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Deutschsprachige Literatur

Die Nächte auf ihrer Seite – Annika Reich

Annika Reich legt mit Die Nächte auf ihrer Seite einen klugen Roman vor, der uns vom Tahrir-Platz in Ägypten bis in einen Berliner Hinterhof führt. Der Roman ist einerseits getragen von Leichtigkeit, bohrt sich aber andererseits auch tief ins Hirn beim Lesen.

Annika Reich

Sie gehen in einem Abstand nebeneinander her, der sich weder verringert noch vergrößert. Bestriche man ihre Fußsohlen mit Farbe, wären zwei parallele Linien sichtbar.

Die Nächte auf ihrer Seite vereint zwei Erzählebenen: da gibt es Ada, die als Kamerafrau arbeitet und alleinerziehende Mutter ist. Sie lebt getrennt von ihrem Mann Farid, der einen Feinkostenladen betreibt. Ihrer Tochter Fanny wird sie nicht gerecht – zumindest überkommt sie immer wieder das Gefühl, keine gute Mutter zu sein. Sie hadert damit, dass sie eine Mutter mit Unterbrechungen ist. Bei ihrem aktuellen Projekt arbeitet sie mit dem experimentellen Regisseur Olaf zusammen. Gemeinsam besuchen sie ihre Familien und filmen den Alltag der eigenen Eltern. Ein seltsames Vorhaben, das an Schlingensief erinnert und ziemlich avantgardistisch klingt. Ada lebt ein Leben, in dem sie nie wirklich angekommen ist. Um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, muss sie Tätigkeiten nachgehen, die sie eigentlich nie machen wollte. Sie hat Affären und Liebhaber, doch all das ist mit so viel Heimlichkeit belegt, dass keiner ihrer Männer zu einem wirklichen Bestandteil ihres Lebens werden kann. Auf Farids wechselnde Freundinnen ist sie immer noch fürchterlich eifersüchtig. Als er ihr gesteht, dass er wieder Vater wird, kauft sie sich erst einmal einen Schnaps. Statt Leidenschaft herrscht bei Ada eine gewisse Starre und Trägheit, als würde sie sich im Wartemodus befinden, während sie anderen hinter ihrer Kamera beim Leben zuschaut.

Es war nicht leicht, eine Mutter mit Unterbrechungen zu sein. Farid war mit seiner Rolle als Vater verschmolzen, aber sie nicht, bei ihr dauerte es immer eine Weile, bis sie wieder in ihre Rolle fand. Manchmal wunderte sie sich sogar, überhaupt eine Mutter zu sein.

Die zweite Erzählebene zeigt Sira, die sich hinaus wagt in die Welt: im Januar 2011 besucht sie ihre Familie in Kairo. Sie ist in Deutschland aufgewachsen, doch ihre Eltern kommen aus Ägypten. Während sie sich zunächst noch fremd und wie eine Touristin fühlt, überrollen sie die Ereignisse rund um die Revolution auf dem Tharir-Platz. Gemeinsam mit ihrer Cousine ist sie mitten drin im Getümmel und ist plötzlich bereit, für eine nationale Identität zu sterben, die sie in Deutschland mühevoll abgelegt hatte, um nicht mehr als Ausländerin aufzufallen. Die Revolution verändert Sira, die Gefühle prägen sie und während sie sich zuvor immer in Ägypten fremd gefühlt hat, fühlt sie sich plötzlich nicht mehr in Kreuzberg zu Hause. Wie kann man dort dem alltäglichen Leben nachgehen, wenn man erlebt hat, was sie erlebt hat? Wo gehört sie eigentlich hin? Wo ist sie zu Hause?

Sie liefen durch die schwere, lackierte Tür des Vorderhauses, querten in unterschiedlichen Gangarten den Hof, verschwanden im Hinterhaus und kehrten eine Stunde später wieder zurück – immer im Kreis von morgens bis abends. Ein Reigen aus Tripplerinnen und Trottern, und alle heulten sie den Mond an. 

Neben diesen beiden Erzählsträngen gibt es noch zwei weitere Handlungsebenen: zum einen flicht Annika Reich die Tagebucheinträge von Fanny in die Erzählung mit ein. Das Mädchen wünscht sich, sie könnte die Trennung der Eltern rückgängig machen, ungeschehen. Ein geteiltes Leben zwischen Vater und Mutter ist nicht immer einfach. Zum anderen betätigt sich Ada als Beobachterin und filmt mit ihrer Kamera Menschen, die auf dem Weg zu einem Paartherapeuten durch ihren Innenhof laufen. Annika Reich hält in kurzen Miniaturen die Tripplerinnen und Trotter fest, die mit ganz unterschiedlichen Ängsten und Hoffnungen tagtäglich den Hinterhof durchqueren. Im Roman werden diese kurzen Miniaturen als Reigen betitelt – in Anlehnung an Schnitzler.

Den Mauerfall hatten sie vor dem Fernseher erlebt. Ihre Mutter und sie hatten geweint, wie sie bei allen Filmen weinten, die sich plötzlich doch noch zum Guten wendeten. Und ihr Vater hatte von einem historischen Moment gesprochen, den sie niemals vergessen würden. Doch kaum waren ein paar Wochen vergangen, hatten sie ihn schon so gut wie vergessen. Zum Tag der deutschen Einheit waren sie dann in den Zirkus gegangen. Einen solch historischen Tag müsse man feiern, hatte ihr Vater gesagt. Geändert hatte sich nichts für sie. Vielleicht kam sie sich deswegen Menschen wie Regina und ihrer Familie gegenüber immer so naiv vor, weil die eine Geschichte hatten und sie nur ein Leben.

Die Nächte auf ihrer Seite setzt sich aus vielen Versatzstücken zusammen, die ein stimmiges Ganzes ergeben. Im Mittelpunkt stehen Ada und Sira, die beide verzweifelt ihren Platz im Leben suchen. Ein zentrales Element ist auch die Liebe, es ist sicherlich kein Zufall, dass Ada Menschen filmt, die eine Eheberatung aufsuchen – ist ihre eigene Ehe doch gescheitert. Während Sira eine neue Identität in den Wirren der Revolution findet, fühlt sich Ada seltsam abgeschnitten vom Weltgeschehen. Sie gehört nirgendwo so richtig dazu, nicht einmal die Wende hat sie wirklich miterlebt. Annika Reich erzählt das alles mit einer ungeheuren Leichtigkeit, die doch irgendwann beginnt schwer zu werden. Ada und Sira wirken so festgefahren und still gefroren: ich hätte mir manchmal gewünscht, den Roman betreten zu können, um die Figuren an die Hand zu nehmen oder sie zu schütteln. Es geht nicht allein um die Frage, wie man leben und lieben kann, es geht dann doch irgendwie um so viel mehr: um die eigene Geschichte, die eigene Identität, die Verbindung zu den Eltern und wie man in all diesem Gewirr heutzutage noch einen Platz finden kann, an dem man sich zu Hause fühlt. Am besten gefallen hat mir aus diesem Grund auch das etwas seltsame Filmprojekt, in dessen Rahmen Annika Reichs Figuren ihre Eltern besuchen – dabei entstehen bedrückende und eindrückliche Szenen, die mir noch lange im Gedächtnis geblieben sind.

Annika Reich legt mit Die Nächte auf ihrer Seite einen lesenswerten und poetischen Roman vor, dem es gelingt Inhalt und Form auf eine spielerische Art und Weise zu verbinden.

Annika Reich: Die Nächte auf ihrer Seite. Roman. Hanser Verlag, München 2015. 224 Seiten, €18,90. Weitere Rezensionen gibt es hier: im Bücherwurmloch, bei der Bibliophilin und auf Literaturen.

Verlosung Annika ReichWer jetzt neugierig geworden ist, der hat die Chance, ein Exemplar vom Die Nächte auf ihrer Seite zu gewinnen. Hinterlasst mir einfach bis zum 15.6. um 24 Uhr einen Kommentar oder schreibt mir eine E-Mail an mara.giese@buzzaldrins.de. Viel Glück!

Lesen als Medizin: Die wundersame Wirkung der Literatur – Andrea Gerk

Kann die Lektüre eines Buches Trost spenden, gar eine heilsame Wirkung haben? Genau dieser Frage widmet sich die Literaturwissenschaftlerin Andrea Gerk. Entstanden ist dabei Lesen als Medizin, eine kluge und lesenswerte Liebeserklärung an die Kraft der Literatur.

Lesen als Medizin

Bücher können Trost schenken, Mut machen, Spiegel vorhalten, Zuflucht sein, Erfahrungen vermitteln, Perspektiven verändern, Sinn stiften. Bücher amüsieren und berühren. Und sie können ablenken – nicht zuletzt von uns selbst.

Die wundersame Wirkung der Literatur lautet der Untertitel von Lesen als Medizin und genau darum geht es auch: welche Wirkung kann die Literatur auf uns haben? Können Bücher in schwierigen Zeiten Trost spenden? Kann Literatur heilen? Bei der Genesung helfen? Was passiert eigentlich in unserem Gehirn, wenn wir lesen? Gibt es Orte, an denen Bücher eine besondere Rolle spielen? Wie sähe eine Welt aus, in der es keine Krankenhausbibliotheken mehr geben würde? Keine Gefängnisbibliotheken? Wird eigentlich auch im Kloster gelesen?

Lesen als Medizin ist, wenn man so will, ein wunderbarer Überblick über all das, was Bücher so einzigartig und unersetzbar macht. Andrea Gerk erzählt von der Bibliotherapie, die in Amerika bereits seit vielen Jahren als Heilverfahren anerkannt ist und auch in Großbritannien und Schweden praktiziert wird. In Deutschland hingegen klingt der Begriff in vielen Ohren immer noch leicht esoterisch angehaucht. Unter der Bibliotherapie versteht man eine besondere Form der Pyschotherapie, bei der die Patienten mithilfe sorgfältig ausgewählter Bücher dazu angeregt werden sollen, ihre Vergangenheit zu reflektieren. Es ist der Glaube daran, dass ein gutes Buch in der richtigen Situation weiterhelfen kann. Mittlerweile kann man auch in Deutschland die Ausbildung zum Bibliotherapeuten machen, doch im Grunde genommen sind auch gute Buchhändler und Bibliothekare bereits so etwas wie Bibliotherapeuten, denn sie empfehlen ihren Kunden die (hoffentlich) passenden Bücher. Ich fühle mich nach einem Einkauf im Buchladen oder einem guten Gespräch mit einem Buchhändler häufig nicht nur glücklicher, sondern manchmal auch besser oder gar geheilter.

Wörter entfalten mitunter eine magische Kraft, die uns nicht nur intellektuell voranbringt, sondern auf vielschichtige Weise im Innersten berührt. Manchmal so sehr, dass ein Vers, eine Erzählung, ein Roman das ganze Leben verändern kann, und sei es nur für ein paar Stunden.

Bibliotheken gibt es übrigens auch an ungewöhnlichen Orten, zum Beispiel im Gefängnis oder in Krankenhäusern. An beiden Orten kann das gedruckte Wort für Insassen und Patienten eine große Bedeutung haben. Es gibt sogar Länder, in denen es für jedes gelesene Buch einen Tag Hafterlass gibt. Andere Jugendrichter geben straffälligen Minderjährigen die Aufgabe, ein Buch zu lesen. In vielen Fällen mag das ohne Wirkung bleiben, für manche ist die Entdeckung der Literatur aber vielleicht auch ein Initiationserlebnis und der Beginn eines besseren Lebens. Auch in Krankenhäusern sind Bücher ein wichtiges Gut: in der Berliner Charité sind vor allen Dingen skandinavische Krimis beliebt, aber auch Charlotte Link. Der Bücherwagen rollt jeden Tag durch die Flure des Krankenhauses und beliefert Patienten mit neuer Lektüre. Andrea Gerk schreibt, dass Krankenhausbibliotheken um das finanzielle Überleben kämpfen, was unheimlich schade ist – die heilsame Wirkung der Literatur ist empirisch nicht nachzuweisen, aber ich glaube doch daran, dass wir mit einem guten Buch in der Hand vielleicht ein wenig schneller gesunden.

Die Erfahrung, dass Lektüre einen in regelrechte Wahnzustände versetzen kann, wird jeder leidenschaftliche Leser schon mal gemacht haben. Immer wieder entdecke ich Texte, die mich so bewegen, dass ich mich fassungslos frage, wie ich sie so lange übersehen konnte. Dann muss ich sofort all das Versäumte nachholen, gerate in einen regelrechten Leserausch, verschlinge ein Buch nach dem anderen, werte parallel dazu akribisch Rezensionen, Interviews und biographische Texte aus und spiele nach, was ich darin finde.

Dass Bücher nic51j51zfiajL._SY344_BO1,204,203,200_ht einfach nur zur Unterhaltung diesen, sondern auch eine medizinische oder gar therapeutische Funktion haben können, ist eine Sichtweise, die sich bereits im 16. Jahrhundert manifestiert hat: damals schrieb Michel de Montaigne seine berühmten Essais und setzte darin sein eigenes Leben und seine Gedanken immer wieder in Bezug zu Werken und Gedichten bekannter Schriftsteller. Während der beiden Weltkriege hat man später Soldaten in Lazaretten mit Büchern versorgt – die Literatur sollte vom Kriegsgeschehen ablenken und dabei helfen, traumatische Wunden zu heilen. In anderen Ländern ist die Bibliotherapie viel anerkannter und ausgereifter, es gibt beispielsweise eine Reading Agency und über Skype wird eine Leseberatung angeboten. In Deutschland gibt es immerhin schon eine Vereinigung von Bibliotherapeuten, wer weiß, ob sich das Angebot in den kommenden Jahren noch stärker durchsetzen wird.

Andrea Gerk schreibt jedoch nicht nur von der heilenden Kraft der Literatur, sondern auch von ihren Schattenseiten: Bücher können Ehen stiften, aber auch zerstören und sind darüberhinaus hochgradig suchtgefährdend. Buchbedingte Psychopathologien sind keine Seltenheit mehr: im Buch finden sie alle Erwähnung, von der Bibliomanie bis zum Biblioholiker. Auch wenn ich glaube, dass es deutlich schlimmere Süchte gibt, nehme ich mich an dieser Stelle nicht aus: es gibt kaum einen Buchladen, an dem ich vorbeikomme, ohne ein Buch zu kaufen (obwohl sich die ungelesen Bücher hier bereits in Stapeln stapeln, unter denen ich drohe begraben zu werden). Wenn ich in den Urlaub fahre, müssen so viele Bücher mit, dass ich den Koffer bald selbst nicht mehr tragen kann – geschweige denn alles lesen, was ich mir eingepackt habe. In solchen Momenten befürchte ich schon manchmal (zumindest ganz leicht) am Bücherwahn zu leiden. Doch könnte es einen schöneren Wahn geben?

Meiden Sie Buchhandlungen und Bibliotheken, solange Sie noch jung sind. Verschenken Sie Ihre Bücher, bevor Ihnen Ihre Sammlung über den Kopf wächst.

Lesen als Medizin ist eine kluge und spannend zu lesende Liebeserklärung an die Literatur. Andrea Gerk gelingt es, leicht verständlich und mitreißend von ihrem bibliophilen Fachwissen zu erzählen. Ihre eigene Begeisterung ist dabei deutlich zu spüren. Es muss erwähnt werden, dass Rogner & Bernhard das Buch wunderbar liebevoll aufgemacht haben. Besonders schön sind die handschriftlichen Bekenntnisse bekannter Schriftsteller, die Andrea Gerk gesammelt hat: da wird Gerhard Roth nach Büchern gefragt, die für ihn die zweite Welt sind und Hanns-Josef Ortheil nach Büchern, in denen er immer wieder gelesen hat. So wirft dieses Buch nicht nur einen Blick auf alle Aspekte unserer wunderbaren bibliophilen Leidenschaft, sondern ist auch noch eine ernste Gefahr für die Wunschliste.

Andrea Gerk legt eine wunderbare Liebeserklärung an die Literatur vor und ich habe das Buch mit dem heilsamen und wohligen Gefühl zugeklappt, mit dieser Leidenschaft zum Glück nicht allein zu sein.

Andrea Gerk: Lesen als Medizin. Rogner & Bernhard Verlag, 2015. 342 Seiten, €22,95. Eine weitere Besprechung findet sich auf dem Blog von Fräulein Julia. Und noch ein passender Buchtipp zur weiteren Lektüre: Die Romantherapie von Ella Berhoud. 

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Makarionissi – Vea Kaiser

Vea Kaiser erzählt in ihrem neuen Roman Makarionissi eine Familiengeschichte über fünf Generationen, die nicht nur auf einer griechischen Insel spielt, sondern auch in Hildesheim, St. Pölten, Chicago und der Schweiz. Makarionissi ist ein gleichzeitig witziger und berührender Familienroman und eine Geschichte von Helden und Herzensbrechern.

Vea Kaiser

Loslassen heißt nicht verdrängen und nicht vergessen. Sondern einfach vergeben und akzeptieren, dass manchmal die Dinge so sind, wie sind, selbst wenn sie scheiße sind.

Es ist bereits drei Jahre her, dass Vea Kaiser mit ihrem Debütroman Blasmusikpop nicht nur mich begeistert hat, sondern auch viele andere Kritiker. Die Autorin war damals gerade einmal dreiundzwanzig Jahre alt und hatte einen Roman vorgelegt, der sich durch eine unbändige Fabulierlust auszeichnete. Auf diese Lust am Fabulieren trifft man auch in Makarionissi. Da Vea Kaiser nach ihrem Debütroman immer wieder vorgeworfen wurde, dass Dinge nicht so gewesen sein können, wie sie das geschrieben hat, hat sie sich bemüssigt gefühlt, dem neuen Buch noch einen kleinen Hinweis voran zu stellen:

[…] Ebenso gilt bei gewissen Abweichungen zwischen historischen Ereignissen und der Geschichte dieses Buches, dass der Roman der Fiktion verpflichtet ist. Nicht der Realität. Geben Sie, geschätzte Leser, dem Fabulieren eine Chance! Denn bereits Herodot meinte: Oftmals erzählt ein G’schichterl besser, als es die Ereignisse in ihrem echten Ablauf je könnten.

Zu Vea Kaisers Erzähllust gesellt sich aber auch eine große Erzählkunst, die sie auch in diesem Roman wieder unter Beweis stellt: erzählen kann die Autorin und zwar mitunter so mitreißend, dass ich das Buch nur sehr schwer wieder aus der Hand legen konnte. Makarionissi – das den Untertitel Oder die Insel der Seeligen trägt – ist ein fast fünfhundert Seiten starker Roman, der ganze fünf Generationen umfasst. Die Geschichte nimmt ihren Ausgangspunkt in einem kleinen Bergdorf an der griechisch-albanischen Grenze und endet auf Makarionissi, einer bettelarmen (fiktiven) Fischerinsel im Westen Griechenlands. Dazwischen verschlägt es die Figuren in die niedersächsische Provinz nach Hildesheim, die österreichische Stadt St. Pölten, das griechische Viertel nach Chicago und schließlich auch noch in die Schweiz.

Im Mittelpunkt des Romans stehen Eleni und Lefti, die gemeinsam aufwachsen. Sie sind Cousine und Cousin, doch während Lefti als Stammhalter der Familie gesehen wird, wurde Eleni nachträglich gezeugt, um beide miteinander verheiraten zu können. Die Auswahl an Frauen ist in Varitsi nämlich begrenzt. Das war zumindest der Plan von Großmutter Maria, doch Eleni beschließt bereits früh in ihrem Leben niemals zu heiraten: Heiraten werde ich niemals! Ich werde als Heldin durch die Welt reisen und Bestien töten. Statt zu einer tugendhaften Ehefrau heranzuwachsen, die den Fortbestand der Familie sichert, wird Eleni zu einer politischen Aktivistin. Cousine und Cousin heiraten trotz allem, doch eigentlich ist schon vorher klar, dass diese Ehe nicht auf einem festen Fundament gebaut ist.

Lefti glaubte an all das hier nicht mehr. Er saß vor dem Haus, von dem er sich immer gewünscht hatte, er könnte es sein Eigen nennen – und dachte zum ersten Mal, dass es viel zu groß, zugig, dunkel, altmodisch und baufällig war. Er stand kurz vor der Hochzeit mit der Frau, die er immer hatte heiraten wollen, und merkte, dass er sie gar nicht begehrte. Lefti fühlte sich so sanierungsbedürftig wie der Dachstuhl.

Eleni und Lefti gehen nach der Heirat gemeinsam nach Hildesheim, dort wohnen sie zwar zusammen in einer Wohnung, doch leben ansonsten zwei getrennte Leben. Wie es der Zufall, der in diesem Buch eine nicht immer unwichtige Rolle spielt, so will, finden beide fast gleichzeitig in der niedersächsischen Provinz ihre große Liebe. Lefti verliebt sich in Trudi, seine Deutschlehrerin mit österreichischen Wurzeln und Eleni in Otto, einen bayrischen Musiker. Doch ein langes Glück in Deutschland bleibt den beiden verwehrt, während Lefti und Trudi den Versuch wagen, sich eine gemeinsame Existenz in St. Pölten aufzubauen, geht Eleni zurück in ihr Heimatdorf. Doch sie geht nicht alleine, denn sie ist schwanger.

Eleni hasste viele Dinge an Deutschland, doch am meisten hasste sie das deutsche Nein. Das deutsche Nein war absolut. Man konnte nicht darüber diskutieren. Und es wurde nicht begründet. Selbst wenn das Nein keinen Sinn ergab und jeglicher Vernunft widersprach. Eleni empfand es wie das rote Licht einer Ampel. Mit ihm konnte man auch nicht verhandeln.

Die Geschichte ist an dieser Stelle noch längst nicht zu Ende, sondern wird Seite um Seite fortgeführt, Generation über Generation. Entstanden ist dabei ein proppenvoller Roman, der sowohl unfassbar unterhaltsam ist, als auch wunderbar mitreißend. Vea Kaiser webt ihre Erzählung wie einen bunten Teppich, der aus ganz viel Familie besteht, aus Liebe und Glück, Schicksal und Zufall, alten Mythen und der Weigerung sich zu entschuldigen. Es geht um Familien, in denen die Großmütter noch das Geschehen bestimmen – im Falle von Lefti und Eleni wurde die falsche Entscheidung getroffen, denn beide wurde von ihrer Familie nicht mehr als Individuen gesehen, sondern nur noch in ihrer Funktion, die Familie zu erhalten und weiterzuführen.

Makarionissi endet mitten in der griechischen Krise der heutigen Zeit, doch das Buch sollte nicht als politischer Text gelesen werden – für mich ist Makarionissi einfach ein unglaublich unterhaltsamer Familienroman, voller Esprit und ganz und gar mitreißend erzählt. Ähnlich wie in Blasmusikpop wird auch in diesem Roman so einiges durch den Kakao gezogen – ich habe nicht selten herzhaft lachen müssen. Natürlich geht es hin und wieder auch um ernstere Themen, es geht z.B. um die Frage, wie stark die Familie das eigene Leben eigentlich bestimmen darf. Vor allem geht es aber darum, das Loslassen zu lernen und akzeptieren zu lernen, dass manchmal die Dinge einfach so sind wie sind. Der Sommer wagt sich im Moment langsam hervor und passend dazu ist Makarionissi mein Buch des Sommers und eine unbedingt Leseempfehlung.

Vea Kaiser: Makarionnissi oder die Insel der Seeligen. Roman. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2015. 460 Seiten, €19,99. Ein Interview mit der Autorin findet sich hier. Eine weitere Besprechung gibt es auf Leseschatz, dem Blog von Hauke Harder.

Es bringen – Verena Güntner

Verena Güntner erzählt in ihrem Debütroman Es bringen schonungslos vom Erwachsenwerden: es geht um Saufgelage, Fickwetten, tiefe Freundschaften und um Luis, der auf jeden Fall ein echter Bringer sein möchte.

Es bringen

Es ist ganz einfach. Du brauchst einen Plan. Wenn du keinen Plan hast, geht alles den Bach runter. Das habe ich gelernt. Und wenn ich mal was gelernt habe, verlern ich es auch nicht wieder, ich bin ja nicht blöd.

Luis ist sechzehn Jahre alt und möchte auf keinen Fall ein zarter Junge sein, er ist krass und hart – eben ein richtiger Bringer. Er ist der Trainer und er ist die Mannschaft, das ist sein Motto. Mit seiner Mutter lebt er im fünfzehnten Stock eines Hochhauses. Er hat mal Höhenangst gehabt, aber das ist schon eine Weile her. Irgendwie kann man im Leben dann doch alles besiegen, glaubt Luis. Die fünfzehn Stockwerke ist er immer zu Fuß hochgegangen und jeden Tag ist er einmal auf den Balkon raus, so kann man auch eine lächerliche Höhenangst in den Griff kriegen. Mit seinen besten Freunden schließt er Fickwetten ab, ansonsten mag Luis noch Alkohol und Freibäder – schlaffe Schwänze findet er dagegen doof.

Aber ich hatte ja nur drei Bier, und drei Bier sind bei mir das Gleiche wie kein Bier. Ich könnte jetzt ohne Probleme nen Mathe-Test schreiben.

Bei den Fickwetten gewinnt Luis übrigens fast immer. meistens wegen seiner charmanten Zahnlücke. Die hat ihm seine Mutter vererbt. Seine Mutter nennt er nur Ma und liebt sie ansonsten über alles. Genauso wie seinen besten Freund Milan, der vier Jahre älter und schon ein richtiger Twen ist. Milan ist der Coolste von allen und Luis’ bester Freund. Es gibt da auch noch das Pferd Nutella, das er ziemlich gern hat, aber darüber spricht er lieber nicht.

Sein Leben hat Luis also fest im Griff, er ist ja nicht umsonst Trainer und Mannschaft zugleich. Doch eines Tages muss er feststellen, dass man auch als Bringer nicht alles im Leben kontrollieren kann. Von einem auf den anderen Tag bricht all das zusammen, was Luis so hart gemacht hat und er muss erleben, dass erwachsen werden auch bedeutet, zart und verletzlich zu sein.

Wenn du nicht dumm sterben willst, musst du dir Sachen genau anschauen, sie üben, und zwar: bis du sie kannst. Das ist der Ablauf, und wenn du den nicht kapierst, dann wird das mit deinem Plan nix. Ich will nicht dumm sterben. Ich will auch nicht ZU klug sterben, was manchmal passieren kann, ich kenne Leute, denen das passiert, und das ist übel, könnt ihr mir glauben. Nur eins weiß ich, Leute: Dumm sterb ich auf keinen Fall.

Wenn man Verena Güntners Debütroman liest, darf man nicht allzu zartbesaitet sein, denn die junge Autorin nimmt kein Blatt vor den Mund. Sie umschreibt nicht, sie beschönigt nichts. Titten, Muschi, Fickwetten. Schonungslos und ehrlich schreibt sie über die Welt von Luis, die langsam aus den Fugen gerät. Verena Güntner gelingt es dabei ganz wunderbar, den richtigen Ton zu treffen: der Roman wird aus der Perspektive von Luis erzählt und seine Lebenswirklichkeit wird erschreckend authentisch eingefangen – krass und hart und ganz frei von Klischees. Es gibt vereinzelt auch immer wieder poetische Stellen, in denen es schon fast philosophisch wird, doch meistens lauschen wir dem Ghetto-Slang von Luis, der mit Schimpfworten durchsetzt ist.

Manchmal, und ich kann euch echt nicht sagen, warum, kommt es mir so vor, als kennen wir uns schon seit Ewigkeiten. Als wären wir schon immer befreundet. Ich hab deshalb keine Erinnerung ohne Milan. Wenn ich mich in meinen Erinnerungen umdrehe, auch in denen, wo er gar nicht dabei gewesen sein kann, steht Milan immer hinter mir und schaut mich an. Er strahlt dabei eine unendliche Ruhe aus, die auch mich ruhig sein lässt. Milans Ruhe. Die habe ich immer bewundert und mich in ihren Windschatten gehängt, und weil die meisten Leute dumm sind, hat bis jetzt keiner was gemerkt. Dass ich Milan brauche, wissen nur er und ich. Und Gott, klar. Aber mit Gott bin ich eigentlich genauso close wie mit Milan. Ich würde alles für ihn machen, im Ernst. Bis auf Mord oder so was. Ohne Scheiß jetzt, ich würde wirklich alles für Milan machen.

Was für mich Es bringen zu einer ganz besonderen Lektüre gemacht hat, ist das, was sich hinter der Ghettofassade befindet. Es geht in diesem Roman um viel mehr als Titten, Muschis und Fickwetten. Es geht um einen Jungen, der hart sein möchte, der dazu gehören möchte und der dann doch feststellen muss, wie verletzbar man sein kann, wenn man erwachsen wird. Es geht um die schmale Linie zwischen der Kindheit und dem Moment, in dem man erwachsen wird. Luis erlebt diesen Moment viel zu schnell, viel zu abrupt und muss dabei feststellen, dass in der Welt der Erwachsenen ganz andere Gesetze herrschen. Dabei möchte er doch eigentlich nur, dass alles so bleibt, wie es ist und wie er es kennt. Diese Zerrissenheit zwischen der eigenen Sensibilität und dem Wunsch danach, erwachsen zu sein, beschreibt Verena Güntner mit ungeheuerer Intensität.

Als ich das Buch zuklappe, ist mir gleichzeitig ein bisschen schwer und leicht: Luis ist mir ans Herz gewachsen, trotz all seiner Eigenarten und Fehler und ich möchte ihn eigentlich ungern wieder hergeben. Ich würde ihm gerne die Hand halten bei den nächsten zaghaften Schritten, die er hinein ins Erwachsenenleben gehen muss. Das Buch verschont uns mit einem Happy End und doch habe ich das Gefühl, dass es Luis schaffen kann in dieser Welt. Es bringen ist ein schonungsloser und intensiver Roman, der unter seiner rauen Fassade ganz zart ist und noch lange in mir nachhallen wird.

Verena Güntner: Es bringen. Roman. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2014. 249 Seiten, €18,99. Lesung der Autorin aus dem Roman.

Altes Land – Dörte Hansen

Dörte Hansen legt mit Altes Land einen eindrucksvollen und warmherzigen Debütroman vor. Nüchtern, und doch mit ganz viel Humor, erzählt sie von Heimat und Heimatlosigkeit, von Flucht und dem Wunsch danach, ein Zuhause zu finden. Schon jetzt kann ich sagen, dass Altes Land mein Buch des Frühjahrs ist.

Altes Land

In manchen Nächten, wenn der Sturm von Westen kam, stöhnte das Haus wie ein Schiff, das in schwerer See hin- und hergeworfen wurde. Kreischend verbissen sich die Böen in den alten Mauern.

Das Alte Land ist ein Teil der Elbmarsch südlich der Elbe, der vor allen Dingen bekannt für einen ertragreichen Obstbau ist: hier findet man Apfelbäume, Birnbäume und Kirschbäume. Die Kirschbäume sind bei räuberischen Vögeln beliebt, besonders bei den Staren, die mit lauten Rufen und Trommeln verscheucht werden. Doch so leicht wie sich die Vögel verscheuchen lassen, lassen sich Menschen nicht wegschicken. Auf dem Hof von Ida Eckhoff, Bäuerin im Alten Land, stehen im Frühjahr 1945 plötzlich Flüchtlinge aus Ostpreußen und bitten um Einlass. Ida Eckhoff schimpft die Flüchtlinge Polacken und lässt Hildegard von Kamcke und ihre Tochter Vera in der Knechtekammer schlafen.

Vera hatte immer gefroren in diesem Haus, nicht nur am Anfang, als sie mit ihrer Mutter in der Gesindekammer an der großen Dielentür wohnte, die von allen kalten Räumen im Haus der kälteste war, am weitesten weg von Ida Eckhoffs warmem Herd.

Doch Hildegard von Kamcke lässt sich nicht unterkriegen, sie möchte nicht allzu lange Flüchtling sein. Sie schnappt sich bald darauf einen gut verdienenden Mann und zieht mit diesem weiter nach Hamburg, um eine neue Familie zu gründen. Vera bleibt auf dem Hof zurück und lebt von nun an bei Karl, Idas einzigem Sohn. Karl ist körperlich beinahe unversehrt aus dem Krieg heimgekehrt, doch er wird sich von seinen Erlebnissen nie erholen. Auch als sie endlich erwachsen ist und als Zahnärztin arbeitet, zieht Vera nicht aus und bleibt alleine zurück in diesem großen, kalten Haus, in dem sie lebt, doch trotzdem nie so richtig heimisch ist.

Sechzig Jahre später stehen plötzlich erneut zwei Flüchtlinge vor der Tür: Veras Nichte Anne und ihr kleiner Sohn. Ihr Mann hat sich in eine Andere verliebt und ihre Arbeit als Flötenlehrerin füllt sie schon lange nicht mehr aus – überhaupt empfindet sie ihr Leben in Hamburg-Ottensen zunehmend als erdrückend.

Manchmal, wenn sie mit fremden Frauen auf dem Spielplatz saß, sah sie die dunklen Augenringe und fragte sich, ob es noch andere gab wie sie, Nachtmütter, die sich am Tag ein anderes Leben wünschten. Falls ja – sie würden es auch unter Folter nicht gestehen. Man durfte erschöpft sein auf den Bänken in Ottensen, gestresst und ungekämmt, auch ungeschminkt, das alles ging, nur mutterglücklos, das ging nicht. 

Gemeinsam mit ihrem Sohn und Willy, dem Kaninchen, zieht Anne zu Vera in das große, kalte Haus. Anne, die eine Ausbildung als Tischlerin gemacht hat, nimmt sich dem Haus an, das Vera ein Leben lang vernachlässigt und nie gepflegt hat: die morschen Fenster werden erneuert, auch ein Gerüst wird aufgebaut. Dabei wird deutlich, dass das Haus voller Geheimnisse ist, voller Erlebnisse, über die nie gesprochen wurde, voller drückendem Schweigen. Doch diese bedrückende Vergangenheit sitzt nicht nur im Haus, sondern auch in Vera selbst – durch die zwei Flüchtlinge, die ihr Leben spontan ergänzt haben, beginnt sie sich ganz langsam aus einer jahrelangen Erstarrung zu lösen.

Flüchtlinge suchte man nicht aus, man lud sie auch nicht ein, sie kamen einfach angeschneit mit leeren Händen und wirren Plänen, sie brachten alles durcheinander.

Dörte Hansen erweist sich in ihrem Roman Altes Land als wunderbar genaue Beobachterin. Dabei gelingen ihr sehr intensive Einblicke in die Gefühle und Empfindungen ihrer Figuren, die alle irgendwie Flüchtlinge sind. Vera kommt als ungewolltes Flüchtlingskind in der Elbmarsch an und wird dort auch noch von ihrer eigenen Mutter zurückgelassen, die sich im viel schickeren Hamburg ein eigenes Leben aufbaut. Doch auch Anne ist ein Flüchtling, denn sie erstickt so langsam an ihrem schicken Leben in Hamburg. Die Beobachtungen des szenigen Großstadtlebens lesen sich herrlich amüsant: eingekauft wird natürlich im Bio-Supermarkt, die Kinder werden zu autonomen Entscheidungsträgern herangezogen, müssen die eine oder andere Frühförderung über sich ergehen lassen und wenn eine Beziehung doch mal scheitert, dann trennt man sich gesittet und eben wie zwei Erwachsene. Ebenso amüsant und mit humorvollem Augenzwinkern liest sich die Beschreibung der Menschen, die von der Stadt auf das Land gezogen sind, weil es dort doch ach so romantisch ist und dort nun Hoftür an Hoftür mit Vera und den anderen Alteingesessenen leben. Sie planen Bücher und Zeitschriften über die Landromantik, doch dabei übersehen sie, dass das Leben auf dem Land auch seine Schattenseiten haben kann. Der eine kann von seinen Verkäufen kaum überleben, der andere arbeitet noch im hohen Alter, da er keinen Nachfolger für den Hof findet – obwohl er drei Söhne hat.

Altes Land ist ein lesenswerter Roman, der von einem wunderbaren Humor getragen wird. Die Sprache ist nüchtern – knapp und verdichtet. An keiner Stelle ist ein Wort zu viel. Doch der Humor und die ironischen Beschreibungen sind nicht alles, denn unter der dicken Schicht Humor gibt es auch ganz viel Traurigkeit und eine bedrückende Schwere. Es geht um Heimat und Heimatlosigkeit. Es geht um den Wunsch anzukommen und das Gefühl, sich fremd zu fühlen – manchmal sogar im eigenen Haus. Altes Land ist wunderbar leicht und unterhaltsam und doch gleichzeitig so tiefgehend und berührend. Ein leichtes Buch, das doch ein kleines Wunder ist. Erwähnte ich schon, dass das Buch für mich das Buch des Frühjahrs ist? Eine unbedingte Leseempfehlung!

Dörten Hansen: Altes Land. Roman. Knaus Verlag, München 2015. 286 Seiten, €19,99. Weitere Besprechungen gibt es im Bücherwurmloch und bei Papiergeflüster.

Mein weißer Frieden – Marica Bodrožić

Mit Mein weißer Frieden legt Marica Bodrožić einen autobiographischen Reisebericht vor. Es ist ein Reisebericht, der einer Spurensuche gleicht, bei der es um die ganz großen Fragen des Lebens geht: nicht nur um Krieg und Frieden, sondern auch um die Frage, wie wir unser eigenes Leben eigentlich gestalten wollen.

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Das Leben ist eine Reise, die sich selbst überschreibt, jeder Gedanke, jede Empfindung ist ein neuer Weg, der den eigenen Kern freilegt und die Sinne verfeinert.

In all ihren vorangegangenen Romanen hat sich Marica Bodrožić immer wieder und auf ganz unterschiedliche Art und Weise mit ihrer Herkunft auseinandergesetzt, mit dem Gefühl von Heimat, mit der Aneignung einer neuen Sprache. Es gibt einen Bruch in ihrem Leben, um den bisher alle ihre Texte kreisten: 1973 wurde die Autorin in Dalmatien geboren, 1983 zog es sie und ihre Familie nach Deutschland. Den Krieg, der in den neunziger Jahren in ihrer alten Heimat ausbrach, erlebte sie nur aus der Ferne mit – in der neuen Heimat lebend, in einer neuen Sprache beheimatet. Mein weißer Frieden ist die autobiographische Annäherung an diesen Krieg, aber auch an die Frage, wie man ihn damals hätte verhindern können und wie man Kriege in Zukunft verhindern kann.

Jedes Mal, wenn ich einen Koffer packe, spricht aber auch die Erinnerung mit, sie weiß um Krieg und Frieden, um Glück und Unglück, ist immer die stille Mitschreiberin.

Den Krieg im ehemaligen Jugoslawien hat Marica Bodrožić aus der Ferne miterleben müssen, doch sie ist anschließend immer wieder dorthin zurückgereist, wo sie aufgewachsen ist. In den europäischen Süden, dort wo man freien Blick auf all die glücksbringenden Sterne am Himmel hat. Sie reist zurück zu den Verwandten, die dort geblieben sind. In dem Dorf, in dem sie aufgewachsen ist, gibt es kaum eine Familie, die nicht in irgendeiner Form vom Krieg betroffen ist. Es gibt kaum Eltern, die ihr Kind nicht in den Krieg schicken mussten, es gibt kaum Eltern, die ein unversehrtes Kind zurückerhalten haben. Der Krieg hat nicht nur die Dörfer und Städte zerstört, sondern auch Krater in die Familien gerissen.

Wie viele Stunden, Tage, Wochen, Monate unserer wertvollen Lebenszeit verschwenden wir darauf, Krieg zu führen? Krieg in Gedanken. Krieg in Sätzen. Krieg in Worten. Alle Kriege beginnen in Gedanken und münden in der Syntac, im reflexartigen Kampf und Zurückschlagen ohne Punkt und Komma.

Marica Bodrožić reist auch zu ihrer Tante Anastazija, deren Sohn sich nach dem Krieg im Wald erhängt hat. Die zehn anderen Cousins haben den Krieg überlebt, sind scheinbar gesund daraus hervorgegangen. Doch wird man das, was man während eines Krieges erlebt, überhaupt jemals wieder los? Wer kann einen darauf vorbereiten, töten zu müssen, um nicht selbst getötet zu werden? Kann man auf so etwas überhaupt vorbereitet werden und kann man solche Erlebnisse unbeschadet überstehen? Es gibt kaum psychologische Unterstützung für die Kriegsheimkehrer. Über den Selbstmord von Filip wird ein Mantel des Schweigens gebreitet. Wenn man den Onkel fragt, sagt der, dass Filip mit seiner Tat Schande gebracht hat über die, die er zurückgelassen hat. 

Mir wird auf meinen Wanderungen durch das dalmatische Hinterland klar, dass ich seit Anfang der neunziger Jahre immerzu von Schicksalen und Literaturen jener Menschen umgeben bin, die alles verloren haben, die fortgehen mussten oder vertrieben wurden, im Krieg waren, später auf der Flucht, am Körper versehrt und im Geist unversehrt oder umgekehrt (und oft beides zusammen), sie lernten andere Sprachen, tauchten unter, blieben für immer Namenlose im Anderswo.

Mein weißer Frieden setzt sich zusammen aus Impressionen dieser zahlreichen Reisen, aus Eindrücken, Gesprächen, Begegnungen und Gedanken. Marica Bodrožić legt kein politisches Sachbuch vor, sondern einen autobiographischen Reisebericht, der gespeist ist aus einem ganz und gar persönlichen Zugang. Sie reist nach Split, nach Sarajewo, nach Mostar und auf die kroatischen Inseln. Dabei erzählt die Autorin nicht nur in ihrer ihr eigenen Poetik von einer Reise in ein Land, das vom Krieg zerstört wurde, sondern auch von einer Reise zu sich selbst. In Mein weißer Frieden geht es vordergründig nicht unbedingt um Daten und harte politische Fakten, sondern um einen persönlichen Blick auf die kaum zu begreifenden Folgen eines jahrelangen Krieges. Es ist nicht nur ein persönlicher Blick, sondern auch ein offener, ein unverstellter. Es ist ein fragender Blick: wie können scheinbar normale Menschen plötzlich in einen Krieg ziehen? Wie kann ein zivilisiertes Land in Barbarei versinken? Wie ist ein solcher Krieg zu begreifen? Wie ist so viel Grausamkeit überhaupt zu verstehen? Und wie kann ein solcher Krieg verhindert werden? Auf der Suche nach Antworten greift Marica Bodrožić immer wieder auf die Literatur zurück und zitiert Martin Buber, Erich Fromm, Imre Kertész, Ruth Klüger, Hans Keilson oder auch Stefan Zweig.

Auf meiner Reise durch Bosnien und Dalmatien sind mir unzählige Menschen begegnet. Einbeinige unter mediterranen grünen Palmen, Kriegsversehrte, denen man ein verrutschtes Gehirn nachsagte, Erinnerungstöter, die alles in sich auslöschen mussten, damit sie in den Krieg ziehen konnten. Die unterschiedlichsten Tonarten des Tötens klingen in meiner Reiseluft nach. Ich habe gelernt, dass man Gedächtnisse und Menschen gleichermaßen töten kann. Was ist die Aufgabe der Erinnerung hier? Sie ist das Gespräch mit meinem inneren Selbst. In seinem Kern lebt mein weißer Frieden, den es ohne Bewusstsein nicht geben kann. Denn kein Krieg hört auf, nur weil die Waffen schweigen. Er hinterlässt ein Erbe, dunkle Gaben, die wie eine lauernde Krankheit in den Geschichtern, Geschichten, Körpern, Sätzen und der Vorstellungskraft der Menschen weiterleben.

Angesichts der momentanen Weltlage, die durch Kriege an ganz unterschiedlichen Orten geprägt ist, ist dieses Buch von Marica Bodrožić aktueller und wichtiger denn je. Eine politische Lösung für Kriege und Konflikte findet sich auch in Mein weißer Frieden nicht, es ist wohl auch kaum möglich, ein Rezept dagegen zu finden. Dafür legt Marica Bodrožić eine poetische und lesenswerte Auseinandersetzung mit der Frage vor, wie wir als Einzelner und als Gesellschaft friedlich miteinander leben können und zeigt auf, dass man sich auf der Suche nach Antworten auch immer wieder der Literatur zuwenden kann.

Marica Bodrožić: Mein weißer Frieden. Roman. Luchterhand Verlag, München 2014. 336 Seiten. €19,99. Auf diesem Blog gab es bereits ein Interview mit der Autorin und eine Besprechung ihres Romans kirschholz und alte gefühle.

Gegenspiel – Stephan Thome

In Gegenspiel erzählt Stephan Thome nicht nur eine spannende Lebensgeschichte, angesiedelt irgendwo zwischen Portugal und der deutschen Provinz, sondern wagt auch ein literarisches Experiment.

Stephan Thome Gegenspiel

Vor zwei Jahren veröffentlichte Stephan Thome den Roman FliehkräfteDamals erzählte er die Geschichte des Professors Hartmut Hainbach, der seit zwanzig Jahren mit seiner portugiesischen Frau Maria verheiratet ist und dessen Ehe zunehmend bröckelt. Ich klappte das Buch damals mit dem Wunsch zu, Hartmut und Maria weitere vierhundert Seiten begleiten zu dürfen. Diesen Wunsch hat mir Stephan Thome mittlerweile erfüllt, denn mit Gegenspiel legt er quasi das Gegenstück zu Fliehkräfte vor: es ist dieselbe Geschichte und auch dieselbe Ehe, die langsam brüchig wird, nur wird diesmal alles aus der Perspektive von Maria erzählt.

“Was geschieht mit uns?”, fragt sie in die Stille hinein. Für hiesige Verhältnisse ist es ein heißer Sommer. In Berlin waren es früh am Morgen über zwanzig Grad.
“Was meinst du?”

“Was geschieht mit uns? Warum können wir nicht mehr reden?”
“Wir reden schon eine ganze Weile.”
“An einander vorbei. Um einander herum. Was auch immer.”

Es ist ein Umzug, der die Ehe von Hartmut und Maria von einem Tag auf den anderen in Frage stellt. So viele Jahre lange hat Maria ihr Leben, ihre Wünsche und ihre Ziele an Hartmuts Vorstellungen ausgerichtet. So lange, bis sie ihre Tage irgendwann nur noch damit verbrachte, zu Hause zu sitzen und DVD-Serien zu schauen. Maria entscheidet sich dazu, ein Theaterengagement in Berlin anzunehmen und zieht aus dem gemeinsamen Haus in Bonn aus. Sie wird Assistentin ihres Liebhabers aus Studienzeiten, der mittlerweile in Berlin ein Theater leitet. Es ist das erste Mal seit zwanzig Jahren, dass Maria aus dem engen Korsett der Professorenehe ausbricht und nicht mehr nur das tut, was von ihr erwartet wird. Es ist das erste Mal, dass Maria nicht nur ein Leben als Anhängsel führt, sondern eine eigene Entscheidung trifft.

Wo der Sand fester und der Meergeruch intensiver wird, bleibt Maria stehen. Es ist das Einzige, was sie in diesem Moment tun kann: nicht weglaufen. 

Stephan Thome blickt zurück auf das Leben von Maria, erzählt in kurzen Episoden ihre Lebensgeschichte. Geboren wurde sie in Portugal, als Studentin kam sie in den achtziger Jahren nach Berlin – lebte in besetzten Häusern und verliebte sich in Falk, den rebellischen Theaterregisseur. Wegen ihm nimmt sie plötzlich teil an einer Demonstration, verbringt anschließend einen Tag auf der Polizeiwache. Schon in Portugal hat die junge Frau vorsichtig rebelliert, nun ist sie Teil einer Szene, die alles in Frage stellt. Doch statt ihre Träume auf den Theaterbühnen und an der Seite von Falk zu leben, verliebt sich Maria in den etwas biederen Hartmut – angehender Professor für Philosophie. Für ihr Leben hatte sie große Pläne, doch ihre Träume und Wünsche enden an der Seite Hartmuts in der nordrhein-westfälischen Provinz. Plötzlich ist sie Ehefrau und Mutter eines Kindes, das sie eigentlich nie haben wollte.

Vor zwei Wochen, bei ihrem Mittagessen am Hackeschen Markt, hat Hartmut gesagt, es könnte doch sein, dass jedes Menschenleben mehr als ein Mal beginnt. Dass man nie zu alt ist, sich zu ändern. Nein, theoretisch nicht, hat sie geantwortet, ohne zu wissen, ob er einen Scherz mache oder es ernst meinte. Allmählich beginnt sie zu ahnen, wie viel Zeit sie beide damit vertan haben, die Zeichen zu übersehen und den Fliehkräften nachzugeben.

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Eigentlich erzählt Stephan Thome eine Allerweltsgeschichte: er erzählt von zwei Menschen, die zwanzig Jahre dafür brauchen, um zu erkennen, dass sie ihre Ehe auf einem wackligen Fundament gebaut haben. Wahrscheinlich gibt es dieses Phänomen in jeder zweiten Ehe: zwei Partner haben ganz unterschiedliche Erwartungen aneinander und an ihr Leben, doch gründen dann – mehr aus einem Zufall heraus – eine Familie, leben nebeneinander her, bis dann einer der beiden – häufig zur Mitte des Lebens hin – erkennt, dass er dieses Leben auf Dauer nicht ertragen kann. Eigentlich ist das keine Geschichte, die zweimal erzählt werden müsste und doch tut Stephan Thome genau das und zwar auch noch so, dass ich das Buch kaum aus der Hand legen wollte. Gegenspiel kann als Prequel, um mal einen Fachterminus zu gebrauchen, gelesen werden, funktioniert aber auch als eigenständiger Roman. Ich glaube aber, dass das literarische Experiment, eine Geschichte in zwei Romanen und aus zwei Perspektiven zu erzählen, besonders dann gut funktioniert, wenn man beide Bücher kurz nacheinander liest.

Für mich ist Gegenspiel eine berührende Lektüre, die auf unaufgeregte und häufig ironische Art und Weise das Leben und die eheliche Liebe erforscht. Stephan Thome erzählt eine Geschichte von Lebenslügen und Selbstbetrug, von Selbstaufgabe und dem Wunsch nach einem Neuanfang. Es ist eine leise Geschichte, die offenbart, dass es kein Patentrezept dafür gibt, eine Ehe zu retten. Die einzige Idee, die der Autor Paaren in kriselnden Ehen mit auf den Weg gibt, ist die Idee, sich selbst zu retten und Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, erst dann ist es vielleicht überhaupt wieder möglich, eine gemeinsame Basis zu finden.

Stephan Thome: Gegenspiel. Roman. Suhrkamp, Berlin 2015. 464 Seiten, €22,95. Eine weitere Rezension findet sich auf dem Blog Buchrevier von Tobias Nazemi.

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