Browsing Tag

hanser verlag

Finn-Ole Heinrich im Gespräch!

Finn-Ole Heinrich wurde 1982 bei Hamburg geboren, ging in Cuxhaven zur Schule und ist mittlerweile virtueller Stadtschreiber in Oldenburg. Darüber hinaus hat er natürlich noch so viel mehr gemacht: als Autor debütierte er mit 23 Jahren und hat seitdem zahlreiche Bücher veröffentlicht. Hier vorgestellt wurden Räuberhände und die drei Bände der Maulina-Schmitt-ReiheIch hatte das große Glück, dass der Autor mir meine zahlreichen Fragen beantwortet hat …019_HeinrichHenning-7349_300dpi_Druck

© Denise Henning, 2013

In diesen Wochen ist der dritte und letzte Teil der Reihe rund um deine Heldin Maulina Schmitt erschienen. Was fühlst du, wenn du an Maulina denkst?

Verbundenheit. Maulina ist mir sehr ans Herz gewachsen, ich mag diesen kleinen Menschen, den ich da kennen gelernt habe. Ich hatte eine sehr schwere und anstrengende Zeit mit ihr, aber ich habe sie immer sehr gemocht und ich war froh, sie begleiten zu dürfen. Was mir gerade auffällt, da ich in der Vergangenheit von ihr schreibe: ich begleite sie nicht länger. Habe aufgehört, ihr beim Werden zuzusehen.

Ich habe ja noch sehr viel mit ihr zu tun: lese viel aus unseren drei Büchern, arbeite an einer Adaption für ein Theaterstück, spiele selbst Maulina auf der Bühne, sie ist noch sehr präsent in meinem Alltag, deshalb vermisse ich sie nicht. Aber ich denke sie nicht weiter.

Maulina hat dich nun über einige Jahre hinweg begleitet. Weißt du noch, wann du zum ersten Mal an sie gedacht hast?

Ganz genau weiß ich das nicht mehr. Ich erinnere mich eher an einen Zeitraum, an die Umstände und Begebenheiten in meinem Leben, unter denen Maulina geschlüpft ist. Welche Ideen sich da vermischt haben. Ich erinnere mich aber noch genau, wie ich meiner damaligen Freundin zum ersten Mal von Maulina erzählt habe. Da hatte ich noch etwas ganz anderes mit ihr vor, wollte eine Kurzgeschichtenreihe über ein sechsjähriges Maulmonstermädchen machen.

Und wie geschieht das überhaupt – finden die Figuren deiner Bücher auf verschlungenen Wegen zu dir oder lässt du Buchfiguren entstehen?

Ich hab da kein Rezept. Maulina ist auf jeden Fall zu mir gekommen, ich habe sie nicht planvoll entworfen, weil ich sie für irgendwas brauchte. Sie hat sich ergeben und als sie da war, habe ich gleich gesehen, dass ich mit ihr etwas anfangen konnte, es hat mir Spaß gemacht, mit ihr rumzudenken an verschiedenen Ecken und Enden. Auch wenn ich sie damals noch kaum kannte.

Maulina muss in ihren jungen Jahren viel ertragen, nicht nur die Trennung der Eltern, sondern auch die schwere Erkrankung der Mutter. Ich stelle es mir schmerzhaft vor, all dies einem kleinen Kind aufzubürden. Woher wusstest du, dass Maulina stark genug dafür ist, dies zu ertragen?

Das wusste ich nicht. Nicht wirklich, ich kannte sie am Anfang gar nicht so wirklich, muss ich sagen. Ich habe sie beim Schreiben erst wirklich kennen gelernt, als ich ihr dabei zusah, wie sie mit diesem ganzen Mist umgegangen ist. Ich hatte aber gleich so ein Zutrauen. Maulina war gleich so voller Kraft und Ideen. Es hat Spaß gemacht, sich Quatsch mit ihr auszudenken und als ich dann anfing, mit ihr Kompliziertes und Schweres anzuprobieren, merkte ich, dass das eben auch ging.

Wichtig ist auch: ich wollte es ja so, wollte so eine Geschichte erzählen. Eine, in der die Heldin nicht zerbricht an der Schrecklichkeit des Lebens. Ich wollte eine Geschichte, die so hart wie eben nötig ist, um alle Tiefen auszuloten und über deren Ende hinweg man als Leser trotz all der Scheiße weiterdenken mag.

Davon hängt ja schon viel ab: ich entwerfe, ich gestalte und erzähle und behaupte diese Welt. Ich erhalte die Erzählung aufrecht. Die Erzählung von Maulina Schmitt, die so viel Kraft und Lebensfreude hat, dass selbst diese schlimme Geschichte, die ihr alles abverlangt, sie nicht zu Boden ringt.

Die Frage ist natürlich klischeehaft, ich stelle sie aber trotzdem: wieviel von dir steckt in Maulinas Wut, ihren Fragen und ihrer Geschichte?

Weiß nicht, klischeehaft? Vielleicht eher: unwichtig. Und schwer zu messen. Was soll ich da jetzt sagen? Soundsoviel Prozent? Drei Kilo selbstgemachte Erfahrungen, sechs Erinnerungen, vier Zentimeter aufgeschnappte Ideen und sechs Pfund Sitzfleisch?

Das Schöne an Maulinas Geschichte ist für mein Empfinden, dass ich trotz aller Tragik auch lachen und schmunzeln konnte. Ist dir das wichtig gewesen, dass es in dieser Geschichte auch Humor und Leichtigkeit gibt?

Naja, logisch. Wäre doch sonst unerträglich. Es ist außerdem oft so, dass es erst so richtig knallt, wenn du grad noch derbe gelacht hast. Du spürst den Unterschied noch klarer. Tragisches wird durch Komisches noch tragischer und umgekehrt.

Deine Bücher wirken äußerlich wie Kinderbücher, ich kann mich in ihnen aber auch als Erwachsene verlieren. Hattest du von Anfang an im Kopf, diese Grenze zwischen der Welt der Erwachsenen und Kinder aufzuweichen oder hat sich das zufällig ergeben

Freut mich, das zu hören. Sehr sogar. Denn ja, das kann man so sagen. Es war ein Ziel, auf genau dieser Linie zu balancieren. Ein Kinderbuch für Erwachsene zu machen, das auch Kinder gern in die Hand nehmen. Und über das Kinder und Erwachsene sich gut unterhalten und hoffentlich auf beiden Seiten was voneinander lernen können.

Wie ist die Idee dazu entstanden, die Bände dieser Reihe zu illustrieren? War das deine Idee?

Ja. aber irgendwie war es gar keine Idee, sondern eine Selbstverständlichkeit. Rán und ich hatten gerade den Deutschen Jugendliteraturpreis gewonnen. Das ist ja nun ein ziemlich dickes Ding. Und dann wurden wir von Hanser gefragt, ob wir bei ihnen ein neues Projekt machen wollen. Ich hatte Rán schon von Maulina erzählt, aber nicht geglaubt, dass wir für sie irgendwo so bald ein Zuhause finden würden. Rán hatte Lust und damit war es irgendwie klar, dass wir Maulina zusammen machen. Wir waren ein Team. Ich wollte ihren feinen Humor, diese Leichtigkeit, die Luftigkeit, die ihre Illustrationen mit sich bringen und die Schönheit, die Ráns Arbeiten immer an sich haben, einfach zu gern an Bord haben.

Die wunderschönen Illustrationen werden von Rán Flygenring gestaltet, wie eng arbeitet ihr zusammen? Setzt sie deine Ideen künstlerisch um oder entwickelt sie eigene Ideen zu deinem Text?

Rán ist eine eigenständige Künstlerin, die ich gefragt habe, ob sie mit mir zusammen arbeitet, weil ich ihre Arbeit und ihre Begabungen unheimlich schätze. Ich wäre schön blöd, wenn ich ihr irgendwelche Vorgaben machen würde, noch dazu in einem Bereich, in dem sie ganz sicher viel talentierter ist als ich. Sie entwickelt natürlich ihre eigenen Ideen. Aber ich füttere sie gern mit allem, was ich habe. All meine, auch visuellen, Ideen stelle ich ihr immer gern zur Verfügung. Ich schreibe ihr Mails, schicke ihr Bilder, Videos, Links, ich beschreibe, was ich gerade sehe und was ich gern von ihr sehen würde. Ich kritisiere, was sie mir zeigt, hake nach und notiere all meine Anmerkungen für sie. Oft steht im Text dann in eckigen Klammern irgendwas wie [Hier Illustration von Juris Schuhen, daneben Text: soundso]. Das ist aber nie eine Vorschrift. Wir diskutieren alles, aber wir wissen beide, wer letztendlich für welchen Bereich verantwortlich ist.

Wir sprechen nun bereits die ganze Zeit über deine Bücher, aber wann und wie genau ist in dir überhaupt der Wunsch entstanden zu schreiben?

Also, ziemlich genau mit siebzehn hab ich angefangen, Geschichten zu schreiben, wenn es das ist, was du meinst. Ich hab vorher schon geschrieben, Briefe, in denen ich meine Ideen und Gedanken festgehalten habe. Ich hab die Briefe selten abgeschickt, eigentlich fast nie, ich brauchte nur ein Gegenüber, für den ich mir die Mühe mache, das Chaos zu sortieren.

Mit siebzehn hab ich dann das erste Mal seit langer Zeit wieder ein Buch gelesen, freiwillig, mit offenem Kopf. Hat mich viel Mühe gekostet, aber ich hab gemerkt: das macht was mit meinem Kopf, es tut mir gut und ich habe irgendwie gespürt: Klar! So könnte man seine Gedanken auch ordnen, hier kann man seine Fragen loswerden. Und man hat, wenns gut läuft, auch noch die Möglichkeit, mit Menschen darüber in Auseinandersetzung zu geraten. Und wenns richtig läuft, kann man vielleicht sogar davon leben.

Und die Entscheidung, für Kinder zu schreiben, war das eine bewusste Entscheidung?

Nee, gar nicht. Ist passiert. Im Urlaub. Plötzlich. Ohne Vorwarnung. Da war plötzlich Frerk da und hat mir seine komische Geschichte erzählt und ich habe angefangen Namensreime und Quatschwörter zu sammeln und zu erfinden. War witzig. Hab ich deshalb weiter gemacht.

Du bist auch im Bereich Film aktiv – was sind für dich die größten Unterschiede zwischen Film und Literatur und mit welchem Medium arbeitest du lieber?

Die größten Unterschiede finde ich eigentlich im Drumrum. In den Strukturen. Film ist irgendwie viel größer, industrieller, unmenschlicher, glamouröser, wichtigtuerischer, mächtiger, geschäftsmäßiger. Ich bewege mich deutlich lieber in der Buchbranche oder wenigstens in dem winzigen Zipfel, in dem ich daheim bin. Ich bin ja vor ungefähr zehn Jahren vom mairisch Verlag entdeckt worden und seither ist das meine literarische Heimat. Ein Traumverein! Könnte mir als Freiraum zur Umsetzung meiner künstlerischen Ideen nichts Besseres vorstellen und die Leute, die dahinter stehen, sind Freunde geworden. So eine Heimat habe ich im Filmbereich (noch) nicht, da fühle ich mich immer noch fremd und habe das Gefühl, dass ich gut auf mich aufpassen muss, auch wenn ich inzwischen auch hier zum Glück eine Reihe netter Menschen um mich weiß.

Handwerklich und in den erzählerischen Möglichkeiten gibt es auch eine Menge Unterschiede, aber da habe ich keine wirkliche Vorliebe. Ich erzähle gern in der Literatur und auch im Film. Kommt auf den Stoff an und was er braucht.

Räuberhände ist ein Roman, den ich unheimlich gerne gelesen habe, deshalb abschließend die Frage: dürfen wir uns bald auf etwas Ähnliches freuen?

Ich hoffe nicht! Ich will mich ja nicht wiederholen. Aber wenn du meinst, ob was Längeres für Erwachsene geplant ist, dann ja. Ich hab eine Idee, an der ich schon lange rumdenke. Aber das wird noch eine Weile dauern, ein paar andere Sachen stehen erst noch an, ein weiteres Projekt mit Rán, ein Film, zwei Theaterstücke, eine lange Reise und dann würde ich ja erst anfangen mit Recherche und allem, was dazu gehört.

Maulinas erstaunliche Abenteuer …

Als ich die drei Bände rund um die liebenswerte Heldin Maulina zum ersten Mal in den Buchläden ausliegen sah, glaubte ich auf den ersten Blick nicht, dass das etwas für mich sein könnte. Sie sind liebevoll gestaltet und sehen dann doch aus wie … nun ja, wie Kinderbücher und ich bin doch schon lange kein Kind mehr. Dachte ich. Doch bereits nach den ersten Sätzen war es um mich geschehen, ich befand mich plötzlich in Maulinas Welt und wollte am liebsten gar nicht mehr weg.

DSC_2352

Maulen heißt nicht einfach rumstänkern, maulen, das ist eine Lebenseinstellung, aber davon später.

Maulina Schmitt heißt eigentlich Paulina Schmitt, doch es hat seine Gründe, dass sie von allen Maulina genannt wird. Maulina mault und wenn Maulina mault, herrscht akute Explosionsgefahr. Sie hat einen guten Grund zu maulen, denn ihr Leben verändert sich von einem Tag auf den anderen radikal und das ist für Maulina nur schwer auszuhalten, auch wenn es nur noch siebeneinhalb Jahre sind, bis sie endlich erwachsen ist und allein entscheiden kann. Maulina wurde aus ihrem Königreich Mauldawien vertrieben und gemeinsam mit ihrer Mutter an einen langweiligen Zipfel der Stadt verpflanzt. Im Königreich zurückgeblieben ist ihr Vater, den sie nur noch der Mann nennt, denn sie glaubt, dass er für all dies verantwortlich ist. All das, was vorher gut gewesen ist, gibt es plötzlich nicht mehr. Stattdessen wohnen Maulina und ihre Mutter von nun an in Plastikhausen, in einer kleinen Wohnung voller Plastikgriffen, Plastikfenstern, Plastikfensterbänken.

Aus der Wohnung mit den vier Zimmern, dem Dachboden des Grauens, dem Garten, dem wertvollen, bunten Frühwerk auf den Tapeten und der Straße voller Freunde ist ein mickriges Plastikhaus geworden am anderen Ende der Stadt. Wenn das, was wir hatten, ein Pfannkuchen war, ist davon nur noch ein fettiger Abdruck auf dem leeren Teller geblieben und ein Rest von Geschmack auf der Zunge. Und jetzt? Ein muffeliges, kleines, quadratisches Haus, das sich zwischen andere muffelige, quadratische Häuser in eine Straße aus kleinen Häusern duckt.

Doch Stück für Stück muss Maulina feststellen, dass die grausigen Tatsachen des Lebens sogar noch ein bisschen komplizierter sind, als gedacht – ihre Mutter und der Mann haben sich nicht nur getrennt und sie musste ihr geliebtes Königreich verlassen, sondern sie erfährt schließlich auch noch, dass der Grund dafür die Erkrankung ihrer Mutter ist. Einen Namen hat diese Erkrankung nicht, aber es wird schnell deutlich, dass sie der Mutter alle Lebenskraft raubt, aber nicht alle Lebensfreude. Doch das, was Maulina durch den Umzug genommen wird, erobert sie sich Stück für Stück zurück. Eine große Rolle spielen dabei der General für Käse, ihr Schulfreund Paul, Ludmilla Lewandowski, ein geheimnisvolles Eisrezept und die Geheimwaffe Kakao.

Heinrich

Der Mann hat keinen Namen mehr. Er ist unaussprechlich geworden, wie die Namen der schlimmsten Bösewichte in Kindergeschichten und Märchen, so ein Name, der, wenn man ihn ausspricht, einem die Knie verdreht und Pflanzen eingehen lässt, ein Name, den man nicht in den Mund zu nehmen wagt, weil dann die Schuhsohlen schmelzen, die Brillengläser springen, die Tiere in Ultraschall schreien und fliehen.

Die erstaunlichen Abenteuer von Maulina Schmitt umfassen drei Bände, drei Bände voller Abenteuer, voller Freude und Momenten zum Schmunzeln. Drei Bände die aber auch angefüllt sind mit Traurigkeit, Krankheit, Tod und damit, dass das Leben sich jederzeit ändern kann und wir keine Möglichkeit haben, diese Veränderungen zu kontrollieren oder aufzuhalten. Wir können nur noch entscheiden, wie wir mit diesen Veränderungen umgehen wollen. Finn-Ole Heinrich hat keine typischen Kinderbücher geschrieben, wenn es das überhaupt gibt. Er hat mit Maulina Schmitt eine tapfere und mutige Heldin geschaffen, deren Abenteuer von Menschen allen Altersgruppen gelesen werden kann. Wie schade wäre es gewesen, wenn ich diese großartige Lektüre verpasst hätte, weil ich mich von irgendeiner Etikettierung hätte abhalten lassen. Maulina Schmitt ist für all diejenigen geschrieben worden, die sich irgendwo an dieser mysteriösen Schwelle zwischen Kindheit und dem Leben als Erwachsene bewegen und für all diejenigen, die das Kind in sich immer noch bewahren konnten.

Als erwachsene Leserin habe ich beim Lesen immer einen kleinen Erkenntnisvorsprung gegenüber Maulina, begreife die Erkrankung der Mutter schneller und möchte irgendwann nur noch meine langen Arme um dieses traurige mutige trotzige kleine Mädchen legen, um sie vor dem Leben zu beschützen. Finn-Ole Heinrich erzählt von schweren Themen, von Themen, für die Kinder wohl kaum eigene Worte finden können. Er erzählt von Kaugummischmerz und dem Ende des Universums und er erzählt ganz ohne pädagogischen Zeigefinger. Er erzählt davon, manchmal, wenn einen die schlimmen Wendungen des Lebens erdrücken, vielleicht einfach aus einer anderen Perspektive auf das Leben zu blicken. General Käse würde sagen: Savoir vivre.

[…] diese zwei kleinen Worte, die sind ein Aufruf, ja ein Befehl! Immer das Leben zu untersuchen, alles auszuprobieren. Du musst rausfinden, was du willst und warum, und dann musst du dich auf den Weg dahin machen, mit allen Macken, die du hast. Und das Wichtigste ist, dass du auf dem Weg so viel Spaß hast wie möglich, dass du genießt und das Kleine kapierst, das Einfache siehst, das Mickrige liebst, nicht nur das Allerobermegadollste brauchst, sondern dich schon an ganz wenig freust und den Ausblick genießt. Und dass du, wenn mal was Blödes passiert, es nicht persönlich nimmst, sondern die Schultern zuckst und drüber lachst.

Durch die drei Bände begleiten mich die wunderschönen Zeichnungen von Rán Flygenring, die die Lektüre zu einem ganz besonderen Erlebnis gemacht haben. Und so habe ich drei Bücher, die eigentlich aussehen wie Kinderbücher, an nur einem einzigen regnerischen Samstag durchgelesen und habe dabei nicht nur Maulina ganz tief in mein Herz geschlossen, sondern beim Lesen auch gelacht und geweint, denn selten zuvor war ich so berührt von dem Ende eines Buches. Was bleibt mir nun anderes übrig, als euch diese drei Bände ans Herz zu legen? Genau: bitte lesen, ganz unbedingt.

Philipp Blom – Über Sehnsucht, Träume und Geschichten

Bereits letzte Woche hatte ich von einer spannenden neuen Idee des elektrischen Lesens berichtet und seit heute gibt es sie nun, die ersten zehn Texte der Hanser Box: darunter finden sich Kurzgeschichten und Essays namhafter Autoren wie Javier Marías, Henning Mankell, T.C. Boyle und Thomas Glavinic. Ich habe einmal in die digitale Wundertüte gegriffen, habe mich jedoch für keinen dieser Autoren entschieden, sondern für Philipp Bloms Essay Über Sehnsucht, Träume und Geschichten.

DSC_1910

Ohne Geschichten wären wir blind und taub.

Philipp Blom ist Autor und Historiker. Er schreibt regelmäßig für unterschiedliche Zeitungen und Zeitschriften und hat bereits zahlreiche Bücher publiziert. Ich muss gestehen, dass es vor allem der Titel gewesen ist, der mich neugierig gemacht hat: Geschichten lese ich jeden Tag mit großem Vergnügen, ein Leben ohne wäre für mich nicht vorstellbar. Umso neugieriger war ich darauf zu erfahren, was Philipp Blom über Sehnsucht, Träume und Geschichten zu erzählen weiß.

Von Anfang an hatte unsere Sehnsucht nur eine Waffe gegen die Erfahrung der Sinnlosigkeit in unserem eigenen Leben: Wir haben uns Geschichten erzählt. Geschichten haben Anfang, Mitte und Ende, das Handeln der Figuren hat sinnvolle Konsequenzen, die Guten werden belohnt, die Bösen bestraft, zufällige Fakten erhalten Bedeutung und Funktion, einen Ort im Geschehen.

Auf Einladung des Getty Research Institutes verbringt Philipp Blom einige Monate in Los Angeles, in einem Apartment voller Kunsthistoriker. Sie alle zieht es nach Los Angeles, um dort die eigenen Träume zu leben. Philipp Blom schreibt nicht nur über die Menschen, auf die er dort trifft, zum Beispiel über den Informatiker Sean und seine Frau Penny, die als Archäologin arbeitet und ein akademisches Leben auf der Überholspur geführt hat, sondern auch über die Stadt Los Angeles, in der Sehnsüchte, Hoffnungen und Träume aufeinander treffen, sich manchmal erfüllen und manchmal zerplatzen. Es ist das normale Chaos, das sich Leben nennt. Alle wünschen sich etwas, Glück und Liebe, eine gute Arbeit oder Stabilität, doch manche befinden sich schon zu weit am Rand des Lebens, um sich ihre Wünsche noch erfüllen zu können. Philip Blom, der sich in diesem Essay als großartiger und kluger Erzähler erweist, kommt zu dem Schluss, dass ein Mensch dieses Chaos ohne Geschichten nicht überleben kann. Diese Geschichten können in der Literatur stattfinden oder im Kino, die Hauptsache ist es, in sie eintauchen zu können und durch sie lernen zu können, wie man sich durch das Leben navigieren kann.

Indem wir uns Geschichten erzählen, machen wir eine hässliche Realität nur dadurch schöner, dass wir uns selbst belügen: Geschichten können tatsächlich eine Zukunft schaffen, die ohne sie unmöglich gewesen wäre. Sie bieten nicht nur existenziellen Trost und einen künstlichen, auf falschen Annahmen fußenden Mut – sie erschaffen auch die Welt, in der wir leben. Wir sind und wir werden ein Abbild der Geschichten, die wir uns über uns selbst erzählen.

Philipp Blom schafft es mit leichter Hand in seinem Essay die drei zentralen Themen Sehnsucht, Träume und Geschichten miteinander zu verknüpfen. All dies geschieht mit Los Angeles als Folie, einer Stadt voller Träumender und Gescheiterter, voller Chaos und Geschichten. Zwischendurch streut der studierte Historiker auch immer wieder sein historisches oder auch religiöses Wissen ein und führt den Wunsch danach Geschichten zu erzählen, den bereits Kleinkinder hegen, auf ihren Ursprung zurück.

Über Sehnsucht, Träume und Geschichten ist ein spannender Essay, der mich neugierig auf einen Autor macht, von dem ich zuvor noch nichts gelesen hatte. Es ist aber auch ein Essay, der mich nachdenklich gemacht hat, der mich über die Frage nachdenken ließ, was mir Geschichten eigentlich bedeuten, was mich Geschichten lehren, was mich beim Lesen tröstet und was mich beim Lesen träumen lässt.

978-3-446-23292-1_281215145521-74 Blom_978-3-446-24617-1_MR.indd

Zwei Herren am Strand – Michael Köhlmeier

Michael Köhlmeier porträtiert in seinem neuen Roman Zwei Herren am Strand zwei ganz berühmte Persönlichkeiten: Winston Churchill und Charlie Chaplin, zwei prägende Gestalten der Weltgeschichte, die nicht unterschiedlicher hätten sein können. Beide werden von Michael Köhlmeier zusammengeführt, die Geschichte bewegt sich dabei in einem spannenden Wechselspiel aus Phantasie und Wirklichkeit.

DSC_1445

Am Weihnachtstag 1931, gegen Mittag – so erzählte es mir mein Vater -, stand ein Mann auf den Stufen zum Eingang des Hauses 119 East 70th Street in Manhattan, New York. Er wollte Mr. Winston Churchill besuchen, der hier vorübergehend bei seiner Cousine weilte.”

Michael Köhlmeier widmet sich in seinem neuen Roman Zwei Herren am Strand einem wichtigen Teil der Weltgeschichte. Im Zentrum seines Romans stehen zwei ganz besondere Männer: Politiker und Nobelpreisträger Winston Churchill sowie der Schauspieler und Regisseur Charlie Chaplin, vielen nur als der Tramp bekannt. Beide haben wenig gemeinsam,  Chaplin wächst in Armut auf, während Churchill in den britischen Hochadel hineingeboren wird. Doch trotz aller Gegensätze waren beide miteinander befreundet, vereint im Kampf gegen die Machtergreifung Adolf Hitlers – Churchill bekämpfte ihn politisch, Chaplin mit den Mitteln der Kunst. Ihre Freundschaft ist auf unzähligen Fotos dokumentiert worden.

ChurchillChaplin0001Dieser Freundschaft fügt Michael Köhlmeier ein weiteres Kapitel hinzu. Er lässt Churchill und Chaplin am Strand zusammentreffen, beide befinden sich auf der Flucht vor einem Fest, vor der Gesellschaft, vor den Verpflichtungen und Erwartungen. Dieser gemeinsame Strandspaziergang ist der Beginn einer Freundschaft, die auf unzähligen Gesprächen basieren sollte.

[…] ‘talk-walks’, wie der geschmeidige Chaplin sagte, ‘duck-walk-talk’, wie der korpulente Churchill selbstironisch verdrehte und ergänzte.

Der Politiker und der Regisseur treffen sich im Laufe der Jahre immer wieder, kommen zusammen, um über das Leben zu sprechen, über die Kunst, über die Politik und über die dunklen Seiten, die ihre Tage immer wieder überschatten. Churchill und Chaplin leiden unter Depressionen.  Sie finden Trost in der Tatsache, dass sie beide darüber nachdenken sich selbst zu töten, seit sie Kinder gewesen sind. Der Freitod ist eine stets präsente Option in ihrem Leben, die beiden ständig im Hinterkopf schwebt. Der schwarze Hund (so bezeichnet Churchill seine Depression) wird zum verbindenden Element in ihrer Freundschaft, beide sind sich Rettung und Unterstützung, wenn er wieder die Oberhand gewinnt.

Und sie hatten Gelegenheit gefunden, miteinander allein zu sein und lange Gespräche zu führen, über die sie absolutes Stillschweigen bewahrten – was die als besonders neugierig bekannten englischen Journalisten in Weißglut und Spekulation trieb.

Michael Köhlmeier gibt seinem Roman einen Rahmen, in dem er einen Erzähler erschafft, der dieses Kapitel einer ganz besonderen Freundschaft durch die Aufzeichnungen seines Vaters erfährt. Der Vater des Erzählers war als Kind beiden begegnet, beiden sogar zur gleichen Zeit. Viele Jahre später fing er an, eine Biographie über Churchill zu schreiben und am Ende seines Lebens verfügte er über ein historisches Wissen, vor dem mancher Universitätsprofessor in Verlegenheit geraten wäre. Es blieb jedoch beim Versuch; davon übrig geblieben ist ein Konvolut von über 1000 Seiten, angereichert mit zahlreichen fotokopierten Dokumenten. Aus diesem Material schöpft der Erzähler, um die Geschichte dieser ganz besonderen Freundschaft zu erzählen, in deren Mittelpunkt ein schwarzer Hund stand.

Sie besprachen Motive und Techniken, sich das Leben zu nehmen, diskutierten Peristase und Ambiente der letzten Tage und Stunden berühmter Selbstmörder – Vincent van Gogh, Seneca, Ludwig II von Bayern, Lord Lyttelton, Hannibal oder Jack London (dem Chaplin noch persönlich begegnet war und der ihm die Idee zu The Gold Rush geliefert hatte) und analysierte ihre eigenen aktuellen Befindlichkeiten, indem sie die genannten Beispiele dazu in Vergleich brachten.

Der Erzähler wühlt sich neugierig durch die Hinterlassenschaften seines Vaters und schon bald befinde ich mich als Leser, voller Neugier und Wissensdurst, an seiner Seite. Neugierig macht mich dabei vor allem die Verschränkung von Phantasie und Wirklichkeit – immer wieder habe ich mich gefragt, was tatsächlich stimmt von dem, was Michael Köhlmeier erzählt und was lediglich seiner Phantasie entsprungen ist. Stellenweise liest sich der Roman schon fast wie ein historisches Sachbuch, wie eine Biographie – doch immer mit dem Wissen im Hinterkopf, dass Michael Köhlmeier seine eigene Phantasie in die Wirklichkeit mit einfließen ließ.

Die Reise hinein in das Leben dieser zwei außergewöhnlichen Persönlichkeiten ist so spannend, dass ich den Roman zwischendurch kaum noch aus der Hand legen konnte. Neigte Michael Köhlmeier in seinem letzten Roman Die Abenteuer des Joel Spazierer noch dazu, weit ausholend zu erzählen, brilliert er dieses Mal durch einen knappen, präzisen und unheimlich dichten Erzählfluss. Dabei ist ihm ein Roman gelungen, der ein wahres Lesevergnügen ist – der Leser wird gefordert, aber auch reichlich belohnt. Eine große Empfehlung!

Karen Köhler im Gespräch!

Zu Beginn der Woche ist im Hanser Verlag ein Buch erschienen, das quer durch die Literaturblogs getourt ist und für Furore gesorgt hat. Vollkommen zu Recht, wie ich finde! Ich habe das große Glück gehabt, die Debütantin zum Gespräch bitten zu dürfen

Foto: © Julia Klug

Eigentlich wollte ich dich nach deinen Erfahrungen beim Bachmann-Preis fragen, doch dann kamen die Windpocken dazwischen. Dass du nicht lesen konntest, muss eine große Enttäuschung für dich gewesen sein, oder?

Klar. Was für ein beschissenes Timing. Ich hab geheult, als das Laborergebnis der Blutuntersuchung kam. Ich konnte das gar nicht fassen. Ich hatte die Windpocken schon als Kind gehabt, ein Großteil der Menschen entwickelt dann Antikörper. Ein winzig kleiner Teil der Menschen aber nicht…

Ich meine, wie groß ist bitte die Wahrscheinlichkeit, die Windpocken zweimal zu bekommen? Und wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, zum Bachmannpreislesen eingeladen zu sein und gleichzeitig die Windpocken zu haben? Verrückt.
Wir (mein Verlag und ich) haben dem ORF echt alles angeboten: Skypelesung, Liveschaltung zum NDR nach Hamburg, im Auto runterfahren und vor Ort in einem Quarantänestudio lesen… Aber die wollten das alles nicht. Letztlich bin ich ja nur weggeblieben, um die Gesundheit der anderen zu schützen, weil die Krankheit hochansteckend ist. Ich hab mich eigentlich relativ gut gefühlt und hätte allemal lesen können.
Ich hab jetzt von der Gesundheitsbehörde einen Meldezettel bekommen wegen der Erkrankung, wo ich genau beschreiben musste, mit wem ich im Kontakt war und wo ich mich aufgehalten habe…

Wie stehen denn die Chancen, dass du stattdessen im nächsten Jahr dabei sein wirst?

Keine Ahnung.

In deiner Biografie steht, dass du Kosmonautin werden wolltest und Fallschirmspringen gelernt hast, klingt ungewöhnlich – was genau hat es damit auf sich?

Als ich acht, neun Jahre alt war, habe ich zum ersten Mal Aufnahmen aus dem Weltraum von der Erde und dem Mond gesehen. Das hat mich tief beeindruckt. Wunderschöne und verstörende Bilder. Ich kannte Land- und Weltkarten von der Erde, aber da war plötzlich alles anders: Afrika stand Kopf und war „oben“. Ich begriff, dass es im Weltraum kein Oben und kein Unten gibt, dass es nur eine Frage der Perspektive ist. Das fasziniert mich bis heute. Ich war später gut in Mathe und Physik. Ich wollte da unbedingt hin, in den Weltraum. Auf Bayern3 liefen spätabends Raumfahrtaufnahmen. Und die Kosmonauten schienen mir so viel sympathischer als die Astronauten, ich wollte unbedingt Kosmonautin sein. Dann hieß es: Mit Plomben kann man das vergessen. WHAT!? Ein kleiner Traum zerbröselte, die Mauer fiel, die Sowjetunion zerbröselte auch und schwupp hatte ich einen Irokesenhaarschnitt und hörte Punk und mein Weltraum war auf einmal auf der Erde.

Du schreibst für das Theater und veröffentlichst diesen Herbst einen Erzählungsband – woraus ist bei dir der Impuls entstanden, zu schreiben?

Ich bin ins Schreiben reingeraten und konnte nicht mehr aufhören. Jetzt ist das Schreiben mein Schwimmflügel, um irgendwie mit dieser Lebensunverschämtheit klarzukommen. Es ist ein auch Weg, Ohnmacht zu überwinden. Die Ohnmacht, mit all dem klarzukommen, was ist.

„Wir haben Raketen geangelt“ ist deine erste Prosaveröffentlichung – ist dir die Arbeit daran schwer gefallen?

Nicht mehr als das Schreiben anderer Texte. Klar ringe ich. Zweifle ich. Immer wieder. Suche nach Worten. Suche nach Wegen, das auszudrücken, frage mich, was ich zu sagen habe. Ich scheitere auch. Versuche es neu. Anders. Besser. Ich lerne. Ich übe. Ich bin eben auch noch eine Anfängerin.

Du bist Mitglied im Forum Hamburger Autoren und Autorinnen – wie wichtig ist die damit verbundene Möglichkeit, sich auszutauschen und gemeinsam an Texten zu arbeiten, für dein Schreiben?

Als ich anfing zu schreiben, war mir der Austausch sehr wichtig, weil ich gar nichts wusste. Da war ich sehr froh, dass die mich aufgenommen hatten und dass die anderen Autoren dann auch was zu meinen Texten sagen wollten. Ich kann mit konstruktiver Kritik auch sehr viel anfangen. Mittlerweile ist es mir manchmal zu viel, wenn sehr viele unterschiedliche Leute aus einem Impuls heraus etwas zu einem Text sagen. Da frage ich mittlerweile lieber gezielter einzelne Autoren, ob sie mal was lesen würden und hole mir die Kritik von einzelnen, die sich etwas länger mit einem Text beschäftigen mochten.

Du schreibst auch Theaterstücke, sowohl für Erwachsene als auch für Kinder – wie gelingt es dir, dich beim Schreiben in die Vorstellungswelt von Kindern zu versetzen?

Ich nehme Kinder ebenso ernst wie Erwachsene. Es macht eigentlich keinen großen Unterschied für mich, ob ich für Kinder, Jugendliche oder Erwachsene schreibe. Der Unterschied liegt vielleicht nur darin, wie ich Themen verpacke. Wichtig ist mir, meine Zielgruppe zu kennen, wenn ich für sie schreibe. Ich meine, was weiß ich über Teenager aus einer Kleinstadt von heute? Ich muss hingehen und sie kennen lernen, mich mit ihnen beschäftigen, ihnen zuhören, sie ernst nehmen, ihnen Fragen stellen und Möglichkeiten geben, sich mir anzuvertrauen. Ich möchte offen bleiben, von ihnen zu lernen und mir nicht mit einem vorgefertigten Bild Sachen für sie ausdenken.

Und letztlich: Selber Kind sein. Das hört sich nach Selbsthilfebuch an, soll es sich gar nicht, aber ich habe mir irgendwie ein paar innere Kinder bewahren können. Mit Musik finde ich sehr leicht zu meinem inneren Teenager zurück. Da muss ich nur eine Dead Kennedys-LP auflegen. Zack: Wieder 15.

Du bist ja nicht nur Autorin, sondern auch Schauspielerin und Illustratorin. Gibt es etwas, das du lieber machst als das andere?

Nein. Das, was ich tue, tue ich mit Hingabe. Ich erzähle Geschichten.

Hast du schon Pläne für die Zukunft? Arbeitest du vielleicht sogar schon an einem neuen Projekt?

Für die nächsten zwei Spielzeiten habe ich Schreibaufträge von verschiedenen Theatern, für sie entwickele ich neue Jugenstücke. Ich habe aber auch Lust, mich einem längeren Prosatext zu widmen. Es gab mehrere Anfänge von etwas, die ich allesamt verworfen habe, weil ich gerade sehr kritisch mit mir bin. Nun gibt es eine Ahnung von etwas Neuem, und ich frage mich gerade: Was kann-soll-muss überhaupt von mir geschrieben werden? Es kommen so überwältigend viele Bücher auf den Markt, da wird mir immer ganz anders, wenn ich das beobachte. Ich frage mich, was für Literatur kann ich überhaupt noch mit gutem Gewissen schreiben? Welche Themen sind meine? Warum muss diese Geschichte erzählt werden? Und wie muss sie erzählt werden? Ich will nicht Teil einer Maschinerie werden, ich will etwas zu sagen haben.

Wir haben Raketen geangelt – Karen Köhler

Karen Köhler legt mit “Wir haben Raketen geangelt” einen Band voll von großartigen Erzählungen vor, denen es gelingt, das Grau des Alltags wegzukratzen und mit wunderschönen Worten und Gedanken zu ersetzen. Es sind Erzählungen, die berühren und bewegen – voller sprachlicher Finesse. Alle Erzählungen kreisen um die großen und bedeutsamen Themen des Lebens: den Tod, die Liebe, das Ohne-Einander-Weiterleben.

DSC_1538

Zeit ist ein Kaugummi, aus dem der Geschmack entwichen ist.

Es sind insgesamt neun Geschichten, die uns von Karen Köhler geschenkt werden. Die erste Geschichte, die den Titel Il Comandante trägt, sollte eigentlich beim Bachmannpreis gelesen werden – doch dann kamen Karen Köhler die Windpocken dazwischen. Wenn man anfängt, diese Geschichte zu lesen, wird einem klar, wie bedauerlich dies war: mit leichter Hand erzählt die Autorin von der Schwere des Lebens, von Krankheit, Tod und dem Versuch weiterzuleben. Il Comandante steht exemplarisch für die acht folgenden Geschichten, für Polarkreis und für Wild ist scheu, für Findling und für Familienportraits.

Wir fahren. Wir fahren mit Wind in den Fenstern. Wir fahren mit Musik in den Ohren. Wir sind zwei Delphine im Wasser. Einer davon fast blind. Wir könnten Helden sein. Nur für einen Tag. Ich, ich wäre der König. Und du, du wärst die Königin.

Alle neun Erzählungen kreisen um das, was Leben bedeutet: um das Leben miteinander und ohneeinander, um das Sterben und den Tod, um den Wunsch danach auszubrechen, um irgendwo anzukommen. In der Erzählung Cowboy und Indianer erzählt Karen Köhler die Geschichte von Katharina, es ist eine verschachtelte Geschichte. Katharina, die als Kind immer lieber Indianer sein wollte, strandet in der Wüste Amerikas und trifft dort auf einen waschechten Indianer. Er rettet ihr das Leben und schon kurz darauf, essen sie zusammen Doppelwhopper. Schicht für Schicht erfährt der Leser, was Katharina nach Amerika geführt hat, welcher Wunsch sie aus ihrem Alltagsleben getrieben hat – hinaus in die trockene Wüste.

Fauchend sausten die Raketen, von Sehnen gebändigt, mühsam in den Himmel und explodierten über unseren Köpfen. Wir haben Raketen geangelt. Das war letztes Silvester.

DSC_1542

Der Wunsch danach auszubrechen zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichten. Genauso wie das Reisen. Karen Köhlers Figuren reisen in die Ferne, um zu sich selbst zu finden: Polar verlässt sein Leben, zurück bleibt lediglich ein Zettel: Bin “Zigaretten holen”. Über München reist Polar nach Italien, legt sich eine Vespa zu und denkt über die wichtigen Fragen des Lebens nach. Andere verschlägt es auf Schiffe, in die Wüste oder auf Hochsitze. Dem Wunsch zu verschwinden liegt jedoch auch ein Bedürfnis zu Grunde: es ist ein Bedürfnis nach Antworten, nach Erklärungen.

Hingegangen bin ich nur wegen der Idee wegzukommen, mein Leben irgendwie von mir abzuschneiden. Ich wollte vergessen und so wenig denken wie mir möglich ist, aber jetzt hat das mit dem Denken wieder angefangen.

Die titelgebende Geschichte erzählt von Krassiwaja und Libero. Es ist die Geschichte einer Liebe, aber es ist auch eine wütende und traurige Geschichte, die davon erzählt, übrig zu bleiben, zurück zu bleiben.

Die Warum-ich-nicht-mit-Dir-zusammen-sein-kann Top 10: 1. Du besitzt nur ein einziges Buch. 2. Das Buch trägt den Titel “Excel for Dummies”. 

Karen Köhler erschafft ein Koordinatensystem des Schmerzes: immer wieder wird vom Schmerz erzählt, von körperlichen Schmerzen, aber auch von seelischem Leid. Von Erkrankungen und davon verlassen zu werden. Von Angst und Einsamkeit. Von Familien, die schon lange in alle Einzelteile zerbröselt und zerbröckelt sind. Wir haben Raketen geangelt ist dennoch keine schwere Lektüre, denn Karen Köhler gelingt es, so heiter und beschwingt zu erzählen, dass die graue Melancholie hinter all den bunten Worten verblasst. Sie erzählt von Schmerz und Leid, doch sie macht den Leser dabei offen für das, was dahinter liegen könnte – für das Weiterleben, für Dinge, für die es sich lohnt, weiterzuleben.

Dinge, die ich noch erleben will: jede Jahreszeit einmal. Schnee. Krieg und Frieden lesen. Gegen die Welt. Vor dem Fest.

Karen Köhlers Geschichten schlagen Krater in die Seele, doch beim Zuklappen der letzten Seite empfinde ich neben Melancholie, auch ein ganz zartes Glücksgefühl. Ich lache und weine gleichzeitig angesichts dieser wunderschön traurigen Geschichten, in denen jeder Satz stimmt, jedes Wort passt, in denen ich mich aufgehoben und zuhause fühle. Bei Karen Köhlers beeindruckendem Debüt als Autorin, darf jedoch nicht nur der Text und die Sprache erwähnt werden, denn auch die äußere Erscheinung des Erzählbandes ist wunderschön und wurde von der Autorin, die auch als Illustratorin arbeitet, eigenhändig gestaltet – ebenso liebevoll, wie sie all ihre Figuren gestaltet hat.

Große Liebe – Navid Kermani

Zuletzt machte Navid Kermani weniger als Literat Schlagzeilen, als durch seine beeindruckende und wichtige Rede zum 65. Jahrestag des Grundgesetz. Auch seine letzte Buchveröffentlichung hatte primär eine politische Dimension, denn in “Ausnahmezustand” bereiste er Länder, die sich alle in irgendeiner Form im Ausnahmezustand befinden. Seit diesem Frühjahr gibt es im Hanser Literaturverlag endlich ein neues Buch: auch in “Große Liebe” beschäftigt sich Navid Kermani mit einem schwerwiegenden Ausnahmezustand, dem Gefühlschaos der ersten großen Liebe.

DSC_1016

Es ist Anfang der achtziger Jahre in einer westdeutschen Kleinstadt. Ein fünfzehn Jahre alter Schüler, der drei Baumwollpullover übereinander trägt, verliebt sich in ein vier Jahre älteres Mädchen, das dasselbe Gymnasium besucht, wie er. Die erste Annäherung ist vorsichtig. Während der Junge bereits das Fieber des Verliebtseins spürt, nimmt das Mädchen ihn zunächst noch gar nicht wahr. Das hindert ihn nicht daran, die Pausen in der verbotenen Raucherecke zu verbringen – in größt möglicher Nähe zu ihr. Doch irgendwann ist es so weit, im Tagungsraum der evangelischen Studentengemeinde schaut das Mädchen ihn zum ersten Mal genauer an. Der Fortlauf der Liebe ist rasant: schnell werden schüchterne Küsse ausgetaucht, dann noch mehr, doch da ist es eigentlich schon wieder fast vorbei. Die Liebe kam und ging schneller als der Junge es je hätte ahnen können. Schon ist es wieder vorbei, auf knapp 100 Seiten ein Wechselbad der Liebesgefühle: von den höchsten Höhen der gemeinsamen Vereinigung hinabgestürzt in den bittersten Trennungsschmerz.

“Der Leser wird einwenden, ein unbedarfter Junge sei nicht mit einem heiligen Narren zu vergleichen, der Ichverlust, den er als Pubertierender womöglich anstrebe – einmal beiseite gelassen, daß man die Pubertät gewöhnlich gerade im Gegenteil als eine Ichsuche beschreibt -, der Ichverlust grundsätzlich anderen Gehalts als auf dem mystischen Weg, gänzlich banal. In der Hoffnung habe ich gestern zu schreiben begonnen, daß ich den Leser widerlege.”

“Große Liebe” ist möglicherweise weniger Roman, als Erinnerungsbuch, denn die Erinnerungen an diese erste große Liebe sind stark autobiographisch gefärbt. Navid Kermani erzählt nicht die Geschichte irgendeines Jungen, sondern die eigene Geschichte. In hundert kurzen Kapiteln lässt er seine erste große Liebe Revue passieren – mit dem Abstand von dreißig Jahren, als geschiedener Ehemann und Vater eines Sohnes, der selbst gerade fünfzehn geworden ist. Mit dreißig Jahren Abstand, gelingt es an der ein oder anderen Stelle, den “logischen Schluß” zu ziehen, etwas, das dem fünfzehnjährigen Navid Kermani, erkrankt am Liebesvirus, nicht immer gelingen wollte.

“Ist das Gefühl des Fünfzehnjährigen, so herrlich und furchtbar es auf den folgenden Seiten explodieren wird, ist es überhaupt Liebe zu nennen, gar die größte Liebe seines Lebens, wie ich bis vorgestern überzeugt war?”

Das Besondere an “Große Liebe” ist, dass sich Navid Kermani nicht nur zurückerinnert, sondern die Liebesgefühle des Jungen, der er einmal gewesen ist, auch zu verstehen versucht. Der Autor bringt jeden Tag ein Kapitel zu Papier, 100 Kapitel umfasst die große Liebe des Jungen: vom ersten Kuss, über den ersten Geschlechtsakt, bis zur überraschenden Trennung. Was im Roman 100 Kapitel sind, sind in Wirklichkeit nicht einmal wenige Wochen. Doch es sind Tage, die dem Jungen wie eine endlose Ewigkeit erscheinen.

“[…] ich habe einen Plan erstellt, der für jede Station der Liebe zehn Seiten vorsieht, zehn für die Begegnung, zehn fürs Kennenlernen, zehn für die erste Berührung, damit selbst eine so große Liebe in hundert Tagen erzählt wird; bis zur vierzigsten Seite würde ich von der Vereinigung erzählen und bis zur fünfzigsten von dem Zustand, den die Mystiker das ‘Bleiben im Entwedern’ nennen, so daß für die Verzweiflung wenigstens noch die Hälfte der Geschichte bleibt […].”

Eine zusätzliche Ebene erhält der Text durch zahlreiche Zitate und Verweise auf das wahnsinnige Gefühl der Liebe, bei denen sich Navid Kermani der persischen Dichtung bedient, aber auch der Philosophie. Erwähnung findet die Geschichte des persischen Dichters Nizami, der im 12. Jahrhundert die sagenhafte Geschichte von Leila und Madschnun erzählte. Madschnun verliebt sich rettungslos in Leila und besingt im verzweifelten Versuch sie für sich zu gewinnen, seine Liebe zu ihr. Während Ibn Arabi im 13. Jahrhundert von der außerordentlichen Feinheit spricht, die man in der Liebe finden kann. All diese Zitate rücken das pubertäre Verliebtsein eines Jungen, das gerade einmal knapp eine Woche Bestand haben sollte, auf eine allumfassendere Ebene. All die Dichter und Philosophen, die Navid Kermani zitiert, bringen das auf den Punkt, was möglicherweise jeder Liebende empfindet, insbesondere bei der ersten großen Liebe: man gibt als Liebender seinen Verstand her, sein Herz, macht sich lächerlicher um die Liebste zu gewinnen. Das allererste Verliebtsein ähnelt einem grippalen Infekt, einem Fieber, das man sich einfängt.

“Erst später las er in den Büchern, daß die Liebe nicht nur ‘die Vernunft mit sich reißt und geistige Besessenheit’ hervorruft, wie ihn Ibn Arabi warnt, sondern eben auch ‘Auszehrung’ bedeutet, ‘das hartnäckige Kreisen der Gedanken, die Unruhe, die Schlaflosigkeit, das brennende Verlangen, das Feuer der Leidenschaft und die durchwachten Nächte.'” 

Navid Kermani gelingt mit “Große Liebe” ein Erinnerungsbuch der eigenen ersten großen Liebe, das gleichzeitig zu einem Erinnerungsbuch des Lesers wird. Die Gedanken an die eigene erste große Liebe, an das tiefe Versenken und das böse Erwachen, an den Liebeswahnsinn, der einen Sinn und Verstand verlieren lässt, sind unvermeidbar. So stiftet der Roman auch an zu einer Zeitreise durch das eigene Leben, zurück in das Gefühlschaos der ersten großen Liebe. Vielleicht ist dieses Anstiften der größte Verdienst des Romans, viel mehr noch, als die eigentliche Geschichte, die Navid Kermani erzählt. Navid Kermanis Liebesgeschichte hat übrigens auch noch eine politische Komponente, denn bereits damals – mit gerade einmal fünfzehn Jahren – kämpfte er für die Friedensbewegung und nahm an einer Blockade des Verteidigungsministeriums teil.

“Große Liebe” ist ein schmales Bändchen, doch die 100 Kapitel sind außerordentlich lesenswert. Mit großer Ernsthaftigkeit erzählt Navid Kermani seine eigene Geschichte, er erzählt vom Virus der Liebe, der ihn urplötzlich packte und mit Haut und Haaren verschlang. Er erzählt von einer Tiefe und Gefühlsintensität, die im Leben eines Erwachsenen kaum noch Raum hat. Lest “Große Liebe” und erinnert euch zurück an eure eigene große Liebe.

%d bloggers like this: