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Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund – Jayrôme C. Robinet

In den Programmen vieler Verlage und in den Regalen der meisten Buchhandlungen finden sich erschreckend wenig Bücher zum Thema trans, da gibt es einfach kaum etwas. Umso mehr freue ich mich nun darüber, dass es dieses Buch von  Jayrôme C. Robinet gibt – es ist im Frühjahr im Hanser Verlag erschienen und ich möchte es gerne allen ans Herz legen!

Heute also zum ersten Mal in die Männerumkleide. Ich atme tief durch. Was erwartet mich dort? Faust ins Gesicht, Kieferbruch? Bestimmt nicht. Oder doch? Werde ich auffliegen?

Jayrôme C. Robinet wurde 1977 in Frankreich geboren – er ist Lyriker, Spoken-Word-Künstler und Übersetzer. Er erhielt bereits zahlreiche Preise und Stipendien, promoviert und unterrichtet an der Alice Salomon Hochschule und lebt in Berlin. Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund ist seine Autobiographie – Jayrôme C. Robinet ist, genauso wie ich auch, ein trans Mann.

Er ist also ein Mann, dem bei der Geburt fälschlicherweise das weibliche Geschlecht zugewiesen wurde – seine Eltern gaben ihm damals einen weiblichen Namen, doch heute lebt er als Mann und unter dem Namen Jayrôme.

Frau Doktor, Geschlecht ist keine Diagnose. Keine standardisierte Praxis. Keine medizinische Notwendigkeit. Kein gängiges Problem. Keine bahnbrechende Uneindeutigkeit. Verstehen Sie? Frau Doktor, ja, ich bin glücklich, die Menschen, die mir nahestehen, unterstützen mich, meine Katze auch, mein Arzt hat sich Zeit genommen, um mir die Wirkung von Testosteron gründlich zu erklären. Ich habe es mir lange überlegt, und nun bin ich sicher.

Ich glaube, dass wahrscheinlich viele von euch mit dem Thema trans noch nie in Berührung gekommen sind. Viele haben vielleicht keine trans Menschen im näheren Umfeld. Vielleicht werden einige von euch aber eines Tages trans Menschen kennen lernen oder mit ihnen zusammen arbeiten – oder sie haben Kinder, die einen ähnlichen Weg gehen. Was ich nach meinem Coming-Out relativ schnell merkte: wie wenig meine Mitmenschen eigentlich wissen und aus wie vielen Klischees und Vorurteilen das wenige Wissen eigentlich besteht. Unwissenheit und Ängste können nur durch Begegnungen oder neue Erfahrungen abgebaut werden – deshalb finde ich dieses Buch so großartig und wichtig und möchte es euch auch gerne auf meinem Blog vorstellen.

Jayrôme C. Robinet wurde bei der Geburt das falsche Geschlecht zugewiesen – er wurde als Mädchen erzogen und obwohl ihm relativ früh klar war, dass er eigentlich ein Junge ist, konnte er diesen Wunsch nie wirklich artikulieren. Als junger Mann zieht er von Frankreich nach Berlin und schafft es dort – befreit von der Nähe zu seiner Familie und der Last fremder Vorstellungen – seinen Weg als trans Mann zu gehen. Er beginnt damit Testosteron zu nehmen und erlebt eine zweite Pubertät. Er bekommt einen dunklen Bart – und wird auf der Straße plötzlich auf Arabisch angesprochen. Von einem Moment auf den anderen erlebt er im Alltag ganz neue und unerwartete Schwierigkeiten: ob auf der Toilette, in der Umkleide oder bei der Passkontrolle, er verändert sich nicht nur selbst, sondern es verändert sich vor allem auch das Verhalten seiner Umwelt ihm gegenüber.

Liebe trans* Jugendliche, ich weiß, wie es ist, sich einsam zu fühlen. Ich hatte so viel Angst, nie geliebt zu werden, dass ich mir Liebe lange nicht gönnte. Geschweige denn das Glück. Wir dürfen lieben und geliebt werden. Ich bin nicht ein Mann, gefangen im Körper einer Frau, ich bin nicht ein Man im falschen Körper, ich bin ein Mann in diesem Körper.

Jayrôme C. Robinet hat ein – bei all der ernsten Thematik – sehr leichtes, sehr zugängliches, sehr unterhaltsames Buch geschrieben. Er stellt viele Fragen: Wie werde ich als Mann behandelt? Wie werde ich als Frau behandelt? Was macht überhaupt eine Frau zu einer Frau und einen Mann zu einem Mann? Und wie reagieren Menschen auf mich, wenn sich nicht nur das Aussehen verändert, sondern scheinbar auch die Herkunft? Er schreibt auch über seine Familie und seine Freunde, die er mit seinem Coming-Out als Mann alle überrascht hat und manche von ihnen auch überfordert. Genauso wie über die ganzen bürokratischen Hürden, die mit einer Transition verbunden sind und fasst das in einem Satz treffend zusammen: Eigentlich leide ich nicht an geschlechtlicher, sondern an bürokratischer Dysphorie.

Ich habe vor einigen Wochen allen Mut zusammen genommen und das Buch bei Brot & Bücher vorgestellt – einige der Kund*innen haben es danach sogar gekauft, andere haben mir Fragen gestellt, waren neugierig, interessiert und erstaunt. Ich glaube, für viele sind trans Menschen noch etwas Unbekanntes – und deshalb glaube ich, dass Bücher wie das von Jayrôme Robinet so unglaublich wichtig sind, weil sie Grenzen abbauen und Verständnis wecken können. Wer einen Eindruck davon bekommen möchte, wie kompliziert, schmerzhaft und erfüllend eine Transition sein kann, der sollte unbedingt dieses Buch lesen – bitte, bitte, bitte!

Jayrôme Robinet: Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund. Hanser Literaturverlag, 2019. 210 Seiten, 20€. 

Ein wenig Leben – Hanya Yanagihara

Wenn dieses Jahr ein Buch in aller Munde ist, dann ist es wohl Ein wenig Leben von Hanya Yanagihara. Es wird zahlreich gelesen, diskutiert und besprochen und auch ich konnte mich diesem Hype nicht entziehen und habe in den vergangenen zwei Wochen die 960 Seiten gelesen. Während ich andernorts von vielen Tränen und tiefer Berührung gelesen habe, ist dieser Effekt bei mir ausgeblieben – dabei weine ich eigentlich ausgesprochen gerne beim Lesen. Ich bin froh, dass ich Ein wenig Leben gelesen habe und einiges an dem Buch hat mir auch gefallen, vieles hat mich aber auch gestört. Davon möchte ich heute erzählen.

Man bekommt nicht die Familie, die man verdient.

Die Geschichte, die Hanya Yanagihara in Ein wenig Leben erzählt, ist schnell zusammengefasst: Jude, JB, Willem und Malcolm sind vier junge Männer, die sich am College kennenlernen, um dann gemeinsam nach New York zu ziehen und dort ihr Glück zu versuchen. Alle vier machen erfolgreich Karriere: Jude arbeitet in einer Kanzlei als hoch angesehener Anwalt, JB wird ein hipper Künstler, Willem ein bekannter Schauspieler und Malcolm arbeitet als Architekt. Die spannendste Geschichte der vier hat Jude St. Francis, der als Baby in einer Mülltonne gefunden wird und als Waisenkind erst im Kloster und später im Heim aufwächst. Auf dem Weg in sein Leben als Erwachsener erfährt er immer wieder körperlichen und sexuellen Missbrauch.

Als er sich mit JB, Willem und Malcolm anfreundet, sind diese Spuren des Missbrauchs immer noch sichtbar: Jude ist verschlossen und schweigt sich über seine Vergangenheit aus. Seine Freunde wissen fast nichts von dem, was ihm als Kind widerfahren ist. Aber wir als Leser werden in zahlreichen Rückblenden in seine dunkelsten Geheimnisse und schlimmsten Momente eingeweiht. Die Frage, wie ein Mensch solche Ereignisse überleben und verarbeiten kann und – vor allen Dingen – wie seine Mitmenschen helfen und unterstützen können, ist das zentrale Thema des Romans.

Seine Vergangenheit, seine Ängste, das, was ihm angetan wurde, das, was er sich selbst angetan hat – das sind Dinge, über die nur in Sprachen geredet werden kann, die er nicht beherrscht: Farsi, Urdu, Mandarin, Portugiesisch. Einmal hat er versucht, einige Dinge aufzuschreiben, weil er dachte, so sei es einfacher, doch das war es nicht – er weiß nicht, wie er sich selbst sein Leben erklären soll.

Was mir an dem Roman gut gefallen hat, war die Art und Weise, wie Hanya Yanagihara von Freundschaft und Hilfsbereitschaft erzählt. Es sind nicht nur die drei Freunde, die Jude unterstützen, sondern es gibt auch noch viele andere Menschen, die bedingungslos für ihn da sind: da ist Harold, sein Jura-Professor, der sich Jude annimmt und ihn durch das Leben begleitet. Da ist auch Andy, sein Arzt, der sich Tag und Nacht und weit über seine beruflichen Verpflichtungen hinaus um Jude kümmert. Gleichzeitig erzählt die Autorin aber auch von den Grenzen dieser Hilfsbereitschaft: wie sehr kann man versuchen, einen anderen Menschen am Leben zu halten? Wie sehr darf man das versuchen? Ebenso gut gefallen hat mir die Spannung des Romans – Hanya Yanagihara bindet Judes Vergangenheit immer wieder in Rückblenden in die Erzählung ein und der Leser kriegt davon Häppchen für Häppchen serviert. Es gab die eine oder andere Nacht, in der ich dringend weiterlesen musste, um endlich all die Geheimnisse von Jude herauszufinden. Ebenso beeindruckend werden die Spätfolgen des Missbrauchs geschildert, den Jude erleben musste und der ihn für sein ganzes restliches Leben geprägt hat – nicht nur seelisch, sondern auch körperlich.

Er weiß nicht, was er tun soll; er weiß nicht, was passieren wird. Er muss es herausfinden. Alles, was ihn das Leben gelehrt hat, sagt ihm, dass er das Weite suchen sollte; alles, was er sich im Leben wünscht, sagt ihm, dass er bleiben sollte. Sei mutig, sagt er sich. Sei einmal im Leben mutig.

Doch einiges hat mich im Laufe der Lektüre auch zunehmend gestört. Interessanterweise wirbt der Hanser Verlag selbst mit dem Slogan “Sie werden über dieses Buch sprechen wollen” und so ging es mir nach dem Lesen tatsächlich auch – ich würde gerne über das sprechen, was in meinen Augen ganz und gar nicht funktioniert hat oder auch einfach nicht plausibel ist.

Da ist zum einen die Figurenkonstellation: ich fing das Buch mit der Erwartung an, etwas über alle vier Freunde zu erfahren, doch Jude steht so sehr im Zentrum der Geschichte, dass ich beim Lesen das Gefühl hatte, dass Malcolm und JB schon fast von der Autorin vergessen worden sind oder sie schlicht das Interesse an ihnen verliert. Über Malcolm erfahre ich auf 960 Seiten so wenig, dass ich am Ende gar kein Bild von ihm vor Augen hatte. Ebenso störend empfand ich die Tatsache, dass Hanya Yanagihara ihre Figuren sehr schwarz-weiß zeichnet: die Guten sind alle unglaublich gut, hilfsbereit und liebevoll und die Bösen sind alle so böse, dass es manchmal nur schwer zu ertragen ist. Ähnlich erging es mir mit der Vergangenheit von Jude, der in seiner Kindheit von jedem Menschen, auf den er trifft, missbraucht wird. Die Schilderungen muten teilweise so übertrieben an, dass die Glaubwürdigkeit verloren geht. Der Roman ist eine einzige Übertreibung: Hanya Yanagihara erzählt von übertriebener Fürsorge, übertriebener Liebe, übertriebener Bösartigkeit und stellt dabei die Regler ein klein wenig zu hoch ein. Genauso übertrieben sind die Figuren gezeichnet, die natürlich alle wahnsinnig erfolgreich werden und unglaublich reich sind. Es kommt dabei zu solchen Verzerrungen, dass ich manchmal fast ausgestiegen bin: Jude wächst in einer Kindheit auf, in der er kaum regelmäßig zur Schule geht und wird dann doch ein erfolgreicher Anwalt, ein begabter Pianist und ein talentierter Bäcker – denn neben dem Studium muss er natürlich auch noch arbeiten. Das waren mir irgendwann das eine oder andere Klischee zu viel. Als ebenso störend habe ich die Tatsache empfunden, dass die Geschichte ein wenig im luftleeren Raum schwebt, da keinerlei historische Einordnung erfolgt. Die vier Freunde benutzen zwar Smartphones und Computer, ansonsten findet aber kein historisches Ereignis Erwähnung – da fühlt sich die Geschichte teilweise schon wie ein modernes Märchen an, das in einer ganz eigenen Welt spielt. Erwähnen muss ich abschließend auch noch die ständigen Wortwiederholungen: ich glaube, dass mir das Buch wesentlich besser gefallen hätte, wenn es um die Hälfte gekürzt worden wäre – ich habe irgendwann aufgehört zu zählen, wie häufig sich Jude schämt und wie oft er Es tut mir leid sagt.

Wir brauchten mehrere Tage, um ihn zu lesen, denn obwohl er nicht lang war, war er zugleich endlos, und wir mussten immer wieder die Seiten niederlegen und uns von ihnen entfernen, um uns dann gegenseitig zu wappnen – Bist du bereit? – uns hinzusetzen und ein weiteres Stück zu lesen.

Ich bin abschließend dennoch froh, dass ich dieses Buch gelesen habe und finde es interessant, dass so viele Menschen etwas darin finden, was sie bewegt und was ihnen etwas bedeutet. Ist das nicht eigentlich genau das, was Literatur bewirken sollte? Uns zum Sprechen bringen? Ich hätte mir sehr gewünscht, das Buch noch mehr mögen zu können, doch dazu haben mir die Schattierungen und Zwischentöne gefehlt. So bleibt Ein wenig Leben für mich eine gut lesbare und leicht rührselige Lektüre, die ich einfach nicht zur Seite legen konnte – nicht weil das Buch so gut gewesen ist, sondern weil es spannend war.

Hanya Yanagihara: Ein wenig Leben. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Stephan Kleiner. Hanser Literaturverlage, Januar 2017. 960 Seiten, €28. Weitere Rezensionen: Herr Booknerd, Klappentexterin, Literaturen.

Margos Spuren – John Green

Margos Spuren ist ein herrlich verrücktes, unterhaltsames und zugleich melancholisches Buch über ein verschwundenes Mädchen, einen verliebten Jungen und einen abenteuerlichen Road-Trip.

1470379192022“Von all den Hunderttausenden von Häusern in den Tausenden von Neubausiedlungen in ganz Florida wohnte ich ausgerechnet in dem Haus neben Margo Roth Spiegelman.”

Quentin ist schon als kleiner Junge in Margo, seine Nachbarin, verliebt. Für ihn ist sie das schönste und tollste Wesen auf Gottes Erden, sie ist mutig, impulsiv und vielleicht ein wenig all das, was Quentin nicht ist. Als beide neun Jahre alt sind, finden sie gemeinsam eine Leiche, einen Mann, der sich im Wald das Leben genommen hat. In der Nacht nach dem Leichenfund steht Margo am Fenster von Quentin, sie berichtet ihm, dass sie Nachforschungen angestellt hat und dass sie glaubt, dass der Mann sich das Leben genommen hat, weil alle Saiten in ihm gerissen sind. Jahre später, steht Margo wieder an seinem Fenster – ihre beste Freundin hat sie mit ihrem Freund betrogen und Margo überredet Quentin dazu, sie auf einen Rachefeldzug zu begleiten. In dieser Nacht hilft Quentin Margo dabei, sich an all denjenigen zu rächen, die ihr wehgetan haben.

Margo hat Rätsel immer geliebt. Und bei allem, was später passierte, wurde ich den Gedanken nicht los, dass sie Rätsel vielleicht so liebte, dass sie selbst zu einem wurde.

Am Tag nach dem Rachefeldzug verschwindet Margo spurlos. Es passiert nicht das erste Mal, dass sie wegrennt. Ihre Eltern sind den Dramen ihrer Tochter langsam überdrüssig, aber Quentin glaubt, dass er seine große Liebe finden muss. Margo hat bei ihrem Verschwinden geheimnisvolle Spuren hinterlassen. Doch sind diese Spuren wirklich für Quentin bestimmt? Möchte Margo von ihm gesucht und gefunden werden? Quentin überlegt nicht lange, was er möchte und macht sich auf die Suche nach den Spuren, die Margo hinterlassen hat. Schon bald ist er mittendrin in einer aufregenden Schnitzeljagd, immer auf der Suche nach der Margo, in die er sich vor vielen Jahren Hals über Kopf verliebt hat.

Doch als ich über das Gras und seine unterschiedlichen Deutungen nachdachte, musste ich an all die Bilder denken, die ich von Margo hatte, die richtigen und die falschen. Auch von Margo gab es viele Deutungen. Bisher wollte ich vor allem wissen, was aus ihr geworden war, doch jetzt, als ich versuchte die Vielfältigkeit von Whitmans Gras zu verstehen, den Geruch ihrer Decke in meiner Nase, wurde mir klar, dass die wichtigste Frage war, nach wem ich suchte. Wenn es auf die Frage ‘Was ist das Gras?’ so viele Antworten gab, dachte ich, musste es bei der Frage ‘Wer ist Margo Roth Spiegelman?’ erst recht so sein.

Ähnlich wie in Das Schicksal ist ein mieser Verräter hat John Green auch in Margos Spuren ein berührendes Porträt zweier junger Menschen geschaffen: Quentin ist ein sensibler Junge, der fast schon ein wenig zu erwachsen ist für sein Alter, und Margo ist die unerreichbare Schönheit. Auch wenn das ein wenig klingt wie ein Klischee, gelingt es John Green doch, aus diesen Zutaten eine zauberhafte, amüsante und berührende Geschichte zu kreieren. Neben Margo und Quentin ist es übrigens ein Gedichtband, der eine zentrale Rolle in diesem Buch spielt: die Grashalme von Walt Whitman. “Schraub die Schlösser von den Türen los! / Schraub die Türen selbst von ihren Pfosten los!” ist eine Zeile, die sich mir nach dem Lesen eingebrannt hat und John Green gelingt es ganz nebenbei, mir Lust auf einen Dichter zu machen, von dem ich zuvor noch nie etwas gelesen habe. An Margos Spuren hat mir nicht alles gefallen, manches ist tatsächlich etwas klischeehaft, etwas weit hergeholt, etwas unglaubwürdig. Für mich ist es immer ganz besonders wichtig, einer Geschichte glauben zu können und John Green übertreibt es leider stellenweise ein wenig mit seiner Phantasie. Auch das Ende hat sich ein wenig schal angefühlt für mich. Und doch ist der Kern des Buches so berührend wie einfach: ein Mensch ist einfach nur ein Mensch. Quentin hebt Margo aus der Ferne auf ein Podest, überstülpt sie mit Erwartungen, Wünschen und seiner eigenen Fantasievorstellung. Es ist kein Wunder, dass im Laufe des Buches sich immer stärker die Frage aufdrängt, wer Margo eigentlich wirklich ist.

Dazu kommt noch, dass wir anscheinend Schwierigkeiten haben zu akzeptieren, dass andere Leute auch nur ganz normale Menschen sind. Entweder wir verehren sie wie Götter oder wir verachten sie wie Tiere.

Alles in allem ist Margos Spuren ein lesenswertes Jugendbuch: es ist berührend, unterhaltsam und steckt voller wichtiger Fragen. Wer sind wir eigentlich und was sehen wir in anderen Menschen? Das ist große Erzählkunst mit ein paar wenigen Schwächen.

John Green: Margos Spuren. Übersetzt aus dem Amerikanischen von Sophie Zeitz, Hanser Literaturverlag, Juli 2015. 336 Seiten, €16,90. 

Annika Reich im Gespräch!

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Foto: © Hassiepen/Hanser. 

In diesem Frühjahr ist Annika Reichs neuer Roman Die Nächte auf ihrer Seite erschienen – ich habe das zum Anlass genommen, mich mit der Autorin auf der Leipziger Buchmesse zu treffen. Wir haben nicht nur über das neue Buch gesprochen, sondern auch über eine Absage von Michael Krüger und die Schattenseiten des Bloggens.

Du hast ursprünglich Ethnologie und Philosophie an der Freien Universität in Berlin studiert – wusstest du damals schon, dass du irgendwann mal schreiben möchtest?

Meinen ersten Roman habe ich schon mit fünfzehn geschrieben und mit neunzehn Jahren dann an alle großen Verleger geschickt. Ich hatte überhaupt keine Ahnung, wie das so läuft und hab das dann einfach mit einem selbstgemachten Cover und selbstgemaltem Briefpapier losgeschickt. Die erste Absage kam von Michael Krüger, eine ganze maschinengetippte Seite, auf der er schrieb, was das für ein grauenhaftes Buch sei. So habe ich das damals zumindest wahrgenommen. Eigentlich war das eine ganz tolle Replik auf mein Buch, er hatte sich damit jedenfalls wirklich auseinandergesetzt. Der letzte Satz war: „Wenn Sie wollen, rufen Sie mich mal an und erzählen Sie mir, wie Sie zu diesem Buch gekommen sind – das würde mich wirklich interessieren.“

Von dieser Absage hast du dich aber nicht abschrecken lassen und Ende Februar ist bereits dein viertes Buch „Die Nächte auf ihrer Seite“ erschienen. Wie lange hast du an dem Roman gearbeitet?

Drei Jahre lang. Mir kam es ewig lange vor, weil ich ein ganzes Jahr lang den Ton nicht gefunden habe. Ich habe geschrieben und geschrieben, wusste genau wie das Buch klingen sollte, aber es hat sich einfach nicht eingestellt. Der Ton kam nicht durch meine Finger auf das Papier. Das hat mich irrsinnig verunsichert, weil ich Angst hatte, ihn nie zu finden, obwohl ich ihn doch so deutlich hörte.

Das, was du über den Ton erzählst, finde ich sehr spannend. Wie kann ich mir den Schreibprozess bei dir überhaupt vorstellen? Bist du beim Schreiben immer ganz strukturiert oder folgst du einfach deiner Inspiration?

Ich bin überhaupt nicht strukturiert. Meistens habe ich eine Grundfrage, mit der ich in ein Romanprojekt hineinstarte, die so drängend und groß ist, dass ich sie mir nicht anders beantworten kann. Anschließend habe ich nicht die geringste Ahnung, wie ich diese Fragestellung in eine Geschichte fassen soll. Ich bin darauf angewiesen, dass Figuren zu mir kommen – das muss man wirklich so mystisch beschreiben – und diesen Figuren höre ich dann zu und lasse sie Dinge erleben. Eine ganze Zeit lang schreibe ich vollkommen im Blindflug. Irgendwann, wenn sich Figurenkonstellationen herausgebildet haben, baue ich dann das Buch auch stark. Im Nachhinein ist das Buch irrsinnig stark gebaut, im Verfahren ist es aber aus dem Blindflug geschöpft. Was für das Schreiberleben toll ist, weil man sich selbst so viele Überraschungen ermöglicht. Andererseits ist es aber auch eine verunsichernde Tätigkeit, da ich nie weiß, was als nächstes kommt und ob überhaupt etwas kommt.

In deinem neuen Roman, „Die Nächte auf ihrer Seite“, erzählst du auch vom arabischen Frühling. Wie kann ich mir deine Recherche für diese Passagen vorstellen?

Ich habe beim Schreiben ganz verschiedene Quellen herangezogen. Einmal habe ich viele Bücher gelesen, die zu diesem Thema veröffentlicht wurden, dann die gesammelten englischsprachigen Tweets – es wurde ja während der Revolution unheimlich viel getwittert – und  die Facebook-Seiten. Ich habe mir viele Filme dazu angesehen. Um die Stimmung in der Stadt einfangen zu können, waren diese Filme eigentlich am wichtigsten. Als ich das Buch geschrieben habe, fand in Berlin die Berlinale statt, und da gab es viele kleine Filmarbeiten, die sich mit dem arabischen Frühling beschäftigt haben.

Hast du auch mit Menschen gesprochen, die den arabischen Frühling erlebt haben?

Oh ja! Ich habe Steckbriefe verteilt und darauf meine Romanfigur Sira beschrieben. Auf den Steckbriefen stand:  „Wenn du eine junge Deutsch-Ägypterin bist, die 2011 zufällig auf dem Tahrir-Platz gelandet ist und die Revolution miterlebt hat, und danach wieder zurück nach Berlin gekommen bist, dann melde dich bei mir, ich schreibe einen Roman über dich. Du heißt Sira.“ Daraufhin haben sich tatsächlich fünf Frauen gemeldet, die mir dann in mehreren Gesprächen von ihren Erlebnissen erzählt haben. Das war wahnsinnig hilfreich: Sie haben mir von ihren Familien erzählt, davon wie es in der Stadt riecht, was im Radio läuft und wie man dort Taxi fährt. All das, was man sich auch aus Büchern und Filmen zusammenreimen kann, aber wenn man es dann hört, ist es doch etwas anderes.

Und bist du selbst auch mal in Kairo gewesen?

Ich wollte fahren, aber zu der Zeit gab es dort Bombenanschläge. Ich hätte alleine fahren müssen, spreche kein Arabisch und man hat mir abgeraten. Aber ich werde jetzt wahrscheinlich nach Kairo fahren und mir im Nachhinein noch einmal alles anschauen. So ist es eher eine Karl-May-Nummer.

Wir haben uns jetzt die ganze Zeit über dein neues Buch unterhalten, aber du bist ja nicht nur Autorin, sondern auch Bloggerin – du hast einen eigenen Blog und bloggst auch im Auftrag der FAZ. Wie kam es dazu?

Es gibt diesen Mythos, dass Frauen nicht politisch bloggen können. De facto gibt es wenige politische Frauen-Blogs. Dann hat die ZEIT einen neuen Blog aufgelegt, der 5 vor 8 heißt. Alte Helden erklären die Welt. Da haben wir, eine Gruppe von Autorinnen, gedacht: jetzt reicht’s! Wir gehen fünf Minuten vorher online und es schreiben nur Frauen. Das war der Impuls und jetzt machen wir das dreimal die Woche und der Blog wird von inzwischen mehr als hundert Autorinnen belebt. Ich finde das ganz toll, dass wir diese Plattform haben und dort ganz viele unterschiedliche Texte bringen können.

Was ist für dich das Besondere am Bloggen? Die Vorteile oder auch der Reiz? Und gibt es auch Schattenseiten?

Ein großer Vorteil ist es, mehr Zeit zu haben und damit mehr Freiheit. Wir müssen im Blog nicht aktuell sein. Wir können uns die Zeit nehmen, die wir brauchen und müssen nicht das bedienen, was der Tagesjournalismus bedienen muss. Das finde ich beim Bloggen einen großen Vorteil. Außerdem können wir Nischenthemen besetzen, wir können Texte aus Teilen der Welt bringen, die in unseren Medien unterrepräsentiert sind. Wir können also unsere eigenen Relevanzen setzen: wenn riesige Debatten im Feuilleton geführt werden, die wir nicht relevant finden, müssen wir dazu keine Stellung beziehen. Wir bringen dann lieber einen Brief einer Frau aus Odessa. Auch den Austausch innerhalb unserer Bloggergemeinschaft finde ich schön, wir arbeiten hoch produktiv und mit großem Spaß zusammen, und man lernt viele interessante Frauen kennen. Schwierig sind die Kommentare. Damit musste ich erst einmal umgehen lernen. Ich lebe in einem relativ freundlichen Umfeld und die Verachtung, die einem da teilweise entgegenschlägt, kenne ich nicht. Ein paar von uns können inzwischen sehr gut damit umgehen, ich kann es nicht.

Abschließend würde ich dich gerne nach deinem Geheimnis fragen: Du bist Bloggerin, Autorin, hast eine Gastdozentur an der Kunstakademie Düsseldorf und bist Mitarbeiterin von Katharina Grosse. Wie findest du die Zeit für all diese Tätigkeiten?

Ich habe wahrscheinlich das Talent, schnell umschalten zu können. Ich brauche keine Übergangszonen. Wenn ich am Roman schreibe, muss ich nicht erstmal einen Kaffee trinken, wenn ich danach einen Blogtext schreibe. Ich habe relativ wenig Metaebene – ich denke wenig darüber nach, ob das jetzt alles zu viel ist, sondern mache die Dinge eins nach dem anderen. Aber es ist trotzdem zu viel! Es ist zu viel, aber leider oder zum Glück alles so spannend, dass ich nicht wüsste, was davon wegfallen sollte. Wenn ich irgendetwas aufgeben müsste, dann wäre es niemals das literarische Schreiben.  Das müsste unbedingt bleiben.

Die Nächte auf ihrer Seite – Annika Reich

Annika Reich legt mit Die Nächte auf ihrer Seite einen klugen Roman vor, der uns vom Tahrir-Platz in Ägypten bis in einen Berliner Hinterhof führt. Der Roman ist einerseits getragen von Leichtigkeit, bohrt sich aber andererseits auch tief ins Hirn beim Lesen.

Annika Reich

Sie gehen in einem Abstand nebeneinander her, der sich weder verringert noch vergrößert. Bestriche man ihre Fußsohlen mit Farbe, wären zwei parallele Linien sichtbar.

Die Nächte auf ihrer Seite vereint zwei Erzählebenen: da gibt es Ada, die als Kamerafrau arbeitet und alleinerziehende Mutter ist. Sie lebt getrennt von ihrem Mann Farid, der einen Feinkostenladen betreibt. Ihrer Tochter Fanny wird sie nicht gerecht – zumindest überkommt sie immer wieder das Gefühl, keine gute Mutter zu sein. Sie hadert damit, dass sie eine Mutter mit Unterbrechungen ist. Bei ihrem aktuellen Projekt arbeitet sie mit dem experimentellen Regisseur Olaf zusammen. Gemeinsam besuchen sie ihre Familien und filmen den Alltag der eigenen Eltern. Ein seltsames Vorhaben, das an Schlingensief erinnert und ziemlich avantgardistisch klingt. Ada lebt ein Leben, in dem sie nie wirklich angekommen ist. Um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, muss sie Tätigkeiten nachgehen, die sie eigentlich nie machen wollte. Sie hat Affären und Liebhaber, doch all das ist mit so viel Heimlichkeit belegt, dass keiner ihrer Männer zu einem wirklichen Bestandteil ihres Lebens werden kann. Auf Farids wechselnde Freundinnen ist sie immer noch fürchterlich eifersüchtig. Als er ihr gesteht, dass er wieder Vater wird, kauft sie sich erst einmal einen Schnaps. Statt Leidenschaft herrscht bei Ada eine gewisse Starre und Trägheit, als würde sie sich im Wartemodus befinden, während sie anderen hinter ihrer Kamera beim Leben zuschaut.

Es war nicht leicht, eine Mutter mit Unterbrechungen zu sein. Farid war mit seiner Rolle als Vater verschmolzen, aber sie nicht, bei ihr dauerte es immer eine Weile, bis sie wieder in ihre Rolle fand. Manchmal wunderte sie sich sogar, überhaupt eine Mutter zu sein.

Die zweite Erzählebene zeigt Sira, die sich hinaus wagt in die Welt: im Januar 2011 besucht sie ihre Familie in Kairo. Sie ist in Deutschland aufgewachsen, doch ihre Eltern kommen aus Ägypten. Während sie sich zunächst noch fremd und wie eine Touristin fühlt, überrollen sie die Ereignisse rund um die Revolution auf dem Tharir-Platz. Gemeinsam mit ihrer Cousine ist sie mitten drin im Getümmel und ist plötzlich bereit, für eine nationale Identität zu sterben, die sie in Deutschland mühevoll abgelegt hatte, um nicht mehr als Ausländerin aufzufallen. Die Revolution verändert Sira, die Gefühle prägen sie und während sie sich zuvor immer in Ägypten fremd gefühlt hat, fühlt sie sich plötzlich nicht mehr in Kreuzberg zu Hause. Wie kann man dort dem alltäglichen Leben nachgehen, wenn man erlebt hat, was sie erlebt hat? Wo gehört sie eigentlich hin? Wo ist sie zu Hause?

Sie liefen durch die schwere, lackierte Tür des Vorderhauses, querten in unterschiedlichen Gangarten den Hof, verschwanden im Hinterhaus und kehrten eine Stunde später wieder zurück – immer im Kreis von morgens bis abends. Ein Reigen aus Tripplerinnen und Trottern, und alle heulten sie den Mond an. 

Neben diesen beiden Erzählsträngen gibt es noch zwei weitere Handlungsebenen: zum einen flicht Annika Reich die Tagebucheinträge von Fanny in die Erzählung mit ein. Das Mädchen wünscht sich, sie könnte die Trennung der Eltern rückgängig machen, ungeschehen. Ein geteiltes Leben zwischen Vater und Mutter ist nicht immer einfach. Zum anderen betätigt sich Ada als Beobachterin und filmt mit ihrer Kamera Menschen, die auf dem Weg zu einem Paartherapeuten durch ihren Innenhof laufen. Annika Reich hält in kurzen Miniaturen die Tripplerinnen und Trotter fest, die mit ganz unterschiedlichen Ängsten und Hoffnungen tagtäglich den Hinterhof durchqueren. Im Roman werden diese kurzen Miniaturen als Reigen betitelt – in Anlehnung an Schnitzler.

Den Mauerfall hatten sie vor dem Fernseher erlebt. Ihre Mutter und sie hatten geweint, wie sie bei allen Filmen weinten, die sich plötzlich doch noch zum Guten wendeten. Und ihr Vater hatte von einem historischen Moment gesprochen, den sie niemals vergessen würden. Doch kaum waren ein paar Wochen vergangen, hatten sie ihn schon so gut wie vergessen. Zum Tag der deutschen Einheit waren sie dann in den Zirkus gegangen. Einen solch historischen Tag müsse man feiern, hatte ihr Vater gesagt. Geändert hatte sich nichts für sie. Vielleicht kam sie sich deswegen Menschen wie Regina und ihrer Familie gegenüber immer so naiv vor, weil die eine Geschichte hatten und sie nur ein Leben.

Die Nächte auf ihrer Seite setzt sich aus vielen Versatzstücken zusammen, die ein stimmiges Ganzes ergeben. Im Mittelpunkt stehen Ada und Sira, die beide verzweifelt ihren Platz im Leben suchen. Ein zentrales Element ist auch die Liebe, es ist sicherlich kein Zufall, dass Ada Menschen filmt, die eine Eheberatung aufsuchen – ist ihre eigene Ehe doch gescheitert. Während Sira eine neue Identität in den Wirren der Revolution findet, fühlt sich Ada seltsam abgeschnitten vom Weltgeschehen. Sie gehört nirgendwo so richtig dazu, nicht einmal die Wende hat sie wirklich miterlebt. Annika Reich erzählt das alles mit einer ungeheuren Leichtigkeit, die doch irgendwann beginnt schwer zu werden. Ada und Sira wirken so festgefahren und still gefroren: ich hätte mir manchmal gewünscht, den Roman betreten zu können, um die Figuren an die Hand zu nehmen oder sie zu schütteln. Es geht nicht allein um die Frage, wie man leben und lieben kann, es geht dann doch irgendwie um so viel mehr: um die eigene Geschichte, die eigene Identität, die Verbindung zu den Eltern und wie man in all diesem Gewirr heutzutage noch einen Platz finden kann, an dem man sich zu Hause fühlt. Am besten gefallen hat mir aus diesem Grund auch das etwas seltsame Filmprojekt, in dessen Rahmen Annika Reichs Figuren ihre Eltern besuchen – dabei entstehen bedrückende und eindrückliche Szenen, die mir noch lange im Gedächtnis geblieben sind.

Annika Reich legt mit Die Nächte auf ihrer Seite einen lesenswerten und poetischen Roman vor, dem es gelingt Inhalt und Form auf eine spielerische Art und Weise zu verbinden.

Annika Reich: Die Nächte auf ihrer Seite. Roman. Hanser Verlag, München 2015. 224 Seiten, €18,90. Weitere Rezensionen gibt es hier: im Bücherwurmloch, bei der Bibliophilin und auf Literaturen.

Verlosung Annika ReichWer jetzt neugierig geworden ist, der hat die Chance, ein Exemplar vom Die Nächte auf ihrer Seite zu gewinnen. Hinterlasst mir einfach bis zum 15.6. um 24 Uhr einen Kommentar oder schreibt mir eine E-Mail an mara.giese@buzzaldrins.de. Viel Glück!

Virtuelle Verlagsführung

Als kurz vor Weihnachten die Einladung zum Bloggertag beim Hanser Verlag hier eintrudelte, wusste ich sofort, dass ich dazu nicht würde nein sagen können. Bereits vor etwas mehr als einem halben Jahr war ich in dieser ganz besonderen Villa zu Gast und habe meinen Aufenthalt damals sehr genossen.

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Nicht nur ich habe mich dazu entschieden, die Reise nach München anzutreten, sondern noch zehn weitere Blogger und Bloggerinnen – wobei die Männer (natürlich) eindeutig in der Minderheit gewesen sind. Unser Besuch beim Hanser Verlag erstreckte sich über zwei Tage und wurde mit einem Abendessen in den Verlagsräumen eingeläutet. Wir haben am Donnerstagabend jedoch nicht nur gegessen, geschnackt und getrunken, sondern sind auch noch in den Genuss einer wunderbaren Lesung gekommen. Annika Reich hat aus ihrem neuen Roman Die Nächte auf ihrer Seite gelesen und hat mich dabei nicht nur wahnsinnig neugierig auf das Buch gemacht, sondern uns auch noch ziemlich viel aus dem Leben einer Schriftstellerin erzählt. Einer Schriftstellerin, die übrigens nicht nur schreibt, sondern auch bloggt: auf ihrer eigenen Homepage, aber auch für die FAZ.

Der nächste Tag bot dann ein proppenvolles Programm und die allesamt großartigen Verlagsmitarbeiter (mit Florian Kessler war sogar ein ganz neuer Verlagsmitarbeiter bereits vor Ort) haben uns dabei nicht nur neugierig auf das neue Frühjahrsprogramm gemacht, sondern auch spannende Einblicke in die Arbeitsabläufe in den Abteilungen Cover und Herstellung gegeben. Peter Hassiepen, der bei Hanser für die Covergestaltung zuständig ist, erzählte davon, dass es Cover gibt, bei denen er bis zu achtzehn Entwürfe vorlegen muss, bevor der Verlag zufrieden ist. Bei diesem Prozess geht es jedoch nicht nur um die Meinung des Verlags, sondern auch um die des Autors, der Marketingabteilung, der Buchhändler und der Vertreter. Wenn  ein Cover bei Vertretern durchfällt, dann muss sich Peter Hassiepen schnell etwas anderes überlegen …

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Das große Highlight war für mich jedoch die Führung durch den Verlag – vieles kam mir zwar bereits bekannt vor, aber es war einfach erneut ein wunderbar erhabenes Gefühl, durch die Verlagsräume zu streifen: wahrlich ein Traum aus Büchern, Büchern, Büchern. Wenn dann alle Blogger zeitgleich ihre Kameras aufgrund meterhoher Bücherregale zückten, fühlte ich mich schon fast wie im Museum. Es war auch interessant zu sehen, dass sich – trotz voranschreitender Digitalisierung – auf dem Schreibtisch des Verlegers Jo Lendle immer noch ziemlich hohe Papierberge türmen.  Ich hoffe, mithilfe der Bilder kann ich euch zumindest ein ganz klein bisschen an meinen Eindrücken teilhaben lassen – sozusagen eine virtuelle Verlagsführung.

Als dieser aufregende und spannende Tag langsam zu Ende geht, wird mir noch einmal deutlich, dass sich in den vergangenen Monaten und Jahren nicht nur der Diskurs über Bücher verändert hat, sondern auch die Wahrnehmung unserer Literaturblogs. Wir wurden von unheimlich freundlichen, interessierten und aufgeschlossenen Verlagsmitarbeitern willkommen geheißen – ich habe das als eine wunderbare Wertschätzung empfunden. Hanser führt seit Jahren einen intensiven Austausch mit dem Feuilleton und den klassischen Journalisten, für den Austausch mit Bloggern dagegen gibt es erst wenige Erfahrungswerte – doch es ist deutlich geworden, dass der Verlag offen dafür ist, auch mit Bloggern zu kommunizieren und zusammenzuarbeiten. An einer Stelle wurden Blogs von Jo Lendle als neues Feld bezeichnet, bei dem unklar ist, wo die Entwicklung hingehen wird. Doch das Potential, das er bei Blogs sieht, ist die Tatsache, dass sie ganz andere Möglichkeiten haben, als das Feuilleton und diese Möglichkeiten ausgeschöpft werden sollten. Das glaube ich auch und bin selbst ganz gespannt, welche Entwicklung Literaturblogs in den kommenden Wochen, Monaten und Jahren noch nehmen werden. Die schönsten Worte zum Abschluss dieses großartigen Tages hat wohl Christina Knecht gefunden, die uns den Satz “Keep on reading” mit auf den Weg gab und den Hinweis darauf, uns unsere Unabhängigkeit zu bewahren und uns auch nicht von einem lieben Hanser Verlag instrumentalisieren zu lassen.

Mitgebracht habe ich jedoch nicht nur ganz viele Fotos, sondern auch ein kleines Trostpflaster für all diejenigen, die nicht dabei gewesen sind: Hart auf Hart, den neuen Roman von T.C. Boyle. Ich verlose ein Exemplar des Buches unter all denjenigen, die diesen Beitrag bis zum 23.1.2015 kommentieren. Viel Glück!

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Jo Lendle im Gespräch!

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© Julia Zimmermann

Seit Anfang diesen Jahres ist Jo Lendle Verleger des Hanser Verlags, doch nicht nur das: er schreibt auch selbst. Seinen Roman Was wir Liebe nennen habe ich bereits besprochen. All das war Grund genug, mich mal mit ihm über die Arbeit eines Verlegers, Lektorenausbildungsgänge und die Bedeutung von Literaturblogs zu unterhalten.

Sie haben Kulturwissenschaft studiert und sind Absolvent des Deutschen Literaturinstituts in Leipzig. Was hat Sie in die Verlagsbranche geführt?

Ich habe durch die Erfahrung, eine Literaturzeitschrift herauszugeben, festgestellt, was für einen großen Spaß man beim Kuratieren und Programmmachen haben kann. Ich habe in beiden Studiengängen viel an halbfertigen Texten gearbeitet und gemerkt, wie hilfreich das ist – erstens, weil es mir Spaß macht, zweitens aber auch, weil es den Texten wirklich hilft. Das ist ja ein kleines Geheimnis, man redet beim Buchmachen nie viel über die Arbeit des Lektorierens. Diese beiden Dinge, das Arbeiten am Text mit den Autoren, aber auch das Komponieren eines Programms, haben mir so eingeleuchtet, dass ich dachte, das wäre doch ein schöner Beruf.

Gab es dann einen Moment, in dem Sie wussten, dass aus Ihnen mal ein Lektor werden kann?

Das begann mit einem Praktikum im Gustav-Kiepenheuer-Verlag in Leipzig. Ich bekam vom damaligen Lektor Thorsten Ahrend ein Manuskript auf den Tisch gelegt, verbunden mit der Aufgabe, daraus ein Buch zu machen. Es war insofern ein irrsinnig glücklicher Umstand, als es ein sehr unfertiges Manuskript war, eher eine Materialsammlung, in dem sich aber wirklich brillante Abschnitte fanden. Daneben aber auch viele angesammelte Gelegenheitsgedanken. Eigentlich müsste man dieses Manuskript zur Grundlage eines Lektorenausbildungsganges machen. Es gibt Manuskripte, in denen sollte ein Lektor nicht mehr rumrühren. Das Lektorieren ist ja keine Aufgabe um ihrer selbst willen. Aber es gibt eben auch Texte, bei denen der neutrale, naive und ungetrübte Blick von außen in einer ganz grundsätzlichen strukturierenden und ordnenden Art und Weise hilfreich sein kann. Das Manuskript lag vor mir und ich wusste erst gar nicht, was ich damit machen soll. Ich bin immer wieder zu Thorsten Ahrend hingegangen und habe gefragt, ob ich das jetzt wirklich so machen kann, wie ich es machen würde. Da hat er gesagt: Ja, ja – mach mal. Als Leser, der ich war, hatte ich zunächst eine unheimliche Ehrfurcht. Dann aber habe ich das Manuskript fröhlich auf die Hälfte zusammengestrichen und mich als beginnender Lektor über den kräftiger werdenden Text gefreut. Den Autor haben die Vorschläge zum Glück überzeugt.

Heutzutage arbeiten Sie nicht mehr als Lektor, sondern als Verleger. Wie kann man sich  Ihre Arbeit als Verleger vorstellen – wie sieht Ihr Tagesablauf aus?

Das ist jetzt natürlich ein bisschen anders. Ich war lange Lektor, aber im Moment gibt es diese Textarbeit nicht mehr. Jetzt ist es eher eine strukturierende Arbeit. Der Hanser Verlag besteht eigentlich aus mehreren Verlagen, das ist der belletristische Verlag und der Kinder- und Jugendbuchverlag in München, das sind die Verlage in Wien, Zürich und Berlin: Nagel & Kimche, Zsolnay & Deuticke und Hanser Berlin. Da gibt es verschiedene Programme mitzuentwickeln, gegeneinander zu akzentuieren. Ich muss mir Gedanken machen, wie die Bücher jeweils vorgestellt werden. Jetzt in meiner Anfangszeit gibt es ungeheuer viel, das ich zunächst einmal von der Logik der spezifischen Eigenheiten der Verlage verstehen muss. Ich muss alles einmal gegen das Licht halten und überlegen: Stimmt das genauso oder dreht man da dran. Stellt man vielleicht auch mal Dinge in Frage? Das ist im Augenblick die ganz bestimmende Tätigkeit. Einmal die jeweils nächsten Programme zu durchdenken und dann aber auch den Verlag als Ganzes zu durchdenken. Das wird die ersten zwei Jahre sicherlich einen großen Teil meiner Arbeit ausmachen.

Fehlt Ihnen bei all der Organisation und Strukturierung auch die Arbeit am Text?

Ich war sehr lange Lektor und fand das immer den schönsten denkbaren Beruf. Seitdem ich seit vier Jahren als verlegerischer Geschäftsführer arbeite, macht es mir Freude, die Dinge, die ich in der Textarbeit gelernt habe, auf den Verlag zu übertragen. Textarbeit bedeutet im Wesentlichen, eine Balance zu finden zwischen dem Kleinklein der Detailarbeit auf Satzebene und der großen strukturierenden Gespräche darüber, was dieses Manuskript als Ganzes eigentlich will. Überspitzt formuliert: Was ist ein Verlag und was ist Literatur in einer Zeit, die komplett im Umbruch ist und welche Farbe soll das Lesebändchen von diesem oder jenem Buch haben. Dazwischen ist ein großes Feld.

Zuvor haben sie in Köln beim DuMont Verlag gearbeitet – was sind die größten Unterschiede zwischen beiden Verlagshäusern?

Es gibt äußerliche Unterschiede: Der Hanser Verlag ist in der Literatur eine Ikone, er hat sicherlich das Lesen von uns allen sehr geprägt. Bei DuMont haben wir erst 1998 mit der Literatur angefangen. Das heißt, dort war alles Aufbau und nicht so ein gewachsenes Programm, mit so einer großen stolzen Schar wichtiger Hausautoren, wie man das bei Hanser findet. Da mussten wir vieles entdecken. Diese Unterschiede gibt es nach wie vor, so dass ich meine Entdeckungslust auf jeden Fall mit zu Hanser nehmen möchte. Dann gibt es auch in der Struktur des Hauses einen großen Unterschied: Bei DuMont konnten wir im Grunde alles auf Zurufbasis regeln, es war überschaubarer, die Kommunikation direkter. Jetzt sitzen wir eben an vier verschiedenen Orten, da nimmt der organisierende Teil der Arbeit zu.

Jeder Verleger hat seine ganz eigene Handschrift, was zeichnet Ihre Handschrift aus?

Es gibt diese Handschriften und sie sind essentiell, aber über die eigene Handschrift soll und kann man kaum sprechen. Das ist etwas für Graphologen.

In der Literaturblogwelt wird immer wieder die Frage diskutiert, welchen Stellenwert Literaturblogs haben – auch im Verhältnis zum Feuilleton. Wie betrachten Sie als Verleger das Phänomen der Literaturblogs?

Es ist im Augenblick tatsächlich interessant zu sehen, wie sich das Gespräch über Literatur verändert. Eigentlich sind das zweierlei Geschichten: Zum einen entwickeln sich neue Kategorien in der Auseinandersetzung mit Büchern, zum anderen entwickelt sich eine neue Form von Öffentlichkeit. Es gibt also eine andere Form von Wahrnehmungserzeugung. Letzteres interessiert mich tatsächlich auch aus der Praxis des Büchermachens, denn wir merken, dass der Hebel des klassischen Feuilletons kürzer geworden ist und sich die Wirkung im Gespräch über Bücher verändert. Da es jetzt in den Blogs interessante Felder gibt, beziehen wir das einfach mit ein in unsere Öffentlichkeitsarbeit und in unseren Austausch. Wir reden mit unseren Autoren darüber, wie die in diese Gespräche einsteigen können und steigen dort auch selber als Verlag ein. Wir ziehen gemeinsam mit der ZEIT gerade etwas auf, das ein Ort werden soll, an dem über Literatur gesprochen werden kann: Freitext. Dabei stellen wir fest, dass sich das Gespräch über Bücher verändert: In der klassischen Feuilletonrezension ist der Austausch eher überindividuell. Es gibt dort ein eher allgemeines Sprechen, während das Sprechen im Blog vom individuellen Leseerlebnis ausgeht. Das ist etwas, das den klassischen Rezensenten eher zum Naserümpfen bringt, auch wenn es in den gelungenen Fällen nicht weniger Daseinsberechtigung hat.

Die Literaturblogs gehören – wenn man so will – einer neuen Generation an, ähnlich wie E-Reader und das gemeinsame Social Reading auf Plattformen wie Lovelybooks im Netz. Verfolgen Sie die digitale Entwicklung des Lesens?

Ich verfolge diese Entwicklung sehr, ich verfolge nicht jedes einzelne Medium, aber die Tatsache, dass Lesen nicht mehr ausschließlich das zurückgezogene, einsame, monadische Tun ist, sondern Teil eines Austausches, das interessiert mich. Ich weiß, dass ich mich manchmal, vor allem, wenn ich von einem Text besonders überzeugt bin, gerne zurückziehe und einfach nur mit dem Text alleine eine monadische Kugel bilde. Ich weiß aber auch, dass mich diese neuen Formen, in ein andauerndes und vibrierendes Gespräch über Literatur zu kommen, sehr reizen.

Verknüpfen Sie mit dieser Entwicklung also Erwartungen und keine Befürchtungen für Verlage oder auch Buchhandlungen?

In diesen neuen Gesprächsformen sehe ich erst einmal reizvolle Möglichkeiten. Dass diese sich auf der Grundlage eines allmählichen Verschwindens von anderem entwickeln, macht mir natürlich Sorgen. Ich bin ein großer Anhänger des deutschsprachigen Feuilletons und fände es entsetzlich, wenn dort etwas wegbrechen würde, das Niveau der Auseinandersetzung ist im weltweiten Vergleich außergewöhnlich hoch. So sehr ich einzelne Blogs schätze, ist dies natürlich ein Feld, aus dem auch ungebremste Plauderei auf uns einbricht. Ein klassischer, gut ausgebildeter Feuilletonredakteur macht vieles nicht mit, weil er weiß, dass er etwas ewiger denken muss, als nur so in den aktuellen Nachmittag hinein.

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