
© Peter von Felbert
Marica Bodrožić wurde 1973 in Dalmatien, dem heutigen Kroatien, geboren. Mit zehn Jahren zog sie mit ihrer Familie nach Deutschland. Über ihre “Ankunft in Worten” hat sie in dem schmalen Bändchen “Sterne erben, Sterne färben” geschrieben. Heutzutage lebt Marica Bodrožić als freie Schriftstellerin in Berlin, zuletzt erschien von ihr der Roman „kirschholz und alte gefühle“, der zweite Teil einer Trilogie, deren Auftakt “Das Gedächtnis der Libellen” ist.
Erinnerungen und Gedächtnis – das sind zwei Themen, die in Ihrem neuen Roman „Kirschholz und alte Gefühle“ besonders im Mittelpunkt stehen. Warum war es Ihnen wichtig, darüber zu schreiben?
Ohne Erinnerung gibt es keine Autonomie, kein selbständiges Leben und ohne die Arbeit des Gedächtnisses keine Möglichkeit, dem eigenen Selbst in Würde zu begegnen. Dazu gehört auch das Vergessen. Das Verhältnis zwischen Erinnern und Vergessen und die daraus entstehende Kontinuität fasziniert mich am meisten.
Was bedeutet für Sie persönlich Erinnerung?
Ich kann Erinnerung nicht unpersönlich denken. Aber sie ist mir nicht nur in meinem eigenen Leben und Schreiben wichtig, auch sonst, als Phänomen des menschlichen Geistes übt sie eine große Anziehungskraft auf mich aus. Manchmal träume ich von einem überplanetarischen Gedächtnis und wünsche mir, mit meinem Kopf das Licht der Plejaden zu verstehen oder mittels eines metaphysischen Tunnels ins Alte Griechenland mit meinen Synapsen zu reisen und dort alles von meinem Schreibtisch aus wahrzunehmen.
Aber ganz konkret und besonders findig sind die Überschreibungen, denen wir ausgesetzt sind, sie sind sehr aussagekräftig, die Lücken, die Bilder, die durch die Prozesse, die etwa Dauer und Zeit bewirken, dann neu entstehen. Jeder Mensch hat diese Lücken, diese Stolpersteine und es macht einen Unterschied, wann wir uns an etwas erinnern, ob wir das mit 20 oder 40 oder im hohen Alter tun. Keiner von uns teilt die Erinnerung mit einem anderen Wesen. Jeder erinnert sich für sich selbst. Das ist schon eine kleine Erzählung mit großer Wirkung, mit unabsehbaren Folgen – zum Beispiel in Beziehungen zwischen Geschwistern und Liebenden.
Wie bewahren Sie Erinnerungen auf? Tragen Sie die Erinnerungen an die Vergangenheit – sinnbildlich gesprochen – im Herzen, oder sammeln Sie gerne “Souvenirs”, um sich an Vergangenes zu erinnern?
Die Erinnerungen bewahren mich, sie beschriften und bebildern mich. Ich selbst sammle keine Souvenirs und habe auch nichts übrig für sentimentales Dingwerk. Was mich interessiert, ist der menschliche Geist. Dinge lenken von dieser Dimension des Inneren eher ab. Aber sie können selbstverständlich sehr viel auslösen. Nur sind sie für mich keine Wegmarken. Ich hebe sie nicht auf. Im Gegenteil, vieles entsorge ich immer wieder ganz bewusst und verabschiede mich auch gerne. Ohnehin verlieren sie von selbst ihre Bedeutung und machen auf Dauer melancholisch. Dies verschafft nicht unbedingt einen klaren Blick und ist im Schreiben hinderlich. Das hat damit zu tun, dass Dinge nur den äußeren Ring der Wirklichkeit darstellen. Die äußere Realität ist für mich aber nur von Bedeutung als Ergebnis einer inneren Entwicklung, als die Summe dessen, was ich das innere Sehen nennen würde – denn das Sehen kann man erlernen. Und dann kann ich ohnehin gleich auf das Innere zurückgreifen. Wir müssen begreifen, dass wir nur sehen, was wir sind und was wir wissen. Es gibt so vieles, das uns entgeht!
Halten Sie die Vorstellung eines absoluten Gedächtnisses für verführerisch oder glauben Sie, dass es auch gesund sein kann, bestimmte Ereignisse zu verdrängen?
Die Schriftstellerin Marisa Madieri hat einmal Gott als das große Gedächtnis beschrieben. So ein Archiv gibt es garantiert, wie auch immer wir es nennen. Menschen aber müssen sich erinnern und wieder vergessen. Was die psychologische Dimension der Erinnerung angeht, etwa bei Traumata, das ist noch einmal ein anderer Prozess. Und ja, Menschen überleben seelisch gewisse Ereignisse, weil sie in eine Lücke geschoben, also verdrängt, verworfen werden. Aber irgendwo sind sie ja doch noch! Ich stelle mir das manchmal so vor wie am Himmel: die schwarzen Löcher gibt es. Das für die Phantasie Ansteckende ist aber nicht der Fakt an sich, es ist dieser ganze Möglichkeitsraum, der inspirierend ist, weit und offen, eine unbeschriftete mehrdimensionale Welt.
Ihre Hauptfigur verdrängt ihre Erinnerungen an den Krieg. Was passiert mit verdrängten Erinnerungen – wo bleiben sie?
Das Gedächtnis meiner Hauptfigur hat mehrere Schubladen, die, wie im Märchen, einmal ins Bewusstsein getreten, noch eine neue Ebene einleiten. Das Leben ist unendlichen Beatmungen ausgesetzt. Aber es ist in ihrem Kopf wie im Kino mit einer weißen Leinwand – es dauert, aber die Bilder kommen dann irgendwann, werden dann ein ablaufender Film. Klar ist aber auch, dass da eine Struktur ist, weil sie für Augenblicke in ihrem Denken von einer bestimmten Stelle aus beginnt, sich ihrem Leben zu nähern. Deshalb gibt es so viele Versatzstücke des Mosaiks, das Arjetas Leben zu einem Ganzen werden lässt. Wenn sie das von einer anderen Stelle aus tut, also ihren Denkpunkt ändert, dann verändert sich auch der Film auf der Leinwand (und der Bewusstseinsstrom in ihrem Inneren).
Sie wurden 1973 in Dalmatien geboren und sind mit neun Jahren nach Deutschland gezogen. Ihre Bücher veröffentlichen Sie auf Deutsch, wie kam es zu dieser Entscheidung?
Das hat die Sprache entschieden, nicht mein Ich. Man wird von der Sprache gewählt, da kann der Kopf nicht wirklich etwas machen.
Was hat Sie an der deutschen Sprache besonders fasziniert?
Ich habe keine andere, es ist die einzige Musik, die mir im Schreiben zur Verfügung steht. Alle anderen Sprachen, die ich kenne und spreche, sind nicht gut genug in mir abgespeichert, sie haben eine andere Verdichtung in mir. In der einen bin ich ein ungeschicktes Kind, in der anderen eine Suchende und wieder einer anderen bin ich vollkommen unsicher. Das sind also keine guten Voraussetzungen, dem Leben in Sprache gerecht zu werden.
Wer hat Sie literarisch beeinflusst?
Viele, unendlich viele, Kafka fällt mir ein, den ich als Sechzehnjährige geradezu zum Leben gebraucht habe, vor allem seine Aphorismen, die ich bis heute immer wieder lese; aber auch Marguerite Duras, Nathalie Sarraute, Virginia Woolf, Francis Ponge, Edmond Jabés, Saint Pol Rox, Marina Zwetajewa, mein guter alter, weiser Rilke, Andrej Bely – die russische Avantgarde, die deutsche Romantik, der französische Surrealismus — es ist ein Fass ohne Boden und das ist schön und gut und soll nie aufhören. Alles, was wir berühren und was uns berührt, beeinflusst uns. Und so hat mich auch die rote Erde und das Meer Dalmatiens beeinflusst, die Bäume dieser Welt, die ja auch Schriftsteller sind, jeder Baum schreibt etwas in die Luft, die wir dann atmen, die Flüsse, der Karst, das weite Blau des Himmels, die Wolken, die Winde, die sind meine großen Verbündeten und Zuarbeiter der Sprache.
In Ihrem Roman „kirschholz und alte gefühle“ erwähnen Sie die Bremerin Karin Magnusson. Was hat es mit dieser Frau auf sich?
Ich bin durch einen Spiegel-Artikel auf diese Biologin, die in der Zeit des Nationalsozialismus sehr ambitioniert (ein Synonym für menschenverachtend) war, aufmerksam geworden. Sie hat sich als Forscherin im 3. Reich Menschenaugen von Mengele in Auschwitz bestellt. Vorher hat sie über Schmetterlingsflügel gearbeitet. Und ich habe mich gefragt, wie ein Mensch vom Schmetterlingsflügel zu so jemand Abgründigen wie Mengele kommen kann, wie so etwas möglich ist, was das für ein Leben war. Ein erschütternder Fall, den ich mit einer anderen Figur in meinem Buch verbinde, mit Mischa Weisband, einem deutschen Juden, der in Frankreich lebt und der nach dem Fall der Mauer in den Neunziger Jahren endlich wieder in die Stadt seiner Kindheit fahren will, doch dann in der Zeitung von Karin Magnussen liest. Er packt seinen Koffer wieder aus und reist nicht nach Berlin. Und in der Zeitung steht, was auch wirklich geschehen ist, dass nach dem Umzug von Frau Magnussen in ein Altenheim, diese in Gläsern (Formaldehyd) eingelegten Augen noch immer aufbewahrt wurden… Mischa Weisband fährt erst viele Jahre später in die deutsche Hauptstadt und trifft sich dort mit meiner Erzählerin Arjeta, die in Paris seine Nachbarin ist und der er alle Bäume und Vögel der Stadt zeigt. Er ist ein Vogelkundler! Ich wollte in diesem Zusammenhang etwas über die Macht und Kraft der Freundschaft erzählen. An einer Stelle heißt es über den alten Herren: Er war kein Mensch, der die Straßen und die Sprache seiner Kindheit hassen konnte. Das ist eine bewusste Hommage an den Schriftsteller und Psychoanalytiker Hans Keillson, der das einmal über sich selbst gesagt hat.
Nach dem Lesen Ihres Romans habe ich sofort nach dem Namen Karin Magnusson recherchiert und war angesichts Ihrer Geschichte entsetzt. Warum war es Ihnen wichtig, ihre Geschichte im Roman anzusprechen?
Es hat mich selbst sehr erschüttert, dass ein Mensch wie sie noch nach dem Krieg lange an einem Mädchengymnasium in Bremen unterrichtet hat. Sie hat immer behauptet, dass es diese Augen nie gab. Aber es gab sie doch. In ihrem braven bundesrepublikanischen Wohnzimmer. Allein dieses schockierende Bild lässt mich eine bessere Welt ersehnen, eine Welt, in der Menschen so etwas auch wissen und dafür Sorge tragen, dass es in dieser Form nie wieder geschehen kann. Denn nur über die Erinnerung, die Durchdringung des Schmerzes, der damit einhergeht, können wir etwas daraus lernen. Es muss uns schockieren. Und dann bleibt ein Lernen hoffentlich nicht aus. Da ich selbst in den Neunziger Jahren einiges mitbekommen habe, was der Krieg im ehemaligen Jugoslawien angerichtet hat, war ich sehr ergriffen davon, dass die Geschichte der Karin Magnussen so lange nachgewirkt hat. Kriege, wie dieser Fall es zeigt, dauern manchmal noch Jahrzehnte lang in den Frieden hinein. Und die Sprache transportiert alles. Sie ist das Archiv, in dem sich alles von alleine abspeichert.
Haben Sie schon ein neues Projekt in Arbeit?
Es entstehen neue Gedichte. Ein neuer Roman, der 3. Band meiner Trilogie, in dem wieder eine Nebenfigur zur Hauptfigur wird.
Vielen Dank an die Autorin für die Antworten auf meine Fragen!
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