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Deutschsprachige Literatur

5 Fragen an Lisa-Maria Seydlitz!

© severafrahm

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Lisa-Maria Seydlitz wurde 1985 in Mannheim geboren. Nach ihrem Abitur zog sie nach Hildesheim, wo sie an der Universität Literarisches Schreiben studierte. Es folgte ein Frankreichaufenthalt an der Université de Provence Aix-Marseille. Trotz ihres jungen Alters war sie bereits als Herausgeberin der Literaturzeitschrift BELLA triste tätig und Stipendiatin des Klagenfurter Literaturkurses. Der Roman “Sommertöchter”, der im vergangenen Jahr erschien, ist ihr Debüt als Schriftstellerin.

1.)    Warum wollten Sie Schriftstellerin werden?

Seit ich mit zwölf erste Romananfänge geschrieben habe, träumte ich davon, ein Buch zu veröffentlichen. Auf dem Weg dorthin ist mir der Mut, wirklich einen Roman zu schreiben, oft verloren gegangen. Aber das Schreiben selbst habe ich nie verloren. So hat mir zum Beispiel auch lange Zeit das dokumentarisch-journalistische Schreiben das gleiche Glück verschafft, wie in fiktiven Geschichten meine eigenen Welten und Figuren zu entwerfen.

2.)    Gibt es einen Schriftsteller oder einen Künstler, der Sie auf Ihrem Weg besonders inspiriert hat?

Es sind eher einzelne Bücher als ganze Werke eines Schriftstellers. Beeindruckt haben mich Javier Marias „Mein Herz so weiß“, Siri Hustvedts „Was ich liebte“, Jeffrey Eugenides „Middlesex“,  sowie, aktueller, Leanne Shaptons Ausstellungskatalog-Roman „Bedeutende Objekte und persönliche Besitzstücke“. Besonders mag ich auch die Bildwelten in Sofia Coppolas Filmen.

3.) Wann und wo schreiben Sie am liebsten?

Zuhause an meinem Schreibtisch und meinem Computer mit dem riesigen, 21,5-Zoll großen Bildschirm. Wenn es ganz ruhig um mich herum ist, kein Telefon läutet und keine Termine anstehen. Das kann früh morgens oder in den Abendstunden sein. Zwischendrin mache ich mir mal einen Milchkaffee oder presse mir einen Orangensaft. Oder ich mache eine längere Pause und schaue mir Foto-Blogs an.

4.) Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen?

„Fegefeuer“ von Sofi Oksanen.

5.) Was würden Sie einem jungen Schriftsteller raten?

Die Welt aufsaugen und beobachten. Die ganz kleine um einen herum, Familie, Freunde und Bekannte. Und die große, die man nur durch Reisen entdecken kann. Lesen. Und schreiben, schreiben, schreiben. Texte liegen lassen, Distanz gewinnen und wieder ansehen, sie überarbeiten, besser machen.

Herzlichen Dank an die Autorin für das Beantworten meiner Fragen!

Sommertöchter – Lisa-Maria Seydlitz

Lisa-Maria Seydlitz wurde 1985 in Mannheim geboren. Nach ihrem Abitur zog sie nach Hildesheim, wo sie an der Universität Literarisches Schreiben studierte. Es folgte ein Frankreichaufenthalt an der Université de Provence Aix-Marseille. Trotz ihres jungen Alters war sie bereits als Herausgeberin der Literaturzeitschrift BELLA triste tätig und Stipendiatin des Klagenfurter Literaturkurses. Der Roman “Sommertöchter”, der im vergangenen Jahr erschien, ist ihr Debüt als Schriftstellerin.

In “Sommertöchter” erzählt Lisa-Maria Seydlitz die Geschichte von Juno. Acht Jahre nach dem Tod ihres Vaters erhält sie ganz unerwartet Post, die sie mit ihrer Vergangenheit konfrontiert: in einem anonymen Brief erfährt sie davon, dass sie ein Fischerhaus in der Bretagne erbt. Juno macht sich auf zu einer Reise nach Frankreich, zu einer Reise in die Vergangenheit, die sie glaubte, schon lange hinter sich gelassen zu haben. Diese Reise wird ihren Blick zurück auf das was war für immer verändern, denn sie erfährt Dinge über ihren Vater und dessen Leben, von denen sie zuvor nichts wusste. Juno ist nicht die einzige, die Interesse an dem Fischerhaus hat – da gibt es auch noch die französische Kellnerin Julie und den Architekten Jan aus Deutschland.

“‘Liebe Juno, das Haus steht schon so lange leer’, so beginnt der Brief, geschwungene Buchstaben, kaum eine Seite lang. Außerdem liegt ein Polaroidfoto im Umschlag, es zeigt ein weißes Fischerhaus mit Fensterläden aus braunem Holz und einem roten Dach, davor steht ein Apfelbaum. Am weißen Bildrand ist eine französische Adresse notiert und der Name des Dorfs: Coulard.”

Für Juno eröffnen sich viele Fragen als sie diesen Brief erhält: wer ist der Verfasser und woher weiß dieser von Juno? Die Schrift ist ihr unbekannt und ihre Mutter weigert sich, ihr zu helfen. Junos Kindheit wurde überschattet vom Tod des Vaters, der alles veränderte. Ihre Mutter hat sich danach entschieden ein neues Leben zu beginnen, mit einem neuen Partner und einem zweiten Kind. Juno ist mitgekommen in dieses neue Leben und dennoch gibt es immer noch Fäden, die sie mit der Vergangenheit verbinden. Sie ist das Kind eines Vaters, den es nicht mehr gibt, der sich langsam fort geschlichen hat aus dem gemeinsamen Familienleben.

“Nachts liege ich wach im Bett, ich finde keinen Schlaf. In den Häusern gegenüber brennt noch vereinzelt Licht. Die Digitalanzeige des Radioweckers zeigt rot leuchtend 3:17 Uhr an. Ich stehe auf und gehe ins Badezimmer. Ich lasse kaltes Wasser in die Wanne und steige hinein, ich tauche so lange unter, bis ich keine Luft mehr habe und mich japsend wieder aufrichte.”

Gemeinsam mit Juno habe ich mich als Leser aufgemacht zu einer Reise in die französische Bretagne, aber auch zu einer Reise zurück zu den Erinnerungen an den verstorbenen Vater. Die Erinnerungen an den Vater sind zunächst überwiegend bruchstückhaft, Fetzen der Vergangenheit, die einer kindlichen Perspektive geschuldet sind, die im Laufe des Romans bis zur Auflösung am Ende jedoch ein immer genaueres Gesamtbild ergeben.

“Ich steige aus und bin nervös, als erwarte mich jemand, als säße jemand in der Bar, der mir meine Geschichte erzählen, meine Erinnerungen mit seinem Wissen auffüllen und so die Lücken schließen wolle, von denen ich erst seit ein paar Tagen vermute, dass es sie geben muss.”

“Sommertöchter” überzeugt mich vor allem mit einer wunderschönen und poetischen Sprache, mit kurzen und prägnanten Sätzen, die beim Lesen eine ungeheure Wucht und Sogkraft entwickeln. Die Beschreibungen der Gegenwart, des Aufenthalts von Juno in Frankreich, habe ich als sehr stimmig und authentisch empfunden. Vor meinem inneren Auge habe ich beinahe schon ein Bild dieses Ferienhauses gesehen und dort mit Juno, Julie und Jan gelebt – als so lebensnah und echt habe ich die Beschreibungen empfunden, als würde mir die französische Sonne beim Lesen auf die nackte Haut strahlen. Persönlich noch stärker berührt haben mich jedoch die Blicke zurück in Junos Vergangenheit, die stellenweise wie Schlaglichter aufleuchten und mir beim Lesen manchmal die Luft zum Atmen geraubt haben. Trotz ihres jungen Alters merkt Juno früh, dass etwas mit ihrem Vater nicht stimmt, ohne genau einordnen zu können, warum er manchmal morgens nicht aufsteht, häufig bei der Arbeit fehlt und die meiste Zeit vor dem Fernseher sitzt.

“Ich will nicht darüber nachdenken müssen, ob mein Vater heute wieder zu Hause geblieben ist, will nicht die Haustür hektisch aufschließen, ins Bad rennen und die Tablettenschachteln in einer Schublade oder unter einem Tuch verstecken.” 

Das Wort Depression fällt an keiner Stelle im Buch und doch glaube ich, dass Junos Vater am Leben krankte. Junos Mutter schließt mit dem Tod des Vaters gleichzeitig auch dieses Kapitel ihres Lebens, wie eine Tür, deren Schlüssel sie wegwirft.

“Es sei vorbei, sagt sie, es sei Vergangenheit, wir müssten in die Zukunft schauen.”

Lisa-Maria Seydlitz ist mit ihrem Roman “Sommertöchter” ein ungewöhnliches aber dennoch unheimlich eindrückliches Debüt gelungen. “Sommertöchter” erzählt eine Familiengeschichte, erzählt aber gleichzeitig auch die Geschichte eines Endes und eines Neuanfangs und davon, warum es manchmal wichtig sein kann, von vorne zu beginnen und sich aus der Vergangenheit zu lösen. Trotz der französischen Sonne liegt auch viel Schwermut und Traurigkeit in diesem Buch, das mich sehr tief berührt hat. Lisa-Maria Seydlitz ist eine junge Schriftstellerin, von der ich mir noch viel erhoffe und erwarte!

Marica Bodrožić im Gespräch!

© Peter von Felbert

© Peter von Felbert

Marica Bodrožić wurde 1973 in Dalmatien, dem heutigen Kroatien, geboren. Mit zehn Jahren zog sie mit ihrer Familie nach Deutschland. Über ihre “Ankunft in Worten” hat sie in dem schmalen Bändchen “Sterne erben, Sterne färben” geschrieben. Heutzutage lebt Marica Bodrožić als freie Schriftstellerin in Berlin, zuletzt erschien von ihr der Roman „kirschholz und alte gefühle“, der zweite Teil einer Trilogie, deren Auftakt “Das Gedächtnis der Libellen” ist.

Erinnerungen und Gedächtnis – das sind zwei Themen, die in Ihrem neuen Roman „Kirschholz und alte Gefühle“ besonders im Mittelpunkt stehen. Warum war es Ihnen wichtig, darüber zu schreiben?

Ohne Erinnerung gibt es keine Autonomie, kein selbständiges Leben und ohne die Arbeit des Gedächtnisses keine Möglichkeit, dem eigenen Selbst in Würde zu begegnen. Dazu gehört auch das Vergessen. Das Verhältnis zwischen Erinnern und Vergessen und die daraus entstehende Kontinuität fasziniert mich am meisten.

Was bedeutet für Sie persönlich Erinnerung?

Ich kann Erinnerung nicht unpersönlich denken. Aber sie ist mir nicht nur in meinem eigenen Leben und Schreiben wichtig, auch sonst, als Phänomen des menschlichen Geistes übt sie eine große Anziehungskraft auf mich aus. Manchmal träume ich von einem überplanetarischen Gedächtnis und wünsche mir, mit meinem Kopf das Licht der Plejaden zu verstehen oder mittels eines metaphysischen Tunnels ins Alte Griechenland mit meinen Synapsen zu reisen und dort alles von meinem Schreibtisch aus wahrzunehmen.

Aber ganz konkret und besonders findig sind die Überschreibungen, denen wir ausgesetzt sind, sie sind sehr aussagekräftig, die Lücken, die Bilder, die durch die Prozesse, die etwa Dauer und Zeit bewirken, dann neu entstehen. Jeder Mensch hat diese Lücken, diese Stolpersteine und es macht einen Unterschied, wann wir uns an etwas erinnern, ob wir das mit 20 oder 40 oder im hohen Alter tun. Keiner von uns teilt die Erinnerung mit einem anderen Wesen. Jeder erinnert sich für sich selbst. Das ist schon eine kleine Erzählung mit großer Wirkung, mit unabsehbaren Folgen – zum Beispiel in Beziehungen zwischen Geschwistern und Liebenden.

Wie bewahren Sie Erinnerungen auf? Tragen Sie die Erinnerungen an die Vergangenheit – sinnbildlich gesprochen – im Herzen, oder sammeln Sie gerne “Souvenirs”, um sich an Vergangenes zu erinnern?

Die Erinnerungen bewahren mich, sie beschriften und bebildern mich. Ich selbst sammle keine Souvenirs und habe auch nichts übrig für sentimentales Dingwerk. Was mich interessiert, ist der menschliche Geist. Dinge lenken von dieser Dimension des Inneren eher ab. Aber sie können selbstverständlich sehr viel auslösen. Nur sind sie für mich keine Wegmarken. Ich hebe sie nicht auf.  Im Gegenteil, vieles entsorge ich immer wieder ganz bewusst und verabschiede mich auch gerne. Ohnehin verlieren sie von selbst ihre Bedeutung und machen  auf Dauer melancholisch. Dies verschafft nicht unbedingt einen klaren Blick und ist im Schreiben hinderlich. Das hat damit zu tun, dass Dinge nur den äußeren Ring der Wirklichkeit darstellen. Die äußere Realität ist für mich aber nur von Bedeutung als Ergebnis einer inneren Entwicklung, als die Summe dessen, was ich das innere Sehen nennen würde – denn das Sehen kann man erlernen. Und dann kann ich ohnehin gleich auf das Innere zurückgreifen. Wir müssen begreifen, dass wir nur sehen, was wir sind und was wir wissen. Es gibt so vieles, das uns entgeht!

Halten Sie die Vorstellung eines absoluten Gedächtnisses für verführerisch oder glauben Sie, dass es auch gesund sein kann, bestimmte Ereignisse zu verdrängen?

Die Schriftstellerin Marisa Madieri hat einmal  Gott als das große Gedächtnis beschrieben. So ein Archiv gibt es garantiert, wie auch immer wir es nennen. Menschen aber müssen sich erinnern und wieder vergessen. Was die psychologische Dimension der Erinnerung angeht, etwa bei Traumata, das ist noch einmal ein anderer Prozess. Und ja, Menschen überleben seelisch gewisse Ereignisse, weil sie in eine Lücke geschoben, also verdrängt, verworfen werden. Aber irgendwo sind sie ja doch noch! Ich stelle mir das manchmal so vor wie am Himmel: die schwarzen Löcher gibt es. Das für die Phantasie Ansteckende ist aber nicht der Fakt an sich, es ist dieser ganze Möglichkeitsraum, der inspirierend ist, weit und offen, eine unbeschriftete mehrdimensionale Welt.

Ihre Hauptfigur verdrängt ihre Erinnerungen an den Krieg. Was passiert mit verdrängten Erinnerungen – wo bleiben sie?

Das Gedächtnis meiner Hauptfigur hat mehrere Schubladen, die, wie im Märchen, einmal ins Bewusstsein getreten, noch eine neue Ebene einleiten. Das Leben ist unendlichen Beatmungen ausgesetzt. Aber es ist in ihrem Kopf wie im Kino mit einer weißen Leinwand – es dauert, aber die Bilder kommen dann irgendwann, werden dann ein ablaufender Film. Klar ist aber auch, dass da eine Struktur ist, weil sie für Augenblicke in ihrem Denken von einer bestimmten Stelle aus beginnt, sich ihrem Leben zu nähern.  Deshalb gibt es so viele Versatzstücke des Mosaiks, das Arjetas Leben zu einem Ganzen werden lässt. Wenn sie das von einer anderen Stelle aus tut, also ihren Denkpunkt ändert, dann verändert sich auch der Film auf der Leinwand (und der Bewusstseinsstrom in ihrem Inneren).

Sie wurden 1973 in Dalmatien geboren und sind mit neun Jahren nach Deutschland gezogen. Ihre Bücher veröffentlichen Sie auf Deutsch, wie kam es zu dieser Entscheidung?

Das hat die Sprache entschieden, nicht mein Ich. Man wird von der Sprache gewählt, da kann der Kopf nicht wirklich etwas machen.

Was hat Sie an der deutschen Sprache besonders fasziniert?

Ich habe keine andere, es ist die einzige Musik, die mir im Schreiben zur Verfügung steht. Alle anderen Sprachen, die ich kenne und spreche, sind nicht gut genug in mir abgespeichert,  sie haben eine andere Verdichtung in mir. In der einen bin ich ein ungeschicktes Kind, in der anderen eine Suchende und wieder einer anderen bin ich vollkommen unsicher. Das sind also keine guten Voraussetzungen, dem Leben in Sprache gerecht zu werden.

Wer hat Sie literarisch beeinflusst?

Viele, unendlich viele, Kafka fällt mir ein, den ich als Sechzehnjährige geradezu zum Leben gebraucht habe, vor allem seine Aphorismen, die ich bis heute immer wieder lese; aber auch Marguerite Duras, Nathalie Sarraute, Virginia Woolf, Francis Ponge, Edmond Jabés, Saint Pol Rox, Marina Zwetajewa, mein guter alter, weiser Rilke, Andrej Bely – die russische Avantgarde, die deutsche Romantik, der französische Surrealismus — es ist ein Fass ohne Boden und das ist schön und  gut und soll nie aufhören. Alles, was wir berühren und was uns berührt, beeinflusst uns. Und so hat mich auch die rote Erde und das Meer Dalmatiens beeinflusst, die Bäume dieser Welt, die ja auch Schriftsteller sind, jeder Baum schreibt etwas in die Luft, die wir dann atmen, die Flüsse, der Karst, das weite Blau des Himmels, die Wolken, die Winde, die sind meine großen Verbündeten und Zuarbeiter der Sprache.

In Ihrem Roman „kirschholz und alte gefühle“ erwähnen Sie die Bremerin Karin Magnusson. Was hat es mit dieser Frau auf sich?

Ich bin durch einen Spiegel-Artikel auf diese Biologin, die in der Zeit des Nationalsozialismus sehr ambitioniert (ein Synonym für menschenverachtend) war, aufmerksam geworden. Sie hat sich als Forscherin im 3. Reich Menschenaugen von Mengele in Auschwitz bestellt. Vorher hat sie über Schmetterlingsflügel gearbeitet. Und ich habe mich gefragt, wie ein Mensch vom Schmetterlingsflügel zu so jemand Abgründigen wie Mengele kommen kann, wie so etwas möglich ist, was das für ein Leben war. Ein erschütternder Fall, den ich mit einer anderen Figur in meinem Buch verbinde, mit Mischa Weisband, einem deutschen Juden, der in Frankreich lebt und der nach dem Fall der Mauer in den Neunziger Jahren endlich wieder in die Stadt seiner Kindheit fahren will, doch dann in der Zeitung von Karin Magnussen liest. Er packt seinen Koffer wieder aus und reist nicht nach Berlin. Und in der Zeitung steht, was auch wirklich geschehen ist, dass nach dem Umzug von Frau Magnussen in ein Altenheim, diese in Gläsern (Formaldehyd) eingelegten Augen noch immer aufbewahrt wurden… Mischa Weisband fährt erst viele Jahre später in die deutsche Hauptstadt und trifft sich dort mit meiner Erzählerin Arjeta, die in Paris seine Nachbarin ist und der er alle Bäume und Vögel der Stadt zeigt. Er ist ein Vogelkundler! Ich wollte in diesem Zusammenhang etwas über die Macht und Kraft der Freundschaft erzählen. An einer Stelle heißt es über den alten Herren: Er war kein Mensch, der die Straßen und die Sprache seiner Kindheit hassen konnte. Das ist eine bewusste Hommage an den Schriftsteller  und Psychoanalytiker Hans Keillson, der das einmal über sich selbst gesagt hat.

Nach dem Lesen Ihres Romans habe ich sofort nach dem Namen Karin Magnusson recherchiert und war angesichts Ihrer Geschichte entsetzt. Warum war es Ihnen wichtig, ihre Geschichte im Roman anzusprechen?

Es hat mich selbst sehr erschüttert, dass ein Mensch wie sie noch nach dem Krieg lange an einem Mädchengymnasium in Bremen unterrichtet hat. Sie hat immer behauptet, dass es diese Augen nie gab. Aber es gab sie doch. In ihrem braven bundesrepublikanischen Wohnzimmer. Allein dieses  schockierende Bild lässt mich eine bessere Welt ersehnen, eine Welt, in der Menschen so etwas auch wissen und dafür Sorge tragen, dass es in dieser Form nie wieder geschehen kann. Denn nur über die Erinnerung, die Durchdringung des Schmerzes, der damit einhergeht, können wir etwas daraus lernen. Es muss uns schockieren. Und dann bleibt ein Lernen hoffentlich nicht aus. Da ich selbst in den Neunziger Jahren einiges mitbekommen habe, was der Krieg im ehemaligen Jugoslawien angerichtet hat, war ich sehr ergriffen davon, dass die Geschichte der Karin Magnussen so lange nachgewirkt hat. Kriege, wie dieser Fall es zeigt, dauern manchmal noch Jahrzehnte lang in den Frieden hinein. Und die Sprache transportiert  alles. Sie ist das Archiv, in dem sich alles von alleine abspeichert.

Haben Sie schon ein neues Projekt in Arbeit?

Es entstehen neue Gedichte. Ein neuer Roman, der 3. Band meiner Trilogie, in dem wieder eine Nebenfigur zur Hauptfigur wird.

Vielen Dank an die Autorin für die Antworten auf meine Fragen!

Marica Bodrožić – kirschholz und alte gefühle

Marica Bodrožić wurde 1973 in Dalmatien, dem heutigen Kroatien, geboren. Mit zehn Jahren zog sie mit ihrer Familie nach Deutschland. Über ihre “Ankunft in Worten” hat sie in dem schmalen Bändchen “Sterne erben, Sterne färben” geschrieben. Heutzutage lebt Marica Bodrožić als freie Schriftstellerin in Berlin, zuletzt erschien von ihr der Roman „kirschholz und alte gefühle“, der zweite Teil einer Trilogie, deren Auftakt “Das Gedächtnis der Libellen” ist.

In “kirschholz und alte gefühle” erzählt Marica Bodrožić die Geschichte von Arjeta Filipo. Arjeta ist gerade in eine neue Wohnung gezogen. Es ist die dritte Wohnung, die sie in Berlin bezieht. Der Roman beginnt mit ihrem ersten Tag in ihrem neuen Zuhause.

“Ich wünsche mir plötzlich, dass alles immer so leer bleibt und alles Überflüssige verschwindet, sich nie bei mir einnistet. Was brauche ich wirklich? Welche Farben machen mich glücklich? Und warum? Den Dingen auf den Grund gehen, das will ich tun, nicht einfach immer nur alles sammeln und ablegen.”

In ihrer neuen Wohnung sitzt sie am Tisch ihrer Großmutter, einem Tisch aus Kirschholz, von dem sie sich nicht trennen kann. Sie sortiert Fotos, die ihr während ihres Umzugs von ihrer Mutter in Plastiktüten vor die Tür gestellt wurden. Fotos aus Kindertagen. Fotos aus Istrien, vom Meer. Die Fotos zwingen Arjeta in eine “Verlangsamung”. Sie erinnert sich. Erinnert sich zurück an ihre Kindheit und an die Vergangenheit.

“Ich gehe in die Küche und setze mich an Großmutters alten Kirschholztisch. Ich betrachte ihn. Er macht mich glücklich. Wenn er ein Gedächtnis hat und meine Theorie aus der Kindheit stimmt, muss ich ihn nur an einer Stelle mit dem Messer anritzen. Dann wird das Kirschholz bluten und erzählen, wird mit allem herausrücken, mit allem, was der Baum in den letzten hundert Jahren gehört und gesehen hat.”

Sieben Tage umfasst das Zurückblicken und Erinnern von Arjeta. Sieben Tage lang taucht sie ab in die Vergangenheit. Plötzlich befindet sie sich wieder am Meer, wo sie als Kind ihre Urlaube verbracht hat. Sie erlebt die Augusttage in Istrien. Sie ist wieder in Paris, wo sie zum Studium an der Philosophischen Fakultät hinzieht und auf ihre erste große Liebe Arik trifft. Sie erinnert sich, wie sie dort einen Freund fürs Leben findet, den Vogelkundler Mischa Weisband, der ihr die Maulbeerbäume und Blauglockenbäume zeigt. Sie sitzt wieder in der kleinen Wohnung ihrer Freundin Nadeshda, die ihr das Handwerk des Nähens beibringt. Im Zentrum der Erinnerung steht immer wieder die belagerte Stadt, die im Roman namenlos bleibt, bei der es sich aber wohl um Sarajewo handelt – die Stadt, in der Arjeta ihre beiden Brüder durch eine Mine verliert und in der sie ihre Eltern zurücklässt, als sie zum Studium nach Paris geht.

Erinnerungen und  das Gedächtnis spielen in dem Roman von Marica Bodrožić eine zentrale Rolle. Arjeta hat “kleine Risse im Bewusstsein”, “Lücken” in ihrer Erinnerung, “Pausen” im Gedächtnis.

“Es geschah zum ersten Mal, als ich sechs Jahre alt war. 1978. Onkel Milan und Tante Sofija verschwanden mitten im Sommer aus unserem Leben. […] Ich erlebte zum ersten Mal die beunruhigenden Absencen, die mich später mehr als alles andere zu mir selbst führten. Aber damals gab es mich nicht in den Lücken, und alles, was ich mit meinen Gedanken berührte, war ein schwarzes Nichts. Ich hatte immer gedacht, dass ich über die Lücken einfach hinweggehen könnte, langsamen Schrittes, wie über einen zugefrorenen See. Aber ich habe nicht gewusst, dass die Lücken irgendwann schmelzen, dass man einbrechen kann.”

Die belagerte Stadt, die in Arjetas Erinnerungen immer wieder eine zentrale Rolle spielt, ist ein Ort des Schreckens, der Bomben, der Gefahr. Eine der beeindruckendsten und berührendsten Passagen des Romans beschäftigt sich mit der belagerten Stadt und mit den Eltern, die Arjeta dort zurückgelassen hat. Sie musste sich selbst retten, aber das Leben, was sie nun in Paris führt, trennt sie von den Zurückgebliebenen, da es ihr Erfahrungen bietet, die sie mit ihren Angehörigen nicht mehr teilen kann. Es war vor allem die folgende Passage, die sich mir ins Hirn eingebrannt und ins Gedächtnis geschrieben hat, da dort ein Prozess angeklingt, den wahrscheinlich jedes Kind an einem Punkt in seinem Leben durchleben muss: irgendwann muss man loslassen, irgendwann ist das Leben, das die Kinder leben nicht mehr mit den Eltern teilbar.

“Meine Mutter und mein Vater sind in der Stadt geblieben. Keller. Ängste. Granaten. Hunger. Feuer. Flammen. Überall Flammen. Fensterlose Häuser. Ich hingegen darf in Paris spazieren gehen, kann auf das Konto bei der Crédit Lyonnais zurückgreifen. Ich habe mein Leben. Ich habe ein Stipendium. Ich bekomme, Geld, weil die Kommission offensichtlich jemanden retten wollte, aber ich wäre ohnehin nach Paris gekommen, um das zu tun, was ich tat: zu studieren, Bücher zu lesen. Kurz, ich habe überlebt. Während die zu Hause Gebliebenen hungern. Und leiden. Und um ihr Leben bangen. Sie zählen hauptsächlich Granaten und sind mit dem Auflisten von Toten beschäftigt. Ich esse Crossaints. Sie schmecken gut. Ich kann sie nicht mit Mutter und Vater teilen. Noch lebt mein Vater. Noch könnte ich ihn sehen und wenigstens zum Abschied umarmen. Aber das wird mir, das wird uns beiden nicht gewährt. Nicht kann ich mehr mit meinem Vater, nichts mit meine Mutter teilen.”

In “kirschholz und alte gefühle” erzählt Marica Bodrožić vom Erinnern und Bewahren. Vom Gedächtnis und der Vergangenheit. Sie erzählt aber auch vom Vergessen und davon, warum es manchmal besser sein kann, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, denn “alle Bilder sind überholt”.

“Ich werde die Fotos nicht behalten. Weiter, ins Jetzt. Ich packe sie in eine große Kiste wie in ein Grab. Ich bestatte sie. Für immer. Sie sind die Oberfläche, die Rinde, unter der unser wahres Leben wohnt, die Summer unserer Tage.”

Marica Bodrožić ist mit “kirchholz und alte gefühle” ein beeindruckender Roman gelungen. Sie entfaltet in ihrem Text eine Sprachmelodie, die mich beim Lesen verzaubert hat. Ich habe mich wie auf sanften Wellen gefühlt, schaukelnd auf dem Fluss der Erinnerung. Jedes Wort stimmt. Jeder Satz passt. Alles fühlt sich unheimlich stimmig an. Manche Passagen sind so schön, das ich sie mir laut vorlesen musste, um sie noch besser genießen zu können und um die Worte in mich aufzunehmen, sie einzusaugen, für immer bewahren zu können. Ich glaube, dass Marica Bodrožić eine der wichtigsten Stimmen deutscher Literatur werden kann, wenn sie es nicht schon ist, denn neben der sprachlichen Schönheit des Textes widmet sie sich auch einem wichtigen gesellschaftspolitischen Thema. Sie schreibt über den Bürgerkrieg in Jugoslawien. Sie schreibt über einen Krieg, der Arjeta ihrer Heimat und ihrer Familie beraubt. Ihr traumatisches Schicksal ist kein Einzelschicksal, sondern das Schicksal vieler Kriegsflüchtlinge. Umso wichtiger empfinde ich es, dass Marica Bodrožić diesen Opfern des Krieges eine Stimme gibt und damit den literarischen Blick auf einen Krieg richtet, der ganz in unserer Nähe existierte und von dem man dennoch kaum etwas wahrgenommen hat.  

Onno Viets und der Irre vom Kiez – Frank Schulz

Der Autor Frank Schulz ist Jahrgang 1957 und lebt als freier Schriftsteller in Hamburg. Für seine bisherigen Veröffentlichungen wurde er bereits mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihm “Mehr Liebe. Heikle Geschichten”. Mit seiner neuesten Veröffentlichung “Onno Viets und der Irre vom Kiez” stand er im vergangenen Jahr auf der Longlist des Deutschen Buchpreis.

“Denn wenn es überhaupt irgend etwas gab, das ein Onno Viets konnte – das ein Onno Viets gar besser konnte als viele andere -, dann war es: sitzen.”

“Onno Viets und der Irre vom Kiez” erzählt die Geschichte von Onno “Noppe” Viets. Onno ist Mitte 50, Hartz-IV-Empfänger und Langzeitarbeitsloser. Alles, was er angefangen hat, hat er kurzerhand auch wieder abgebrochen. So liest sich dann auch sein Lebenslauf.

“Denn Onnos Laufbahn war so voller Stolpersteine, Schlaglöcher und Erdrutsche nicht wegen Faulheit. Nicht, daß er nicht faul wäre. Onno war faul. Verglichen mit Onno war Aas emsig. Doch war das nicht die Ursache für seine illustre Erwerbsbiographie. Er kämpfte ja stets gegen seine Trägheit an. Ausdauernd war er. Ausdauer hatte er wie eine Frau. Nein, begraben lag der Hund in dem sauren Grund, daß er einfach nichts so richtig konnte, unser Onno.” 

Onno kann mit seiner Lebenssituation aber im Grunde ganz gut leben, denn er besitzt etwas, das seine Freunde als “Charisma für Arme” bezeichnen. Doch dann sitzt ihm plötzlich nicht nur das Finanzamt im Nacken, sondern seine Frau Edda hat auch noch Geburtstag und wünscht sich doch schon so lange ein Fahrrad. Onno braucht also schnellstens eine Finanzspritze. Die Lösung für seine Probleme entdeckt er zufällig in einer Fernsehreportage: er wird Privatdetektiv!

“So, Sportsfreunde. Achtung, Achtung. Ich glaub’, ich werd’ Privatdetektiv. Öff, Öff.”

Von seinem Plan erfahren als erstes seine langjährigen Freunde vom Tischtennisverein, wo Onno den Ruf eines exzentrischen Spielers hat, der Noppensocken trägt und alles nicht so ernst nimmt, aber meistens nicht zu schlagen ist. Seiner Idee stehen sie zunächst skeptisch gegenüber:

“Einem Dreikäsehoch ließe man so was durchgehen, aber einem dreiundfünfzigjährigen Greis? Der in seinem Leben zudem bereits mit zahllosen Ausbildungen, Studiengängen und Erwerbstätigkeiten gescheitert war, sowie zweimal Konkurs gegangen?”

Aber Christopher Dannewitz, Erzähler des Romans und Onnos zweitältester Freund, verhilft ihm schließlich zu seinem ersten Auftrag: Nick Dolan, Sänger anzüglicher Schlager und Jurymitglied einer Porno-Casting-Show hat den Verdacht, dass sein Popsternchen Fiona fremdgeht. Onnos Auftrag ist es, Fiona mit ihrer möglichen Affäre auf einem Beweisfoto abzulichten. Obwohl dies Onnos erster Auftrag als Privatdetektiv ist, hat er schon bald Erfolg, doch dann kommt ihm Fionas Affäre, genannt “Händchen”, in die Quere. “Händchen” ist zwei Meter groß, wiegt 130 Kilo und auf dem Kiez gefürchtet wie kein zweiter. Sein erster Auftrag als Detektiv führt Onno am Ende sogar bis nach Mallorca, wo das Drama erst richtig beginnt und die Handlung sich rasant zuspitzt.

“Onno Viets und der Irre vom Kiez” wird als Krimi beworben, der Klappentext spricht sogar von der “spannungsgeladenen Handlung eines Thrillers”. Ich habe die Lektüre jedoch anders empfunden, das Buch war vieles für mich – aber eindeutig kein Krimi. Es ist sprachgewandt, satirisch, humoristisch und ein Roman über großartige Männerfreundschaften. Grundlage der Handlung sind natürlich Onnos Ermittlungen als Privatdetektiv und dennoch standen diese Kriminalromanelemente für mich bei der Lektüre des Romans nicht im Vordergrund.

Mit seinen Tischtenniskumpels hat Onno, der ewige Verlierer, enge Freunde, die trotz aller Frotzelein mit ihm durch dick und dünn gehen. Auch die Freundschaft, die sich zwischen ihm, Fiona und “Händchen” entwickelt, ist ungewöhnlich, da sie sich über jeglichen sozialen Status, jede Herkunft und alle Grenzen hinwegsetzt. Neben diesen wunderbar skurrilen Freundschaften, erzählt der Roman aber auch die Lebensgeschichte eines Mannes, der sich selbst bereits als gescheitert sah, denn Onno Viets hatte für sich schon lange keine Zukunft mehr gesehen. Das Abenteuer, in das er sich als Privatdetektiv stürzt, befreit Onno zum ersten Mal von einer erdrückenden Lethargie, sie sich im Laufe der Jahre des Scheiterns und Arbeitslosigkeit wie Blei über ihn ergoßen hat.

“Was aber ganz gewiß eine Rolle gespielt hatte, war, daß Onno seit langem mal wieder überhaupt eine Rolle gespielt hatte – jenseits der des Hartz-IV-Empfängers.”

Frank Schulz macht es dem Leser seines Buches nicht einfach, zu abgedreht erscheint die Handlung und ihre Wendungen an einigen Stellen. Und doch, abseits der Romanhandlung, die für mich nicht im Vordergrund steht bei dieser Lektüre, habe ich das Leseerlebnis genossen. Auf seine ganz eigene Art und Weise besticht das Buch durch eine ungeheure Sprachgewalt, die sich vor allem in Sprach- und Wortspielen zeigt. Frank Schulz erzählt eine skurrile Geschichte, voller absurder Charaktere und komischen Dialogen. Spielend wechselt der Autor dabei zwischen humoristischen Elementen und ernsten Passagen, die es vor allem dann gibt, wenn die Vergangenheit der Charaktere beschrieben wird.

“Onno Viets und der Irre vom Kiez” ist mehr als ein herkömmlicher Kriminalroman. Frank Schulz ist eine skurrile und lesenswerte Geschichte über Männerfreundschaften gelungen, die von einer Hauptfigur getragen wird, in die man sich verlieben könnte. Angereichert werden diese Zutaten mit einer amüsanten Gesellschafts- und Medienkritik, sowie einigen Ostfriesenwitzen. Prädikat: unbedingt lesenswert!

Wer noch nicht überzeugt ist, sollte vielleicht mal einen Blick in den Buchtrailer werfen:

Der Augenblick. Reisen durch den unbekannten Alltag – Gabriele Goettle

Die Autorin Gabriele Goettle wurde 1946 geboren und hat Bildhauerei, Literaturwissenschaft, Religionswissenschaft und Kunstgeschichte in Berlin studiert. Seit mehr als zwanzig Jahren schreibt sie Reportagen, die überwiegend in der taz veröffentlicht werden. 1995 wurde sie mit dem Ben-Witter-Preis und vier Jahre später mit dem Schubart-Literaturpreis der Stadt Aalen ausgezeichnet. Heutzutage lebt die Autorin in Berlin.

“Der Augenblick” versammelt sechundzwanzig Reportagen der Autorin, deren zentrales und vereinigendes Thema – der Untertitel des Buches deutet bereits darauf hin – eine Reise durch den unbekannten Alltag ist. Gabriele Goettle besucht Frauen, reist durch Deutschland und gewinnt Einblicke in das Leben unterschiedlicher Menschen: einer Buchhändlerin, einer Körperhistorikerin, einer Sozialarbeiterin, einer Arbeitslosen, einer Rechtsmedizinerin. Insgesamt sechsundzwanzig Frauen erzählen authentisch und unverfälscht aus ihrem Leben, ihrem Alltag und dem, was sie in ihrem Beruf erleben. Die Frauen werden in einer kurzen Einleitung vorgestellt, in der ihre wichtigsten Lebensdaten zusammengefasst werden. In den Reportagen kommen die Frauen dann überwiegend selbst zu Wort, unterbrochen lediglich von Eindrücken und Beobachtungen der Autorin, die sich ansonsten jedoch sehr zurücknimmt und die Rolle einer Beobachterin einnimmt.

Als ich das Buch aufschlug, um die erste Reportage zu lesen, war ich überrascht, denn es handelt sich um ein Porträt der Bremer Buchhändlerin Bettina Wassmann. Bettina Wassmann betreibt seit 1969 ihre eigene Buchhandlung Wassmann in der Bremer Innenstadt. Neben ihrer Arbeit als Buchhändlerin ist sie auch als Verlegerin tätig und für die Veröffentlichung mehrere bibliophiler Bücher verantwortlich. Bettina Wassmann war mit Alfred Sohn-Rethel verheiratet, einem marxistischen Philosophen und Wirtschaftssoziologen.

“Der Buchladen von Bettina Wassmann liegt in der Innenstadt Bremens, am Wall, einer sich lang und bogenförmig dahinziehenden Geschäftsstraße, in der neben Kunsthalle, Anwaltsverein und Oberverwaltungsgericht auch Galerien, Mode- und Designgeschäfte, Restaurants, Cafés, Antiquitätenhändler, Bibliotheken und das Friedensbüro für Kriegsdienstverweigerer residieren. Gegenüber der Geschäftsmeile erstreckt sich ein Park, die Wallanlagen, mit ihren im Zickzack der ehemaligen Zitadellenform verlaufenden Wassergräben. Diese unscheinbare Grünanlage übrigens war die erste öffentliche Parkanlage Deutschlands.”

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In dem Porträt, das unter dem Motto “Hand- und Kopfarbeiterin”  steht, spricht Bettina Wassmann über ihre Arbeit als Buchhändlerin. Ihre Buchhandlung musste mittlerweile verkleinern, nachdem sie sich zu Beginn noch über zwei Etagen erstreckte. Überhaupt beklagt sie, dass sich die Zeiten seit der Eröffnung des Buchladens geändert haben. Früher hatte sie noch Kunden, wie den ehemaligen Werdertrainer Otto Rehhagel oder die Leiterin des Bremer Tanztheaters, heutzutage ist das alles schwieriger geworden und Bettina Wassmann muss sich diesen modernen Entwicklungen anpassen und “flexibel” bleiben.

“600 Euro habe ich hier, und noch mal 600 Euro zu Hause. Also, machen wir uns nichts vor, die Zeiten sind ganz schwierig. Wir müssen wirklich immer sehen, wie wir es packen. Ganz viele Läden mußten hier raus. Mit dem Verlag – naja, Verlag in dem Sinn ist es ja nicht, es ist eine Buchladenedition – , das habe ich einfach im Moment eingestellt.”

Ich habe es als unheimlich spannend empfunden, nicht nur von der Arbeit einer Buchhändlerin und Verlegerin zu lesen, sondern mich mit dem Buch in der Hand auf den Weg machen zu können und die Orte zu besuchen, die im Buch beschrieben werden. Auch wenn ich zeit meines Lebens in Bremen wohne, habe ich diese Buchhandlung zuvor nicht gekannt – zu versteckt liegt sie zwischen Bettengeschäften und Designermöbelläden. Am Tag meines Besuches hatte die Buchhandlung leider bereits geschlossen, doch es wird wohl nicht mein letzter Abstecher dorthin gewesen sein.

Auch die anderen Reportagen von Gabriele Goettle sind sowohl spannend, als auch lebensnah geschildert. Sie porträtiert die bekannte Körperhistorikerin Barbara Duden, aber auch ganz unbekannte Menschen und deren Berufe. Einige der vorgestellten Berufe und unbekannten Alltage, waren mir sehr fremd, beispielsweise das Porträt von Ingrid Distler, die Weltmeisterin im Bodybuilding ist und über Körperfett, ihren Hüftumfang, ihre Taille und ihren Bizeps spricht. Bei Beispielen wie diesem fiel es mir schwer, mich auf die Lebenswelt dieser Menschen einzulassen.  Gabriele Goettle taucht dagegen scheinbar ohne Vorbehalte und Vorurteile ab in die Lebensentwürfe von ihr fremden Menschen, auch wenn diese auf den ersten Blick noch so abwegig oder fremd erscheinen mögen. Das habe ich bei der Lektüre als sehr bewundernswert empfunden. Sie widmet sich auch schwierigen Themen, besucht eine Rechtsmedizinerin, die auf Kindesmisshandlungen spezialisiert ist, eine Bestatterin oder auch eine Sozialarbeiterin. Am berührendsten und eindrücklichsten empfand ich das Porträt einer Altenpflegerin, die eine Demenz-WG gegründet hat.

“Der Augenblick” von Gabriele Goettle ist ein vielschichtiges Buch, in dem es vieles zu entdecken gibt. Sie befragt ausschließlich Frauen, die sie in ihrer Lebens- und Berufswelt porträtiert. Dabei sind eindrückliche Gespräche und Momentaufnahmen gelungen, die ich sehr gerne gelesen habe. Eine Empfehlung, nicht nur für Frauen!

Später Frost – Roman Voosen und Kerstin Signe Danielsson

“Später Frost” ist die Gemeinschaftsarbeit von zwei jungen Autoren: Roman Voosen wurde 1973 geboren und lebte in Papenburg, Bremen, Växjö und Göteborg. Kerstin Signe Danielsson, Jahrgang 1983, ist in Schweden geboren und hat in Deutschland studiert. Beide leben heutzutage gemeinsam in Hamburg und sind dort als Autoren und Lehrer tätig. “Später Frost” ist der Debütroman dieses Autorenduos, weitere Bände sind bereits in Planung. Der nächste erscheint im Herbstprogramm 2013.

“Geschichte wiederholt sich nicht, manchmal ist sie nicht einmal wahr.”

“Später Frost” ist der erste Fall von Ingrid Nyström und Stina Forss. Stina Forss, die junge Kommissarin, kehrt Berlin den Rücken und geht aus persönlichen Gründen nach Schweden zurück.

“Hatte sie die richtige Entscheidung getroffen? Oder war das alles falsch? Eine übereilte Flucht? Oder, noch schlimmer, eine sentimentale Dummheit?”

Im tiefsten Winter verschlägt es sie ins schwedische Småland, in die Kleinstadt Växjö, in der Sonntags kein einziges Restaurant geöffnet hat. Dort arbeitet sie unter der Leitung von Ingrid Nyström. Schon kurz nach ihrem Eintreffen in Växjö wird die Kleinstadt von einem brutalen Mord erschüttert: der zurückgezogen lebende Engländer Balthasar Frost wird tot in seinem Gewächshaus aufgefunden. Die Umstände sind mysteriös, das Gesicht des Mannes ist verätzt worden und ihm fehlt ein Finger. In Växjö war Frost vor allem als Schmetterlingsforscher bekannt, sonst wusste man aber nicht viel über ihn.

“Doch am auffälligsten waren die Augen. Der Mann hatte keine Augen mehr. Dort, wo sie einmal gewesen waren, befanden sich nur noch zwei milchig eingetrübte Kugeln. Keine Pupillen, keine Farben, kein Blick. Gar nichts.”

Stina Forss und Ingrid Nyström müssen schnell feststellen, dass dies in jeder Hinsicht kein normaler Mordfall ist. Bis zum Schluss, bis zur letzten Seite, ist in diesem Fall nichts so, wie es auf den ersten Blick scheint.

“Sie dachte wieder an das grauenhaft zugerichtete Gesicht. Die fehlenden Augen. Der Finger. Das waren Dinge, die nicht hierhergehörten, nicht nach Växjö in Småland.”

Die Ermittlungen führen die beiden tief hinein in die schwedische Geschichte und in die persönliche Lebensgeschichte eines Mannes, der sich aufgrund seiner sexuellen Neigungen ein Leben lang verstecken musste. Die Geschichte, die für die Mordentwicklungen eine Rolle spielt, reicht zurück bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs und in der Gegenwart müssen Stina Forss und Ingrid Nyström in den höchsten Kreisen der schwedischen Gesellschaft ermitteln und feststellen, dass sie sich dadurch nicht immer beliebt machen. Stina Forss verschlägt es im Laufe der Ermittlungen sogar bis nach Jerusalem. Die beharrlich geführte Ermittlungsarbeit bringt Stück für Stück Licht ins Dunkle und sorgt vor allem auf den letzten Seiten für eine rasante und überraschende Entwicklung der Handlung. Ingrid Nyström und Stina Forss sind ein sympathischen Ermittlerduo, das sich ergänzt und in seinen Charaktereigenschaften spiegelt. Stina Forss ist wild, vorpreschend und bedient sich auch ab und an gerne Mitteln, die nicht den Vorschriften entsprechen. Ingrid Nyström wirkt dagegen ruhiger und besonnener.

Meine Besprechung von “Später Frost” wird sicherlich dadurch beeinflusst, dass ich ansonsten kaum Bücher aus der Sparte “Kriminalliteratur” lese und vielen Büchern aus diesem Segment auch eher skeptisch gegenüber stehe. Gerne und mit großer Begeisterung habe ich aber immer wieder die Bücher von Henning Mankell gelesen, an dessen Geschichten ich mich während der Lektüre von “Später Frost” erinnert gefühlt habe. “Später Frost” ist auf den ersten Blick ein Kriminalroman, der die Geschichte eines ungewöhnlichen Mordfalls erzählt. Für mein Empfinden ist “Später Frost” aber noch viel mehr als das, denn trotz der übel zugerichteten Leiche wird das Buch ansonsten nicht durch Gewalt oder Brutalität dominiert, sondern vielmehr durch genaue Beobachtungen, eine faszinierende Ermittlungsarbeit, eine komplexe Geschichte, detaillierte psychologische Charakterschilderungen und eine sehr lesenswerte Sprache. Auch das politische Geschehen und die schwedische Gesellschaft spielen eine wichtige Rolle.

Spannend finde ich auch die Entstehungsgeschichte von “Später Frost”, das in gemeinsamer Zusammenarbeit eines jungen Autorenduos entstanden ist. Diese Tatsache weckt natürlich Erinnerungen an das Autorenduo Maj Sjöwall und Per Wahlöö und ihren legendären Kommissar Beck. Wie ich in einer Ausgabe der “Welt am Sonntag” lesen konnte, war Roman Voosen vor allem für den Plot und die Handlung zuständig, während Kerstin Signe Danielsson sich auf die psychologische Darstellung der Figuren konzentriert hat.

“Später Frost” ist ein sprachlich überzeugender, literarisch fein ausgearbeiteter Krimi, der spannende Einblicke in ein schwedisches Morddezernat gibt. Voosen und Danielsson beschreiben mit einem Blick für Details die Arbeit der Polizei, legen aber auch Wert auf die Charakterisierung ihrer Figuren.  Eine Leseempfehlung – nicht nur für Krimifans.

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