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Rezept für ein Herz in Aufruhr – Viola Ardone

Viola Ardone wurde 1974 in Neapel geboren und hat Literaturwissenschaften und klassischen Tanz studiert. Zehn Jahre lang war sie als Redakteurin in einem Verlag tätig, heute arbeitet sie hauptberuflich als Lehrerin an einem Gymnasium in Neapel und legt mit “Rezept für ein Herz in Aufruhr” ihren ersten Roman vor. Dieser wurde von Verena von Koskull übersetzt.

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“Lässt sich ein Problem lösen, ist es kein Problem. Lässt es sich nicht lösen, ist es kein Problem mehr, hatte ihr Vater einmal gesagt.”

Dafne arbeitet als Architektin in Mailand, ihr Leben ist geordnet, sie ist eine selbstsichere Frau. Seit sie zehn Jahre alt ist, führt sie ein Tagebuch, voller Spalten und Zahlen – angeordnet in einer Excel-Tabelle, denn eins hat sie von ihrer frühen Kindheit an gelernt: eine äußere Ordnung, kann das innere Chaos besänftigen. Doch trotz all der Ordnung und trotz aller Sicherheit fehlt Dafne etwas im Leben, sie spürt einen nagenden Mangel, ein Loch in sich, das sie nicht füllen kann. Das Loch ist dort, wo eigentlich ihre Gefühle sein sollten. Die junge Frau hat nie gelernt, sich fallen zu lassen, sie hat nie gelernt, zu lieben, sie durfte es sich nie erlauben, jemanden Zutritt zu ihrem Leben zu gewähren. Statt zu fühlen, rechnet Dafne ihre Empfindungen in geometrische Daten und Formeln um. Diese Unfähigkeit hat ihre Wurzeln in Dafnes Kindheit, höchstwahrscheinlich, denn so wirklich erinnert sich Dafne nicht an die Zeit, in der sie Kind gewesen ist. Die Vergangenheit hat sie verdrängt, schön säuberlich weggepackt und in Excel-Listen abgelegt, so gut abgelegt, dass sie kaum noch einen Zugriff darauf hat.

“Die Mathematik der Gefühle hatte klare, strenge Regeln: Liebe war unteilbar und ließ sich nur multiplizieren. Ihr Zeichen war das Mal. Die Zeit war ein Plus, sie ließ sich nur addieren. Entscheidungen waren immer Subtraktion, ein Minus.”

Erst als Dafne den Mut dafür findet zurückzublicken, bekommt sie endlich auch die Möglichkeit zu sich selbst zu finden. Sie blick zurück auf das Mädchen, das sie gewesen ist, auf Dafne, wie sie als Kind gewesen ist. Der Blick zurück ist durchzogen mit einer zarten Traurigkeit. Die erwachsene Dafne gibt dem Kind eine Stimme, sie gibt dem Kind eine Sprache. Das, was das Mädchen zu erzählen hat, ist manchmal ergreifend, manchmal traurig, doch ab und an sind die Erinnerungen auch von einer fröhlichen Heiterkeit. Sie erinnert sich zurück an die Momente, in denen ein schweres Schweigen über der Familie lag, aber auch an fröhliche Momente, an gemeinsame Spiele und an ihren Lieblingsort, das Wasser. Das Wasser war immer ein Schutzraum für Dafne, ein Ort an dem sie nichts hören muss, ein Ort, an dem niemand sie finden kann. Die gleiche Schutzfunktion hat für sie die Geometrie, die die junge Frau wie eine Art Blase umschließt.

“Mein Zuhause ist anders. Alle Zuhauses sind gleich, nur meines nicht, das ist anders. Alles ist am falschen Platz. Meine Mama hat gesagt, wir seien originell. Aber Papa hat gesagt, er würde einfach nicht begreifen, wieso wir uns nicht benehmen können, wie andere Christenmenschen. Er ist nämlich ganz dick mit Gott befreundet.”

Mit der Männerwelt steht sie – es mag kaum überraschen – auf Kriegsfuß, doch dann ist Dafne plötzlich schwanger und wird zum ersten Mal von Gefühlen überflutet, die ihre ganzen Schutzmechanismen zum Wanken bringen … gemeinsam mit ihrer Psychologin Dottoressa Lorenzi begibt sie sich mutig und voller Zuversicht auf die Reise in ihre Vergangenheit.

Viola Ardone erzählt mit “Rezept für ein Herz in Aufruhr” einen dreigeteilten Roman: es gibt nicht nur die Ebene der Gegenwart, sondern auch die Erinnerungen an die Kindheit, diese Kindheitserinnerungen sind unvollständig, als würde ein Schleier über dem liegen, an das sich die junge Frau auf keinen Fall erinnern darf. Der Erzählstil dieser Erinnerungen ist kindlich, doch ich habe diesen kindlichen Ton immer als authentisch empfunden, nie als aufgesetzt oder unglaubwürdig. Schnell wird offensichtlich, dass Dafne sich Zugang zu diesem Ort verschaffen muss, den sie irgendwo in sich verschlossen hat, um in der Gegenwart endlich fühlen und leben zu können. Darüber hinaus gibt es immer wieder Passagen aus Dafnes Geometrie der Gefühle. Bei dieser Geometrie handelt es sich um eine Art Sammlung an Lebensweisheiten und amüsante Regeln zur Lebensführung.

“Während meine Mama isst und schweigt, denke ich, wenn nicht alles am falschen Platz wäre und jemand nicht was Falsches gesagt hätte, würden sie und ich jetzt zusammen spielen und sie würde mir sagen, ich solle aufhören, mit dem Saft zu blubbern und die Fischstäbchen zu zerpflücken.”

“Rezept für ein Herz in Aufruhr” klingt – wenn man allein den Titel betrachtet – nach einer seichten Liebesschnulze, doch dieser erste Eindruck täuscht zum Glück. Viola Ardone legt mit ihrem Romandebüt eine lesenswerte Reise in die Vergangenheit vor. Es geht um Gefühle, Erinnerungen und an das, was mit uns geschehen kann, wenn wir Dinge einfach nur verdrängen – irgendwann kommt alles wieder zurück und trifft dann mitten hinein in unser eigentlich so stabiles Leben. Ich habe mit “Rezept für ein Herz in Aufruhr” ein lesenswertes Romandebüt verschlungen, dem ich möglichst viele Leser wünsche!

Tage zwischen gestern und heute – Andreas von Flotow

Andreas von Flotow wurde 1981 in Dannenberg geboren und lebt heutzutage in Berlin. Er hat als Dramaturgieassistent gearbeitet, unter anderem am Maxim Gorki Theater Berlin und am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Daneben war in einer Kunstbuchhandlung tätig, sowie als Lektor. Mit “Tage zwischen gestern und heute” legt Andreas von Flotow, der heutzutage als freier Dramaturg arbeitet, seinen Debütroman vor.

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Andreas von Flotow legt mit “Tage zwischen gestern und heute” einen Roman vor, dessen Handlung in unserer heutigen Gegenwart wurzelt, dessen Ich-Erzähler sich jedoch bereits im Jahr 2031 befindet. Der Erzähler, der namenlos bleibt, begibt sich zurück in seine Kindheitserinnerungen, versetzt sich zurück in den Jungen, der er gewesen ist. Zweimal ist das Leben des Jungen zerbrochen, in so viele Einzelteile, dass es kaum noch zusammenzufügen ist. An dem Tag, an dem er zehn Jahre alt wird, werden seine Eltern von seinem Onkel erschossen. Der Vater stirbt sofort, die Mutter befindet sich fünf Jahre lang in einer Art Wachkoma – in einem Schwebezustand, zwischen Bewusstsein und Schlaf, aus dem sie niemand mehr herausholen kann. Sie stirbt, als der Erzähler fünfzehn Jahre alt ist.

“Meine erste Erinnerung, wenn ich an die frühe Kindheit denke: Ich kann mich an keinen Tag erinnern, an dem es besonders laut oder lärmend um mich herum gewesen wäre.”

Die Erinnerungen an den Unglückstag, der alles verändern sollte, sind schwammig und vage, doch der Erzähler versucht sich hinein zu begeben in das Leben, das er als Kind geführt hat. Er versucht die Erinnerungsfetzen, die ihm geblieben sind, zu erforschen, zu untersuchen und zusammenzusetzen. Er begibt sich zurück in die Zeit vor dem Unglück, in die Zeit danach, als er bei seiner ungeliebten Großmutter leben muss, die er Tante Eve nennt.

Der Erzähler erlebt eine behütete Kindheit, auch wenn seine Eltern häufig abwesend sind. Mit seiner Mutter, die eine berühmte Sängerin ist, lebt er in Amerika, der Vater hält sich häufig in Frankreich auf. Wenn er doch einmal bei seiner Familie ist, versinkt er immer wieder in der Welt der Bücher, liest und schreibt kleine Zettelchen voller Notizen, die er zwischen die Buchseiten legt. Helen, das Kindermädchen, ist ein wichtiger Teil der Familie – sie ist diejenige, die die wohl engste und liebevollste Beziehung zu dem Erzähler hat.

“Der Tag, an dem meine Mutter starb, ist für mich im selben Augenblick Traum und Wirklichkeit; einerseits eine traumhaft logische, aber leider nur spürbare Folge unzähliger Ereignisse, andererseits eine exakte und greifbare Nachbildung der Vergangenheit vor meinem geistigen Auge.”

Der Blick zurück in die Vergangenheit ist gleichzeitig auch ein Blick auf die Eltern, die immer irgendwie da waren, denen der Erzähler jedoch nie nahe gekommen ist. Der Blick zurück auf das, was geschehen ist, ist auch ein Versuch, sich dem Kind anzunähern, das man gewesen ist und dabei die Eltern zu ergründen, die nur viel zu kurz Teil des eigenen Lebens gewesen sind.

“Im Jahr 2005 sind meine Eltern Opfer eines Anschlags geworden, den mein Onkel, ein Halbbruder meiner Mutter, verübt hat. Er feuerte dreizehn Schüsse ab, mein Vater war sofort tot, meine Mutter starb fünf Jahre später. Die folgende Erzählung ist eine kurze, hier und da bebilderte Chronologie meiner Kindheit bis zum Tod meiner Mutter. Sie ist durchwoben mit den Daten meines Lebenslaufes und stellt vermutlich den entscheidenden Teil des geistigen Fundamentes dar, auf dem ich als fünfzehnjähriger Junge stand. ich erzählte der Reihe nach und behalte die Natur der Ordnung im Hinterkopf: Sie ist ein Phänomen der Oberfläche, darunter ist es wüst und leer.”

“Tage zwischen gestern und heute” ist ein Roman, der so kurz ist, das er schon fast eine Novelle sein könnte. Der Text lässt mich zwiespältig und mit vielen offenen und unbeantworteten Fragen zurück. Die Chronologie der Kindheit liest sich vielmehr als Steinbruch, als ein Trümmerhaufen der Erinnerungen. An vieles erinnert sich der Erzähler nicht mehr, vieles ist ihm unklar. Vieles bleibt dadurch auch dem Leser verborgen, wir tauchen zwar ein in diese Bruchstücke einer Kindheit, doch auf viele Fragen gibt es keinerlei Antworten. Die drängendste Frage war für mich die Frage nach dem warum? Wie konnte es zu dieser Tat kommen? Antwortversuche auf diese Frage gibt es nur spärlich.

Der Blick zurück auf die Kindheit, ist ein Blick, über den ich in vielen Romanen gestolpert bin zuletzt. Doch in diesem Roman funktioniert die gewählte Perspektive für meinen Geschmack nicht wirklich. Über der Kindheit des Erzählers liegt ein dunkler Schleier, der nur stellenweise Licht durchlässt. Vieles bleibt unklar, vieles bleibt schwammig. Ich fühle mich beinahe schon verloren in dieser Erzählung, die bereits vorbei ist, bevor sie eigentlich so wirklich begonnen hat. Andreas von Flotow deutet an, dass er erzählen kann, er deutet an, dass er Charaktere entwerfen und Szenen gestalten kann, doch all diesem fehlt dann doch ein verbindendes Element. Nach dem Zuklappen der letzten Seite gibt es nicht vieles, das von dieser Lektüre in mir zurückbleibt. Am meisten beeindruckt hat mich vielleicht die Bücherliebe des Vaters, die er an seinen Sohn weiterreicht. Es sind die Bücher, die dem Erzähler helfen, in Kontakt zu sich selbst und zu seiner Mutter zu kommen. Die Bücher des toten Vaters ziehen irgendwann im Zimmer des Sohnes ein und werden für ihn zu einer Art Rettungsanker, nicht unbedingt, weil er sie alle liest, sondern allein durch ihre Präsenz.

“Am liebsten würde ich hier jedes einzelne Buch meines Vaters mit einem Satz erwähnen, wenigstens etwas darüber sagen. Nicht unbedingt über den Inhalt, eher über ein paar wiederkehrende Gedanken, über das Gefühl, das diese Bücher in mir wecken, wenn ich mir nur die Titel in Erinnerung rufe. Aber ich schweige lieber. Über die wichtigsten Sachen lässt sich am wenigsten sagen.”

Andreas von Flotow legt mit “Tage zwischen gestern und heute” einen schmalen Roman vor, der mich leider nicht überzeugen konnte. Die Grundidee hat mich noch begeistern können, doch dem Autor gelingt es leider nicht wirklich, diese Idee auch mit Inhalt zu füllen. Vieles in diesem Roman bleibt deshalb leider Stückwerk, gute Ansätze sind dabei zwar immer wieder zu erkennen, mehr aber leider auch nicht.

Eulenrod – Hans Stilett

Hans Stilett wurde 1922 geboren, damals noch unter seinem gebürtigen Namen Hans Adorf Stiehl. Von 1953 bis 1983 arbeitete er  als leitender Redakteur im Bundespresseamt in Bonn, nach seiner Pensionierung zog es ihn zurück an die Universität: ein Studium der Komparatistik, Germanistik und Philosophie schloss er 1989 an der Universität Bonn mit einer Promotion ab. Bekannt wurde er durch eine Neuübersetzung von Montaignes Essais, die 1998 erschien.

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“Kein Zweifel: Ich werde gewesen sein. Woraus folgt, daß ich, da gewesen, sein werde. Denn alles, was je war, bleibt dem Buch des Lebens eingeschrieben. Wie die Menschen, von denen hier die Rede sein wird. Wie jedes Glühwürmchen auch. Wie jeder Stern.”

“Eulenrod” ist keines der Bücher, wie man sie heutzutage in einer schier erschlagenden Masse in den Buchläden ausliegen sieht. Es ist wunderbar gestaltet, bereits äußerlich erscheint es wie ein ungewöhnlich schönes Kleinod. Es ist deutlich kleiner als sonstige Bücher, auch der herkömmliche Schutzumschlag fehlt. Das Buch trägt den mysteriösen Titel “Eulenrod”, das Cover zeigt einen dichten Wald, in den dennoch ein Schimmer Licht hinein fällt. Der Untertitel ist mir sofort ins Auge gesprungen und hat mich neugierig gemacht: Biographisches Mosaik.

“Noch wese ich im Hier und Jetzt, doch der Abschied naht. Desto dichter drängen nun Gestalten heran, die ich längst vergessen glaubte, und Szenen aus dem Dämmer meiner ersten Lebensjahre leuchten wieder auf.”

Dem Buch voran gestellt ist passenderweise ein Satz von Montaigne: “Ein kleiner Mensch ist ein ganzer Mensch, genauso wie ein großer.” Hans Stilett versetzt sich zurück in die Gedankenwelt und in die Gefühle seiner Kindheit, er tut dies mit einer großen Ernsthaftigkeit – ein Kind mag ein Kind sein und dennoch erfährt es die Welt in einer Art und Weise, die nicht weniger wahr ist, als das Erleben von Erwachsenen. In kurzen Texten widmet er sich dem Leben, das er als Kind geführt hat.

“Wir leben arm, doch sehr gesund.”

Hans Stilett wächst vaterlos und in ärmlichen Verhältnissen auf. Die Wohnung, in der er lebt hat nur eine Stube und eine Schlafkammer. Die Mutter ist häufig nicht zu Hause und lässt lässt den Jungen bei seinen Großeltern zurück. Trotz der Abwesenheit der Mutter, bleibt sie für ihn eine wichtige Bezugsperson: sie schreibt nicht nur ihren Lebensroman, sondern auch Gedichte und mit Vögeln kann sie sprechen, sie beherrscht “Finkisch” und “Meisisch”. Auch die Großmutter ist sehr mit der Natur verbunden, sie lehrt ihm, Heidelbeeren zu pflücken. Hans Stilett übernimmt die Lieber zur Natur von ihr und liebt es bereits in jungen Jahren, sie zu erforschen – manchmal liegt er stundenlang bäuchlings auf einem Kiesweg, um Stiefmütterchen zu beobachten.

Der Ort in Thüringen an dem der Junge aufwächst, heißt eigentlich Zeulenroda – es sind nur zwei Buchstaben, die diesem abgenommen werden und schon wird aus der beengten und dörflichen Kleinstadt Zeulenroda Eulenrod, ein Ort an dem ein Junge wie Hans, jeden Tag ein anderes Abenteuer erleben kann.

“Neulich ein wildes Gewitter, schwarz, zerfetzt vom Gold der Blitze. Ich greif mir Bleistift und Papier und renn ans linke Stubenfenster, um sie im Niedersausen zu packen, Blatt um Blatt: ein rätselhaftes Gewirr von Linien, das vielleicht wer entziffern kann. Drum heb ich alles auf.”

Der Autor beschwört seine Kindheit auch durch eine besondere Sprache wieder herauf. Im Text stolpere ich über mir unbekannte Begriffe, an einer Stelle kriegt Hans von seinem Großvater eine gedachtelt, an anderer Stelle schneidet die Großmutter einen Runks vom Rundbrot ab. Die Erinnerungen an die damalige Zeit sind jedoch nicht nur in heitere Farben getönt – auch Tod und Krankheit spielen im Leben des Jungen eine Rolle. Ganz am Rande seiner kindlichen Perspektive wird auch die zunehmende Verschiebung der politischen Situation deutlich, immer mehr Menschen in Zeulenroda gebrauchen den Hitlergruß.

Hans Stilett wirft in “Eulenrod” einen eigenwilligen Blick auf seine Kindheit, er erinnert sich zurück an das Leben in den 20er Jahren und betrachtet diese Zeit aus den Augen des Kindes, das er damals gewesen ist. Die Bezeichnung Biographisches Mosaik habe ich im Laufe der schmalen Lektüre als immer passender empfunden: die kurzen Texte und aneinandergereihten Kindheitserinnerungen ergeben in der Tat eine Art Mosaik es ist ein Mosaik des eigenen Lebens – der eignen Biographie.

“Eulenrod” ist eine Zusammenstellung von Erinnerungssplittern, von Kürzesterinnerungen, die Seite an Seite, auf engem Raum, nebeneinander stehen und einen unverwechselbaren und einzigartigen Blick auf eine Kindheit gewähren. Genauso wunderschön wie die äußere Gestaltung, ist auch der Inhalt dieses schmalen Büchleins äußert lesenswert. Die Kindheit von Hans Stilett ist höchst gewöhnlich, ungewöhnlich und schön ist jedoch der Zugang den er zu ihr gefunden hat und die Art und Weise, in der er seine Erinnerungen wieder aufleben lässt.

Frühling auf dem Mond – Julia Kissina

Julia Kissina wurde 1966 in Kiew geboren. In den 80er Jahren gehörte sie zum Kreis der Moskauer Konzeptionalisten um Vladimir Sorokin und Pawel Pepperstein. Bekannt wurde sie durch zahlreiche spektakuläre Kunstaktionen, aber auch durch ihre Arbeit als Fotokünstlerin. 2005 erschien mit “Vergiß Tarantino” ihr erster Roman, es folgte das Kinderbuch “Milin und die Zauberkreide”. Die Autorin lebt heutzutage in Deutschland. “Frühling auf dem Mond” ist ihr neuster Roman, er erschien im vergangenen Jahr im Suhrkamp Verlag und wurde übersetzt von Valerie Engler.

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“Wir alle sitzen im Empfangssaal des Herrn und warten auf unsere Stunde. Sein Empfangssaal ist riesig, dort stehen für die Wartenden Bänke.”

In “Frühling auf dem Mond” verarbeitet Julia Kissina – mal humorvoll, mal nostalgisch, mal mit tragischer Note – ihre eigenen Erinnerungen an ihre Kindheit. Geboren wurde sie 1966 in Kiew, in eine Stadt hinein, die damals in Trümmern lag. Ganze Straßenzüge lagen in Schutt und Asche, Abrissbagger verwandelten Kiew in ein Trümmerfeld. Julia Kissina erinnert sich an eine Zeit zurück, in der sie gerade einmal elft Jahre alt war, doch gleichzeitig auch ein bereits seltsam frühreifes Mädchen – bei Begegnungen mit anderen Menschen macht sie sich ein Jahr älter, um “älter und seriöser zu erscheinen”.

“Meine ganze Kindheit spielte sich in diesen Schrunden der verschlungenen Straßen ab. Aber das Schlimmste war gar nicht die Kindheit. Das Schlimmste war das Bedauern, das später kam.”

Julia Kissina erzählt von einer Kindheit, die von der Vergangenheit eines Krieges und der Gegenwart hinter dem Eisernen Vorhang geprägt ist. Sie wächst mit einer Mutter auf, die eigentlich als Lehrerin arbeitet. Ihre Mutter ist eine wunderschöne Frau, die nur einen Fehler hat: sie findet keine Ruhe, wenn sie nicht arbeitet, sucht sie sich neue Aufgaben. Sie kümmert sich um die alten Menschen in der Irrenanstalt oder quartiert arme und haltlose Frauen bei sich zu Hause ein. Wie ein Geschwür, schleicht sich die Mutter in das Leben fremder Menschen hinein – sie möchte helfen, doch über die Pflege der anderen, vernachlässigt sie ihre eigene Familie. Mit dem Versuch der Mutter, sich bedürftigen Menschen anzunehmen, endet allmählich die Kindheit von Julia Kissina. Der Vater schreibt Texte für eine Zirkusrevue und ermöglicht seiner Familie immer wieder exklusive Plätze bei den beliebten Zirkusvorstellungen; gleichzeitig lebt er in der Angst, aufgrund seiner politischen Ansichten denunziert zu werden.

“Man zwingt mich zu wachsen. Man zwingt mich, das papierene Rückgrat zu strecken. Man misst mich mit dem Lineal, ob mein Wachstum nicht stockt, man wiegt mich und spickt mich mit Vitaminen. Meine Eltern achten sorgfältig darauf, dass ihr mickriges Geschöpf Fleisch ist.”

Der Krieg ist in den 60er Jahren schon lange vorbei, doch sein drohender Schatten konnte aus der Stadt noch nicht vertrieben werden. Julia Kissina erzählt von einer Nacht im Juni 1941, es ist die Nacht, in der ihre Mutter zur Welt kommt und es ist die Nacht, in der erste Bomben auf Kiew fallen. Auch das Krankenhaus wird getroffen, das Bett in dem Mutter und Großmutter liegen, ist das einzige Bett, das nicht getroffen wird. Auch die Auswirkungen des Lebens hinter dem Eisernen Vorhang sind spürbar: überall herrscht die Angst vor Denunziation, vor Wanzen, vor Abhörung. Ausländische Lebensmittel werden heimlich nach Kiew geschmuggelt. Eines Abends isst Julia Kissina mit ihren Eltern bei Verwandten zu Abend, die englisches Salz nach Kiew geschmuggelt haben. Das Salz wird mit einer Vorsicht und Begeisterung probiert, als könnte es sich um ein Wundermittel handeln.

“Die Brachen in unserer Stadt waren wie echt endlose Steppen. Denn sobald man ein Haus abriss, überzogen sich die Ruinen mit langem kräftigem Gras, sofort schlug die Natur zu, und gelbe Weiden tauchten auf, wie aus dem Nichts, vom Dnepr herausgehinkt, und diese Weiden weinten mit ihren Peitschenzweigen, darum hießen sie auch Trauerweiden.” 

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“Frühling auf dem Mond” ist ein ungewöhnlicher Roman, ein außergewöhnlicher Text und eine gleichzeitig quälende Lektüre. Selten zuvor habe ich einen Roman gelesen, der mich auf der einen Seite angezogen hat, zu dem ich auf der anderen Seite aber nur sehr schwer einen Zugang gefunden habe. Etwas, das dieser Roman im Überfluss hat, ist Humor: es ist ein manchmal gewollter Humor, ein erzwungener Humor, der förmlich einen heiteren Dunst über die Vergangenheit legt.

“Kein Mensch auf dieser Welt kann die ganze Zeit Gutes tun, das schafft er gar nicht. Leiden können wir dagegen von morgens bis abends, sogar im Schlaf.”

Erst als ich diesen Humor wie eine Schicht vom Text abgekratzt habe und mich auf das, was dahinter liegt, konzentriert habe, habe ich besser in diesen Text hineinfinden können. Julia Kissina taucht mit einer rückhaltlosen Ernsthaftigkeit in ihre eigenen Erinnerungen hinab, hinab zu dem Menschen, der sie als Kind gewesen ist. Es ist ein frühreifer Mensch, ein Mensch voller Ernst und schwerer Gedanken. Als Kind schreibt Julia Kissina Briefe an sich selbst, sie schreibt Briefe in die Zukunft, an ein späteres Ich, dem sie Belehrungen und Ermahnungen erteilt. Die Zirkusvorstellungen genießt sie nicht, stattdessen hinterfragt sie die Fassade der Zirkusartisten, von denen die meisten eine unglaubliche Lebensgeschichte haben: “viele waren Kriegsveteranen.” Die erwachsene Julia Kissina widmet sich ihrem kindlichen Ich mit viel Wärme und Liebe, ihre Erinnerungen – an die Stadt, in der sie aufwuchs, an die Eltern, mit denen sie lebte und an die erste Liebe, die sie liebte – sind mit einer feinen Nostalgie durchwebt.

“Manchmal scheint es, dass die Ziegelsteine der Vergangenheit so dicht aneinanderkleben, dass es dort überhaupt keinen Platz für Neues gibt. […] Mit der Zeit verlor ich das mystische Gefühl, das mich damals begleitet hatte, ein Gefühl, das wohl niemals zu mir zurückkehren wird.”

“Frühling auf dem Mond” ist herrlich schrill und gleichzeitig von einer tiefen Ernsthaftigkeit geprägt. Ich habe etwas Zeit gebraucht, um mich auf die Stimme dieses seltsamen Mädchens einzulassen, das tieftraurig, altersweise und rebellisch ist. Ich glaube aber, dass genau solche Romane wichtig sein können für die Literatur: “Frühling auf dem Mond” ist verrückt, doch dieses Verrückte muss einen nicht abstoßen, es kann etwas mit einem machen. Julia Kissina hat einen lesenswerten Roman geschrieben, über die Liebe, Nostalgie und Kindheitserinnerungen.

 

Im Licht von Apfelbäumen – Amanda Coplin

Amanda Coplin wurde in Wenatchee geboren;  mit “Im Licht von Apfelbäumen” legt sie ihren ersten Roman vor. Sie hat bereits zahlreiche Stipendien erhalten und war unter anderem als Writer in Residence am Ledig House in Upstate New York. Wer mehr über die Autorin erfahren möchte, sollte einen Blick auf die Homepage von Amanda Coplin werfen.

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“Das Leiden hatte ihn geformt, ihn schweigsam gemacht und vorsichtig, bedachtsam: tiefgründig. Großherzig, freundlich und rücksichtsvoll, obwohl er das auch vorher schon gewesen war. Mit jeder bedachtsamen Geste zielte er weit zurück und hoffte, seine Schwester zu erreichen, sie irgendwo aufzuspüren.”

William Talmadge lebt in einem abgelegenen und fruchtbaren Tal im nordöstlichen Teil von Washington. Im Sommer 1857 ist er gemeinsam mit seiner Mutter und seiner Schwester dorthin gezogen, damals war William Talmadge neun Jahre alt. Nicht einmal sieben Jahre später, bleibt Talmadge alleine auf der Farm zurück, die Mutter starb an einer Atemwegserkrankung seine Schwester Elsbeth ging in den Wald und kehrte nie wieder zurück. Die Jahre vergehen, doch seine geliebte Schwester kann Talmadge nicht vergessen, auch wenn er sich mit der Zeit an diesem abgeschiedenen Ort in seiner Einsamkeit eingerichtet hat. In Gedanken ist Elsbeth, wenn er die Apfel- und Aprikosenbäume erntet, immer bei ihm.

“Das Einzige, was – vielleicht – noch schlimmer war, als mit Sicherheit zu wissen, dass man sie verschleppt hatte, war, es nicht zu wissen. Das war die traurige Wahrheit. Und Talmadge lebte mit dieser Ungewissheit, er hatte sich darin eingerichtet, und es gab keine Möglichkeit für ihn, jemals wieder zur Ruhe – wirklich zur Ruhe – zu kommen.”

Eines Tages tauchen zwei junge Frauen auf, die Äpfel von den Bäumen stehlen. Talmadge lässt sie gewähren und die beiden kehren immer wieder zu der Plantage zurück. Die Frauen sind scheu und verängstigt, doch dieser alte und gutmütige Mann, macht sie auch neugierig. Sanft und ohne viele Worte nähern sich die drei an und Della und Jane, so heißen die beiden Frauen, werden Stück für Stück zu einem neuen Bestandteil von Talmadges Leben. Als er ihnen Zutritt in sein Leben als Einsiedler gewährt, kann Talmadge nicht ahnen, wie weitreichend diese Entscheidung sein restliches Leben verändern sollte und welches grausame Schicksal die beiden Frauen teilen …

“Freundlichkeit konnte sich mir nichts, dir nichts in ihr Gegenteil verkehren, konnte einem die Luft abdrücken oder mit dem Handrücken ins Gesicht schlagen.”

Amanda Coplin erzählt in ihrem Debütroman “Im Licht von Apfelbäumen” eine berührende Geschichte, eine Geschichte, in der Tragik und Hoffnung mit einem ganz zart schimmernden Faden miteinander verbunden werden. Verzaubern kann der Roman dabei nicht nur durch den Handlungsort, denn die abgelegene Plantage ist ein herrlich einsamer und in der Natur gelegener Ort und die Geschichte ist angefüllt mit traumhaften Landschaftsbeschreibungen, sondern auch durch die beschriebenen Figuren.

“Die Tage verschwammen, einer war weitgehend wie der andere. Es gab kaum Veränderungen. Vielleicht war die Zeit stehen geblieben; vielleicht hatte sie nie existiert. Es war nicht klar, was geschehen würde.”

Im Zentrum der Geschichte steht William Talmadge, der immer nur bei seinem Nachnamen genannt wird. Talmadge ist kein Mann, der vielen Worte. Geprägt wurde sein Leben durch den frühen Verlust seiner Schwester. Dieser Verlust hat ihn zu einem sensiblen Mann gemacht, der sich in seiner Einsamkeit und einem Leben, das aus Apfel- und Aprikosenbäumen besteht, eingerichtet hat. Die Begegnung mit Della und Jane gibt ihm zum ersten Mal in seinem Leben die Möglichkeit, etwas wieder gut zu machen, was er glaubt, bei seiner Schwester falsch gemacht zu haben. Della und Jane geben ihm die Möglichkeit, das drängende Gefühl der Schuld und Unzulänglichkeit abtragen zu können und zu mildern.

“Es war alles neu – die Gesellschaft, die Geräusche -, doch zugleich hatte er das Gefühl, als gehe es schon seit Langem so. Er war, dachte er – und die Erkenntnis erschütterte ihn -, glücklich.”

Auch die beiden Frauenfiguren werden von Amanda Coplin mit viel Wärme und Liebe gezeichnet, aber auch in all ihrer Zerrissenheit, in ihrer Orientierungslosigkeit, in ihrer Verzweiflung. Besonders die Lebensgeschichte von Della ist mir nahe gegangen; selten zuvor hat mich das Schicksal einer Romanfigur so im Innersten berühren können. An der Lebensgeschichte von Della wird deutlich, dass Erlebnisse in der Kindheit einen für immer prägen, aber auch zerstören, können. Caroline Middey, eine Ärztin, die mehrmals aus der Stadt anreist, um Talmadge zu unterstützen, fungiert als weise Stimme der Vernunft, die voller Ruhe und Gelassenheit Situationen bewertet und Ereignisse in die richtige Richtung lenkt.

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“Wer hat in dieser Gegend schon eine Kindheit?, sagte sie oft. Wenn man geboren werde, sei der Tod bereits im Zimmer, warte bereits auf einen.”

Die Geschichte, die Amanda Coplin erzählt fasst einen Zeitrahmen von mehreren Jahrzehnten ein: von der Mitte des 19. Jahrhundert an, bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts reicht die Erzählung, die sich auf die arme Bevölkerungsschicht von Amerika konzentriert, die darum bemüht ist, ihr Geld in der Landwirtschaft zu verdienen. Amanda Coplin erzählt eine herzergreifend Geschichte, bei der sie jedoch auf Kitsch und Sentimentalitäten verzichtet. Der Roman wird – ganz im Gegenteil – mit einer ungeheuer tiefen Kraft und einer außerordentlichen Ruhe erzählt.

“Im Licht von Apfelbäumen” ist ein Roman, der aus dem Leben von Menschen erzählt, die es nicht einfach haben. Von Menschen, die das, was sie erlebt haben, nicht mehr loslässt, die ein Leben führen, das bestimmt ist von dem, was ihnen widerfahren ist, deren Seelen Wunden tragen, die eitern statt zu heilen und die dennoch die Möglichkeit erhalten, ein ganz besonderes Gefühl zu entdecken: das Gefühl der gegenseitigen Liebe. Eine Liebe, die die Zeit überdauern kann. Amanda Coplin ist ein wunderbarer Roman gelungen, auf den letzten Seiten abgerundet durch ein großartiges Ende, das ich am Liebsten immer und immer wieder gelesen hätte.

Spielen – Karl Ove Knausgård

“Spielen” ist der dritte Band eines literarischen Projekts, in dem Karl Ove Knausgård autobiographische Erinnerungen verarbeitet und das auf insgesamt sechs Bände angelegt ist. Ich habe bereits “Sterben” und “Lieben”, die ebenfalls im Luchterhand Verlag erschienen sind, mit Begeisterung verschlungen. Diese sechs Bücher sollten den Norweger Knausgård in seinem Heimatland berühmt machen, sie haben aber auch für kontroverse Diskussionen gesorgt. Darf man sein eigenes Leben und das Leben seiner Angehörigen wirklich so stark in das grelle Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit zerren, oder ist dieses Vorgehen moralisch verwerflich?

“An einem milden und wolkenverhangenen Tag im August 1969 fuhr auf einer schmalen Straße am äußeren Ende einer südnorwegischen Insel, zwischen Wiesen und Felsen, Weiden und Wäldchen, kleine Hügel hinauf und hinunter, durch enge Kurven, mal mit Bäumen zu beiden Seiten wie in einem Tunnel, mal mit dem Meer gleich nebenan, ein Bus.”

In “Spielen”, das aus dem Norwegischen von Paul Berf übertragen wurde, geht Karl Ove Knausgård zurück in seine Kindheit, ganz zurück, bis an die Anfänge. Die Erzählung setzt 1969 ein, damals ist Karl Ove Knausgård gerade einmal ein Jahr alt. Es ist das Jahr, in dem die Familie einen Neuanfang wagt, sie zieht weg aus Oslo und richtet sich in einem anderen Leben neu ein. Das neue Heim ist ein Haus in einem Neubaugebiet auf der Insel Tromøya. Die Eltern sind damals beide vierundzwanzig Jahre alt und gehen mutig einer vielversprechenden Zukunft entgegen: beide haben einen Job, sie haben ein Haus und zwei Kinder – Karl Ove und seinen älteren Bruder Yngve. Die Knausgårds sind eine in “jeder Hinsicht durchschnittliche Familie”. Doch Seite für Seite, Erinnerung für Erinnerung, wird deutlich, dass die Familie nicht so durchschnittlich ist, wie angenommen, denn in ihrem Kern regiert ein Vater, der in dem schönen neuen Haus Angst und Schrecken verbreitet.

“An diese Zeit kann ich mich naturgemäß nicht erinnern. Es ist mir völlig unmöglich, mich mit dem Kleinkind zu identifizieren, von dem meine Eltern Fotos machten, ja, es fällt mir so schwer, dass es beinahe verrückt erscheint, für dieses Baby das Wort “Ich” zu benutzen […]. Ist dieses Geschöpf identisch mit dem Menschen, der hier in Malmö diese Zeilen schreibt?”

Karl Ove Knausgård hat keine Erinnerungen mehr an die ersten sechs Jahre seines Lebens, naturgemäß, denn so geht es vielen von uns. Alles, was er weiß, weiß er aus zweiter Hand: aus Erzählungen und von Fotographien. An die Geschichte selbst, die diese Bilder erzählen, hat Knausgård keine Erinnerungen mehr und doch bilden diese Fotos einen wichtigen und sehr intimen Teil seines Lebens ab: seine Kindheit, errichtet in einem Provisorium aus fehlenden Erinnerungen und Bildern, die diese Leerstellen füllen sollen.

“Man könnte sich vorstellen, dass diese Fotografien eine Art Gedächtnis verkörpern, eine Art Erinnerung bilden, nur ohne das “Ich”, von dem die Erinnerungen normalerweise ausgehen, und daraufhin stellt sich natürlich die Frage, was sie bedeuten.”

“Spielen” beginnt mit Gedanken von Karl Ove Knausgård zu dem Themenkomplex Erinnerung und Gedächtnis, anschließend erzählt er aus seiner eigenen Kindheit, einsetzend zu einem Zeitpunkt, als er ein kleiner Junge gewesen ist. Aus der Perspektive eines Kindes, erschafft der norwegische Autor eine Landschaft der Kindheit, bestehend aus Erinnerungen, sicherlich aber auch aus eigenen (fiktionalisierten) Ergänzungen und Gefühlen, die sich erst im Rückblick auf die eigene Vergangenheit entwickelt haben. Leerstellen, aus den Jahren, an die er sich nicht mehr erinnern kann, werden gefüllt. Für mich als Leserin war es mitunter erstaunlich, mit welcher Detailtreue der Autor sich an seinen ersten Schultag und die damit verbundenen Emotionen zu erinnern meint. Seine Erinnerungen sind assoziativ, schweifen von einem Thema zum nächsten – es bleibt nicht aus, dass der Roman stellenweise zäh ist, doch es gelingt dem Autor, den Leser immer wieder zurück an seine Seite zu holen.

“Das Gedächtnis ist keine verlässliche Größe im Leben, aus dem einfachen Grund, dass für das Gedächtnis nicht die Wahrheit am wichtigsten ist.” 

Die Kindheit von  Karl Ove Knausgård wird geprägt von einem Vater, der unberechenbar ist und das Haus mit einer düsteren, schweren und bedrohlichen Finsternis füllt. Häufig ist Knausgård das Opfer seiner Attacken; er ist sensibler als sein älterer Bruder Yngve und weint viel und häufig. Das Haus der Knausgårds wirkt wie erstarrt in einem Korsett aus Regeln und Vorschriften, werden diese gebrochen, drohen Hausarrest oder auch körperliche Bestrafungen. Auch in der Welt außerhalb seines Elternhauses hat der Autor zu kämpfen: er gilt als ein besserwisserisches Kind, manchmal erscheint er fast schon schmerzhaft naiv, dann wieder arrogant und eingebildet.

“Aber gleichzeitig vergeht die Zeit auch nie so langsam wie in der Kindheit, niemals sonst ist eine Stunde so lang wie in ihr. Verschwindet das Offene, verschwinden die Möglichkeiten, mal hierhin, mal dorthin zu laufen, sei es nun in Gedanken oder in der Wirklichkeit, wird jede Minute zu einem Schlagbaum und die Zeit zu einer Zelle, in der man gefangen ist.”

Der liebevolle Fixstern in der Kindheit des Autors ist seine Mutter, die ihn rettet: “[…] wenn es auf dem Grund jenes Brunnens, der die Kindheit ist, jemanden gab, dann war das sie, meine Mutter, Mama.” Die Mutter erscheint jedoch auch seltsam blass und leblos, beinahe schon abwesend. Das Verhalten ihres Mannes wird von ihr klaglos hingenommen und akzeptiert, sie lebt neben ihm her und ist ihren Kindern zwar eine liebenswerte Mutter, doch gleichzeitig belässt sie sie in diesen quälenden Verhältnissen. Für Knausgård  bleibt die Frage unbeantwortet, ob es ausreicht, die Finsternis auszugleichen; ob das, was seine Mutter getan hat, genug gewesen ist oder ob die Mutter im Gegenteil die Verantwortung dafür trägt, was ihren beiden Kindern passiert ist. Diese Frage bleibt unbeantwortet und doch ist sie in meinen Augen das Garn, aus dem dieser autobiographische Roman genäht worden ist: der Vater steht im Zentrum des Geschehens und doch hat die Mutter ihm diesen Platz ermöglicht.

“Sie rettete mich, denn wenn sie nicht gewesen wäre, hätte ich alleine mit Vater aufwachsen müssen, und dann hätte ich mir früher oder später auf irgendeine Weise das Leben genommen. Aber sie war da, Vaters Finsternis wurde ausgeglichen, ich lebe, und dass ich dies nicht voller Freude tue, hat nichts mit der Balance in meiner Kindheit zu tun. Ich lebe, bin selbst Vater und habe im Zusammenleben mit meinen Kindern im Grunde immer nur ein einziges Ziel verfolgt: dass sie keine Angst vor ihrem Vater haben.”

Karl Ove Knausgård ist ein Roman gelungen, der aus der Perspektive eines Kindes die Magie der Kindheit beschwört. Es ist eine Magie, die von allen emotionalen Facetten geprägt ist: Freude und Liebe, aber auch Angst, Traurigkeit, Wut und Unverständnis. Als Leser begleitet man Karl Ove Knausgård, der damals noch ein kleiner Junge gewesen ist, durch seinen bewegten Alltag: beim Lesen litt ich mit ihm, ich weinte mit ihm, ich freute mich mit ihm. “Spielen” ist für mich ein bewegendes und wichtiges Stück, nicht nur großartiger Literatur, sondern auch einer großen Lebensgeschichte.

Café Saratoga – Malin Schwerdtfeger

Malin Schwerdtfeger, die 1972 geboren wurde, ist in Bremen aufgewachsen. Sie studierte Judaistik und Islamwissenschaft und arbeitete in einer Berliner Buchhandlung – heutzutage lebt sie als Schriftstellerin in eben dieser Stadt. Mit “Café Saratoga” debütierte die Autorin 2001 und wurde von der Kritik begeistert gefeiert. Erschienen ist das Buch nun erneut und zwar in der edition fünf, einem ganz besondern Buchverlag, der sich vergessenen und zu wenig beachteten Autorinnen widmet und den ich in mein literarisches Herz geschlossen habe. In der Flut der Neuerscheinungen, die uns heutzutage jedes Jahr wieder erschlägt, ist es so erfrischend, Bücher, die man auf den ersten Blick nicht entdecken konnte, auf den zweiten Blick entdecken zu können.

“Jeden Tag im Café Saratoga erklärte uns unser Vater die zwei Deutschlands. Er erklärte sie uns, wie er den Tod erklärte und die nächsthöhere Dimension: Nur durch das eine war das andere zu erreichen, das andere aber war gut. Sein Name war Bundes.”

In “Café Saratoga” erzählt Malin Schwerdtfeger eine Geschichte vom Erwachsenwerden und von zwei Mädchen, die zwischen zwei Welten aufwachsen: Sonja und Majka sind Schwestern, gemeinsam verbringen sie ihre Sommerferien auf der polnischen Halbinsel Hel. Es sind unbeschwerte Zeiten, in denen man Sonne und Sommerluft atmen kann. Das Café Saratoga befindet sich auf Hel, Tata, der Vater der beiden Mädchen hat es übernommen. Doch was Sonja und Majka nicht ahnen, ist, dass dies nur eine Zwischenstation sein soll: das endgültige Ziel der Familie ist Deutschland. Oder wie Tata sagt: “Bundes”. Was für die Mädchen eine idyllische Heimat ist, ist für den Vater nur Mittel zum Zweck: mit dem Café möchte er endlich genug Geld verdienen, um den Sprung nach Deutschland zu schaffen.

“‘Sehr euch euren Vater an!’, sagte sie, und immer wollte Mama, dass wir uns etwas ansähen, denn in Mamas Augen bestand die Welt aus guten und schlechten Beispielen und das schlechteste Beispiel war Tata.”

Als die Familie Hel endlich hinter sich lassen kann und nach Deutschland übersiedelt, ist dies für Sonja und Majka ein schmerzlicher Verlust der Heimat. Die beiden Mädchen befinden sich an der Schwelle zur Pubertät und sind diesen Irrungen und Wirrungen nun in einem für sie gänzlich fremden Land ausgeliefert. Einem Land, das für sie kein Zuhause ist und dessen Sprache sie nur langsam und mühsam erlernen. Befanden sie sich eben noch auf der idyllischen Halbinsel, werden die beiden schüchternen und zurückhaltenden Mädchen plötzlich in eine leuchtende und grelle Großstadtwelt gestoßen. Im Jahr 1987 beginnt für Sonja und Majka plötzlich und unfreiwillig eine neue Zeitrechnung.

“Im Jahr drei meiner Zeitrechnung war es geschehen: Eine ewig Linie löste sich auf. Sie hatte zwei Deutschlands getrennt, die zwei Deutschlands, die uns Tata und Bocian erklärt hatten, jeden Tag im Café Saratoga.”

Ähnlich wie Alice Pung in ihrem Roman “Ungeschliffener Diamant”, den ich vor einigen Wochen hier vorgestellt habe, beschäftigt sich auch Malin Schwerdtfeger mit dem Themenkomplex Heimat und Fremde. Die Bemühungen ihrer beiden stillen Heldinnen, sich in ihrem neuen Heimatland zurechtzufinden, werden von der Autorin frei von jeglichem Kitsch und Pathos geschildert: ihre Beobachtungen sind unprätentiös und durchzogen von einem feinen Humor. Sonja und Majka erleben nicht nur einen Bruch ihrer Biographien, ein Wegziehen und Ankommen, sondern werden davon mitten in ihrer beginnenden Pubertät konfrontiert. Die Kindheit endet mit den Sommerferien auf Hel und die Jugend beginnt mit dem Umzug nach “Bundes”. Viele von Malin Schwerdtfegers Beschreibungen muten auf den ersten Blick unterhaltsam und humorvoll an, dazu tragen besonders die exzentrisch gezeichneten Eltern von Sonja und Majka bei, doch hinter dieser humorvollen Oberfläche steckt eine bittere Wahrheit: für Tata ist Deutschland das Paradies und damit ein Ort, den er um jeden Preis erreichen möchte. Doch wo liegt für die beiden Mädchen das Paradies? Wo möchte man leben? Wo gehört man hin? Für die Mutter der beiden ist die erzwungene Auswanderung und die dadurch entstehende Lebensveränderung zu viel, um es noch ertragen zu können – statt ihren Kindern beizustehen, flüchtet sie in eine Depression.

“Café Saratoga” ist trotz allem Humor ein rauer und schonungsloser Roman, der sich auf eine manchmal schwer zu ertragende Art und Weise mit den Übeln und Begleiterscheinungen des Erwachsenwerdens beschäftigt. Malin Schwerdtfeger erzählt vom Auseinanderbrechen einer Familie und vom viel zu frühen Erwachsenwerden zweier junger Mädchen, doch tut sie dies auf so lakonische Art und Weise, dass dennoch und trotz allem Hoffnung erhalten bleibt. Es ist die Hoffnung, auch in diesen Verhältnissen überleben zu können. Malin Schwerdtfeger gelingt es, wunderbare und eindringliche Bilder für die Kindheit und Jugend ihrer Heldinnen zu erschaffen und dabei eine berührende Geschichte zweier Schwestern zu erzählen. “Café Saratoga” ist großartige und sehr empfehlenswerte Literatur, die alles enthält, was ein gutes Buch ausmacht: Melancholie und Tiefe, gepaart mit ganz viel Humor.

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