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Zeitgenössisches

Pfaueninsel – Thomas Hettche

Thomas Hettche erschafft in seinem Roman Pfaueninsel eine Welt, die längst vergangen scheint. Die Pfaueninsel war im 19. Jahrhundert eine Art künstliches Paradies, voller exotischer Pflanzen und wilden Tieren. Doch im Zentrum dieser märchenhaft verwunschenen Geschichte stehen weder Gärten noch Tierwelt, sondern ein kleinwüchsiges Schloßfräulein und eine tragische Liebe.

DSC_1830Nichts auf der Pfaueninsel steht sicher in seiner Zeit. Jede Geschichte beginnt lange, bevor sie anfängt.

Die Geschichte, die Thomas Hettche erzählt, beginnt im Jahr 1810 und endet etwa 70 Jahre später. Die Pfaueninsel ist ein wunderschöner Ort mitten in der Havel bei Potsdam. Die Insel wurde damals im 19. Jahrhundert unter der Leitung von Peter Joseph Lenné, Karl Friedrich Schinkel und dem Hofgärtner Ferdinand Fintelmann zu einem künstlichen Paradies umgestaltet. Es wurden nicht nur exotische Blumen gepflanzt, sondern auch seltene Tiere wurden auf der Insel heimisch: es gab Kängurus, Affen und einen Löwen. Auch menschliche Exoten fanden sich auf der Insel: riesenhafte Gestalten, dunkelhäutige Wilde und sogar zwei Zwerge. Christian und Marie, die eigentlich Maria Dorothea Strakon heißt. Das kleinwüchsige Geschwisterpaar kam 1806 auf die Insel und Marie ist auf der Pfaueninsel das Schloßfräulein.

[…] die Makel des Zwergenwuchses, der ihren Kinderkopf im Laufe der Jahre immer weiter verformte, so daß ihre Stirn sich hoch aufwölbte unter dem Haaransatz, und darunter die breite, wie zerdrückte Sattelnase mit der aufgestülpten Spitze, die so gar nichts von einem Kindernäschen hatte.

Für die Besucher ist der Besuch der Pfaueninsel wie die Reise in eine fremde Welt, in eine exotische Welt voller Absonderlichkeiten, die man am Ende des Tages – glücklicherweise – wieder verlassen kann. Ein bisschen wie eine Spielzeugwelt. Doch für Marie ist die Pfaueninsel ein Zuhause, das sie in dem ständigen Gefühl bewohnt, anders zu sein, absonderlich, abartig, makelhaft. Nicht wirklich ein Mensch, sondern eine Mischung aus Pflanze und Tier. Auf keinen Fall normal. Sie wird aufgrund ihrer Kleinwüchsigkeit auf der Insel geduldet, aber nicht geliebt. Sie muss immer wieder für die Befriedigung von männlichen Bedürfnissen herhalten, aufgrund ihrer Zartheit weckt sie Interesse. Der König wendet sich an sie, aber auch ihr eigener Bruder. Doch im Grunde bleibt Marie alleine. Ihre Wünsche und Bedürfnisse bleiben unerfüllt, dabei wünscht sich Marie nicht viel, nur ein bisschen Liebe hätte sie gerne. Sie hat ein Auge auf Gustav geworfen, den Sohn des Hofgärtners. Doch kann die Liebe wirklich die scheinbaren Grenzen des Normalen überwinden?

Ein Monster. Sie versuchte das Wort abzuschütteln, wie man ein Insekt abschüttelt, aber es wollte ihr nicht gelingen. Monster. Monster. Monster.

Thomas Hettche legt mit seinem Roman Pfaueninsel ein Buch vor, das eigentlich aus zwei Ebenen besteht, die der Autor sehr gekonnt miteinander verbindet. Da gibt es zum einen die historische Geschichte der Pfaueninsel, die von allerlei beeindruckenden Herrschaften bevölkert wird und immer wieder in den Roman  sehr ausführlich einfließt. Da geht es um Sichtachsen, Botanik und Menagerien und um die Anordnung der seltenen Pflanzen, da werden Könige erwähnt und historische Zusammenhänge, da kommen Lenné und Schinkel zu Wort und Fintelmann der Hofgärtner. Einschränkend gesagt werden muss an dieser Stelle, dass diese Passagen ab und an einen ermüdenden Charakter haben. Zum anderen gibt es da aber auch noch die tragische Liebesgeschichte und die tragische Lebensgeschichte von Marie, die Thomas Hettche mitten hinein in diesen historischen Stoff verpflanzt, die wohl aber genauso gut in unserer heutigen Zeit funktionieren könnte. Diese Ebene hat mich von Beginn an begeistern können.

[…] alles nur Maskerade, Kulisse wie die Mauern des Schlosses, die nicht aus Steinen, sondern aus bemalten Brettern bestanden. Schloßfräulein, dachte Marie, und begann zu weinen, war sie nur in dieser Welt der Lüge, in der wirklichen aber ein Monster.”

Marie ist ein in all ihrer Naivität liebenswertes Mädchen. Die Pfaueninsel bietet ihr und ihrem Bruder Christian ein Zuhause, doch eine wirkliche Heimat finden sie dort nicht. Es ist vor allen Dingen Marie, die unter dem Makel der Kleinwüchsigkeit leidet. Die glaubt, ein Monster zu sein und stetig auf der Suche nach einem Platz im Leben ist. Dabei bedient sie sich auch der Literatur, liest sich durch die Schloßbibliothek – im verzweifelten Versuch Antworten auf Fragen zu finden, die sie quälen und bedrängen. Ihr größter Lebenswunsch ist es geliebt zu werden, doch die Liebe zu Gustav kann sie nicht erfüllen.

Thomas Hettche gelingt es, das Innenleben von Marie mit viel Feinfühligkeit und Wärme zu schildern. Das Mädchen, aus dem im Laufe der Geschichte eine unglückliche alte Frau wird, die kaum noch gehen kann, ist mir beim Lesen ganz eng ans Herz gewachsen. Aber auch die Geschichte der Pfaueninsel in all ihren poetischen Bildern weiß zu überzeugen.

Pfaueninsel ist ein wahrlich wunderschöner und sehr lesenswerter Roman. Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog Wörterrausch.

Kruso – Lutz Seiler

Lutz Seiler steht mit seinem Roman Kruso auf der Shortlist des Deutschen Buchpreis und das vollkommen zu Recht. Er erzählt von einer Gemeinschaft der Schiffbrüchigen, von einer ungewöhnlichen Freundschaft, von der Insel Hiddensee und vom Ende der DDR. Kruso ist voller Poesie und ein wahrlich großer und großartiger Roman.

DSC_1444Lutz Seiler erzählt eine Geschichte in dessen Zentrum die verwunschene Ostseeinsel Hiddensee steht. Hiddensee war eine Nische für Andersdenkende, die im Gegensatz zur umzäunten DDR Flucht und Freiheit versprach und zahlreiche Urlauber anzog, für die es in den spärlich vorhandenen Privatquartieren kaum genug Platz gab. Hiddensee war die einzige bewohnte Insel, die ohne Anbindung zum Festland war. Die Nähe zu Dänemark machte sie zum Grenzgebiet, gleichzeitig war die Insel aber auch Rückzugsort vieler Intellektueller, die vor dem Regime flohen und sich mit Saisonarbeit über Wasser hielten. Manche von ihnen wagten die Flucht durch die Ostsee, nur wenige kamen an. Nach Hiddensee fuhr man, um aus dem eigenen Leben zu fliehen. Man könnte auch von Gestrandeten sprechen, von Schiffbrüchigen. Hiddensee umwehte ein Hauch von Romantik, ein Gefühl von Freiheit und die Atmosphäre eine große, gemeinsame Familie zu sein.

Sicher, er hatte Experten gehört, die behaupteten, dass Hiddensee im Grunde schon außerhalb läge, exterritorial, eine Insel der Seligen, der Träumer und Traumtänzer, der Gescheiterten und Ausgestoßenen. Andere nannten sie das Capri des Nordens, auf Jahrzehnte ausgebucht.

In Kruso erzählt Lutz Seiler von Edgar Bendler, der 1989 aus seinem Leben flieht und nach Hiddensee reist. Ein Unglück hat alles aus den Fugen geraten lassen. Plötzlich fühlt er sich als Eindringling in seinem alten Leben, fremd – wie ein Mann ohne Land. Edgar, der von allen nur Ed genannt wird, hat als junger Mann zunächst eine Bauarbeiterlehre absolviert, später studierte er dann in Halle Germanistik. Als er flieht, schreibt er gerade an einer Doktorarbeit über den Dichter Trakl. All das lässt er zurück, nur die memorierten Verse nimmt er im Kopf mit nach Hiddensee. Was Auslöser für diese Flucht gewesen ist, erfährt man erst spät. (“[…] aufgelaufen, ein Wrack, erst vierundzwanzig Jahre alt und schon ein Wrack.”)

Am Ende aller Reden schien Hiddensee ein schmales Stück Land von mythischem Glanz, der letzte, der einzige Ort, eine Insel, die immer weiter hinaustrieb, außer Sichtweite geriet – man musste sich beeilen, wenn man noch mitgenommen werden wollte.

Im Klausner, einem Gasthof auf Hiddensee, heuert Ed als Abwäscher an. Nur noch der Leuchtturm trennt den Gasthof von der Ostsee, der Klausner ist letzter Inselzipfel. Ed wird Esskaa, eine Saisonkraft. Es ist das erste Mal seit der Lehre als Bauarbeiter, dass Ed wieder mit harter Arbeit konfrontiert wird – er hat das Gefühl, nach Hause zu kommen. Wieder bei sich anzukommen. Das Arbeitsaufkommen ist enorm, die Schilderungen am Abwaschbecken muten schon fast surrealistisch an. Seine Arbeitskollegen nennen sich Rimbaud und Cavallo, beide sind promoviert und im Klausner gestrandet, um Zuflucht vor dem Regime zu finden. Im Klausner lernt Ed auch Kruso kennen, der eigentlich Alexander Krusowitsch heißt, aber von allen nur Kruso genannt wird, von einigen aber auch Losch. Kruso ist eine außergewöhnliche Erscheinung, Sohn einer Artistin. Stiefsohn eines Strahlenforschers. Bruder einer im Meer gestorbenen Schwester. Kruso ist so etwas wie ein Anführer, Oberhaupt der Esskaas, Verwalter der Schiffbrüchigen und Gestrandeten. Er verwaltet diejenigen, die wie Wracks an der Küste Hiddensees auflaufen und verteilt sie auf die Quartiere. Krusos Dichtergeist macht aus dem Gasthof eine Arche, die Tag für Tag von den Saisonkräften gerettet und auf Kurs gehalten werden muss.

Erlösung vom Beruf. Vom Mann. Vom Zwang. Vom Staat. Von der Vergangenheit, nicht wahr, Ed? Es klingt wie ein Versprechen, und alle kommen, und hier beginnt sie, unsere Aufgabe, der Ernst unserer Sache. Das heißt: Drei Tage, und sie sind eingeweiht. Wir schaffen drei oder vier Tage für alle, für jeden, und wir schaffen damit eine große Gemeinde, die Gemeinschaft der Eingeweihten.

Im Spätsommer 1989 zerbricht die einstige Gemeinschaft. Nacheinander verschwindet die Besatzung des Klausners – zurück bleiben Kruso und Ed, die eine enge aber auch verstörende Freundschaft verbindet. Es sind nicht nur die Gedichte Trakls, die das Fundament dieser Freundschaft sind, sondern vor allem das Wissen darum, was es bedeutet, einen geliebten Menschen zu verlieren.

Das ist Hiddensee, Ed, verstehst du, hidden – versteckt? Die Insel ist das Versteck, die Insel ist der Ort, wo sie zu sich kommen, wo man zurückkehrt in sich selbst, das heißt zur Natur, zur Stimme des Herzens, wie Rousseau es sagt. Niemand muss fliehen, niemand ertrinken. Die Insel ist die Erfahrung. Eine Erfahrung, die es ihnen erlaubt, zurückzulehren, als Erleuchtete. Eine Erfahrung, die es ermöglicht, das Leben weiterzuleben, bis zu dem Tag, an dem Quantität in Qualität umschlägt, an dem das Maß der Freiheit in den Herzen die Unfreiheit der Verhältnisse mit einem Schlag übersteigt, jenem Moment … Ein großes Pochen wird das sein, ein einziger donnernder Herzschlag.”

Lutz Seiler hat mit Kruso einen großen und großartigen Roman geschaffen, der nicht nur durch Poesie besticht, sondern auch durch eine Erzählung, die aus ganz vielen Schichten besteht: eine dieser Schichten ist das Ende der DDR, eine andere die sagenumwobene Insel Hiddensee. Es geht um Flucht, um Freiheit, um Ostseetote, um Politik und darum, was mit den Menschen geschieht, die sich an der herrschenden Politik nicht beteiligen wollen, die eine Nische suchen, in der sie frei von allem leben, lesen, schreiben können. Es geht aber auch um Freundschaft, um die Initiation in die Liebe, um Literatur und es geht um – der Titel deutet es bereits an, denn im Namen Kruso schwingt natürlich auch Robinson Crusoe mit – Abenteuer. All das wird in einer herrlichen Poesie erzählt, in Bildern, die sich mir eingebrannt haben. Lutz Seiler sprengt dabei bewusst die Grenzen der Realität, Kruso hat auch eine surrealistische Ebene. Vieles von dem, das Ed erlebt, mutet traumhaft an. Trotz dieser Vielfalt an Themen, droht der Roman an keiner Stelle, unter dieser Last zusammenzubrechen. Ganz im Gegenteil: Kruso ist von Lutz Seiler mit sanfter Hand komponiert worden.

Kruso ist ein Roman, der nicht nur zu Recht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreis steht, sondern diesen Preis auch verdient hätte. Ja, gar erhalten müsste.

Und Engel gibt es doch.

DSC_1840Vor etwas mehr als einem Jahr verstarb der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf. Wenige Monate später erschien Arbeit und Struktur, die schriftliche Version seines Blogs, in dem er seine Erkrankung dokumentiert hat. Es ist eine beeindruckende Lektüre, die – auch wenn die Texte frei im Internet verfügbar sind – in Buchform gebracht, um so beeindruckender wirkt.

Nächste Woche erscheint das, was Wolfgang Herrndorf vor seinem Tod nicht mehr fertigstellen konnte. Ein Romanfragment in dem er tschick weitererzählt, aus der Perspektive von Isa. Bilder deiner großen Liebe heißt der Roman, in der aktuellen Ausgabe der ZEIT, gibt es nicht nur eine großartige Besprechung des Romans von Iris Radisch, sondern auch einen Vorabdruck der ersten vier Kapitel.

Ein Blick lohnt sich und steigert die Vorfreude auf den kommenden Freitag, dann nämlich erscheint das Buch endlich.

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Kastelau – Charles Lewinsky

Charles Lewinsky hat es mit seinem Roman Kastelau bereits vor Erscheinen auf die Longlist des Deutschen Buchpreis geschafft. Für die Shortlist hat es jedoch leider nicht gereicht. Doch kann man in diesem Fall überhaupt von einem Roman sprechen? Kastelau liest sich wie eine Mischung aus historischem Sachbuch und Tatsachenbericht, angereichert mit einer gehörigen Portion Spannung. Klingt verwunderlich, ist aber verdammt gut.

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Wer sich die Welt als Film ansieht, akzeptiert überraschende Wendungen.

Es ist Winter im Jahr 1944 und die bayrischen Alpen sind noch einer der wenigen friedlichen Orte in Deutschland. Während der Krieg anderswo seinen Höhepunkt erreicht, sucht eine Filmcrew einen Ort, um weitab von Berlin überleben zu können. Die Angst davor, eingezogen zu werden, treibt sie nach Kastelau – mitten hinein in die bayerischen Alpen. Dort wollen sie einen kriegswichtigen Film drehen. Bereits die Anreise nach Kastelau ist jedoch mit Schwierigkeiten verbunden, denn es kommt zu einer fürchterlichen Verwechselung. Weil die Wehrmacht alle Fahrzeuge eingezogen hat, fährt die Filmcrew in bemalten Autos. In sogenannten Dekorationen. Die Bemalung der Autos führt dazu, dass sie fälschlicherweise angegriffen werden. Diesem Angriff fällt ein Großteil der Crew zum Opfer: Drehbuchautor, Regisseur, Produzent, Kameramann und vier Schauspieler bleiben übrig. Einen Tontechniker – wenn auch einen gehörlosen – finden sie für ihren Film zum Glück auch in den Alpen.

Große Zeiten sind ein guter Boden für Geschichten. Die man erst wird schreiben können, wenn die Zeiten wieder klein sind.

Angekommen in Kastelau muss das Drehbuch erst einmal umgeschrieben werden, denn eigentlich fehlt nun das Personal, um überhaupt drehen zu können. Auch das Schloss, das im Film eine wichtige Rolle spielen sollte, gibt es vor Ort gar nicht.  Doch die Filmcrew bleibt. Den kriegswichtigen Film voller Durchhalteparolen, den können sie nicht mehr drehen, doch solange sie so tun, als würden sie etwas drehen, gelten sie als unabkömmlich. Dass es diesen Film eigentlich gar nicht gibt, ist kein Problem: Schauspieler sind im Erfinden geübt. Die Filmcrew tut so, als ob. Als ob sie einen Film drehen würde, als ob dieser Film kriegswichtig sei. Man dreht irgendwelche Szenen im verzweifelten Versuch weit weg vom Krieg überleben zu können. Tagtäglich wird am Drehbuch geschrieben, tagtäglich werden Szenen gedreht – all das, um vor den Dorfbewohnern und dem nationalsozialistischen Bürgermeister den Eindruck zu erwecken, als würde es diesen Film wirklich geben. Im Versuch ihr Leben zu retten, kommt es in den bayrischen Alpen zu allerlei Verwicklungen: von Mord, über Liebe bis zu Verrat ist alles dabei. Im Zentrum all dessen steht der Schauspieler Walter Arnold.

Kastelau. Ich habe den Namen nie vorher gehört. Es soll dort ein altes Schloss geben, für die Innenszenen. Hoffentlich mit einer Halle, die groß genug ist für den Aufmarsch der Soldaten.

Was Kastelau von vielen anderen Romanen über den Zweiten Weltkrieg unterscheidet ist die Erfindungsgabe des Autors und sein faszinierendes Spiel mit Fakten, Fiktion und Authentizität. Charles Lewinsky gibt seinem Roman eine ganz besondere Erzählstruktur, denn er erschafft im Vorspann die Figur Samuel Saunders, Besitzer der Videothek Movies Forever. Im Jahr 2011 wird er von Polizisten erschossen, als er auf dem Hollywood Boulevard in Los Angeles mit einer Spitzhacke versucht den Stern des Schauspielers Arnie Walton zu zerstören. Charles Lewinsky bringt sich  an dieser Stelle selbst ins Spiel: er behauptet, in einem Archiv in der East Melnitz Street, ein Konvolut aus Briefen, Listen, Notizen, Ausdrucken und Tonbändern gefunden zu haben (alles rein fiktiv natürlich). Aus diesem Konvolut hat er im Sinne einer Rekonstruktion einen Text erstellt, darunter befinden sich Tagebuchaufzeichnungen von Drehbuchautor Werner Wagenknecht, ein Interview mit der Schauspielerin Tiziana Adam und immer wieder Aufzeichnungen von Samuel Saunders, in denen er voller Hass über den Schauspieler Arnie Walton schreibt, der vor vielen Jahren noch unter dem Namen Walter Arnold in den bayrischen Alpen einen Film gedreht hat.

Für die Filmequipe war der begehrte Aufenthalt in Kastelau nur so lange gesichert, als sie dort tatsächlich einen Film drehten, oder  da sie den Film aus den erwähnten praktischen Gründen gar nicht drehen konnten – zumindest den Eindruck erweckten, mit Dreharbeiten beschäftigt zu sein.

Der Handlungsort Kastelau ist fiktiv, doch Charles Lewinsky erzählt eine Geschichte, die durch eine scheinbare Authentizität besticht. Der Text besteht aus ganz vielen Fragmenten, aus Ausdrucken und Transkripten, es gibt auch Fußnoten und Hinweise auf Wikipediaartikel. Und doch, auch wenn man es zwischendurch kaum glauben mag: all das ist erfunden. Charles Lewinsky erzählt in all diesen Fragmenten Bruchstücke einer Geschichte, die zu Beginn so schwammig ist, dass sie kaum zu erkennen ist und im Laufe des Romans dann immer deutlicher Kontur annimmt. Das kongeniale Element dieses Romans ist, dass es eigentlich der Leser selbst ist, der aus diesen Fragmenten eine Geschichte macht, der all die Leerstellen und Lücken schließt. Charles Lewinsky liefert das Material, aus dem der Leser sich eine faszinierende Geschichte erfinden kann. Auf den ersten Seiten war ich skeptisch, zu groß erschienen mir die Lücken zwischen den Fragmenten und zu viele Zusammenhänge fehlten mir, doch mit zunehmender Dauer ist die Skepsis einer großen Begeisterung und einer ungeheuren Spannung gewichen.

Ich könnte mich auf dem Grab von Arnie Walton erschießen. Forest Lawn, natürlich, darunter macht er es nicht. Ein Wunder, dass sie ihn nicht auf dem Heldenfriedhof von Arlington beerdigt habe. So ein dramatischer Selbstmord wäre ein passender Abschluss für die Schmierenkomödie seines Lebens.

Charles Lewinsky brilliert in seinem neuen Roman Kastelau als herausragender Erzähler, der mit großer Kunstfertigkeit eine spannende Geschichte erzählt. Doch dieser Roman ist nicht nur spannende Unterhaltung, sondern auch ein beeindruckendes literarisches Experiment und Wagnis. Lewinsky legt keine vorgefertigte und zu Ende erzählte Geschichte vor, sondern führt den Leser an seinen Schreibtisch, auf dem all die Materialen ausgebreitet liegen. Wenn es einem gelingt, beim Lesen den Erzählfaden zu finden, dann erhält man als  Leser die Möglichkeit, diesen selbst zu weben und in eine wunderbare Mischung aus Illusion und Erfindung einzutauchen. Was man dann daraus macht, liegt in der eigenen Fantasie, der eigenen Vorstellungskraft und in den eigenen moralischen Grundsätzen.

April – Angelika Klüssendorf

April ist eine junge Frau, die eine Jugend ohne Jugend erlebt hat. Auch eine wirkliche Kindheit hat sie nie gehabt. In einer schonungslosen Welt ist sie in ein Leben als Erwachsene hinein gewachsen, das sie überfordert – gefangen zwischen den Anforderungen der Gegenwart und den Schrecken der Vergangenheit.

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Am liebsten würde sie die Liebe in Flaschen abfüllen, um bei Bedarf Tropfen für Tropfen parat zu haben.

Vor drei Jahren hat Angelika Klüssendorf den Roman Das Mädchen veröffentlicht, eine trostlose Geschichte über die Hölle einer Kindheit. Der Roman stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreis. April ist die Fortsetzungsgeschichte, auch dieser Roman steht nun auf der Shortlist. Es ist eine Fortsetzung, die man auch ohne Anfang verstehen kann. Es ist die Fortsetzung eines ausweglosen Lebens, das in einer fürchterlichen Kindheit seine Wurzeln hat.

Die letzten Jahre hat sie in Heimen verbracht, mit hundert Mark und der Zuweisung für die Wohnung wurde sie ins Erwachsenenleben entlassen.

Aus dem Mädchen ist mittlerweile eine junge Frau geworden, die sich den Namen April gegeben hat – in Anlehnung an einen Song von Deep Purple. Die Kindheit hat sie hinter sich gelassen, auch wenn sie immer noch in ihr steckt. Irgendwo. Sie ist gerade achtzehn geworden und die Jugendhilfe hat ihr ein Zimmer zugewiesen. Auch Arbeit hat sie bekommen, als Bürohilfskraft im Starkstromanlagebau. April ist davongekommen und doch ist sie in ihrem neuen Leben noch nicht angekommen: sie klaut bei jeder sich bietenden Gelegenheit, an ihrer Arbeitsstelle gelingt es ihr nicht, sich unterzuordnen. Ein kleiner Kobold sitzt in ihr, der sie immer wieder aufbegehren lässt, wenn sie zu viel Glück empfindet. Glück kann sie nur ganz schwer aushalten.

Anders als ihre ewig grausame Mutter hatte ihr Vater eine Art Gerechtigkeitssinn; er hat April nur mit der Hand geschlagen, er schlug auch nicht gern, es kam sogar vor, dass er sich danach entschuldigte. Trotz allem wünscht sie sich, dass ihr Vater sie auf seine Weise liebt.

April strauchelt durch ihr neues Leben als Erwachsene. Phasen der Verzweifelung wechseln sich mit Phasen eines ruhigen Glücks ab. Nicht alles ist schlecht in ihrem Leben, doch vieles ist durch ihre Kindheit verseucht worden. Ihre Eltern leben noch, doch sie sind ihr keine Unterstützung. Ihre Mutter ist Kellnerin und der Vater eine Art Lebenskünstler. Die Reise in das Erwachsenenleben muss sie alleine bewältigen und Angelika Klüssendorf lässt den Leser an dieser Reise teilnehmen. Es ist eine scheinbar hoffnungslose Reise, doch sie ist durchsetzt mit Glücksmomenten: April gelingt es einen Ausreiseantrag zu stellen, sie bewirbt sich an einem Literaturinstitut. Erst als sie die DDR verlässt, verlässt sie auch ihre Kindheit – aus dem Kobold, der Glück nicht lange festhalten kann, wird eine selbstbewusste Frau, die immer noch schwankt, doch plötzlich viel klarer ist. Sie verlässt eine Welt, die für sie reglementiert gewesen ist und betritt ein Schlaraffenland der Entscheidungsmöglichkeiten.

Sie hat das Gefühl, noch in der Kindheit verhaftet zu sein, ein Mädchen, das versucht, sich wie eine Frau zu verhalten, ohne die unsichtbare Grenze dazwischen zu überwinden.

Bei dem Versuch die Welt zu verstehen, wird die Literatur Aprils Gradmesser. Sie liest alles, was sie in die Hände bekommt: ihr Lieblingsroman ist der Graf von Monte Christo. Literatur wird zu ihrem wichtigsten Lebensinhalt, sie schreibt und liest, um sich von dem zu befreien, was gewesen ist. Es ist ein Zufall, der sie zur Herausgeberin einer kleinen Literaturzeitschrift macht. Und so habe ich April als Lebensgeschichte gelesen, die durchsetzt ist mit Fluchtgedanken und dem Bedürfnis nach Heimat. Mit der Suche nach Freiheit und der schon fast erdrückenden Hoffnungslosigkeit. Entstanden ist dabei ein bedrückender Roman mit großer Eindringlichkeit. Ganz sicherlich kein Lesevergnügen und doch konnte ich das Buch kaum aus der Hand legen.

Angelika Klüssendorf legt mit April einen fast schon seltsamen Entwicklungsroman vor, der voller Widersprüche ist: aus dem Mädchen, das ein Erwachsenenleben voller Hoffnungslosigkeit betritt, wird – trotz aller zwischenzeitlicher Rückschläge – mit der Zeit eine starke, junge Frau. Geschrieben ist der Roman schnörkellos und unprätentiös, das Leid ist in jedem Wort, in jedem Satz, in jeder Zeile greifbar und doch ist der Erzählton nüchtern, ja fast schon lakonisch erzählt. April ist ein trost- und hoffungsloser Roman, dem es gelingt,dann doch irgendwann  einen leisen Hoffnungsschimmer zu spenden: es ist die Hoffnung darauf, dass es trotz allem besser werden könnte.

Weitere Besprechungen gibt es hier, hier und hier.

Wir haben Raketen geangelt – Karen Köhler

Karen Köhler legt mit “Wir haben Raketen geangelt” einen Band voll von großartigen Erzählungen vor, denen es gelingt, das Grau des Alltags wegzukratzen und mit wunderschönen Worten und Gedanken zu ersetzen. Es sind Erzählungen, die berühren und bewegen – voller sprachlicher Finesse. Alle Erzählungen kreisen um die großen und bedeutsamen Themen des Lebens: den Tod, die Liebe, das Ohne-Einander-Weiterleben.

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Zeit ist ein Kaugummi, aus dem der Geschmack entwichen ist.

Es sind insgesamt neun Geschichten, die uns von Karen Köhler geschenkt werden. Die erste Geschichte, die den Titel Il Comandante trägt, sollte eigentlich beim Bachmannpreis gelesen werden – doch dann kamen Karen Köhler die Windpocken dazwischen. Wenn man anfängt, diese Geschichte zu lesen, wird einem klar, wie bedauerlich dies war: mit leichter Hand erzählt die Autorin von der Schwere des Lebens, von Krankheit, Tod und dem Versuch weiterzuleben. Il Comandante steht exemplarisch für die acht folgenden Geschichten, für Polarkreis und für Wild ist scheu, für Findling und für Familienportraits.

Wir fahren. Wir fahren mit Wind in den Fenstern. Wir fahren mit Musik in den Ohren. Wir sind zwei Delphine im Wasser. Einer davon fast blind. Wir könnten Helden sein. Nur für einen Tag. Ich, ich wäre der König. Und du, du wärst die Königin.

Alle neun Erzählungen kreisen um das, was Leben bedeutet: um das Leben miteinander und ohneeinander, um das Sterben und den Tod, um den Wunsch danach auszubrechen, um irgendwo anzukommen. In der Erzählung Cowboy und Indianer erzählt Karen Köhler die Geschichte von Katharina, es ist eine verschachtelte Geschichte. Katharina, die als Kind immer lieber Indianer sein wollte, strandet in der Wüste Amerikas und trifft dort auf einen waschechten Indianer. Er rettet ihr das Leben und schon kurz darauf, essen sie zusammen Doppelwhopper. Schicht für Schicht erfährt der Leser, was Katharina nach Amerika geführt hat, welcher Wunsch sie aus ihrem Alltagsleben getrieben hat – hinaus in die trockene Wüste.

Fauchend sausten die Raketen, von Sehnen gebändigt, mühsam in den Himmel und explodierten über unseren Köpfen. Wir haben Raketen geangelt. Das war letztes Silvester.

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Der Wunsch danach auszubrechen zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichten. Genauso wie das Reisen. Karen Köhlers Figuren reisen in die Ferne, um zu sich selbst zu finden: Polar verlässt sein Leben, zurück bleibt lediglich ein Zettel: Bin “Zigaretten holen”. Über München reist Polar nach Italien, legt sich eine Vespa zu und denkt über die wichtigen Fragen des Lebens nach. Andere verschlägt es auf Schiffe, in die Wüste oder auf Hochsitze. Dem Wunsch zu verschwinden liegt jedoch auch ein Bedürfnis zu Grunde: es ist ein Bedürfnis nach Antworten, nach Erklärungen.

Hingegangen bin ich nur wegen der Idee wegzukommen, mein Leben irgendwie von mir abzuschneiden. Ich wollte vergessen und so wenig denken wie mir möglich ist, aber jetzt hat das mit dem Denken wieder angefangen.

Die titelgebende Geschichte erzählt von Krassiwaja und Libero. Es ist die Geschichte einer Liebe, aber es ist auch eine wütende und traurige Geschichte, die davon erzählt, übrig zu bleiben, zurück zu bleiben.

Die Warum-ich-nicht-mit-Dir-zusammen-sein-kann Top 10: 1. Du besitzt nur ein einziges Buch. 2. Das Buch trägt den Titel “Excel for Dummies”. 

Karen Köhler erschafft ein Koordinatensystem des Schmerzes: immer wieder wird vom Schmerz erzählt, von körperlichen Schmerzen, aber auch von seelischem Leid. Von Erkrankungen und davon verlassen zu werden. Von Angst und Einsamkeit. Von Familien, die schon lange in alle Einzelteile zerbröselt und zerbröckelt sind. Wir haben Raketen geangelt ist dennoch keine schwere Lektüre, denn Karen Köhler gelingt es, so heiter und beschwingt zu erzählen, dass die graue Melancholie hinter all den bunten Worten verblasst. Sie erzählt von Schmerz und Leid, doch sie macht den Leser dabei offen für das, was dahinter liegen könnte – für das Weiterleben, für Dinge, für die es sich lohnt, weiterzuleben.

Dinge, die ich noch erleben will: jede Jahreszeit einmal. Schnee. Krieg und Frieden lesen. Gegen die Welt. Vor dem Fest.

Karen Köhlers Geschichten schlagen Krater in die Seele, doch beim Zuklappen der letzten Seite empfinde ich neben Melancholie, auch ein ganz zartes Glücksgefühl. Ich lache und weine gleichzeitig angesichts dieser wunderschön traurigen Geschichten, in denen jeder Satz stimmt, jedes Wort passt, in denen ich mich aufgehoben und zuhause fühle. Bei Karen Köhlers beeindruckendem Debüt als Autorin, darf jedoch nicht nur der Text und die Sprache erwähnt werden, denn auch die äußere Erscheinung des Erzählbandes ist wunderschön und wurde von der Autorin, die auch als Illustratorin arbeitet, eigenhändig gestaltet – ebenso liebevoll, wie sie all ihre Figuren gestaltet hat.

The Doors und Dostojewski – Susan Sontag

Susan Sontag, die 1933 geboren wurde und 2004 starb, wurde vor allem bekannt durch ihre zahlreichen Essays, sie arbeitete aber auch als Regisseurin und setzte sich als politische Aktivistin immer wieder für Menschenrechte ein. Unter dem Titel The Doors und Dostojewski wurde nun im Verlag Hoffmann & Campe ein Interview herausgegeben, das sie 1978 Jonathan Cott, einem Journalisten des Rolling Stone, gegeben hat.

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 Wenn ich zwischen den Doors und Dostojewski wählen müsste, dann würde ich – selbstverständlich – Dostojewski wählen. Aber muss ich denn wirklich wählen?

Susan Sontag ist eine Autorin, die ich vom Namen her natürlich kenne, von der ich bisher aber leider noch nie etwas gelesen habe. Ihre Tagebücher stehen bereits in meinem Regal, jedoch noch ungelesen. Gelesen habe ich bisher einzig und allein ein Buch über sie: die Auseinandersetzung ihres Sohnes David Rieff mit dem Tod seiner Mutter (Tod einer Untröstlichen). Als ich nun diesen schmalen Band in der Verlagsvorschau entdeckte, wusste ich sofort, dass ich The Doors und Dostojewski lesen muss.

Sie haben gesagt, dass wir der Literatur fast alles schulden, was wir sind und was wir gewesen sind. Wenn Bücher verschwinden, wird die Geschichte verschwinden, und die Menschen werden ebenfalls verschwinden. Ich bin sicher, dass Sie recht haben. Bücher sind nicht nur die beliebige Summe unserer Träume und unser Gedächtnis. Sie bieten uns auch das Vorbild für Selbsttranszendenz. Manche Leute halten Lesen bloß für eine Art von Flucht: eine Flucht aus der ‘wirklich’ Welt des Alltags in eine imaginäre Welt der Bücher. Bücher sind viel mehr. Sie sind eine Art und Weise, ganz und gar Mensch zu sein.

Jonathan Cott, der als Journalist für den Rolling Stone arbeitete und Susan Sontag bereits aus dem Studium kannte, führte das Interview 1978, kurz nach der überstandenen Krebserkrankung der Autorin. In der Zeitung selbst erschien damals nur ein Drittel des insgesamt zwölfstündigen Gesprächs, nun erscheint es auf Deutsch zum ersten Mal in voller Länge. Im lesenswerten Vorwort liefert Jonathan Cott einige Hintergründe zum Interview, das in Paris seinen Anfang nahm und in New York endete. Er erzählt von seinen Eindrücken und auch von seiner Begeisterung: “Anders als die meisten anderen Menschen, die ich interviewt habe […], redete Susan nicht in Sätzen, sondern in wohlüberlegten Absätzen.” 

Susan Sontag hatte viele Lebensthemen, die sie durchdachte und über die sie immer wieder schrieb: sie setzte sich mit der Fotografie auseinander (obwohl sie selbst nie als Fotografin tätig gewesen ist), schrieb über die Schwierigkeit der Interpretation, den Umgang mit Metaphern, ihre eigene Krebserkrankung und den Feminismus. Sie reiste nach Hanoi und Sarajevo und schrieb darüber. Entstanden ist dabei ein umfangreiches Lebenswerk – eine Vielzahl an Essays und Texten. Das Interview, das sie mit Jonathan Cott führte, bietet wunderbare Einsichten in all diese Ideen und Themen.

Ich denke über alles nach, was mir widerfährt. Nachdenken gehört zu den Dingen, mit denen ich mich beschäftige.

Dies sind einer der ersten Sätze dieses Buches und gemeinsam mit ihnen bin ich eingetaucht in dieses Gespräch, das sich wie eine Reise angefühlt hat. Es umspannt all ihre Lebensthemen, von der Fotografie, über die Philosophie, bis hin zur Krankheit als Metapher, zur Kunst und Literatur. Der Gesprächsfluss des Interviews treibt einen von Thema zu Thema, bietet bereichernde Einsichten und zeigt interessante Ideen auf – ich habe immer wieder Stellen markiert, an denen ich gerne weiterlesen, tiefer in die Thematik einsteigen würde. Es sind vor allem Susan Sontags Sätze zur Literatur die ich mir angestrichen habe.

Lesen ist meine Unterhaltung, meine Ablenkung, mein Trost, mein kleiner Suizid. Wenn ich die Welt nicht mehr ertrage, igle ich mich mit einem Buch ein, und dann bringt es mich von allem fort, wie ein kleines Raumschiff.

In ihrem Wunsch, die strikte Trennung zwischen Populär- und Hochkultur aufzuheben, habe ich mich ganz besonders wiedergefunden. Vielleicht ist diese Idee, die, die ich über dieses Interview hinausgehend am meisten festhalten möchte: warum sollte man sich für eines entscheiden? Warum darf man sich nicht für beides interessieren? Für die Doors und für Dostojewski? Warum kann es statt strikter Trennung nicht einen Pluralismus geben? Ebenso faszinierend sind ihre Gedanken zur Geschichte, auf die sie alles zurückführt und die sie auch in unserer heutigen Zeit immer noch fest verankert sieht.

Ich glaube ernsthaft an die Geschichte, und das ist etwas, woran heute kaum noch jemand glaubt. Das, was wir tun und denken, sind historische Errungenschaften. Ich habe nur sehr wenige Überzeugungen, aber dies ist gewiss einer meiner Grundsätze: dass beinahe alles, was wir für naturbedingt halten, geschichtlich ist und seine Wurzeln hat – besonders im späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert, dem sogenannten revolutionären Zeitalter der Romantik -, und wir beschäftigen uns im Wesentlichen immer noch mit Erwartungen und Gefühlen, die zu dieser Zeit formuliert wurden, den Vorstellungen von Glück, Individualität, radikalem sozialen Wandel und Genuss. 

Susan Sontags Rolling-Stone-Interview ist schlicht brillant. The Doors und Dostojewski ist eine faszinierende und inspirierende Lektüre, die mich auch nach dem Zuklappen der letzten Seite noch immer nicht loslässt. Es ist geeignet für Kenner von Susan Sontag, aber vor allem auch für den Einstieg in ein beeindruckendes Lebenswerk.

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