zeigt ihr hässliches Gesicht und ist zu Dingen fähig, von denen man im Prolog des Romans eine Ahnung erhält.

“Die Liebe kann doch nicht mehr gut schmecken. Da steckt doch schon der Dreck von Generationen drin. Tränen, gebrauchte Kondome, Judith Butler, Alice Schwarzer, Marquise de Sade und Don Juan. Eheringe oder Goldkronen, macht doch keinen Unterschied. Ist es nicht egal, was ich mir im Kino schaue? Einen Porno oder Himmel über Berlin. Ist es nicht egal?”

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“Gefährliche Arten” ist ein schmales Büchlein, doch den Eindruck, ein leichtes Lesevergnügen vor sich zu haben, der täuscht. Svealena Kutschke schreibt über die Liebe und unsere heutige Generation, doch “Gefährliche Arten” ist ganz sicherlich weit entfernt von einer Liebesgeschichte oder gar von einem Wohlfühlroman. Man fühlt sich in diesem Roman nicht wohl. Ganz im Gegenteil: ich habe mich abgestoßen gefühlt, angeekelt, frustriert, verwirrt, verstört. Einen roten Faden zu finden ist schwer, zusammengehalten wird die Geschichte durch die Schockmomente. Der rote Faden ist der schleichende Absturz von Sasha, es ist ein Sturz in die Bodenlosigkeit – an einen Ort, wo Wahn und Realität eins zu werden scheinen. An diesem Punkt kann der Roman überzeugen: Svealena Kutschke pflanzt uns hinein in den Kopf einer Figur, die irgendwann einen Zustand erreicht hat, an dem sie nicht mehr weiß, ob sie das, was sie gerade getan hat, wirklich getan hat. Auch sprachlich überzeugt die Autorin mit Sätzen, die wie Rasierklingen in weiße helle Haut schneiden. Es gibt wunderbare Sätze, die man am Liebsten für immer im Kopf behalten möchte. Und doch! Und doch, und doch, und doch hat mir der vielbeschworene rote Faden gefehlt. Das Garn, was all diese bestürzenden Momente und wunderbaren Sprachbilder zusammennähen könnte, das fehlt. Leider. Das führt dazu, dass “Gefährliche Arten” an vielen Stellen ein fragmentarisches Leseerlebnis bleibt.

Svealena Kutschke legt mit “Gefährliche Arten” einen gefährlichen Roman vor, der rau, hart und derb ist, voller Ecken und Kanten, an denen man sich beim Lesen stoßen kann. Beworben wird das Buch als Generationenroman, doch mich habe ich in dieser Generation nicht wiederfinden können. Gelesen habe ich stattdessen einen Roman über die Macht der Kunst, die Kraft der Bilder und die dreckigen und verdorbenen Seiten der Liebe.

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