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Zeitgenössisches

Ostende: 1936, Sommer der Freundschaft – Volker Weidermann

Ostende ist sowohl Hafenstadt als auch Seebad und liegt an der belgischen Nordseeküste. 1936 wird der kleine belgische Badeort zu einem Sehnsuchtsort deutschsprachiger Schriftsteller. Nicht nur Stefan Zweig und Joseph Roth, die eine ungewöhnliche Freundschaft miteinander verbindet, sondern auch Ernst Toller, Egon Erwin Kisch, Arthur Koestler und Irmgard Keun verbringen ihre Ferien an dieser Küste. Allen gemeinsam ist, dass der Nationalsozialismus ihnen die Heimat geraubt hat und so ist Ostende für sie nicht nur ein Ferienort, sondern vor allem eine Art letzte Idylle – vor dem Grauen der Welt.

“Es ist Sommer hier oben am Meer, die bunten Badehäuser leuchten in der Sonne. Stefan Zweig sitzt im dritten Stock eines weißen Hauses am breiten Boulevard von Ostende in einer Loggia. Er schaut aufs Meer. Davon hat er immer geträumt, von diesem großen Blick in den Sommer, in die Leere, schreibend und schauend.”

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Im Hotel de la Couronne treffen sie sich, die geflüchteten Exilschriftsteller – an der Zuckerbäckerpromenade. Der Nationalsozialismus hat ihnen nicht nur die Heimat geraubt, sondern auch ihre Arbeitsgrundlage – ihre Bücher werden in Deutschland nicht mehr veröffentlicht, doch sie schreiben weiter, immer mit der Hoffnung, vielleicht im Ausland gelesen zu werden: Tag für Tag sitzen Stefan Zweig, Joseph Roth, Irmgard Keun und Egon Erwin Kisch zusammen, um zu diskutieren. Stefan Zweig ist nach Ostende gereist, um zu schreiben, sein Freund Joseph Roth ist ihm gefolgt. Roth schreibt kaum noch, dafür trinkt er um so mehr. In diesem Sommer verliebt er sich in Irmgard Keun, die beiden werden zum seltsamsten Paar des Literaturbetriebs – vereint durch die Gemeinsamkeit, dass sie beide für ihr Leben gerne trinken.

“Aber es sind die Jahre der Entscheidungen und der Entschiedenheit. Stefan Zweig schreibt noch aus einer Welt und über eine Welt, die es nicht mehr gibt. Sein Ideal ist nutzlos, unrealistisch, lächerlich und gefährlich. Seine Analogien taugen nicht mehr für eine Gegenwart, in der der Gegner übermächtig ist. Was hilft Toleranz in einer Welt, in der man selbst und alles, wofür man lebt und schreibt, zermalmt zu werden droht.”

Sommer der Freundschaft, der Untertitel des Buches, bezieht sich auf die seltsame Freundschaft zwischen Joseph Roth und Stefan Zweig. 1936 ist Zweig ein Weltstar, er ist berühmt, doch gleichsam scheu und zurückhaltend. Joseph Roth ist ein Trinker, der ständig auf finanzielle Hilfe angewiesen ist. Er ist cholerisch, voller Hass manchmal. Die Sucht, die ihn in den Fängen hat, hat nicht nur körperlichen Schaden angerichtet, sondern auch psychischen. Zweig versucht dem Freund, den er immer wieder als Bruder bezeichnet, zu helfen – beim Schreiben und beim Bekämpfen der Sucht.

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“Wieder einmal sitzen alle im Flore, diese Gesellschaft der Stürzenden, die in diesem Sommer noch einmal versucht, sich als eine Art Urlaubsgesellschaft zu fühlen. Noch einmal versucht, eine Sorglosigkeit zu simulieren.”

Volker Weidermanns Novelle ist gerade einmal knappe 150 Seiten schmal und doch von so vielen Figuren bevölkert. Es geht nicht nur um die Einzelschicksale der Exilschriftsteller, sondern es geht auch um eine ganze Welt, die damals zu Ende ging – obwohl man so verzweifelt darauf hoffte, dass es nicht so schlimm werden würde. Trotz des verzweifelten Festklammerns an der alten Welt, in die sich Zweig, Roth, Keun und Kisch in ihren Texten immer wieder zurückversetzen.

“Sie schaut mit einem schönen Sonnenblick auf die Welt, auch auf die neue. Aber auf Dauer kann so keiner blicken. Nicht wenn die Wirklichkeit immer dunkler, brauner und gefährlicher wird.”

“Ostende” ist eine hochkonzentrierte und unheimlich dichte Novelle. Volker Weidermann erzählt vom Sommer 1936, er erzählt vor allen Dingen von Stefan Zweig und Joseph Roth, doch eigentlich erzählt er von so viel mehr. “Ostende” ist ein Erinnerungsbuch, dass das Schicksal der Exilschriftsteller, die ihre Heimat verlassen mussten, um weiterhin schreiben zu können, in den Mittelpunkt rückt. Sie verlieren nicht nur den Ort, den sie ihr Zuhause genannt haben, sondern häufig auch jegliche Existenzgrundlage – ihre Bücher verkaufen sich plötzlich nicht mehr. Die Flucht ins Exil bedeutet häufig gleichzeitig das Stehen vor dem Nichts. Im letzten Kapitel des Romans, das die Überschrift “Mystery Train” trägt, verfolgt Weidermann die Lebenswege der erwähnten Autoren und Autorinnen bis an ihr Lebensende. Der Autor erweist sich nicht nur als großartiger und eindringlicher Erzähler, sondern auch als beeindruckender Forscher und Rechercheur.

“Denn seine Welt ist eine Bücherwelt, seine Liebe, sein Wissen, sein Denken, er hat es alles aus Büchern gelernt. Er hatte vorher nie darüber nachgedacht, doch in diesem Moment wird es ihm klar.”

Volker Weidermann legt mit “Ostende” eine Novelle vor, die kurz und knapp erzählt wird und dennoch atmosphärisch unheimlich dicht und stimmungsvoll ist. Es ist die Atmosphäre gewesen, die mich beim Lesen gepackt und nicht mehr losgelassen hat. “Ostende” erzählt davon, wie es gewesen sein könnte – damals, im Sommer 1936.

Nach der Lektüre von “Ostende” ist übrigens der Griff zum Regal sehr zu empfehlen, vielleicht findet sich ja dort etwas von dem ein oder anderen Schriftsteller, der erwähnt wird.

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Vor dem Fest – Saša Stanišić

“Vor dem Fest” ist ein zweifach prämierter Roman. Bevor er überhaupt fertiggestellt wurde, wurde er mit dem Alfred-Döblin-Preis ausgezeichnet. Im Frühjahr dieses Jahres erhielt er dann schließlich den prestigeträchtigen Preis der Leipziger Buchmesse. Preise sagen selten etwas über die Qualität des Inhalts aus, in diesem Fall aber schon, denn der Inhalt ist mehr als preiswürdig. Saša Stanišić erzählt humorvoll, poetisch und voller Warmherzigkeit die Geschichte eines Dorfes.

“Wir sind traurig. Wir haben keinen Fährmann mehr. Der Fährmann ist tot. Zwei Seen, kein Fährmann. Zu den Inseln gelangst du jetzt, wenn du ein Boot hast. Oder wenn du ein Boot bist. Oder du schwimmst. Aber schwimm mal, wenn die Eisbrocken in den Wellen klacken wie ein Windspiel mit tausend Stäben.”

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Während Saša Stanišić in “Wie der Soldat das Grammofon repariert” noch eine Geschichte des Krieges erzählt hat, verschlägt es ihn in seinem zweiten Roman in die tiefste Provinz Deutschlands. Nach Fürstenfelde, in die Uckermark. Mitten in der brandenburgischen Einöde. “Es gehen mehr tot, als geboren werden.” Die Jungen verlassen das Dorf, auf der Suche nach einer Zukunft, die besser ist, als das, was ihre Heimat ihnen bieten kann. Die Alten werden immer älter und sterben einsam vor sich hin. Auch der Fährmann ist tot und niemand in Sicht, um diese Lücke zu füllen.

“Niemand sagt, ich bin der neue Fährmann. Die wenigen, die verstehen, dass wir unbedingt einen neuen Fährmann brauchen, verstehen nichts von Fähren. Oder davon, wie man Gewässer tröstet. Oder sie sind zu alt. Andere tun so, als hätten wir niemals einen Fährmann gehabt. Die dritten sagen: Der Fährmann ist tot, es lebe der Bootsverleih.”

Der Titel des Romans ist programmatisch, denn Saša Stanišić erzählt in seinem Roman von einer einzigen Nacht. Von der Nacht vor dem Fest, dem traditionellen Annenfest. Das ganze Dorf steckt mitten in den Vorbereitungen. Da gibt es Lada, den man Lada nennt, weil er mit dreizehn Jahren mit dem Lada seines Großvaters nach Dänemark gefahren ist. Da gibt es Frau Kranz, die schon neunzig Jahre alt ist und die ihr ganzes Leben lang gemalt hat. Gekannt hat sie dabei nur ein einziges Motiv: Fürstenfelde, in allen denkbaren Variationen. Für die Auktion des diesjährigen Festes möchte sie endlich eine Nachtaufnahme von Fürstenfelde malen, denn Fürstenfelde bei Nacht, das hat sie noch nie gemalt.

“Sie möchte einmal nicht die Wirklichkeit gemalt haben, sondern etwas, das später wirklich geworden ist. Aber wie geht das? Sie möchte malen, was niemand weiß. Sie möchte das Böse malen in uns, aber wie geht das? Sie möchte das Durchhalten malen, aber wie geht das? Das Hindern, aber wie?”

Da gibt es Ulli, der die Männer in Fürstenfelde in seiner Garage mit Alkohol bewirtet und an seinem Kühlschrank einen Kalender mit nackten Polinnen hängen hat – “halb wegen Ironie, halb wegen Ästhetik”. Da gibt es die dicke Frau Schwermuth, die von ihrem Sohn nur Mu genannt wird und sich so tief in die Heimatgeschichte ihres Dorfes eingegraben hat, dass sie den Weg zurück ins Jetzt kaum findet. Da gibt es Herrn Schramm, ehemaliger NVA-Soldat und Witwer, der so wenig Rente bekommt, dass er sich schwarz etwas dazu verdienen muss und Johann, der eine Ausbildung zum Glöckner macht.

“Unser Annenfest. Was wir feiern, weiß niemand so recht. Nichts jährt sich, nichts endet oder hat an genau diesem Tag begonnen. Die Heilige Anna ist irgendwann im Sommer, und die Heiligen sind uns heilig nicht mehr. Vielleicht feiern wir einfach, dass es das gibt: Fürstenfelde. Und was wir uns davon erzählen.”

Vom ersten Satz an hatte ich als Leser das Gefühl, ein Teil dieses Dorfes, mit seinen schrulligen Bewohnern, zu sein. Die Warmherzigkeit, mit der sich Saša Stanišić seinen Figuren annimmt, ist beeindruckend. Er bevölkert seinen Roman nicht nur mit Figuren, sondern erweckt diese wirklich zum Leben. Die Schrulligkeiten der Dorfbewohner werden mit sehr viel Zuneigung, Einfühlungsvermögen und Feingefühl beschrieben. Doch neben den Figuren ist es vor allen Dingen die Sprache, die diesen Roman zu einer ganz besonderen Lektüre macht: dem Autor gelingt es auf eine höchst charmante Art und Weise, mit der deutschen Sprache zu spielen. Da wird nicht nur gerappt und gereimt, sondern es werden auch Sagen und Geschichten der Fürstenfelder Dorfchronik des 16. Jahrhunderts erzählt – so, wie sie damals erzählt und aufgeschrieben wurden. Stanišić nimmt den Leser mit auf eine Zeitreise, die dennoch mit dem Hier und Jetzt in Fürstenfelde verknüpft bleibt. Es gibt auch typographische Spielereien, genauso wie Worterfindungen (im Gedächtnis geblieben ist mir das Wort durcherinnern). Darüber hinaus zeichnet sich der Roman durch ganz viel Humor aus. Obwohl es mit einem Todesfall beginnt, ist die Erzählung auch immer hochkomisch und es gibt zahlreiche wunderbare Pointen. Dabei neigt der Autor dazu, zu verzerren und zu überzeichnen, doch in der Verzerrung steckt auf den zweiten Blick auch viel Wahrheit.

“Und jetzt fängt auch noch die Zieschke sie vor der Bäckerei beschwingt ab, Herrgott noch mal, ist doch viel zu früh für Heiterkeit, aber die Zieschke ist so eine mit Strähnchen, solche schlagen emotional in alle Richtungen extrem aus.”

“Vor dem Fest” ist ein wunderbarer Roman! Er ist prall gefüllt mit so vielem, mit Poesie, mit Humor, mit Sprachspielen und mit einem herrlich skurrilen Dorf und seinen Bewohnern. Obwohl Saša Stanišić nur von einer einzigen Nacht erzählt, geht es doch um so viel mehr: “Vor dem Fest” ist nicht nur eine Chronik eines entvölkerten Dorfes, sondern auch ein großartiger Roman der Geschichten wie Schichten aufeinander stapelt und von Heimat und Erinnerungen erzählt, von der Vergangenheit, zerbrochenen Träumen und der drückenden Angst vor einer ungewissen Zukunft.

Eine strahlende Zukunft – Richard Yates

30 Jahre lang musste das deutsche Publikum auf diesen Roman warten, der im Original 1984 erschien und den Titel “Young hearts crying” trägt, doch nun liegt er endlich in der hervorragenden Übersetzung von Thomas Gunkel vor. “Eine strahlende Zukunft” ist die letzte Veröffentlichung von Richard Yates gewesen, dem die große Anerkennung zu seinen Lebzeiten verweigert wurde. Auch in diesem Roman widmet er sich erneut seinen zentralen Themen: dem Leben, der Vorstadthölle, der Ehe und wie all dies zu Bruch gehen kann, schleichend und doch unaufhaltsam.

“Mit dreiundzwanzig hatte Michael Davenport gelernt, seiner eigenen Skepsis zu trauen. Er hielt nichts von Mythen oder Legenden, nicht einmal in Gestalt allgemeiner Annahmen; er wollte stets zur wahren Geschichte vordringen.”

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Richard Yates seziert in “Eine strahlende Zukunft” das zerbrechliche Konstrukt der Ehe und die Fragilität von Lebensträumen. Im Zentrum des Romans steht der Schriftsteller Michael Davenport, der Gedichte und Theaterstücke schreibt und seine junge Ehefrau Lucy Blaine. Beide haben jung geheiratet, erst nach der Hochzeit erfährt Michael, dass er nicht nur eine Tochter aus gutem Hause geheiratet hat, dies hat er bereits geahnt, sondern dass Lucy über ein Millionenerbe verfügt. Für Michael ist es unvorstellbar, vom Geld seiner Frau zu leben, statt in Saus und Braus zu leben, hausen sie mit ihrer Tochter Laura in ärmlichen Verhältnissen. Es zieht sie immer weiter weg aus New York, von Vorort zu Vorort – immer auf der Jagd nach dem Glück.

“Nichts ist unordentlich, nichts verkorkst, nichts aus den Fugen. Wahrscheinlich will man genau das, wenn man … verheiratet ist und eine Familie und alles hat. Es dürfte Millionen von Menschen geben, die alles dafür geben würden, hier wohnen zu können […].”

Doch Glück stellt sich bei den Davenports irgendwie nicht so wirklich ein. Michael bleibt ein erfolgloser Dichter, die Erfolge, die er feiert, sind klein. Mit seiner Arbeit als Schriftsteller kann er kaum zum Lebensunterhalt seiner Familie beitragen. Lucy lebt ein Leben im Schatten ihres Mannes, immer auf seinen großen Durchbruch wartend und zunehmend unzufrieden. Sie leidet vor allem unter den zweckmäßigen Wohnverhältnissen, in denen sie leben. Die Unzufriedenheit gipfelt irgendwann in einer Trennung und einer anschließenden Scheidung, das, was sich beide einstmals erhofft hatten, konnte sich nie erfüllen.

“Die Ehe ist wirklich seltsam […]. Man kann jahrelang miteinander leben, ohne zu wissen, mit wem man da verheiratet ist. Das ist doch ein Rätsel.”

Anschließend begleitet Richard Yates das weitere Leben seiner beiden Hauptfiguren: beide bleiben weiterhin auf der atemlosen Suche nach dem großen Glück, ohne eigentlich genau zu wissen, wie dieses große Glück aussehen könnte. Wechselnde Partnerschaften, die meistens in schnellen Trennungen ändern, kennzeichnen den weiteren Lebensweg von Lucy und Michael. Der Moment, in dem beide jung waren und sich Hals über Kopf ineinander verliebten, ist lange her – das Leben ist mittlerweile schal geworden. Beide sind voneinander geschieden, doch ihre Abstürze ähneln einander und werden im Absturz der gemeinsamen Tochter, die zum Hippie mutiert und den Halt im Leben verliert, gespiegelt.

“Ich weiß, was du meinst, aber ich bin nicht deiner Meinung. Ich habe immer schon deine Ansicht zu allem gekannt; das war nie das Problem. Das Problem ist, dass ich nie deiner Meinung war – kein einziges Mal -, und das Entsetzliche ist, dass ich das erst in den letzten Monaten begriffen habe.”

Richard Yates widmet sich in “Eine strahlende Zukunft” den alltäglichen kleinen Dramen: “Eine strahlende Zukunft” ist Ehe- und Lebensroman, der Titel enthält dabei eine feine Ironie, denn das Strahlen der Zukunft von Michael und Lucy verblasst schnell. Lucys geerbte Millionen, sind ein strahlendes Versprechen, das verblasst und nie eingelöst wird, da Michael zu stolz ist, als dass er von dem Geld seiner Frau leben möchte. Das Bild der strahlenden Zukunft suggeriert eine Sehnsucht, die im Leben von Lucy und Michael nie eingelöst werden kann. Richard Yates legt mit “Eine strahlende Zukunft” aber auch einen Künstlerroman vor, denn Lucy und Michael bewegen sich beide im Künstlermilieu und umgeben sich mit Künstlerfreunden. Michael ist Schriftsteller und auch Lucy probiert sich im Schreiben und im Malen aus, doch bei beiden Tätigkeiten findet sie nicht die Anerkennung, die sie sich wünscht. Als sich Michael und Lucy auf den letzten Seiten des Romans nach vielen Jahren wiedertreffen, stoßen sie mit einem Glas Wein an und kommen zu dem Schluss: “Scheiß auf die Kunst.” 

“Scheiß auf die Kunst, okay? Ist es nicht witzig, dass wir ihr ein Leben lang nachgejagt sind? Dass wir unbedingt all denen nahestehen wollten, die sie zu begreifen schienen, als könnte uns das weiterhelfen; dass wir nie aufhörten, uns zu fragen, ob sie nicht hoffnungslos unseren Horizont übersteigt – oder vielleicht gar nicht existiert?”

Wenn man sich den Lebensweg von Richard Yates anschaut, dann überkommt einem das Gefühl, dass hier nicht nur eine von seinen Hauptfiguren spricht, sondern vielleicht auch der Autor selbst, der ein Leben lang als Schriftsteller um Anerkennung gekämpft hat. Vielleicht ist es kein Zufall, dass dies der letzte Roman von Richard Yates gewesen ist.

“Eine strahlende Zukunft” ist eine großartige Nahaufnahme des Scheiterns von Ehen und Träumen, die Sprache ist nüchtern und legt gleichzeitig die Wünsche und Sehnsüchte der Figuren schonungslos offen. Richard Yates ist für mich ohne Frage einer der besten amerikanischen Schriftsteller und auch nach diesem Roman ist es für mich unbegreiflich, wie lange dieser Autor unbekannt und unentdeckt bleiben konnte. Die Anerkennung wurde ihm zu Lebzeiten verweigert, doch lesen kann man Richard Yates immer noch. Lesen muss man Richard Yates immer noch.


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Nachts, wenn der Tiger kommt – Fiona McFarlane

Ruth ist eine betagte Frau, die seit dem Tod ihres Mannes ein einsames Leben in einem abgelegenen Strandhaus führt. Doch eines Tages bekommt sie Besuch, eine fremde Frau steht vor der Tür –  angeblich wurde sie vom Staat als Pflegekraft geschickt, doch wer ist Frida wirklich? Von diesem Tag an verliert Ruth zusehends die Kontrolle über ihr eigenes Leben und muss sich irgendwann fragen, wem sie überhaupt noch trauen kann.

“Ich hatte diesen Traum, dass das Meer hierherkam zu uns, hierher auf unseren Hügel. […] Und da waren all diese Boote auf den Wellen – altmodische Boote, wissen Sie, wie man sie manchmal im Fernsehen sieht, einige mit Segeln, andere mit Rauchwolken und riesigen Schornsteinen. Sie kamen genau auf uns zu, hier auf unseren Hügel, und die Leute auf ihnen winkten wie verrückt. Ich konnte nicht sagen, ob sie uns zuwinkten, oder ob sie wollten, dass wir uns in Sicherheit brachten.”

Eines Nachts wird Ruth wach und glaubt, einen Tiger in ihrem Haus zu hören. Nur wenige Tage später steht plötzlich eine fremde Frau vor der Tür. Frida behauptet, dass sie vom Staat als Pflegekraft geschickt wurde. Ruth ist zunächst irritiert und unsicher, ob sie der fremden Frau glauben kann, doch Frida gewinnt Stück für Stück ihr Vertrauen und schon bald genießt Ruth die ungewohnte Aufmerksamkeit und Gesellschaft. Ihr Mann Harry ist erst vor kurzem verstorben, seitdem lebt Ruth zurückgezogen und allein. Ihre beiden erwachsenen Söhne leben schon lange nicht mehr in Australien, Kontakt zu ihrer Mutter halten sie meistens über das Telefon. Ihre Söhne sind vor allem erleichtert, dass sich endlich jemand um die Mutter kümmert, die einen zunehmend verwirrten Eindruck gemacht hat.

Frida gelingt es, sich in Ruths Leben einzuschleichen – sie fängt an, als Pflegekraft zu arbeiten und einmal am Tag vorbeizuschauen, doch bald darauf, bezieht sie bereits ihr eigenes Zimmer in Ruths Haus. Schleichend, aber für den Leser immer offensichtlicher, verändert sich nicht nur Ruth, sondern auch ihre Beziehung zu Frida und die Atmosphäre im Haus. Nachdem sie sich dazu entscheidet, ihre erste große Liebe, für ein Wochenende zu sich einzuladen, gerät die Situation zunehmend außer Kontrolle: Nacht für Nacht, glaubt Ruth, einen Tiger zu hören, den Frida mutig bekämpft. Je verwirrter Ruth wird, desto stärker übernimmt Frida die Kontrolle im Haus und degradiert Ruth zur Zuschauerin dieses Schauspiels, genauso wie den Leser, der atemlos mitverfolgt, was geschieht und sich fragt, was diese seltsame Frau wohl im Schilde führt.

“Ruth fühlte sich so wie früher, als sie noch jünger war, als ihre Füße noch fester auf dem Boden standen und ihre Kinder und ihr Mann schliefen; das Gefühl war wie eine Adresse, zu der sie zurückgekehrt war, und sie fragte sich, warum sie so lange weg gewesen war.”

Fiona McFarlane nähert sich dem Thema Alter aus einer ganz besonderen Perspektive an, denn sie begibt sich mitten hinein in den verwirrten Kopf einer älteren Frau. Es ist der Einzug Fridas, der Ruths Leben nachhaltig durcheinanderwirbelt. Das, was zuvor auf festem Boden stand, gerät nun plötzlich ins Rutschen. Ruth wird von Frida isoliert und bevormundet, sie wird ihrer Mobilität und Eigenständigkeit beraubt und all dies führt dazu, dass die alte Frau in rasender Geschwindigkeit abbaut. Die Realität ist für sie kaum noch auszumachen, sie befindet sich überwiegend in einem Zustand der geistigen Verwirrung. Der Leser ist dazu geneigt, die Situation aus den Augen Ruths zu betrachten, doch während mir Seite für Seite mehr Ungereimtheiten auffielen und ich damit begann, mir immer mehr Fragen zur Rolle Fridas zu stellen, gelingt es Ruth nicht mehr, einen Schritt zurückzutreten und Zweifel an der Situation zu entwickeln. Es gibt Momente, in denen Ruth kurz aufwacht, in denen sie erkennt, dass Frida ein falsches Spiel mit ihr spielt, doch ihr fehlen die körperlichen und psychischen Ressourcen, um sich wehren zu können.

“Frida tat immer, was sie selbst tun wollte. Das wusste Ruth, so wie sie wusste, dass Frida nicht ehrlich war und sie auf irgendeine Weise zum Narren gehalten hatte.”

Das Wort Demenz fällt in diesem Roman an keiner einzigen Stelle, es ist nicht klar, ob Ruth an einer Erkrankung leidet. Die Halluzinationen, das zunehmende Erinnern an die Vergangenheit, die Unfähigkeit, die Realität zu erfassen – all dies könnte auf eine Demenzerkrankung hindeuten. Deutlich ist jedoch, dass die Manipulationen Fridas dazu führen, dass Ruth ein isoliertes Leben führt, in dem sie kaum noch Kontakte nach außen hat, in dem sie kein Korrektiv hat und in dem sie zunehmend den Halt und den Bezug zur Realität verliert.

“Frida hatte die Dinge nicht mehr unter Kontrolle, Frida hatte Angst. Sie hatte den Tiger bekämpft, aber jetzt lehnte sie mit blassem Gesicht am Fensterbrett, weil sie sich nicht mehr darauf verlassen konnte, dass ihre Beine sie trugen.”

“Nachts, wenn der Tiger kommt” überzeugt durch eine starke Sprache und eine soghafte Erzählung, aber vor allem dadurch, dass es der jungen Autorin gelingt, den Leser mitten hinein in Ruths Kopf zu pflanzen. Aus dieser Perspektive heraus erlebt der Leser ihr langsames Weggleiten aus der Realität, das in einem fürchterlichen Schrecken endet – irgendwo zwischen Phantasie und Wirklichkeit.

In Almas Augen – Daniel Woodrell

Manche Wunden heilen schnell, schon kurze Zeit später ist nur noch eine Narbe zu sehen, die irgendwann verblasst und kaum noch zu erkennen ist. Manchmal können aber auch Jahre vergehen, bis Wunden heilen, bis sich eine Kruste bildet, die nicht mehr juckt und aufgekratzt wird. Es gibt aber auch Wunden, die nie verheilen, egal wie viel Zeit vergeht und von einer solchen Wunde erzählt Daniel Woodrell in seinem Roman “In Almas Augen”.

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“Alma DeGeer Dunahew war mit ihrer verkniffenen, feindlichen Natur, ihren dunklen Obsessionen und ihrem grundlegenden Verlangen nach Rache das große rote Herz unserer Familie, das wir geheim hielten und das uns Kraft gab.”

Es ist 1965, es ist Sommer. Alma hat ihren zwölfjährigen Enkel Alek zu Besuch, der die heißen Tage an der Seite seiner Großmutter verbringt. Alma ist auf einer Farm geboren worden, sie hat ein halbes Jahrhundert als Magd gearbeitet. Es ist der Sommer, in dem Alma ihrem Enkel zum ersten Mal von der Explosion in der Arbor Dance Hall berichtet. In der kleinen Provinzstadt West Table in Missouri kommen 1929 zweiundvierizig junge Menschen bei einer Tanzveranstaltung ums Leben. Zweiundvierzig Menschen, die ausgelassen in die Nacht hinein tanzten, mitten in einem kleinen Nest in den Ozarks von Missouri. Die kurz darauf ausbrechende Große Depression legt einen Schleier des Vergessens über das Unglück. Die Polizei ermittelt, doch ihre Arbeit erledigt sie eher halbherzig. Es wird nie geklärt, ob die Explosion “ein großes Verbrechen oder ein ungeheures Missgeschick” gewesen ist.

Achtundzwanzig der zweiundvierzig Toten konnten nie identifiziert werden, gemeinsam wurden sie unter einem monumentalen Engel begraben, den die vergehende Zeit mit einer schwarzen Schicht belegt hat. Es ist der Engel, der auch vierzig Jahre nach dem Unglück, an diese fürchterliche Explosion erinnert. Doch Alma gehört zu denen, die nicht vergessen kann. Sie kann nicht vergessen, was damals geschehen ist, denn sie hat bei der Explosion ihre geliebte Schwester Ruby verloren. Alma beginnt Nachforschungen anzustellen, sie möchte nicht glauben, dass es sich um ein tragisches Unglück handeln könnte, doch in der Bevölkerung stößt sie mit diesem Bemühen auf massive Widerstände. Auch ihre eigene Familie möchte einfach nur den Mantel des Schweigens über das legen, was in der Arbor Dance Hall geschehen ist. Und über das Schicksal von Ruby, der lebensfrohen Männerheldin.

“In jenem Sommer, den ich bei ihr verbrachte, erschreckte sie mich bei jedem Sonnenaufgang, wenn sie auf der Kante ihres Bettes saß, die langen offenen Haare bis zum Boden reichten und unter ihren unentwegten Bürstenstrichen zitterten. Die Schatten schwanden dann aus dem Zimmer, und das frühe Licht schwebte zu beiden Fenstern herein. Ihr Haar war so lang wie ihre Geschichte […].”

Daniel Woodrell reichen knappe 180 Seiten um ein Panorama des Unglücks, des Tragischen, des Schicksalhaften zu entfalten. Mosaiksteinchen für Mosaiksteinchen. “In Almas Augen” ist keine durchgängig erzählte Geschichte, sondern viel mehr ein fragmentarisches  erzähltes Erinnerungsbuch. Es ist ein Erinnerungsbuch, dessen Bruchstücke der Leser selber füllen muss. Die Erzählperspektive springt hin und her, zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Daniel Woodrell konzentriert sich dabei nicht allein auf Almas Perspektive, sondern erzählt – in episodenhaften Schlaglichtern – von mehreren Schicksalen und verbindet virtuos unterschiedliche Ereignisse und Personen miteinander. Dabei offenbart sich Stück für Stück die Geschichte des Unglücks, Schicht für Schicht dringt der Leser vor in Almas tragische Wahrheit.

“Sie hieß Alma, und sie mochte nicht ‘Großmutter’ oder ‘Omama’ genannt werden und konnte schon mal eine Ohrfeige verteilen, wenn man sie mit ‘Oma’ ansprach. Sie war einsam, alt und stolz.” 

Mit “In Almas Augen” legt Daniel Woodrell wieder einmal ein intensives und vorzüglich erzähltes Stück Literatur vor. Es ist typisch für ihn, tief  in die amerikanische Provinz einzutauchen und auch dieses Mal erzählt er eine Geschichte, die geprägt ist vom Gegensatz zwischen reich und arm, von Alkohol und fehlenden Perspektiven. Der Roman überzeugt nicht nur durch eine spannende und verschachtelte Geschichte, der eine tragische Note anhaftet, sondern vor allen Dingen auch durch die Sprache und die erzählerische Kraft Woodrells. 180 Seiten reichen aus, um die Wahrheit mit Almas Augen sehen zu können, doch ich hätte liebend gerne noch weitere 180 Seiten lesen können.

Große Liebe – Navid Kermani

Zuletzt machte Navid Kermani weniger als Literat Schlagzeilen, als durch seine beeindruckende und wichtige Rede zum 65. Jahrestag des Grundgesetz. Auch seine letzte Buchveröffentlichung hatte primär eine politische Dimension, denn in “Ausnahmezustand” bereiste er Länder, die sich alle in irgendeiner Form im Ausnahmezustand befinden. Seit diesem Frühjahr gibt es im Hanser Literaturverlag endlich ein neues Buch: auch in “Große Liebe” beschäftigt sich Navid Kermani mit einem schwerwiegenden Ausnahmezustand, dem Gefühlschaos der ersten großen Liebe.

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Es ist Anfang der achtziger Jahre in einer westdeutschen Kleinstadt. Ein fünfzehn Jahre alter Schüler, der drei Baumwollpullover übereinander trägt, verliebt sich in ein vier Jahre älteres Mädchen, das dasselbe Gymnasium besucht, wie er. Die erste Annäherung ist vorsichtig. Während der Junge bereits das Fieber des Verliebtseins spürt, nimmt das Mädchen ihn zunächst noch gar nicht wahr. Das hindert ihn nicht daran, die Pausen in der verbotenen Raucherecke zu verbringen – in größt möglicher Nähe zu ihr. Doch irgendwann ist es so weit, im Tagungsraum der evangelischen Studentengemeinde schaut das Mädchen ihn zum ersten Mal genauer an. Der Fortlauf der Liebe ist rasant: schnell werden schüchterne Küsse ausgetaucht, dann noch mehr, doch da ist es eigentlich schon wieder fast vorbei. Die Liebe kam und ging schneller als der Junge es je hätte ahnen können. Schon ist es wieder vorbei, auf knapp 100 Seiten ein Wechselbad der Liebesgefühle: von den höchsten Höhen der gemeinsamen Vereinigung hinabgestürzt in den bittersten Trennungsschmerz.

“Der Leser wird einwenden, ein unbedarfter Junge sei nicht mit einem heiligen Narren zu vergleichen, der Ichverlust, den er als Pubertierender womöglich anstrebe – einmal beiseite gelassen, daß man die Pubertät gewöhnlich gerade im Gegenteil als eine Ichsuche beschreibt -, der Ichverlust grundsätzlich anderen Gehalts als auf dem mystischen Weg, gänzlich banal. In der Hoffnung habe ich gestern zu schreiben begonnen, daß ich den Leser widerlege.”

“Große Liebe” ist möglicherweise weniger Roman, als Erinnerungsbuch, denn die Erinnerungen an diese erste große Liebe sind stark autobiographisch gefärbt. Navid Kermani erzählt nicht die Geschichte irgendeines Jungen, sondern die eigene Geschichte. In hundert kurzen Kapiteln lässt er seine erste große Liebe Revue passieren – mit dem Abstand von dreißig Jahren, als geschiedener Ehemann und Vater eines Sohnes, der selbst gerade fünfzehn geworden ist. Mit dreißig Jahren Abstand, gelingt es an der ein oder anderen Stelle, den “logischen Schluß” zu ziehen, etwas, das dem fünfzehnjährigen Navid Kermani, erkrankt am Liebesvirus, nicht immer gelingen wollte.

“Ist das Gefühl des Fünfzehnjährigen, so herrlich und furchtbar es auf den folgenden Seiten explodieren wird, ist es überhaupt Liebe zu nennen, gar die größte Liebe seines Lebens, wie ich bis vorgestern überzeugt war?”

Das Besondere an “Große Liebe” ist, dass sich Navid Kermani nicht nur zurückerinnert, sondern die Liebesgefühle des Jungen, der er einmal gewesen ist, auch zu verstehen versucht. Der Autor bringt jeden Tag ein Kapitel zu Papier, 100 Kapitel umfasst die große Liebe des Jungen: vom ersten Kuss, über den ersten Geschlechtsakt, bis zur überraschenden Trennung. Was im Roman 100 Kapitel sind, sind in Wirklichkeit nicht einmal wenige Wochen. Doch es sind Tage, die dem Jungen wie eine endlose Ewigkeit erscheinen.

“[…] ich habe einen Plan erstellt, der für jede Station der Liebe zehn Seiten vorsieht, zehn für die Begegnung, zehn fürs Kennenlernen, zehn für die erste Berührung, damit selbst eine so große Liebe in hundert Tagen erzählt wird; bis zur vierzigsten Seite würde ich von der Vereinigung erzählen und bis zur fünfzigsten von dem Zustand, den die Mystiker das ‘Bleiben im Entwedern’ nennen, so daß für die Verzweiflung wenigstens noch die Hälfte der Geschichte bleibt […].”

Eine zusätzliche Ebene erhält der Text durch zahlreiche Zitate und Verweise auf das wahnsinnige Gefühl der Liebe, bei denen sich Navid Kermani der persischen Dichtung bedient, aber auch der Philosophie. Erwähnung findet die Geschichte des persischen Dichters Nizami, der im 12. Jahrhundert die sagenhafte Geschichte von Leila und Madschnun erzählte. Madschnun verliebt sich rettungslos in Leila und besingt im verzweifelten Versuch sie für sich zu gewinnen, seine Liebe zu ihr. Während Ibn Arabi im 13. Jahrhundert von der außerordentlichen Feinheit spricht, die man in der Liebe finden kann. All diese Zitate rücken das pubertäre Verliebtsein eines Jungen, das gerade einmal knapp eine Woche Bestand haben sollte, auf eine allumfassendere Ebene. All die Dichter und Philosophen, die Navid Kermani zitiert, bringen das auf den Punkt, was möglicherweise jeder Liebende empfindet, insbesondere bei der ersten großen Liebe: man gibt als Liebender seinen Verstand her, sein Herz, macht sich lächerlicher um die Liebste zu gewinnen. Das allererste Verliebtsein ähnelt einem grippalen Infekt, einem Fieber, das man sich einfängt.

“Erst später las er in den Büchern, daß die Liebe nicht nur ‘die Vernunft mit sich reißt und geistige Besessenheit’ hervorruft, wie ihn Ibn Arabi warnt, sondern eben auch ‘Auszehrung’ bedeutet, ‘das hartnäckige Kreisen der Gedanken, die Unruhe, die Schlaflosigkeit, das brennende Verlangen, das Feuer der Leidenschaft und die durchwachten Nächte.'” 

Navid Kermani gelingt mit “Große Liebe” ein Erinnerungsbuch der eigenen ersten großen Liebe, das gleichzeitig zu einem Erinnerungsbuch des Lesers wird. Die Gedanken an die eigene erste große Liebe, an das tiefe Versenken und das böse Erwachen, an den Liebeswahnsinn, der einen Sinn und Verstand verlieren lässt, sind unvermeidbar. So stiftet der Roman auch an zu einer Zeitreise durch das eigene Leben, zurück in das Gefühlschaos der ersten großen Liebe. Vielleicht ist dieses Anstiften der größte Verdienst des Romans, viel mehr noch, als die eigentliche Geschichte, die Navid Kermani erzählt. Navid Kermanis Liebesgeschichte hat übrigens auch noch eine politische Komponente, denn bereits damals – mit gerade einmal fünfzehn Jahren – kämpfte er für die Friedensbewegung und nahm an einer Blockade des Verteidigungsministeriums teil.

“Große Liebe” ist ein schmales Bändchen, doch die 100 Kapitel sind außerordentlich lesenswert. Mit großer Ernsthaftigkeit erzählt Navid Kermani seine eigene Geschichte, er erzählt vom Virus der Liebe, der ihn urplötzlich packte und mit Haut und Haaren verschlang. Er erzählt von einer Tiefe und Gefühlsintensität, die im Leben eines Erwachsenen kaum noch Raum hat. Lest “Große Liebe” und erinnert euch zurück an eure eigene große Liebe.

Sag ihren Namen – Francisco Goldman

Dem Text von Francisco Goldman ist ein berührendes Zitat von Henry King, dem Bischof von Chichester, vorangestellt: “Geliebte Verlorene! Seit deinem vorzeitigen Hinscheiden / Ist es meine Aufgabe, über dich nachzudenken. / Über dich; du bist das Buch, / Die Bibliothek, die ich betrachte, / wiewohl fast blind.” Auch Francisco Goldman hat jemanden verloren, den er geliebt hat: am 25. Juli 2007 starb seine Frau Aura Estrada bei einem Badeunfall in Oaxaca an der mexikanischen Pazifikküste.

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“Am 24. April, drei Monate vor ihrem Tod, war Aura dreißig geworden. Sechsundzwanzig Tage später wären wir zwei Jahre verheiratet gewesen.”

Nur wenige Jahre nach Auras Tod, beginnt Francisco Goldman über diesen schwerwiegenden Verlust zu schreiben, darüber nachzudenken – nicht nur über den Tod, über den Moment des Unglücks, sondern auch über Aura und das gemeinsame Leben, das viel zu kurz gewesen ist. Der Tod eines geliebten Menschen, der plötzliche Verlust von jemanden, der Teil deines Lebens gewesen ist, ist immer schmerzhaft. Joyce Carol Oates hat in “Meine Zeit der Trauer” über den Verlust ihres Mann geschrieben, der nach 47 gemeinsamen Jahren plötzlich verstorben ist. Beide haben ihr halbes Leben miteinander verbracht. So viel Zeit war Francisco Goldman und Aura Estrada nicht vergönnt, vier gemeinsame Jahre haben sie Seite an Seite gelebt  – zwei davon als Ehepaar.

“Der Gedanke war wie eine stumme Bombe: Aura wird nie wissen, wie es ist, alt zu sein, sie wird nie auf ein langes Leben zurückblicken können. Mehr bedurfte es nicht, nur dieses Gedankens an die Ungerechtigkeit des Lebens und die vollendete alte Dame, zu der Aura gewiss vorherbestimmt gewesen war.”

Aura Estrada wurde in Mexiko geboren und war Schriftstellerin und Doktorandin; an der Columbia University studierte sie spanische Literatur. Francisco Goldman ist bereits in den Fünfzigern, er arbeitet als freier Journalist, Autor und Hochschullehrer. Beide bauen sich ein gemeinsames Leben auf, im Grunde sind es sogar zwei: eines in New York und eines in Auras Heimatland Mexiko, dort wo sie die Sommer verbringen. Es ist ein Leben, geprägt von Büchern, von Literatur, von der gemeinsamen Arbeit an Texten. Während Aura einen festen Tagesablauf hat, lässt sich Francisco häufig an ihrer Seite treiben, begleitet sie zur Universität, geht mir ihr Mittagessen. Das gemeinsame Leben besteht aus lauter kleinen Ritualen, aus Abläufen und gemeinsamen Tätigkeiten. Francisco Goldman schildert immer wieder Momente, in denen er durch Straßen läuft, durch die er  immer mit Aura gelaufen ist, an Orten vorbeikommt, die ihnen gemeinsam gehört haben. Spaziergänge durch die Straßenschluchten Brooklyns sind ohne quälende Erinnerungen eigentlich kaum noch möglich: “So waren meine Spaziergänge durch diese Straßen nun ein stummer Abgesang von Orten.”

“Was Aura sagte, fast das Letzte, was sie je zu mir sagte, war: ‘Quiéreme mucho, mi amor.’ Liebe mich ganz fest, mein Liebling. ‘No quiero morir.’ Ich will nicht sterben. Das muss der letzte vollständige Satz gewesen sein, den sie sprach, vielleicht ihre allerletzten Worte.”

Das Cover und der Titel dieses Buches suggerieren auf den ersten Blick etwas Schwülstiges, doch dieser Eindruck täuscht. Francisco Goldman beschreibt zwar auch den eigenen schmerzhaften Verlust und die Gefühle mit denen er zurückgeblieben ist, doch er tritt gleichzeitig auch einen Schritt hinaus aus dieser bodenlosen Trauer und setzt seiner geliebten Frau ein literarisches Denkmal. “Sag ihren Namen” ist nicht nur ein Trauer- und Erinnerungsbuch, sondern setzt sich zusammen aus vielen Textversatzstücken und Tagebucheinträgen von Aura Estrada. Damit gelingt es Francisco Goldman nicht nur, ein Bild der zerstörerischen Trauer zu erschaffen, sondern auch ein Bild des Lebens, es ist das Leben von Aura und ihrer mexikanischen Familie. Aura wächst mit einer bestimmenden Mutter auf und einem Vater, der irgendwann verschwindet. Sie bekommt einen neuen Papa und sogar eine Halbschwester, doch glücklich ist sie nicht. Die junge Frau ist geprägt von ihrer Herkunft, ihrer Vergangenheit und ihrer besitzergreifenden Mutter. Eine Prägung, die über Auras Tod hinausgeht, denn ihre Mutter macht Francisco Goldman schwere Vorwürfe, den Unfall nicht verhindert zu haben. Sie enthält ihm die Asche ihrer Tochter vor und wirft ihn aus der gemeinsamen Wohnung.

Collage Sag Ihren Namen

“Nicht mehr dieser Mann. Kein Ehemann mehr. Der Mann, der in den Fischladen geht, um das Abendessen für seine Frau und sich einzukaufen. In weniger als einem Jahr wäre ich länger kein Ehemann mehr, als ich einer gewesen war. Aber wir hatten noch zwei Jahre mehr zusammengelebt. Dennoch würde der Tag kommen, an dem ich länger nicht mehr mit Aura lebte, als ich mit ihr zusammen gewesen bin.”

Nichts deutet beim Lesen des Buches zunächst daraufhin, dass man eine wahre Geschichte in den Händen hält und doch schwebt dieses Wissen mit zunehmender Lektüre über dem Text. Dass der Erzähler denselben Namen trägt, wie der Autor, ist ein erster Hinweis. Francisco Goldman schildert seine Liebe zu Aura mit viel Feingefühl, offen erzählt er von ihrer Beziehung, ohne diese dabei jedoch zu entwürdigen. Ich habe mich an keiner Stelle als Voyeur gefühlt und der Autor macht sich an keiner Stelle zum Exhibitionisten. Er geht jedoch schonungslos mit sich ins Gericht, denn auch er selbst macht sich Vorwürfe, den Tod seiner Frau nicht verhindert zu haben. Auch düstere und schamhafte Momente finden Erwähnung und werden nicht verschwiegen. Ergänzt wird all dies mit Briefen, E-Mails, Tagebucheinträgen und Textausschnitten.

“Sag ihren Namen” ist weniger eine Erzählung oder gar eine Geschichte, sondern viel mehr ein Puzzle. Ein Puzzle des Schmerzes – Puzzleteilchen an Puzzleteilchen setzt Francisco Goldman mit viel Geschick zusammen und springt dabei immer wieder zwischen unterschiedlichen Zeiten und Orten hin und her. Der Titel kann dabei als Versuch der Beschwörung verstanden werden, ein Versuch den geliebten Menschen im literarischen Text wiederauferstehen zu lassen. Entstanden ist dabei ein berührendes Dokument der Trauer, des Verlustes und ein Zeugnis dessen, wie man als Zurückgebliebener weiterleben kann. “Sag ihren Namen” ist nicht die erste literarische Auseinandersetzung mit Trauer, die ich gelesen habe und doch hat mich der Text von Francisco Goldman in all seiner Schmerzhaftigkeit, in all der Unfassbarkeit, in all dem, was nur schwer zu begreifen ist, besonders berührt. Die Auseinandersetzung des Autors mit dem schmerzhaftesten Verlust seines Lebens gelingt ihm auf einem hohen literarischen Niveau.

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