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Zeitgenössisches

Der Geruch der Erinnerung – Molly Birnbaum

Molly Birnbaum legt mit Der Geruch der Erinnerung ein lesenswertes Erinnerungsbuch vor. Sinnlich und voller Poesie erzählt sie von dem Tag, an dem sie ihren Geruchssinn verlor. Von dem Tag, der ihren Traum zerstören und ihr Leben für immer verändern sollte.

Molly Birnbaum

Ich lernte viel über Essen und das, was es bedeutet. Für mich bedeutete es Familie und Wärme, Nahrung und Hoffnung, meine Vergangenheit und meine Zukunft. Für mich bedeutete es alles.

Molly Birnbaum hatte einen Lebenstraum: sie wollte Köchin werden. Als junge Studentin las sie mit großer Begeisterung Kochbücher, Kochzeitschriften und die Biografien berühmter Sterneköche. Eigentlich studierte sie damals Kunstgeschichte, doch sie wusste, dass sie nur eines werden wollte: Köchin. Ein Stipedium für das Culinary Institute of America war ihr bereits sicher – für die Aufnahme am Institut fehlte ihr einzig und allein noch ein Praktikum. Das Praktikum machte sie im Craigie Street Bistrot und war während sie putzt, wäscht und Gemüse schneidet zum allerersten Mal in ihrem Leben wirklich glücklich und erfüllt.

Ich hatte eine Welt betreten, die mich herausforderte, mich frustrierte und entzückte, eine Welt, in der ich wachsen konnte. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, meine Zukunft sehen zu können, sie zu kennen.

Doch dieser Traum wird ganz plötzlich zerstört – von einem Tag auf den anderen ist nichts mehr so wie zuvor. Bei einem schweren Verkehrsunfall verliert sie ihren Geruchssinn. Sie hatte damals Glück, noch am Leben zu sein. Sie hatte Glück, nur ihren Geruchssinn verloren zu haben und darüber hinaus keine weiteren körperlichen Schäden zurückzubehalten. Doch je mehr Zeit nach dem Unfall vergeht, desto deutlicher wird, wie viel mehr Molly Birnbaum verloren hat.

Die Funktionsweise der Nase ist überaus komplex, eine Kette von Verbindungen und einander überlagernden Signalen, die auf molekularer Ebene zustande kommen. Seit Jahrhunderten mühen sich Wissenschaftler, den Prozess des Riechens zu ergründen. Dennoch wird es, wie schon von dem griechischen Philosophen Aristoteles, der es von allen Sinnen den Unnützesten fand, oft vergessen oder zugunsten von Sehen, Hören und Fühlen beiseitegeschoben.

Es vergehen Wochen nach ihrem Unfall, bis sie wieder mit ihrer Familie am Esstisch sitzt und feststellen muss, dass der geliebte Apfelkuchen nicht mehr so schmeckt, wie vorher. Er schmeckt nach gar nichts mehr, denn Molly Birnbaum kann die Zutaten weder riechen noch schmecken. Von ihren Ärzten erhält sie die niederschmetternde Diagnose: sie hat ihre olfaktorische Wahrnehmung verloren und es gibt kaum Chancen, diese wieder zurückzugewinnen.

Für Molly Birnbaum ist diese Diagnose besonders niederschmetternd, denn welche Köchin kann ohne ihren Geruchs- und Geschmackssinn noch arbeiten? Wie soll man Gerichte erfinden, wenn man die einzelnen Zutaten nicht mehr schmecken kann? Was fehlt im Leben, wenn man frische Kräuter plötzlich nicht mehr riechen kann? Was fehlt, wenn das Gericht im Backofen plötzlich geruchlos ist und der Apfelkuchen nach nichts mehr schmeckt? Beim Lesen von Der Geruch der Erinnerung wird schnell deutlich, dass ganz viel im Leben fehlt, wenn der Geruchssinn verschwindet. Menschen, denen der Geruchssinn abhanden kommt, werden nicht nur all die wunderbaren Gerüche genommen: Molly Birnbaum kann auch nicht mehr riechen, ob die Milch verdorben ist, ob in ihrem Haus Gas austritt oder ob es möglicherweise brennt. Den Müll in den Straßen kann sie nicht mehr riechen und die Fahrt in der U-Bahn ist völlig geruchsneutral. Alle Tätigkeiten, alle Orte und auch alle Menschen verlieren plötzlich ihren einzigartigen Geruch, ihre einzigartige Note.

Ich hatte nicht gewusst, welche Rolle das Geruchsempfinden beim Essen spielt, ehe es verschwunden war. Das volle Ausmaß meines Verlustes erkannte ich erst, als ich ihn bei jedem Bissen, jedem Schluck spürte.

Ich muss gestehen, dass es mir als Leserin ganz ähnlich erging. Ich habe selbstverständlich schon mal darüber nachgedacht, wie ich damit umgehen würde, wenn ich einen meiner Sinne verliere – wenn ich nicht mehr hören oder sehen könnte. Doch was für weitreichende und tragische Konsequenzen der Verlust des Geruchssinn haben kann, hätte ich mir vor der Lektüre dieses beeindruckenden Buches nie ausmalen können. Wenn man das Augenlicht verliert, erblindet man. Wenn man die Hörfähigkeit verliert, dann wird man taub. Doch wer nicht mehr riechen kann, leidet unter Anosmie. Ein Begriff unter dem man sich kaum etwas vorstellen kann – schon gar nicht dieses Ausmaß. Molly Birnbaum gelingt es auf einzigartige Art und Weise, den Leser an ihrem Schicksal teilhaben zu lassen.

Das Besondere dieses Schicksals ist sicherlich, dass sie dieses nicht einfach klaglos akzeptiert und ihren zerplatzten Träumen hinterher trauert. Ganz im Gegenteil: sie gibt sich mit den Antworten der klassischen Schulmedizin nie zufrieden und lässt nichts unversucht, ihren Geruchssinn zurückzuerhalten. Unterstützt wird sie dabei unter anderem von Oliver Sacks, dem bekannten britischen Neurologen. Sie trifft auch auf Ben Cohen, dem Gründer der Eismarke Ben & Jerry’s – auch er ist Anosmiker. Und ohne zu viel zu verraten, kann ich doch sagen, dass sich all die Mühe von Molly Birnbaum irgendwann auszahlt …

Ich hatte begonnen, Bücher übers Riechen zu lesen – historische, psychologische, medizinische. Jeden Tag staunte ich mehr über seine Geheimnisse und seine Großartigkeit und die Komplexität dessen, was wir darüber wissen und was nicht. Auf der Suche nach der Individualität des Geruchssinns war mir schnell klar geworden, dass für ihn so etwas wie Normalität nicht gilt. Auch als Gesunder hatte sich mir meine Nase die Umwelt anders erschlossen als anderen.

Molly Birnbaum legt mit Der Geruch der Erinnerung ein höchst lesenswertes Erinnerungsbuch vor, das gleichzeitig auch eine ungewöhnliche medizinische Fallgeschichte erzählt. Der Autorin gelingt es dabei, Wissenschaft und persönliches Schicksal elegant miteinander zu verweben. Sie erforscht den Geruchssinn aus historischer, medizinischer und literarischer Perspektive und lädt den Leser dazu ein, an ihrem Schicksal teilzunehmen. Darüber hinaus ist Der Geruch der Erinnerung auch ein Buch, das Mut machen kann. Es klingt zwar wie ein Klischee, aber selbst wenn große Träume zerplatzen, tun sich dahinter vielleicht andere Wege und Möglichkeiten auf.

Molly Birnbaum: Der Geruch der Erinnerung. Übersetzt aus dem Amerikanischen von Almuth Carstens. Roman. btb Verlag, München 2013. 350 Seiten, €9,99. Molly Birnbaum betreibt eine eigene Homepage und einen Blog.

Altes Land – Dörte Hansen

Dörte Hansen legt mit Altes Land einen eindrucksvollen und warmherzigen Debütroman vor. Nüchtern, und doch mit ganz viel Humor, erzählt sie von Heimat und Heimatlosigkeit, von Flucht und dem Wunsch danach, ein Zuhause zu finden. Schon jetzt kann ich sagen, dass Altes Land mein Buch des Frühjahrs ist.

Altes Land

In manchen Nächten, wenn der Sturm von Westen kam, stöhnte das Haus wie ein Schiff, das in schwerer See hin- und hergeworfen wurde. Kreischend verbissen sich die Böen in den alten Mauern.

Das Alte Land ist ein Teil der Elbmarsch südlich der Elbe, der vor allen Dingen bekannt für einen ertragreichen Obstbau ist: hier findet man Apfelbäume, Birnbäume und Kirschbäume. Die Kirschbäume sind bei räuberischen Vögeln beliebt, besonders bei den Staren, die mit lauten Rufen und Trommeln verscheucht werden. Doch so leicht wie sich die Vögel verscheuchen lassen, lassen sich Menschen nicht wegschicken. Auf dem Hof von Ida Eckhoff, Bäuerin im Alten Land, stehen im Frühjahr 1945 plötzlich Flüchtlinge aus Ostpreußen und bitten um Einlass. Ida Eckhoff schimpft die Flüchtlinge Polacken und lässt Hildegard von Kamcke und ihre Tochter Vera in der Knechtekammer schlafen.

Vera hatte immer gefroren in diesem Haus, nicht nur am Anfang, als sie mit ihrer Mutter in der Gesindekammer an der großen Dielentür wohnte, die von allen kalten Räumen im Haus der kälteste war, am weitesten weg von Ida Eckhoffs warmem Herd.

Doch Hildegard von Kamcke lässt sich nicht unterkriegen, sie möchte nicht allzu lange Flüchtling sein. Sie schnappt sich bald darauf einen gut verdienenden Mann und zieht mit diesem weiter nach Hamburg, um eine neue Familie zu gründen. Vera bleibt auf dem Hof zurück und lebt von nun an bei Karl, Idas einzigem Sohn. Karl ist körperlich beinahe unversehrt aus dem Krieg heimgekehrt, doch er wird sich von seinen Erlebnissen nie erholen. Auch als sie endlich erwachsen ist und als Zahnärztin arbeitet, zieht Vera nicht aus und bleibt alleine zurück in diesem großen, kalten Haus, in dem sie lebt, doch trotzdem nie so richtig heimisch ist.

Sechzig Jahre später stehen plötzlich erneut zwei Flüchtlinge vor der Tür: Veras Nichte Anne und ihr kleiner Sohn. Ihr Mann hat sich in eine Andere verliebt und ihre Arbeit als Flötenlehrerin füllt sie schon lange nicht mehr aus – überhaupt empfindet sie ihr Leben in Hamburg-Ottensen zunehmend als erdrückend.

Manchmal, wenn sie mit fremden Frauen auf dem Spielplatz saß, sah sie die dunklen Augenringe und fragte sich, ob es noch andere gab wie sie, Nachtmütter, die sich am Tag ein anderes Leben wünschten. Falls ja – sie würden es auch unter Folter nicht gestehen. Man durfte erschöpft sein auf den Bänken in Ottensen, gestresst und ungekämmt, auch ungeschminkt, das alles ging, nur mutterglücklos, das ging nicht. 

Gemeinsam mit ihrem Sohn und Willy, dem Kaninchen, zieht Anne zu Vera in das große, kalte Haus. Anne, die eine Ausbildung als Tischlerin gemacht hat, nimmt sich dem Haus an, das Vera ein Leben lang vernachlässigt und nie gepflegt hat: die morschen Fenster werden erneuert, auch ein Gerüst wird aufgebaut. Dabei wird deutlich, dass das Haus voller Geheimnisse ist, voller Erlebnisse, über die nie gesprochen wurde, voller drückendem Schweigen. Doch diese bedrückende Vergangenheit sitzt nicht nur im Haus, sondern auch in Vera selbst – durch die zwei Flüchtlinge, die ihr Leben spontan ergänzt haben, beginnt sie sich ganz langsam aus einer jahrelangen Erstarrung zu lösen.

Flüchtlinge suchte man nicht aus, man lud sie auch nicht ein, sie kamen einfach angeschneit mit leeren Händen und wirren Plänen, sie brachten alles durcheinander.

Dörte Hansen erweist sich in ihrem Roman Altes Land als wunderbar genaue Beobachterin. Dabei gelingen ihr sehr intensive Einblicke in die Gefühle und Empfindungen ihrer Figuren, die alle irgendwie Flüchtlinge sind. Vera kommt als ungewolltes Flüchtlingskind in der Elbmarsch an und wird dort auch noch von ihrer eigenen Mutter zurückgelassen, die sich im viel schickeren Hamburg ein eigenes Leben aufbaut. Doch auch Anne ist ein Flüchtling, denn sie erstickt so langsam an ihrem schicken Leben in Hamburg. Die Beobachtungen des szenigen Großstadtlebens lesen sich herrlich amüsant: eingekauft wird natürlich im Bio-Supermarkt, die Kinder werden zu autonomen Entscheidungsträgern herangezogen, müssen die eine oder andere Frühförderung über sich ergehen lassen und wenn eine Beziehung doch mal scheitert, dann trennt man sich gesittet und eben wie zwei Erwachsene. Ebenso amüsant und mit humorvollem Augenzwinkern liest sich die Beschreibung der Menschen, die von der Stadt auf das Land gezogen sind, weil es dort doch ach so romantisch ist und dort nun Hoftür an Hoftür mit Vera und den anderen Alteingesessenen leben. Sie planen Bücher und Zeitschriften über die Landromantik, doch dabei übersehen sie, dass das Leben auf dem Land auch seine Schattenseiten haben kann. Der eine kann von seinen Verkäufen kaum überleben, der andere arbeitet noch im hohen Alter, da er keinen Nachfolger für den Hof findet – obwohl er drei Söhne hat.

Altes Land ist ein lesenswerter Roman, der von einem wunderbaren Humor getragen wird. Die Sprache ist nüchtern – knapp und verdichtet. An keiner Stelle ist ein Wort zu viel. Doch der Humor und die ironischen Beschreibungen sind nicht alles, denn unter der dicken Schicht Humor gibt es auch ganz viel Traurigkeit und eine bedrückende Schwere. Es geht um Heimat und Heimatlosigkeit. Es geht um den Wunsch anzukommen und das Gefühl, sich fremd zu fühlen – manchmal sogar im eigenen Haus. Altes Land ist wunderbar leicht und unterhaltsam und doch gleichzeitig so tiefgehend und berührend. Ein leichtes Buch, das doch ein kleines Wunder ist. Erwähnte ich schon, dass das Buch für mich das Buch des Frühjahrs ist? Eine unbedingte Leseempfehlung!

Dörten Hansen: Altes Land. Roman. Knaus Verlag, München 2015. 286 Seiten, €19,99. Weitere Besprechungen gibt es im Bücherwurmloch und bei Papiergeflüster.

Mein weißer Frieden – Marica Bodrožić

Mit Mein weißer Frieden legt Marica Bodrožić einen autobiographischen Reisebericht vor. Es ist ein Reisebericht, der einer Spurensuche gleicht, bei der es um die ganz großen Fragen des Lebens geht: nicht nur um Krieg und Frieden, sondern auch um die Frage, wie wir unser eigenes Leben eigentlich gestalten wollen.

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Das Leben ist eine Reise, die sich selbst überschreibt, jeder Gedanke, jede Empfindung ist ein neuer Weg, der den eigenen Kern freilegt und die Sinne verfeinert.

In all ihren vorangegangenen Romanen hat sich Marica Bodrožić immer wieder und auf ganz unterschiedliche Art und Weise mit ihrer Herkunft auseinandergesetzt, mit dem Gefühl von Heimat, mit der Aneignung einer neuen Sprache. Es gibt einen Bruch in ihrem Leben, um den bisher alle ihre Texte kreisten: 1973 wurde die Autorin in Dalmatien geboren, 1983 zog es sie und ihre Familie nach Deutschland. Den Krieg, der in den neunziger Jahren in ihrer alten Heimat ausbrach, erlebte sie nur aus der Ferne mit – in der neuen Heimat lebend, in einer neuen Sprache beheimatet. Mein weißer Frieden ist die autobiographische Annäherung an diesen Krieg, aber auch an die Frage, wie man ihn damals hätte verhindern können und wie man Kriege in Zukunft verhindern kann.

Jedes Mal, wenn ich einen Koffer packe, spricht aber auch die Erinnerung mit, sie weiß um Krieg und Frieden, um Glück und Unglück, ist immer die stille Mitschreiberin.

Den Krieg im ehemaligen Jugoslawien hat Marica Bodrožić aus der Ferne miterleben müssen, doch sie ist anschließend immer wieder dorthin zurückgereist, wo sie aufgewachsen ist. In den europäischen Süden, dort wo man freien Blick auf all die glücksbringenden Sterne am Himmel hat. Sie reist zurück zu den Verwandten, die dort geblieben sind. In dem Dorf, in dem sie aufgewachsen ist, gibt es kaum eine Familie, die nicht in irgendeiner Form vom Krieg betroffen ist. Es gibt kaum Eltern, die ihr Kind nicht in den Krieg schicken mussten, es gibt kaum Eltern, die ein unversehrtes Kind zurückerhalten haben. Der Krieg hat nicht nur die Dörfer und Städte zerstört, sondern auch Krater in die Familien gerissen.

Wie viele Stunden, Tage, Wochen, Monate unserer wertvollen Lebenszeit verschwenden wir darauf, Krieg zu führen? Krieg in Gedanken. Krieg in Sätzen. Krieg in Worten. Alle Kriege beginnen in Gedanken und münden in der Syntac, im reflexartigen Kampf und Zurückschlagen ohne Punkt und Komma.

Marica Bodrožić reist auch zu ihrer Tante Anastazija, deren Sohn sich nach dem Krieg im Wald erhängt hat. Die zehn anderen Cousins haben den Krieg überlebt, sind scheinbar gesund daraus hervorgegangen. Doch wird man das, was man während eines Krieges erlebt, überhaupt jemals wieder los? Wer kann einen darauf vorbereiten, töten zu müssen, um nicht selbst getötet zu werden? Kann man auf so etwas überhaupt vorbereitet werden und kann man solche Erlebnisse unbeschadet überstehen? Es gibt kaum psychologische Unterstützung für die Kriegsheimkehrer. Über den Selbstmord von Filip wird ein Mantel des Schweigens gebreitet. Wenn man den Onkel fragt, sagt der, dass Filip mit seiner Tat Schande gebracht hat über die, die er zurückgelassen hat. 

Mir wird auf meinen Wanderungen durch das dalmatische Hinterland klar, dass ich seit Anfang der neunziger Jahre immerzu von Schicksalen und Literaturen jener Menschen umgeben bin, die alles verloren haben, die fortgehen mussten oder vertrieben wurden, im Krieg waren, später auf der Flucht, am Körper versehrt und im Geist unversehrt oder umgekehrt (und oft beides zusammen), sie lernten andere Sprachen, tauchten unter, blieben für immer Namenlose im Anderswo.

Mein weißer Frieden setzt sich zusammen aus Impressionen dieser zahlreichen Reisen, aus Eindrücken, Gesprächen, Begegnungen und Gedanken. Marica Bodrožić legt kein politisches Sachbuch vor, sondern einen autobiographischen Reisebericht, der gespeist ist aus einem ganz und gar persönlichen Zugang. Sie reist nach Split, nach Sarajewo, nach Mostar und auf die kroatischen Inseln. Dabei erzählt die Autorin nicht nur in ihrer ihr eigenen Poetik von einer Reise in ein Land, das vom Krieg zerstört wurde, sondern auch von einer Reise zu sich selbst. In Mein weißer Frieden geht es vordergründig nicht unbedingt um Daten und harte politische Fakten, sondern um einen persönlichen Blick auf die kaum zu begreifenden Folgen eines jahrelangen Krieges. Es ist nicht nur ein persönlicher Blick, sondern auch ein offener, ein unverstellter. Es ist ein fragender Blick: wie können scheinbar normale Menschen plötzlich in einen Krieg ziehen? Wie kann ein zivilisiertes Land in Barbarei versinken? Wie ist ein solcher Krieg zu begreifen? Wie ist so viel Grausamkeit überhaupt zu verstehen? Und wie kann ein solcher Krieg verhindert werden? Auf der Suche nach Antworten greift Marica Bodrožić immer wieder auf die Literatur zurück und zitiert Martin Buber, Erich Fromm, Imre Kertész, Ruth Klüger, Hans Keilson oder auch Stefan Zweig.

Auf meiner Reise durch Bosnien und Dalmatien sind mir unzählige Menschen begegnet. Einbeinige unter mediterranen grünen Palmen, Kriegsversehrte, denen man ein verrutschtes Gehirn nachsagte, Erinnerungstöter, die alles in sich auslöschen mussten, damit sie in den Krieg ziehen konnten. Die unterschiedlichsten Tonarten des Tötens klingen in meiner Reiseluft nach. Ich habe gelernt, dass man Gedächtnisse und Menschen gleichermaßen töten kann. Was ist die Aufgabe der Erinnerung hier? Sie ist das Gespräch mit meinem inneren Selbst. In seinem Kern lebt mein weißer Frieden, den es ohne Bewusstsein nicht geben kann. Denn kein Krieg hört auf, nur weil die Waffen schweigen. Er hinterlässt ein Erbe, dunkle Gaben, die wie eine lauernde Krankheit in den Geschichtern, Geschichten, Körpern, Sätzen und der Vorstellungskraft der Menschen weiterleben.

Angesichts der momentanen Weltlage, die durch Kriege an ganz unterschiedlichen Orten geprägt ist, ist dieses Buch von Marica Bodrožić aktueller und wichtiger denn je. Eine politische Lösung für Kriege und Konflikte findet sich auch in Mein weißer Frieden nicht, es ist wohl auch kaum möglich, ein Rezept dagegen zu finden. Dafür legt Marica Bodrožić eine poetische und lesenswerte Auseinandersetzung mit der Frage vor, wie wir als Einzelner und als Gesellschaft friedlich miteinander leben können und zeigt auf, dass man sich auf der Suche nach Antworten auch immer wieder der Literatur zuwenden kann.

Marica Bodrožić: Mein weißer Frieden. Roman. Luchterhand Verlag, München 2014. 336 Seiten. €19,99. Auf diesem Blog gab es bereits ein Interview mit der Autorin und eine Besprechung ihres Romans kirschholz und alte gefühle.

Gegenspiel – Stephan Thome

In Gegenspiel erzählt Stephan Thome nicht nur eine spannende Lebensgeschichte, angesiedelt irgendwo zwischen Portugal und der deutschen Provinz, sondern wagt auch ein literarisches Experiment.

Stephan Thome Gegenspiel

Vor zwei Jahren veröffentlichte Stephan Thome den Roman FliehkräfteDamals erzählte er die Geschichte des Professors Hartmut Hainbach, der seit zwanzig Jahren mit seiner portugiesischen Frau Maria verheiratet ist und dessen Ehe zunehmend bröckelt. Ich klappte das Buch damals mit dem Wunsch zu, Hartmut und Maria weitere vierhundert Seiten begleiten zu dürfen. Diesen Wunsch hat mir Stephan Thome mittlerweile erfüllt, denn mit Gegenspiel legt er quasi das Gegenstück zu Fliehkräfte vor: es ist dieselbe Geschichte und auch dieselbe Ehe, die langsam brüchig wird, nur wird diesmal alles aus der Perspektive von Maria erzählt.

“Was geschieht mit uns?”, fragt sie in die Stille hinein. Für hiesige Verhältnisse ist es ein heißer Sommer. In Berlin waren es früh am Morgen über zwanzig Grad.
“Was meinst du?”

“Was geschieht mit uns? Warum können wir nicht mehr reden?”
“Wir reden schon eine ganze Weile.”
“An einander vorbei. Um einander herum. Was auch immer.”

Es ist ein Umzug, der die Ehe von Hartmut und Maria von einem Tag auf den anderen in Frage stellt. So viele Jahre lange hat Maria ihr Leben, ihre Wünsche und ihre Ziele an Hartmuts Vorstellungen ausgerichtet. So lange, bis sie ihre Tage irgendwann nur noch damit verbrachte, zu Hause zu sitzen und DVD-Serien zu schauen. Maria entscheidet sich dazu, ein Theaterengagement in Berlin anzunehmen und zieht aus dem gemeinsamen Haus in Bonn aus. Sie wird Assistentin ihres Liebhabers aus Studienzeiten, der mittlerweile in Berlin ein Theater leitet. Es ist das erste Mal seit zwanzig Jahren, dass Maria aus dem engen Korsett der Professorenehe ausbricht und nicht mehr nur das tut, was von ihr erwartet wird. Es ist das erste Mal, dass Maria nicht nur ein Leben als Anhängsel führt, sondern eine eigene Entscheidung trifft.

Wo der Sand fester und der Meergeruch intensiver wird, bleibt Maria stehen. Es ist das Einzige, was sie in diesem Moment tun kann: nicht weglaufen. 

Stephan Thome blickt zurück auf das Leben von Maria, erzählt in kurzen Episoden ihre Lebensgeschichte. Geboren wurde sie in Portugal, als Studentin kam sie in den achtziger Jahren nach Berlin – lebte in besetzten Häusern und verliebte sich in Falk, den rebellischen Theaterregisseur. Wegen ihm nimmt sie plötzlich teil an einer Demonstration, verbringt anschließend einen Tag auf der Polizeiwache. Schon in Portugal hat die junge Frau vorsichtig rebelliert, nun ist sie Teil einer Szene, die alles in Frage stellt. Doch statt ihre Träume auf den Theaterbühnen und an der Seite von Falk zu leben, verliebt sich Maria in den etwas biederen Hartmut – angehender Professor für Philosophie. Für ihr Leben hatte sie große Pläne, doch ihre Träume und Wünsche enden an der Seite Hartmuts in der nordrhein-westfälischen Provinz. Plötzlich ist sie Ehefrau und Mutter eines Kindes, das sie eigentlich nie haben wollte.

Vor zwei Wochen, bei ihrem Mittagessen am Hackeschen Markt, hat Hartmut gesagt, es könnte doch sein, dass jedes Menschenleben mehr als ein Mal beginnt. Dass man nie zu alt ist, sich zu ändern. Nein, theoretisch nicht, hat sie geantwortet, ohne zu wissen, ob er einen Scherz mache oder es ernst meinte. Allmählich beginnt sie zu ahnen, wie viel Zeit sie beide damit vertan haben, die Zeichen zu übersehen und den Fliehkräften nachzugeben.

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Eigentlich erzählt Stephan Thome eine Allerweltsgeschichte: er erzählt von zwei Menschen, die zwanzig Jahre dafür brauchen, um zu erkennen, dass sie ihre Ehe auf einem wackligen Fundament gebaut haben. Wahrscheinlich gibt es dieses Phänomen in jeder zweiten Ehe: zwei Partner haben ganz unterschiedliche Erwartungen aneinander und an ihr Leben, doch gründen dann – mehr aus einem Zufall heraus – eine Familie, leben nebeneinander her, bis dann einer der beiden – häufig zur Mitte des Lebens hin – erkennt, dass er dieses Leben auf Dauer nicht ertragen kann. Eigentlich ist das keine Geschichte, die zweimal erzählt werden müsste und doch tut Stephan Thome genau das und zwar auch noch so, dass ich das Buch kaum aus der Hand legen wollte. Gegenspiel kann als Prequel, um mal einen Fachterminus zu gebrauchen, gelesen werden, funktioniert aber auch als eigenständiger Roman. Ich glaube aber, dass das literarische Experiment, eine Geschichte in zwei Romanen und aus zwei Perspektiven zu erzählen, besonders dann gut funktioniert, wenn man beide Bücher kurz nacheinander liest.

Für mich ist Gegenspiel eine berührende Lektüre, die auf unaufgeregte und häufig ironische Art und Weise das Leben und die eheliche Liebe erforscht. Stephan Thome erzählt eine Geschichte von Lebenslügen und Selbstbetrug, von Selbstaufgabe und dem Wunsch nach einem Neuanfang. Es ist eine leise Geschichte, die offenbart, dass es kein Patentrezept dafür gibt, eine Ehe zu retten. Die einzige Idee, die der Autor Paaren in kriselnden Ehen mit auf den Weg gibt, ist die Idee, sich selbst zu retten und Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, erst dann ist es vielleicht überhaupt wieder möglich, eine gemeinsame Basis zu finden.

Stephan Thome: Gegenspiel. Roman. Suhrkamp, Berlin 2015. 464 Seiten, €22,95. Eine weitere Rezension findet sich auf dem Blog Buchrevier von Tobias Nazemi.

Horcynus Orca – Stefano D’Arrigo

Horcynus Orca umfasst 1500 Seiten und hat eine Entstehungsgeschichte, die beinahe ebenso umfangreich ist, wie der Roman selbst. Mich hat der Roman, dessen Titel einen besonders gefräßigen Wal bezeichnet, im Rahmen der Aktion Bloggerpaten drei Wochen lang begleitet und nun möchte ich euch von meinen Erfahrungen, Eindrücken und Gedanken zu diesem dicken – aber auch lesenswerten? – Buch erzählen.

Horcynus Orca

Stefano D’Arrigo erzählt so etwas wie eine moderne Odyssee, die während der Landung der Alliierten auf Sizilien spielt. Auf 1500 Seiten wird eine Geschichte erzählt, die gerade einmal vier Tage umfasst und doch so vieles beinhaltet: nicht nur den Tod als zentrales Grundthema, sondern auch die Liebe, das Leben und die Rückkehr aus einem Krieg. Auch das eine oder andere gefräßige Meeresmonster findet Erwähnung. Gerade einmal drei Wochen hatte ich Zeit für dieses Buch, das allerorts als ein beeindruckendes Meeresepos beschrieben und gar mit Ulysses und Moby Dick verglichen wird. An dieser Stelle sollte ich vielleicht kurz gestehen, dass ich es in der mir zur Verfügung gestellten Zeit nicht geschafft habe, das Buch durchzulesen. Mein Lesezeichen steckt fest, irgendwo zwischen der fünfhundertsten und sechshundertsten Seite. Eigentlich möchte ich kein Buch besprechen, das ich nicht zu Ende gelesen habe – dementsprechend schwer fällt es mir auch, diesen Beitrag zu schreiben. Mich hat Horcynus Orca tatsächlich bis an meine literarischen Grenzen – und darüber hinaus – geführt. Natürlich grämt mich das, doch tröstet mich der Gedanke, dass der Übersetzer Moshe Kahn für seine erste Lektüre gar mehr als zwei Jahre gebraucht hat, in denen er immer wieder nachgelesen und Gelesenes noch einmal neu gelesen hat. Nach mehr als zwei Jahren ist er – so hält er es in seinem lesenswerten Nachwort fest – zu dem Fazit gekommen, hier einen der fünf oder sechs ganz großen, außerordentlichen, nie vergehenden europäischen Romane des 20. Jahrhunderts in den Händen zu halten.

Die Sonne ging auf seiner Reise viermal unter, und am Ende des vierten Tags, welcher der vierte Oktober neunzehnhundertdreiundvierzig war, erreicht der Matrose ‘Ndrja Cambria, einfacher Oberbootsmann der ehemaligen Königlichen Marine, den Landstrich der Feminoten an den Meeren zwischen Skylla und Charybdis.

In den letzten drei Wochen habe ich mich zaghaft in diesen Text begeben, der mich gleichermaßen fasziniert, aber auch frustriert hat, weil ich vieles nicht verstehen konnte. Phasen der Faszination über die ungewöhnliche Sprache und die herrlichen Wortschöpfungen haben sich abgewechselt mit Phasen der Überforderung, mit Phasen des Frustes und der Qual. Vielleicht habe ich zuletzt zu häufig literarisches Fastfood gelesen, um die Geduld und die erforderlichen Fähigkeiten für diesen fordernden Text zu haben. Irgendwo habe ich gelesen, dass der Übersetzer Moshe Kahn sieben- bis achthundert Neologismen für diesen Text erfunden hat – er hat also nicht nur übersetzt, sondern auch neue Wörter geschöpft. Stefano D’Arrgio hat im Italienischen sogar mehr als tausend solcher Neologismen gebraucht: Pellisquadre, Feren, Feminoten, pirdue, Palamitara. Von der ersten Seite an stolpert man über diese Wörter, die von Moshe Kahn manchmal ins Deutsche übertragen werden, manchmal gänzlich neu erfunden. Auf der Suche nach den passenden Worten geht er ganz weit zurück in die frühesten Zeiten der deutschen Sprache. Gewünscht hätte ich mir für ein besseres Verständnis ein Glossar, so bleibt der herkömmliche Leser (in diesem Falle ich) dann doch häufig ratlos zurück. Eine Übersetzung ist für eine gewisse Zeit wohl immer ein Lebensprojekt, doch in keinem Fall könnte dies wahrer sein, als hier. Der Übersetzer hat nicht nur Wörter geschöpft, sondern er hat sich auch bemüht, den besonderen Klang und Rhythmus des Textes beizubehalten. Im Nachwort bezeichnet er seine Arbeit nicht als Übersetzung, sondern als Umgestaltung, als Anverwandlung, als Fährmannstätigkeit zwischen zwei entfernten Ufern.

Und während Portempedocle rief, schien er mit dem O Seifenblasen zu spielen, und das Echo rundete sich im Schlund des Vorgebirgs wie zu einem riesigen Gemurmel der Verwunderung. 

Ganz zu Beginn meiner Besprechung sprach ich von der umfangreichen Entstehungsgeschichte, die sowohl der Originaltext hinter sich hat, als auch die Übersetzung. Stefano D’Arrigo hat 1969 sein Manuskript beim Verleger abgegeben, die Fahnen sollten in zwei Wochen korrigiert werden – gedauert hat es dann aber mehr als fünfzehn Jahre. In seinem Heimatland ist der Roman nicht nur auf Begeisterung gestoßen, sondern auch auf Ablehnung und Kritik. Eines der besonderen Merkmale ist – neben dem Umfang – sicherlich die Sprache: Stefano D’Arrigo hat mit Horcynus Orca nicht nur einen Meeresepos vorgelegt, sondern diesen auch noch in einer fast selbst erfundenen Sprache erzählt. Allein anhand dieser Tatsache wird sicherlich auch deutlich, was für eine Herausforderung die Übersetzung gewesen sein muss, die eine ähnlich lange Entstehungsgeschichte hat. Obwohl Horcynus Orca als Klassiker gilt, ist die deutsche Übersetzung die erste Übersetzung in eine andere Sprache, die bisher vorliegt – vierzig Jahre lang wurde immer wieder daran gearbeitet.

Wenn also an diesen Ufern zwischen Skylla und Charybdis die pesterfüllten Windstöße dieser Arten von Hunger wehen, dann ist es die Fere, die Stiefmutter, der Hungerkrampf, der einem die Eingeweide auswringt, und sie, die Fere, selbst ist dann das Manna, sie einzig, sie allein, die Fere, diese und jene etwas und das Gegenteil davon, lebendiger Hunger, totes Manna: Hungmanna, frische Rülperserei oder altes Weichfleisch

Die Handlung des Romans, der sich über ganz 1500 Seiten erstreckt, lässt sich in aller Kürze zusammenfassen: es geht um ‘Ndrja Cambria, einen Matrosen, der im Jahr 1943 seine Einheit verlässt, um sich auf den Weg nach Hause zu machen. Zu Fuß. Vom kalabrischen Festland bis nach Sizilien. Er lässt den Krieg zurück, um in seiner Heimat wieder in sein vorheriges Leben eintauchen zu können. Doch auf diesem Weg zurück nach Hause begegnet er buchstäblich dem Tod – der Krieg hat eine Schneise der Verwüstung hinterlassen. Die Küstenbewohner, die überwiegend Fischer gewesen sind, wurden ihrer Lebensgrundlage beraubt: die Fährboote wurden zerstört. Der Verlust des Fischens, wie sie es Jahre lang betrieben haben, gleicht dem Verlust der eigenen Identität – plötzlich müssen sich alle neu orientieren. ‘Ndrja Cambria muss die bittere Erfahrung machen, dass er den Krieg nicht hinter sich lassen kann – er nimmt ihn mit nach Hause, denn überall auf dem Weg begegnen ihm Verwüstung und Vernichtung.

Fast 1,5 Kilogramm bringt dieses literarische Schwergewicht auf die Waage und mir lag es in den vergangenen Wochen in der Tat ziemlich schwer in der Hand. Bei meinen ersten tapsigen Schritten in diesen Text hinein habe eine große Überforderung empfunden. Intensiv gelesen, das habe ich, doch alles verstanden, habe ich nicht – ich habe ganz im Gegenteil das Gefühl, das meine Kenntnisse nicht dafür ausreichen, um das – möglicherweise – Einzigartige dieses Romans erfassen und würdigen zu können. Er hat mich trotz aller Mühen, an meine Grenzen geführt. Ich werde sicherlich nicht aufgeben, sondern der Text wird mich auch die nächsten Monate noch begleiten und ich hoffe darauf, dass ich mich irgendwann nicht mehr durchbeiße, sondern in den Text eintauchen kann. Jürgen Nielsen-Sikora schreibt in seiner Besprechung für Glanz & Elend, dass dieses Buch wohl nur ein Lesevergnügen für die geschulten Interpreten der Romantikseminare und die belesenen Feuilletonisten ist – ohne die Leistung des Übersetzers schmälern zu wollen, befürchte ich doch, mich dieser Meinung anschließen zu müssen.

VerlosungUnter allen die Lust haben, diese Besprechung zu kommentieren, verlose ich 1 Exemplar von Horcynus Orca. Vielleicht ergeht es euch ja ganz anders mit diesem Buch, als mir.

Ausgelost wird am 16. März. 

Meine wundervolle Buchhandlung – Petra Hartlieb

Meine wundervolle Buchhandlung ist ein wundervolles Buch über Bücher und Buchhandlungen und darüber was man mit einer großen Portion Begeisterung, Durchhaltewillen und Energie alles schaffen kann. Es geht um eine Schnapsidee, eine Buchhandlung in Wien und einen gelebten Traum.

Petra Hartlieb

Wir haben eine Buchhandlung gekauft: In Wien. Wir haben eine Mail mit einer Zahl geschrieben, ein Gebot, einen Betrag, den wir gar nicht hatten, und nach einigen Wochen kam die Antwort: Sie haben eine Buchhandlung gekauft!

Es gibt Bücher, die nimmt man in die Hand und legt sie erst wieder weg, wenn man sie ausgelesen hat. Genauso erging es mir mit dem Buch Meine wundervolle Buchhandlung, in dem Petra Hartlieb die Geschichte ihres Ladens erzählt. Genau genommen gehört Hartliebs Bücher, so heißt die Buchhandlung, auch ihrem Mann. Es war eine gemeinsame Schnapsidee, ein spontaner Entschluss aus dem dann Wirklichkeit wurde. Es war die Idee etwas gemeinsam zu machen, etwas zusammen aufzubauen. Beide leben eigentlich in Hamburg als sie auf die Buchhandlung bieten. Mit Geld, das sie nicht haben. Doch dann bekommen sie die Buchhandlung und statt vor lauter Schreck einen Rückzieher zu machen, brechen beide ihre Zelte ab, packen ihr Hab und Gut und die Kinder ein und gehen nach Wien. Beide lassen einen guten Job zurück – Petra Hartlieb war Literaturkritikerin und ihr Mann in einem Verlag tätig – und ziehen in eine ungewisse Zukunft. Doch das tun sie mit ganz viel Mut, Lust und Energie im Gepäck.

Ich verspüre plötzlich eine große Müdigkeit und denke an mein Latte-Macchiato-Leben in Hamburg. Statt Halbtagsstelle, schicker Wohnung und freier Zeiteinteilung nun also Tag und Nacht arbeiten, zunächst mal kein eigenes Zuhause und Schulden für die nächsten zehn Jahre. Oder länger? Wie gut, dass meine Vorstellungskraft dafür nicht ausreicht. 

Petra Hartlieb erzählt die Geschichte ihrer Buchhandlung, die sie erst einmal herrichten musste und über der sie später mit ihrer Familie eingezogen ist. Eine Wendeltreppe verbindet den Ort der Arbeit mit dem Wohnbereich. Es ist eine Geschichte voller Rückschläge, voll von Ängsten und Zweifeln. Es ist aber auch eine Geschichte, die von helfenden Händen erzählt und von dem Mut, die eigenen Träume zu leben. Petra Hartlieb hätte es wohl nie alleine geschafft, die Buchhandlung zu renovieren und bezugsfertig zu machen, auch das Weihnachtsgeschäft hätte sie in den ersten Jahren wohl kaum alleine überstanden – doch ihr Glück ist es, keine Hemmungen dabei zu haben, um Hilfe zu bitten.

Was ich so wunderbar an diesem Buch fand, ist die Tatsache, dass Mut belohnt wird. Eigentlich ist das ambitionierte Projekt zum Scheitern verurteilt, es gibt keinen ausgereiften Businessplan, es gibt nicht einmal eine ausreichende Finanzierung. Doch irgendwie wurtscheln sich die Hartliebs auf unkoventionelle aber herrlich charmante Art und Weise durch die ersten Monate.

Wir wohnen plötzlich in unserer Arbeit. Die Wendeltreppe, die das Hinterzimmer der Buchhandlung mit dem Vorzimmer unserer Wohnung verbindet, wird zum zentralen Dreh- und Angelpunkt unserer Lebens.

Doch auch die Zeit nach den ersten Monaten wird nicht unbedingt leichter, denn eine Buchhandlung zu führen bedeutet ein stetiger Kampf darum, neue Kunden zu gewinnen und alte Kunden zu halten. Dazu muss man im besten Fall innovativ und aufgeschlossen sein: Lesungen müssen organisiert werden und ein Webshop sollte aufgebaut werden. Petra Hartlieb beschreibt all die Menschen, die mit ihr in dieser Buchhandlung werkeln, die mit 40 Quadratmetern übrigens ziemlich klein geraten ist, mit so viel Liebe und Wärme, dass ich irgendwann das Gefühl hatte, selbst mit dabei zu sein. Als ein neues EDV-System ausprobiert wird und die Mitarbeiter regelmäßig zur Verzweiflung bringt, habe ich fast am eigenen Leibe mitgelitten. Auch die Beschreibungen der Weihnachtszeit, in der die Hartliebs noch bis spät in die Nacht hinein im Laden stehen und Bücher einsortieren, hat mein Mitgefühl geweckt. Es sind die Weihnachtsmonate, in denen sie ihr Geld verdienen. Wirkliches Geld, das nicht nur für die Miete und die Personalkosten draufgeht.

Irgendwann steht mitten in Wien die nächste Buchhandlung leer und wider des besseren Wissens – sollte man zumindest meinen – erwerben die Hartliebs auch diese. Doch anders als dem ersten Buchhandlungskauf liegt diesem ein ausgereiftes Konzept zugrunde. Beim ersten Mal hat es auch ganz spontan funktioniert, doch warum sollte man nicht auch einmal ein bisschen planen? Und so betreiben die Hartliebs mittlerweile gleich zwei Buchhandlungen in Wien und das wohl sogar ganz erfolgreich. Wer weiß, was da noch so kommen wird …

Das Bedarf einiger Fantasie, denn vierzig Quadratmeter sind keine Großfläche. Es ist und bleibt ein kleiner Raum, auf dem wir große Buchhandlung spielen, und die Lösung sieht so aus, dass jeder Verkaufspsychologe uns als Negativbeispiel in seinem Seminar anführen würde: Nach oben.

Meine wundervolle Buchhandlung ist ein wundervolles Buch darüber, wohin einen Mut und Begeisterung bringen können. Es ist ein wundervolles Buch darüber, dass es sich lohnt auch mal ein Risiko einzugehen oder etwas zu wagen. Petra Hartlieb lebt ihren Traum, weil sie immer daran geglaubt hat, dass sich dieser erfüllen könnte. Neben allem anderen ist ihr Buch also vielleicht auch ein guter Ratgeber dafür, häufiger auf das eigene Herz zu hören und den Träumen und Wünschen nachzuspüren – bevor es zu spät ist, denn schließlich haben wir nur dieses eine Leben.

[…] wir verkaufen das schönste Produkt, das es gibt. Wir verkaufen Geschichten. Und ich kann mich für einen guten Unterhaltungsroman genauso begeistern wie für die sogenannte ernsthafte Literatur, und manchmal finde ich diese Unterscheidung im deutschen Sprachraum sehr mühsam.

Meine wundervolle Buchhandlung ist aber auch ein wundervolles Buch über Bücher und ein flammendes Plädoyer für die kleinen und inhabergeführten Buchhandlungen. Genau das, wäre auch mein Wunsch, dass uns die kleinen und individuellen Buchläden noch lange erhalten bleiben.

Lieber Mr. Salinger – Joanna Rakoff

Joanna Rakoff legt mit Lieber Mr. Salinger ein wunderbares Buch vor, das von ihren eigenen Erlebnissen in einer New Yorker Literaturagentur erzählt. Das, was sie zu erzählen hat, ist nicht nur unterhaltsam und spannend, sondern auch höchst lesenswert. Nicht nur dann, wenn man mehr über Mr. Salinger erfahren möchte …

Lieber Mr Salinger

Dieses Buch erzählt die Wahrheit und nichts als dir Wahrheit, so gut wie ich sie erzählen konnte. 

Vor einigen Wochen habe ich euch bereits erzählt, dass dieses Frühjahr ganz im Zeichen von J. D. Salinger steht. Mit großer Spannung habe ich nun den ersten dieser zahlreichen Romane gelesen, die sich alle irgendwie um das Leben des mysteriösen Schriftstellers drehen.

In Lieber Mr. Salinger erzählt Joanna Rakoff die wahre Geschichte ihres Salinger-Jahres. 1996 kehrt sie mit einem abgeschlossenen Studium, aber ohne Perspektive, nach New York zurück. Ihren Eltern erzählt sie, dass sie sich eine Wohnung mit einer Freundin teilt, doch in Wahrheit schläft sie bei Don. Don ist ein mehr oder weniger erfolgloser Romanautor, der in einer Wohngemeinschaft mit zwielichtigen Gestalten lebt. Rakoff gibt ihre große College-Liebe auf, um zu Don zu ziehen. Es ist eine Beziehung mit Schwierigkeiten, die auch nicht besser wird, als beide in eine gemeinsame Wohnung ziehen – dort ist die Stimmung manchmal genauso frostig, wie die Temperaturen. Beide haben beim Einzug nämlich nicht darauf geachtet, dass es keine Heizung gibt. Eine Spüle gibt es übrigens auch nicht. Aber auch wenn die Lebensumstände von Joanna Rakoff immer wieder eine Rolle spielen, geht es in Lieber Mr. Salinger eigentlich um etwas ganz anderes: es geht um ein einziges Jahr. Ein Jahr in einer Literaturagentur.

Irgendwo müssen wir alle anfangen. In meinem Fall war es ein dunkles, bis unter die Decke mit Büchern vollgestopftes Zimmer: Regale über Regale voller Bücher, sortiert nach Autoren aus allen erdenklichen Epochen des zwanzigsten Jahrhunderts, Bücher, deren Umschlagsgestaltung sofort verriet, in welchem Jahrzehnt man sie in die Welt geschickt hatte.

Dass sie den Job in der Agentur erhält, ist ein großer Zufall. Auch wenn Joanna Rakoff an keiner Stelle schreibt, wie der Ort heißt, an dem sie arbeitet, findet man mithilfe von Google schnell heraus, dass sie bei der Harold Ober Agentur angestellt ist. Es handelt sich dabei um eine Literaturagentur, die zahllose Autoren und Autorinnen vertritt – die meisten davon sind schon lange verstorben. Doch der berühmteste Autor, der von Phyllis Westberg (der Chefin der Literaturagentur) vertreten wird, ist  noch quicklebendig, auch wenn er nicht mehr schreibt. Auf den Fluren der Harold Ober Agency wird er von allen nur Jerry genannt, doch dem Leser wird schnell klar, dass es sich dabei um J. D. Salinger handelt. Bereits an ihrem ersten Arbeitstag bekommt Joanna Rakoff detaillierte Anweisungen für den Umgang mit Salinger: Sie dürfen niemals, auf keinen Fall seine Adresse oder Telefonnummer weitergeben.

Joanna Rakoff wird dem berühmten Autor während ihres Salinger-Jahres nur ein einziges Mal begegnen, dafür hat sie ihn umso häufiger am Telefon, wo er immer wieder einen etwas schwerhörigen Eindruck macht. Auch in anderer Hinsicht ist er nicht mehr aus ihrem Arbeitsalltag wegzudenken: eine der zahlreichen Aufgaben der jungen Frau ist nämlich das Beantworten seiner Fanpost. Dafür gibt es einen vorformulierten Standardbrief, von dem Joanna Rakoff jedoch zunehmend abweicht: die häufig tragischen Briefe von Menschen, die irgendetwas in den Texten von Salinger gefunden haben, gehen ihr sehr zu Herzen.

Salinger war nicht annähernd so, wie ich gedacht hatte. Nicht annähernd. Salinger war knallhart. Knallhart, witzig und sehr genau. Ich war Feuer und Flamme für ihn und für alles, was er geschrieben hatte.

Nicht nur diese tragisch verzweifelten Briefe von Menschen, die Halt und Trost in Salingers Büchern gefunden haben, sondern auch die Antworten von Joanna Rakoff, gehören zu den beeindruckendsten Stellen dieses Erinnerungsbuchs. Doch es geht nicht nur um die Briefe, sondern auch um einen schmalen Text von Salinger, der unter dem Titel Hapworth im New Yorker erschienen ist und nun noch einmal in Buchform veröffentlicht werden soll.

Salinger und seine Bücher, die Joanna Rakoff übrigens erst für sich entdeckt, als sie beginnt bei Harold Ober zu arbeiten, stehen natürlich im Zentrum des Buches. Doch das wahre Highlight ist für mich – neben dem schwerhörigen Salinger mit den großen Händen – die Agentur selbst. Trotz der technologischen Möglichkeiten, die das Jahr 1996 bereits zu bieten hatte, wird unter der Regie von Phyllis Westberg weiterhin mit Schreibmaschinen und Karteikarten gearbeitet. Die Büroräume, in denen Joanna Rakoff Tag für Tag verbringt, um mit Diktafon und der Selectric zu arbeiten, wirken herrlich aus der Zeit gefallen. Einen wahrlich traumhaften Ort voller Bücher, habe ich mir beim Lesen vorgestellt. Das Klappern der Schreibmaschinen hatte ich dabei fast schon im Ohr.

Haben Sie Salinger gelesen? Wahrscheinlich schon. Können Sie sich daran erinnern, wie es war, als Sie Holden Caulfield zum ersten Mal begegnet sind? Wie es Ihnen den Atem verschlug, als Sie erkannten, dass dies ein Roman war, eine Stimme, eine Persönlichkeit, eine Art, Geschichten zu erzählen, und ein Blick auf die Welt, wie er Ihnen bis dahin noch nie begegnet war?

Genau das ist vielleicht der wunderbare Charme dieses Buch, der Lieber Mr. Salinger für mich zu einer ganz besonderen Lektüre gemacht hat: Joanna Rakoff beschreibt eine Zeit und eine Art und Weise mit Literatur zu arbeiten, die längst vergangen scheinen – ohne nun kulturpessismistisch klingen zu wollen. Lieber Mr. Salinger ist das Porträt einer Kultur, die verschwunden ist. Joanna Rakoff lebt ein Leben, das dem geschriebenen Wort gewidmet ist. Mit großer Ernsthaftigkeit liest sie sich durch die Bücher von Joan Didion und William Faulkner, liest an einem Tag Unendlicher Spaß von David Foster Wallace und entdeckt später an nur einem einzigen Wochenende das Gesamtwerk von J. D. Salinger.

Lieber Mr. Salinger ist ein wunderbares Buch, voller altmodischer Begeisterung für Literatur. Es ist ein großartiges Buch über Salinger und die Arbeit in einer Literaturagentur. Am Ende ist es aber vor allen Dingen auch ein bewegendes Buch darüber, wie eng die Literatur manchmal mit dem eigenen Leben verknüpft sein kann. Was bleibt mir anderes übrig, als eine nachdrückliche Leseempfehlung auszusprechen.

Verlosung 227Unter allen die Lust haben, diese Besprechung zu kommentieren, verlose ich 3 Exemplare von Lieber Mr. Salinger, die mir vom Knaus Verlag zur Verfügung gestellt wurden.

Ausgelost wird am 2. März. 

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