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Deutschsprachige Literatur

Tigermilch – Stefanie de Velasco

Tigermilch-9783462045734_xxlStefanie de Velasco wurde 1978 in Oberhausen geboren und hat in Bonn, Berlin und Warschau studiert. Sie wurde bereits mit dem Literaturpreis Prenzlauer Berg und mehreren Stipendien ausgezeichnet. Derzeit ist sie Stipendiatin der Drehbuchwerkstatt München; Stefanie de Velasco lebt und arbeitet in Berlin und legt mit “Tigermilch” ihr Romandebüt vor.

“Wir müssen üben, für später, für das echte Leben, irgendwann mal müssen wir ja wissen, wie alles geht. Wir müssen wissen, wie alles geht, damit uns keiner was kann.”

Nini und Jameelah wachsen in derselben Berliner Siedlung auf. Beide sind erst vierzehn Jahre alt, fühlen sich aber schon lange erwachsen. Mit elf Jahren zieht Nini das erste Mal an einer Zigarette, mit vierzehn macht sie das erste Mal ein Kondom mit dem Mund drauf.  Das Lieblingsgetränk der unzertrennlichen Freundinnen ist die selbstgemischte Tigermilch: “ein bisschen Schulmilch, viel Maracujasaft und ordentlich Mariacron in den Müllermilchbecher”. Müllermilch ist für Kinder, Tigermilch für Erwachsene. Das Ende der Kindheit steht für Nini fest, als sie zum ersten Mal eine richtige Kindheitserinnerungen hat, denn “Erinnerungen aus der Kindheit kann man doch nur haben, wenn man selbst kein Kind mehr ist”. Jameelah kann sich kaum an ihre Kindheit erinnern, die sie im Irak verbracht hat – das ist aber auch gar nicht schlimm, denn eigentlich will sie gar nicht ganz erwachsen werden, “nur gerade genug, dass ich in alle Clubs reinkomme”. Nini und Jameelah fühlen sich so erwachsen, dass sie manchmal heimlich Ringelstrümpfe anziehen, die sie bis zu den Oberschenkeln hoch ziehen, und so auf die Kurfürsten gehen. Das gehört zu ihrem Projekt Entjungferung, das sie diesen Sommer unbedingt abschließen wollen.

“Mamas Sofa ist eine Insel, auf der sie lebt. Und obwohl diese Insel mitten in unserem Wohnzimmer steht, versperrt dicker Nebel die Sicht. An Mamas Insel kann man nicht anlegen.”

Am liebsten verbringt Nini ihre Zeit gemeinsam draußen mit Jameelah, denn ein Zuhause hat sie zwar, aber heimisch fühlt sie sich dort nicht. Ihre Mutter schläft den ganzen Tag auf dem Sofa, während ihr richtiger Vater schon lange abgehauen ist. Ihre Schwester Jessi ist ein Unfall gewesen und mit ihrem neuen Stiefvater versteht sie sich kaum.

“Ich würde gern aufstehen und gehen, ich will nach Hause, aber zu Hause, ist das bei Rainer und Jessi, bei Mama und ihrem Sofa? Ich weiß nicht, keine Ahnung, wo ich hinwill, ich will auf Amirs Linde und so weit hochklettern, dass mich die grünen Blätter ganz bedecken und mich keiner finden kann, ich will das dünne Ende vom Wollfaden in den Ästen suchen und mich wie ein Äffchen daran festhalten, so lange, bis jemand die Welt unter mir wieder zusammengeklebt hat.” 

Ihr Zuhause ist von Sprachlosigkeit geprägt, dabei bedeuten ihr Wörter doch so viel. Nini und Jameelah schwanken zwischen dem Wunsch nach einer heilen Kindheit und der harten Welt der Erwachsenen, hinter einer rauen Schale verbergen beide Traurigkeit aber auch eine kindliche Freude am Leben und an der Sprache. Beide haben sich die O-Sprache ausgedacht und knacken am liebsten auf dem Balkon Wörter.

“Jameelah liebt es, Buchstaben zu vertauschen, Wörterknacken nennt sie das. Aus Luft macht sie Lust, aus Nacht nackt, Lustballons, Nacktschicht, Lustschutzkeller mit Nacktwärtern. Wir sprechen außerdem O-Sprache, Geld ist Gold, mit Filter drehen gibts nicht mehr, nur mit Folter drohen.”

Ein Gefühl von Heimat bekommt Nini, wenn sie durch die Stadt fährt und Graffitis von Nico sieht – überall hinterlässt er sein Kürzel “Sad”. Wenn sie an einem “Sad” vorbeifährt, fühlt sie sich nicht mehr alleine. Und dann gibt es da auch noch ihre Freunde, vor allem Amir, der auf dem Zehnmeterbrett steht, aber sich vor lauter Angst nicht traut, herunterzuspringen. Amirs großer Bruder Tarik ist nicht nur ein großer Bruder, sondern auch ein großer Beschützer, der auch seine Schwester Jasna beschützen möchte, denn Jasna hat sich in einen Serben verknallt. Der Wunsch Jasna zu beschützen gerät jedoch zunehmend außer Kontrolle, bis zu dem Moment, als Nini und Jameelah miterleben müssen, wie die Auseinandersetzungen drohen, nicht nur Amirs Familie zu zerstören, sondern auch Ninis selbsterwählte Ersatzfamilie …

“Wieso hat uns nie jemand gesagt. dass das hier passieren kann, frage ich mich, wieso hat uns niemand gesagt, dass das hier passieren kann.”

Stefanie de Velasco legt mit “Tigermilch” ein erstaunliches und sehr beeindruckendes Debüt vor, das ich in dem Wunsch gelesen habe, es nicht mehr aus der Hand legen zu müssen. “Tigermilch” zeichnet sich durch eine faszinierende Erzählstimme aus: Stefanie de Velasco trifft einen unglaublich eingängigen Ton, der sich in meinem Kopf festgesetzt hat; bis heute. Dieser Ton ist auf der einen Seite humorvoll, es gibt viele Stellen, über die ich schmunzeln oder auch laut lachen musste. Viele Passagen sind von einer derben Sprache geprägt, sowohl Nini als auch Jameelah nehmen kein Blatt vor den Mund. Auf der anderen Seite schwingt in dem Erzählton aber auch Traurigkeit und eine nur schwer zu ertragende Einsamkeit und Verlassenheit mit. Nini glaubt schon lange erwachsen zu sein, doch eigentlich wünscht sie sich, an der Insel ihrer Mutter anlegen zu können, um so etwas wie ein Zuhause zu erleben – stattdessen sitzt sie in Ringelstrümpfen auf der Kurfürsten. Stefanie de Velasco schreibt über zwei Mädchen, die keine Kinder mehr sind und viel zu schnell gezwungen wurden, erwachsen zu werden. An der Stelle im Geldbeutel, wo andere Fotos ihrer Familie aufbewahren, klemmt bei Nini ein Kondom, um das Projekt Entjungferung jederzeit abschließen zu können. Irgendwann stellt sie verbittert fest, dass das echt Leben “Seitenstiche, Pornos und der Geschmack von Blut” ist.

“Bis jetzt dachte ich immer, manche Dinge bleiben für immer, die ändern sich nie, die verschwinden nicht, genau wie in Biologie diese versteinerten Tiere, die angeblich Millionen von Jahren alt sind. Das stimmt aber nicht, gar nichts versteinert, Jameelah hatte recht, alles wird immer anders, obwohl man es gar nicht will.”

Beeindruckt an diesem außergewöhnlichen Debütroman hat mich vor allen Dingen die Sprache, durch die nicht nur ein ganz besonderes Lebensgefühl transportiert wird, sondern auch der Duft der Straße. Die Sprache ist rau, derb, aber dann auch wieder stellenweise wunderbar poetisch und kunstfertig. Manche Sätze muss man schälen, bis man auf ihren inneren Kern stößt, einen Kern, den eine bodenlose Traurigkeit umweht.

“Dass wir hierhergezerrt werden, auf diese Welt. Ich meine, keiner fragt dich danach, keiner fragt dich, ob du das überhaupt willst.”

Stefanie de Velasco gelingt es in ihrem Debütroman wunderbar erschreckend, authentisch und lebendig das Lebensgefühl von vierzehnjährigen Mädchen einzufangen. Das Buch trägt die Widmung: “Für Mädchen”, es sind Mädchen, die ihre Familie nicht zu Hause finden, sondern auf der Straße. Mädchen, die auf sich alleine gestellt sind und alles dafür tun, um nur schnell erwachsen zu werden. Mädchen, die mit zwanzig Euro Taxigeld alleine in das Kinderkrankenhaus geschickt werden, weil die Eltern keine Zeit haben mitzugehen. All diesen Mädchen gibt die Autorin eine Stimme, eine wunderbar eingängige Stimme, von der man all das Derbe und Heitere abkratzen muss, um auf die Traurigkeit und Einsamkeit hinter der Fassade schauen zu können. “Tigermilch” ist ein ausdrucksstarker, kraftvoller und poetischer Debütroman, der mich begeistert hat.

Deutscher Buchpreis 2013 – 5 lesen 20

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Jahr für Jahr habe ich mir immer wieder zum erscheinen der Longlist vorgenommen, möglichst viele Titel davon zu lesen – geschafft habe ich es nie. Dieses Jahr haben wir uns zu fünft zusammengetan, um die 20 Titel der Longlist ganz genau in den Blick zu nehmen. Ich werde gemeinsam mit Sophie von Literaturen, Caterina von SchöneSeiten, Claudia vom Grauen Sofa und Atalante von Atalantes Historien dieses literarische Projekt in Angriff nehmen.

Zu fünft werden wir die 20 Titel lesen, vorstellen und hoffentlich ausgiebig darüber diskutieren können. Ich freue mich schon sehr darauf!

Deutscher Buchpreis 2013 – Longlist

Logo_dbp_13_RGBEndlich ist es so weit: Die zwanzig Favoriten für den diesjährigen Deutschen Buchpreis wurden heute bekannt gegeben. Insgesamt 201 Titel – so viel wie noch nie – standen zur Auswahl und für die folgenden hat man sich entschieden:

  • Mirko Bonné: Nie mehr Nacht (Schöffling & Co., August 2013)
  • Ralph Dutli: Soutines letzte Fahrt (Wallstein, März 2013)
  • Thomas Glavinic: Das größere Wunder (Hanser, August 2013)
  • Norbert Gstrein: Eine Ahnung vom Anfang (Hanser, Mai 2013)
  • Reinhard Jirgl: Nichts von euch auf Erden (Hanser, Februar 2013)
  • Daniel Kehlmann: F (Rowohlt, September 2013)
  • Judith Kuckart: Wünsche (DuMont, März 2013)
  • Olaf Kühl: Der wahre Sohn (Rowohlt.Berlin, September 2013)
  • Dagmar Leupold: Unter der Hand (Jung und Jung, Juli 2013)
  • Jonas Lüscher: Frühling der Barbaren (C. H. Beck, Januar 2013) 
  • Clemens Meyer: Im Stein (S. Fischer, August 2013)
  • Joachim Meyerhoff: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war (Kiepenheuer & Witsch, Februar 2013)
  • Terézia Mora: Das Ungeheuer (Luchterhand, September 2013)
  • Marion Poschmann: Die Sonnenposition (Suhrkamp, August 2013)
  • Thomas Stangl: Regeln des Tanzes (Droschl, September 2013)
  • Jens Steiner: Carambole (Dörlemann, August 2013)
  • Uwe Timm: Vogelweide (Kiepenheuer & Witsch, August 2013)
  • Nellja Veremej: Berlin liegt im Osten (Jung und Jung, Februar 2013)
  • Urs Widmer: Reise an den Rand des Universums (Diogenes, August 2013)
  • Monika Zeiner: Die Ordnung der Sterne über Como (Blumenbar, März 2013)

Ich empfinde die Auswahl der Longlist als sehr spannend, neben den bereits im Vorfeld üblichen Verdächtigen wie Daniel Kehlmann und Clemens Meyer, haben es auch Autoren und Autorinnen auf die Liste geschafft, von denen ich trotz meines großen Lesespektrums noch nichts gehört hatte. Spontan sind mir vor allen Dingen Olaf Kühl, Nellja Veremej, Jens Steiner und Dagmar Leupold ins Auge gefallen. Ich freue mich sehr darauf, diese Autoren zu entdecken! Als Mitglied von We read Indie freut es mich auch vor allen Dingen, das es auch einige der kleineren Verlage auf die Liste geschafft haben.

Ich freue mich darauf, die Liste mit meinen vier Kolleginnen von “5 lesen 20” entdecken zu dürfen! 🙂

Die Halbruhigen – Simone Regina Adams

Simone Regina Adams wurde 1967 geboren und hat fünfzehn Jahre lang als Psychotherapeutin gearbeitet, bevor sie sich entschieden hat, hauptberuflich als Autorin tätig zu sein und ein literaturwissenschaftliches Studium aufzunehmen. Ihr Roman “Die Halbruhigen”, der in diesem Frühjahr im Aufbau Verlag erschien, wurde bereits 2011 mit dem Werner-Bräunig-Preis ausgezeichnet.

Christian Neumann, der als Chefarzt einer psychiatrischen Klinik arbeitet, steht im Mittelpunkt von Simone Regina Adams Roman, dessen Handlung am Ende der siebziger Jahre angesiedelt ist. Gemeinsam mit seiner Frau Ada und seinen drei Kindern lebt er auf dem Gelände der Klinik – zwar entfernt von den Insassen, doch nah genug, um Ausschnitte ihres Alltags mitzuerleben. Neumann hat nicht nur mit der Unzufriedenheit seiner Frau zu kämpfen, die wegziehen möchte, da sie die Klinik nicht als den richtigen Ort empfindet, um ihre Kinder aufwachsen zu sehen, sondern auch mit den Strukturen in der Klinik. Seine Patienten, für die er immer weniger Zeit hat, werden als billige Arbeitskräfte missbraucht.

“Seit Jahren setzte Christian sich für Aufklärung und Verhütungsmittel ein. Für eine Verhütung, die nicht mehr darin bestehen konnte, nicht mehr darin bestehen durfte, dass man versuchte, die Treffen der Patienten zu verhindern.”

Die therapeutische Begleitung ist mangelhaft, die Klinik völlig überfüllt – immer wieder erlebt sich Christian Neumann in der Rolle des hilflosen Helfers, der nicht nur nicht helfen kann, sondern auch noch gegen den Widerstand seiner Kollegen ankämpfen muss. Sein Wunsch nach Veränderung und seine Ideen zur Reformierung der Klinik, werden nicht nur von niemandem geteilt, sondern im Keim erstickt und abgeschmettert.

“Die Klink war ihm immer schon wie eine alte Dame vorgekommen, respektabel, beinahe erfurchtgebietend, mit ihrer Fassade aus rostrotem Sandstein und dem Rondell davor, stets frisch bepflanzt mit gelben und violetten Stiefmütterchen, einer Brosche vor dem gepflegten Dekolleté.”

Doch nicht nur Christian Neumann ist unglücklich und unzufrieden, auch seine Frau Ada leidet. Beide leiden unter ihrer Lebenssituation: Christian kapituliert vor der hohen Arbeitsbelastung und Ada fühlt sich alleine gelassen von ihrem Mann. Beide haben sich in Strukturen und Abhängigkeiten begeben, die sie weder auflösen können, noch können sie darüber kommunizieren. Hilflos schweigend stehen sie sich immer wieder gegenüber. So lange, bis beide eine Entscheidung treffen, die dazu führt, dass ihnen beinahe ihr ganzes Leben entgleitet …

Simone Regina Adams erzählt ihren Roman zunächst aus der Perspektive der Tochter Edith, die dreißig Jahre später auf das Gelände der Klinik zurückkehrt und in die damalige Vergangenheit abtaucht. Später wechselt die Erzählperspektive hin zu einem auktorialen Erzähler, der das Leben der Familie Neumann schildert.

“Papa. Der immer da war und doch unerreichbar, immer anwesend und dabei abwesend.”

Zurückzukehren fällt Edith schwer, so schwer, dass sie den Anblick der Klinik kaum aushalten kann. Die Klinik war ein Großteil ihrer Kindheit ihr Zuhause, es war normal für sie, durch die Flure des Hauptgebäudes zu gehen, zum Hinterausgang und über das Klinikgelände nach Hause. Doch das, was sie damals aus den Augen eines jungen Mädchens wahrgenommen hat, hat bei ihren Eltern zu kaum auszuhaltender Unzufriedenheit geführt. Die Nähe zu den Patienten, die Nähe zu den Medikamenten, die Nähe zu Menschen, die psychisch aus dem Gleichgewicht geraten sind … wie gefährlich ist diese Nähe gewesen?

Mit viel Ruhe und Souveränität erzählt die Autorin die Geschichte der Familie Neumann und davon abstrahierend erfährt der Leser darüber hinaus einiges über die Zustände der psychiatrischen Versorgung in den siebziger Jahren.  Christian und Ada entfremden sich voneinander, diese Entfremdung wird in kurzen, aber glasklaren Sätzen dargestellt. Für Christian ist Ada das Problem, er leidet unter ihren Vorwürfen und ihren Tränen und glaubt, dass seine Frau überfordert ist. Er glaubt, dass die Entfremdung zwischen ihnen so tief sitzt, dass auch äußere Veränderungen wie ein Umzug, nichts verbessern würden. Ada fühlt sich von ihrem Mann im Stich gelassen und auch von Edith, ihrer Tochter, die ein Alter erreicht hat, in dem sie sich immer stärker von ihrer Mutter abwendet. Simone Regina Adams gelingt es mit sehr viel Feingefühl und Liebe zum Detail das Innenleben einer Familie zu schildern, die sich fremd geworden ist. Statt Wut und lautstarken Auseinandersetzungen herrscht Müdigkeit und Schweigen , ein bodenloses und erdrückendes Schweigen, das alles Glück der Welt im Keim erstickt.  Es ist vor allem dieses Schweigen, das die Familie ergriffen hat und alles beherrscht, das die Lektüre so beklemmend macht.

Simone Regina Adams ist ein lesenswerter Roman gelungen, der durch eine klare und nüchterne Sprache besticht. Trotz dieser Nüchternheit gelingt es der Autorin auf beeindruckende Art und Weise und mit viel Einfühlungsvermögen das Innenleben einer von einander entfremdeten Familie zu schildern. “Die Halbruhigen” ist ein Roman, der ohne jegliche Schnörkel  auskommt, sondern stattdessen in einer unheimlichen Dichte erzählt wird. Eine Empfehlung, auf die ich besonders nachdrücklich hinweisen möchte, da dieser wunderbare Roman neben all den laut schreienden Neuerscheinungen droht unterzugehen.

Frühling der Barbaren – Jonas Lüscher

1976 wurde Jonas Lüscher in der Schweiz geboren, heutzutage lebt der Autor in München und arbeitet als Doktorand am Lehrstuhl für Philosophie der ETH Zürich. Mit “Frühling der Barbaren” legte der Autor in diesem Bücherfrühjahr sein Debüt als Schriftsteller vor.

“Frühling der Barbaren” ist eine Novelle von überschaubarer Seitenzahl, gerade einmal 125 Seiten schmal ist der Text. Eröffnet wird die Novelle mit einem Zitat von Franz Borkenau, einem österreichischen Autor, der in seiner Schrift “Ende und Anfang” die These aufstellt, dass die Barbarei ein Zustand sei, “in dem viele der Werte der Hochkultur vorhanden sind, aber ohne die gesellschaftliche und moralische Kohärenz, die eine Vorbedingung für das rationale Funktionieren einer Kultur ist”. Dieser Zustand der Barbarei, den Franz Borkenau so trefflich definiert, wird auch in der Novelle von Jonas Lüscher erreicht, in deren Mittelpunkt der Schweizer Preising steht, der eine Fabrik geerbt hat und dessen Geschichte in “Frühling der Barbaren” erzählt wird.

“‘Eine Geschichte’, versprach er mir, ‘aus der sich etwas lernen lässt. Eine Geschichte voller unglaublicher Wendungen, abenteuerlicher Gefahren und exotischer Versuchungen.'”

Die Firma, zu der Preising ohne eigenes Verschulden kommt, ist in einem desolaten Zustand – gerettet wird sie von Prodanovic, einem jungen und talentierten Mitarbeiter, der die Kommanditgesllschaft für Televisionsempfang und Dachantennen ganz alleine vor dem drohenden Konkurs bewahrt. Es ist Prodanovic, der Preising in den Urlaub nach Tunesien schickt, um dort das Nützliche mit dem Vergnügen zu verbinden und nicht nur am Hotelpool zu liegen, sondern auch Verhandlungsgespräche zu führen.

Preising nächtigt in einem Luxusressort und erlebt dort eine Miniaturapokalypse, einen Zustand der Barbarei im Kleinformat, mit.  Zu den Gästen des Hotels gehört auch eine englische Hochzeitsgesellschaft, bestehend aus steinreichen jungen Menschen, die in ihren Chinos, Polohemden und Mokassins am Hotelpool entlang spazieren und wenn sie nicht gerade auf Hochzeitsreise in Tunesien sind, auch gerne mal auf Martha’s Vinyard urlauben. Sie verprassen ihr Geld, weil sie wissen, dass sie es haben – als dann aber Großbritannien völlig überraschend seinen Staatsbankrott erklärt, wird aus der Gruppe neureicher junger Menschen von einem Moment auf den anderen eine Herde wilder Tiere, die ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können.

“Der Mensch wird zum Tier, wenn es an sein Erspartes geht.”

Jonas Lüscher gelingt es hervorragend, seine Novelle über unterschiedliche Ebenen zu konstruieren: die Erzählperspektive wechselt zwischen dem Ich-Erzähler und der dritten Person hin und her, wodurch es gelingt, einen vielschichtigen und umfassenden Blick abzubilden. Alles, was mit viel Akribie und Liebe zum Detail erzählt wird, ist ausgerichtet, auf den Höhepunkt der Novelle, auf den Moment, in dem alle Hüllen und Fassaden fallen und das Tier im Menschen erkennbar wird. Dieser Moment kommt erstaunlich spät, erst im letzten Drittel des Textes geht England unter, alle Seiten davor dienen dazu, das Innenleben der Protagonisten zu beschreiben. Für den eigentlichen Höhepunkt, der vollständigen Implosion aller moralischen und ethischen Grenzen, bleibt am Ende nur noch wenig Raum.

“Zu diesem Zeitpunkt überstieg die Rechnung für die Hochzeit, die sie in Tunesischen Dinar zu bezahlen hatten, gerade den Wert ihres Londoner Reihenhauses in Pfund Sterling, das noch zu achtzig Prozent der Bank gehörte, einer Bank, deren Anwälte gerade Insolvenz anmeldeten und eine E-Mail an die Mitarbeiter aufsetzten, in der sie ihen vorschlugen, doch heute zur Arbeit einen Pappkarton mitzubringen.”

Es ist der Moment, in dem die Novelle Fahrt aufnimmt, der mich an diesem Text am meisten begeistern konnte. England geht unter und die Hochzeitsgesellschaft gleich mit. Die, die vorher noch verbunden waren, denken nun nur noch an sich selbst. Kreditkarten werden gesperrt, Rechnungen  können nicht bezahlt und Rückflüge nicht gebucht werden – die “Barbarei” bricht in sekundenschnelle aus. Das Erschreckende von Jonas Lüschers Novelle ist weniger der Zustand der Barbarei, als die Tatsache, wie dünn und leicht einreißbar die Membran ist, die zwischen der gesellschaftlichen Norm und der völligen Kulturlosigkeit liegt. Ein Ereignis reicht, um alles, was bis dahin aufrecht erhalten wurde, zu erschüttern. Dies ist einer der zentralen Themen, die sich wie ein roter Faden durch die Novelle von Jonas Lüscher ziehen.

Jonas Lüscher gelingt mit “Frühling der Barbaren” eine lesenswerte und interessante Darstellung unserer Zivilisation und zeigt dabei nachdrücklich auf, an welch dünnen Fäden diese hängt. Das hochmodern gewählte Thema bildet einen Kontrast zu der häufig altertümlichen Sprache, die jedoch wie ein bewusster Schachzug wirkt, denn es geht weniger um die Finanzkrise der heutigen Zeit, als um uns Menschen und um die Frage, wie wir uns als Menschen in bestimmten Situationen verhalten. “Frühling der Barbaren” ist eine schmale aber um so inhaltsschwere Lektüre, die sich lohnt zu lesen.

5 Fragen an Roman Ehrlich!

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© Aylin Karadeniz

1983 wurde Roman Ehrlich in Aichach geboren. Er studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und an der Freien Universität Berlin. “Das kalte Jahr” ist das Romandebüt dieses jungen Autors, der bereits Stipendiat der Werkstatttage des Wiener Burgtheaters war und an der Autorenwerkstatt Prosa am LCB teilgenommen hat.

1.) Warum wollten Sie Schriftsteller werden?

Aus einem Mangel heraus. Daraus, dass man in die Welt oder den Ort, in dem man aufwächst schaut und sich denkt: Das kann es noch nicht gewesen sein. Dass man beginnt Bücher zu lesen und in diesen Büchern eine Ahnung, eine Andeutung von Wirklichkeit findet, die über die eigene Erfahrung hinaus geht und doch eine Möglichkeit beinhaltet, also nicht völlig phantastisch ist (das wünsche ich mir heute noch von jedem Buch, das ich zu lesen anfange). Irgendwann kam die Erkenntnis dazu, dass Erzählungen im Leben der Menschen eine sehr machtvolle Institution sind. Und dass man durchs Selbererzählen etwas von dieser Macht für sich gewinnen kann. Also nicht Macht über andere, sondern über das eigene Leben, eine Art Eigenmacht. Oder Selbstbestimmung.

 2.) Gibt es einen Schriftsteller oder einen Künstler, der Sie auf Ihrem Weg besonders inspiriert hat?

Der Schweizer Lyriker Adalbert Spichtig inspiriert mich sehr. Durch seine Art zu schreiben und zu veröffentlichen, wann es ihm passt. Und vor allem durch die Art, wie in seinen Gedichten Humor und Ärger und die Welt und das Beschreiben der Welt zusammenkommen.

Ich schaue auch immer wieder gern die Filme der Amerikanischen Autorin und Regisseurin Kelly Reichardt, weil sie wirklich auf eine filmische, also auf eine visuelle Art erzählen, was vielleicht banal klingt, aber extrem selten ist.

3.) Wann und wo schreiben Sie am liebsten?

An meinem Schreibtisch, in meiner Wohnung, bei meinen Büchern. Ich habe versucht eine Art Sommerküche einzurichten an einer Sitzgruppe mit Tisch auf dem Flakturm im Humboldthain, wo oft abgekämpfte Besucher die Stufen hochkommen und sich dann schweigend den Ausblick über die Stadt anschauen, aber das hat nicht funktioniert. Auch die vielen Bibliotheken in Berlin funktionieren leider nur selten. Es wäre gut, wenn meine Wohnung in einer Bibliothek wäre. Das wäre ideal.

4.) Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen?

2666 von Roberto Bolaño

5.) Was würden Sie einem jungen Schriftsteller raten?

Uwe Johnson hat in seiner Frankfurter Poetikvorlesung (Begleitumstände) gesagt:

„Die Aufgabe der Poetik ist als Lehrbuch vorhanden, weitere Äußerungen von meiner Seite können ohne Schaden entfallen.“

Lesen also. Mehr ist nicht zu sagen.

Herzlichen Dank an den Autor für die Beantwortung meiner fünf Fragen! 

Das kalte Jahr – Roman Ehrlich

1983 wurde Roman Ehrlich in Aichach geboren. Er studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und an der Freien Universität Berlin. “Das kalte Jahr” ist das Romandebüt dieses jungen Autors, der bereits Stipendiat der Werkstatttage des Wiener Burgtheaters war und an der Autorenwerkstatt Prosa am LCB teilgenommen hat.

“Ich verließ die Stadt auf meinen Füßen zur kältesten Zeit des Jahres.”

Das Land ist eingeschneit. Es ist unter einer Schneedecke begraben, für die es keine Erklärung gibt, die einfach da ist.  Ein junger Mann, der namenlos bleibt, wandert an der Autobahn entlang, um nach Hause zurückzukehren. Er möchte seine Eltern besuchen und befindet sich auf dem Weg zum Haus seiner Kindheit. Die Landschaft, an der der junge Mann entlang wandert, ist von einer weißen Schicht bedeckt, die Seen sind zugefroren, die Felder weiß vom Schnee, der alles unter sich begraben hat. Der Entschluss aufzubrechen, wurde spontan gefällt.

“Ich konnte einfach plötzlich nicht mehr in meiner Wohnung bleiben, in meiner Straßen, dem Viertel, kein einziges Mal mehr um dieselbe Ecke laufen wie gestern schon, mit dem kleinen Supermarkt auf der einen und dem großen Supermarkt auf der anderen Straßenseite, der Haltestelle der Straßenbahn zwischen den beiden Fahrspuren, den zerkratzten Scheiben des Wartehäuschens, dem Schienengeräusch, wenn die Straßenbahn an der Kreuzung um die Kurve fuhr.”

Als er endlich eintrifft, muss der junge Mann jedoch feststellen, dass seine Eltern verschwunden sind. Stattdessen öffnet ihm ein Kind die Tür, es ist ein seltsamer Junge, der kaum spricht und zurückgezogen im Kinderzimmer des jungen Mannes lebt. Wie er sich versorgt, wie er dort lebt, wo die Eltern sind – all das sind Fragen, die unbeantwortet bleiben. Richard, so heißt das Kind, bleibt, wenn die Sprache auf das Warum kommt, stumm. Im Kinderzimmer arbeitet Richard an einem mysteriösen Projekt, hantiert mit Werkzeug, bastelt vor sich hin und hält bei allem, was er tut, die Tür geschlossen. Es dauert lange, bis die beiden eine gemeinsame Sprache finden. Es sind vor allem die Geschichten des jungen Mannes, die Richard begeistern und die beide zusammenführen.

“Das kalte Jahr” ist in zwei Ebenen unterteilt, auf denen die Handlung spielt. Die Geschichte findet zum einen in der kalten und winterlichen Gegenwart statt, in der sich Richard und der junge Mann begegnen. Zum anderen springt die Handlung aber auch immer wieder in die Vergangenheit zurück und damit in die Geschichten, die der junge Mann erzählt. Die Geschichten machen zunächst einen wahllosen Eindruck, doch Geschichte für Geschichte, offenbart sich ihr verbindendes Element. Das Gemeinsame, das alle Geschichten haben, ist die Zerstörung und der Neuaufbau.

“Für Richard mussten die Geschichten sein. Für seine speziellen Bedürfnisse. Von der Welt außerhalb des Ortes mussten sie handeln, von den Menschen, die in diese Welt aufgebrochen waren, auf ihren Füßen über Land oder auf Schiffen über das weite Meer. Ich würde ihm alles erzählen, was ich wusste. Und das war ja schließlich nicht nichts. Es war vielleicht gar nicht mal so wenig.”

Der junge Mann erzählt die Geschichte von Dankmar Adler, der aus dem thüringischen Lengsfeld nach Detroit emigriert und später weiter nach Chicago zieht. Dort erlebt er mit, wie die Stadt 1871 von einem Feuer beinahe vollständig vernichtet wird. Adler, der als Architekt arbeitet, ist an dem Neuaufbau der Stadt maßgeblich beteiligt. Er erzählt die Geschichte von George Wellington Streeter dessen Schiff auf eine Sandbank aufläuft. Kapitän Streeter beschließt, einen neuen Staat auszurufen – bestehend aus dem auf der Sandbank aufgelaufenen Schiff, “Streeters Castle”.

Roman Ehrlichs Roman lässt sich als Dystopie lesen, die Welt, wie wir sie kennen, findet nicht mehr statt. Sie hat aufgehört zu existieren und wurde durch eine kalte und winterliche Landschaft ersetzt. Mögliche Gründe werden nicht genannt und die Bevölkerung scheint sich schon lange mit diesem Zustand abgefunden zu haben. Es ist die Rede von ehemaligen Militärgebieten, von Anlagen, die kriegsgewerblich genutzt wurden – doch vieles bleibt unausgesprochen und verborgen, wie unter schweren Schneeschicht. Obwohl vieles unklar bleibt, habe ich den Roman verschlungen, ich habe ihn wie einen Krimi gelesen – voller atemloser Spannung, bis ich die letzte Seite zugeklappt habe. Habe die poetische Sprache und die sonderbare Atmosphäre in mich aufgesaugt, auch wenn ich nicht alles begreifen konnte. Auch das Ende bringt keine Klarheit, keine Aufklärung – auch wenn man das Buch mit einem Hoffnungsschimmer zuklappen kann, ist dies ein Hoffnungsschimmer, der nichts erklärt. Doch der unerfüllte Wunsch nach klaren Strukturen und einem eindeutigen Ende, trübt mein Lesevergnügen nicht. Denn das, was das Lesevergnügen bei diesem Roman ausmacht, war für mein Empfinden vor allem die persönliche Deutung und Interpretation der Geschichte. Reizvoll sind die unterschiedlichen Anknüpfungspunkte, die der Text bietet und die sich von Leser zu Leser unterscheiden können. Berührt hat mich vor allen Dingen die Rückkehr des Erzählers in das Haus seiner Eltern, die einer Rückkehr in die Kindheit gleichkommt.

“Ich dachte an das Unheimliche, das von meinen Eltern ausging und sie gleichzeitig auch selbst ergriff. Das war kein Schrecken, keine Waffe oder offene Wunde, kein Fleck verbrannter Erde, sondern eine ein für alle Mal feststehende Ordnung, die kaum jemals etwas Beunruhigendes von sich gibt, die einfach nur da ist, mit Selbstverständlichkeit fortwirkt und all das bestimmt, was einem dann schließlich auf weiten Umwegen die Luft abschnürt.”

Wie diese Rückkehr in das Haus der Kindheit und die Begegnung mit diesem verschlossenen und seltsamen Jungen gelesen werden kann, hängt von der jeweiligen Perspektive ab. Der junge Mann bleibt zu allen Menschen auf Distanz, kommt nur schwer ins Gespräch, auch Richard lebt zurückgezogen und mit seinen eigenen Projekten beschäftigt – begegnet der junge Mann möglicherweise sich selbst als Kind? Und wo sind die Eltern? Haben die Eltern den jungen Mann als Kind alleine gelassen, haben sie das Kind sich selbst und seiner eigenen Welt überlassen?

Roman Ehrlich erzählt eine Geschichte der Kälte. Die winterliche Kälte überträgt sich auf die zwischenmenschlichen Beziehungen in diesem Text. Die schwer lastende Einsamkeit der Menschen und die Beziehungslosigkeit untereinander spiegelt sich in der unwirtlichen Landschaft wider, die kalt und zugeschneit ist. Ergänzt wird der Roman durch zahlreiche Fotografien und Zeichnungen, die dem Text den Anstrich von Wahrheit und Wirklichkeit geben.

“Das kalte Jahr” ist ein lesenswerter Roman, der jedoch weniger als zusammenhängender Text funktioniert, denn als ein großes literarisches Puzzle. Teilchen für Teilchen und Bild für Bild setzt sich der Text zusammen, dabei bleibt es nicht aus, dass nicht alle Puzzlestücke zueinander passen. Ich habe dennoch einen großartigen und hochpoetischen Roman gelesen, über Einsamkeit und menschliche Leere. Die Beschreibung der Rückkehr in die Kindheit, habe ich als unheimlich melancholisch empfunden, passend zu der winterlichen Landschaft. Überhaupt habe ich selten zuvor einen Roman mit so wunderschönen Landschaftsbeschreibungen gelesen, wie diesen hier. Eine großartige und sehr empfehlenswerte Lektüre, der ich viele Leser und Leserinnen wünsche.

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