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M Train – Patti Smith

M Train trägt Erinnerungen als Untertitel und verweigert sich jeder Genreeinordnung: das Buch gleicht einem Gedankenstrom, voller Erinnerungsfetzen, voll von Kaffee, Büchern, Reisen, Liebe, Trauer und Krimiserien. Ich habe selten zuvor ein schöneres Buch gelesen, das von nichts erzählt.

Patti Smith

Es ist nicht so leicht, über nichts zu schreiben: Ich kritzele es immer wieder mit einem Stück roter Kreide auf eine weiße Wand.

Patti Smith ist nicht nur eine gefeierte Musikerin, sondern auch eine bekannte Schriftstellerin: M Train ist nach Just Kids und Traumsammlerin bereits ihre dritte Veröffentlichung. In M Train erzählt Patti Smith von ihren Lebenserinnerungen: sie erzählt von ihrem Ehemann, ihren Kindern, den Büchern, die sie liest und von ihrer Leidenschaft für Krimiserien. Sie erzählt von Dingen, die ihr wichtig gewesen sind, die sie jedoch verloren hat. Sie erzählt von ihren Lieblingsschriftstellern: Murakami, Wittgenstein, Bolano, Bulgakow. Ich begleite Patti Smith auf unzähligen Reisen, gehe mit ihr immer wieder in Cafés, trinke dabei Kaffee um Kaffee und besuche die Gräber seelenverwandter Schriftsteller. Wir stehen am Grab von Sylvia Plath, bei Arthur Rimbaud und Frida Kahlo. Patti Smith nimmt mich mit in ihre Träume, ich begleite sie auf ihre Gedankenreisen.

Wenn ich mich unterwegs verirrte, benutze ich einen Kompass, den ich auf einem Weg in einem nassen Laubhaufen gefunden hatte. Der Kompass war alt und verrostet, aber er funktionierte noch und verband die Erde mit den Sternen. Er sagte mir, wo ich stand und in welcher Richtung Westen lag, aber nicht, wohin ich ging und was ich wert war.

Es ist nicht so leicht, über nichts zu schreiben: so lautet der erste Satz von M Train. Ob es leicht ist, oder nicht – Patti Smith tut es auf unnachahmliche Art und Weise: ihre Gedanken sind in Fetzen gerissen, ihre Erinnerungen sind lose und experimentell, doch gleichzeitig auch poetisch, wunderschön und berührend. Unterbrochen wird der Text immer wieder von stimmungsvollen Fotografien, die alle in schwarz-weiß gehalten sind. Patti Smith schreibt nicht nur über nichts, sondern setzt alle diese Bestandteile zu einem einzigartigen Kunstwerk zusammen: ich habe M Train als Ode an das Leben, das Lesen und die Liebe gelesen. Voll von kleinen Anekdoten, Gedankensprüngen und Erinnerungen.

Zu Hause, das ist ein Schreibtisch. Die Verschmelzung eines Traums. Zu Hause, das sind die Katzen, meine Bücher und meine unerledigte Arbeit. All die verlorenen Dinge, die mich vielleicht eines Tages rufen, die Gesichter meiner Kinder, die mich eines Tages rufen werden. Vielleicht können wir Träumereien nicht lebendig machen oder staubige Reste zurückholen, aber wir können den Traum selbst einfangen und ihn heil und ganz zurückbringen.

M Train ist teils ein Erinnerungsbuch, teils ein Traumbuch – gewidmet all dem, was nicht mehr da ist und schmerzlich vermisst wird. Patti Smith trauert nicht nur um Gegenstände, die sie verlegt und verliert, sondern auch um ihren verstorbenen Mann und ihren Bruder, den sie ebenfalls verloren hat. Vielleicht ist genau das, das wichtigste Geschenk des Buches: die Erkenntnis, das wir unser ganzes Leben lang von Dingen Abschied nehmen müssen, die wir lieben, dass die Erinnerungen und Fußstapfen, die diese in uns hinterlassen, aber für immer ein Teil von uns sein können.

Patti Smith legt mit M Train ein wunderschönes und poetisches Buch vor, das sowohl zart als auch schrecklich schmerzhaft ist. Ich glaube, dass das Buch vielleicht nicht für jeden Leser und jede Leserin etwas ist: dem einen oder anderen mag es zu verkopft oder gar zu esoterisch sein. Für mich war M Train eine philosophische Entdeckungsreise, auf der ich ganz viel über das Leben gelernt habe – über die Trauer, den Glauben und die Kreativität. Für mich ist M Train nicht nur ein Buch, sondern ein Herzensbuch, das ich wohl genau zur richtigen Zeit gelesen habe – ich würde mir wünschen, dass ganz viele von euch ebenfalls dieses Buch für sich entdecken werden.

Patti Smith: M Train. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Brigitte Jakobeit. Kiepenheuer & Witsch Verlag, März 2016. 336 Seiten, €19,99.

Makarionissi – Vea Kaiser

Vea Kaiser erzählt in ihrem neuen Roman Makarionissi eine Familiengeschichte über fünf Generationen, die nicht nur auf einer griechischen Insel spielt, sondern auch in Hildesheim, St. Pölten, Chicago und der Schweiz. Makarionissi ist ein gleichzeitig witziger und berührender Familienroman und eine Geschichte von Helden und Herzensbrechern.

Vea Kaiser

Loslassen heißt nicht verdrängen und nicht vergessen. Sondern einfach vergeben und akzeptieren, dass manchmal die Dinge so sind, wie sind, selbst wenn sie scheiße sind.

Es ist bereits drei Jahre her, dass Vea Kaiser mit ihrem Debütroman Blasmusikpop nicht nur mich begeistert hat, sondern auch viele andere Kritiker. Die Autorin war damals gerade einmal dreiundzwanzig Jahre alt und hatte einen Roman vorgelegt, der sich durch eine unbändige Fabulierlust auszeichnete. Auf diese Lust am Fabulieren trifft man auch in Makarionissi. Da Vea Kaiser nach ihrem Debütroman immer wieder vorgeworfen wurde, dass Dinge nicht so gewesen sein können, wie sie das geschrieben hat, hat sie sich bemüssigt gefühlt, dem neuen Buch noch einen kleinen Hinweis voran zu stellen:

[…] Ebenso gilt bei gewissen Abweichungen zwischen historischen Ereignissen und der Geschichte dieses Buches, dass der Roman der Fiktion verpflichtet ist. Nicht der Realität. Geben Sie, geschätzte Leser, dem Fabulieren eine Chance! Denn bereits Herodot meinte: Oftmals erzählt ein G’schichterl besser, als es die Ereignisse in ihrem echten Ablauf je könnten.

Zu Vea Kaisers Erzähllust gesellt sich aber auch eine große Erzählkunst, die sie auch in diesem Roman wieder unter Beweis stellt: erzählen kann die Autorin und zwar mitunter so mitreißend, dass ich das Buch nur sehr schwer wieder aus der Hand legen konnte. Makarionissi – das den Untertitel Oder die Insel der Seeligen trägt – ist ein fast fünfhundert Seiten starker Roman, der ganze fünf Generationen umfasst. Die Geschichte nimmt ihren Ausgangspunkt in einem kleinen Bergdorf an der griechisch-albanischen Grenze und endet auf Makarionissi, einer bettelarmen (fiktiven) Fischerinsel im Westen Griechenlands. Dazwischen verschlägt es die Figuren in die niedersächsische Provinz nach Hildesheim, die österreichische Stadt St. Pölten, das griechische Viertel nach Chicago und schließlich auch noch in die Schweiz.

Im Mittelpunkt des Romans stehen Eleni und Lefti, die gemeinsam aufwachsen. Sie sind Cousine und Cousin, doch während Lefti als Stammhalter der Familie gesehen wird, wurde Eleni nachträglich gezeugt, um beide miteinander verheiraten zu können. Die Auswahl an Frauen ist in Varitsi nämlich begrenzt. Das war zumindest der Plan von Großmutter Maria, doch Eleni beschließt bereits früh in ihrem Leben niemals zu heiraten: Heiraten werde ich niemals! Ich werde als Heldin durch die Welt reisen und Bestien töten. Statt zu einer tugendhaften Ehefrau heranzuwachsen, die den Fortbestand der Familie sichert, wird Eleni zu einer politischen Aktivistin. Cousine und Cousin heiraten trotz allem, doch eigentlich ist schon vorher klar, dass diese Ehe nicht auf einem festen Fundament gebaut ist.

Lefti glaubte an all das hier nicht mehr. Er saß vor dem Haus, von dem er sich immer gewünscht hatte, er könnte es sein Eigen nennen – und dachte zum ersten Mal, dass es viel zu groß, zugig, dunkel, altmodisch und baufällig war. Er stand kurz vor der Hochzeit mit der Frau, die er immer hatte heiraten wollen, und merkte, dass er sie gar nicht begehrte. Lefti fühlte sich so sanierungsbedürftig wie der Dachstuhl.

Eleni und Lefti gehen nach der Heirat gemeinsam nach Hildesheim, dort wohnen sie zwar zusammen in einer Wohnung, doch leben ansonsten zwei getrennte Leben. Wie es der Zufall, der in diesem Buch eine nicht immer unwichtige Rolle spielt, so will, finden beide fast gleichzeitig in der niedersächsischen Provinz ihre große Liebe. Lefti verliebt sich in Trudi, seine Deutschlehrerin mit österreichischen Wurzeln und Eleni in Otto, einen bayrischen Musiker. Doch ein langes Glück in Deutschland bleibt den beiden verwehrt, während Lefti und Trudi den Versuch wagen, sich eine gemeinsame Existenz in St. Pölten aufzubauen, geht Eleni zurück in ihr Heimatdorf. Doch sie geht nicht alleine, denn sie ist schwanger.

Eleni hasste viele Dinge an Deutschland, doch am meisten hasste sie das deutsche Nein. Das deutsche Nein war absolut. Man konnte nicht darüber diskutieren. Und es wurde nicht begründet. Selbst wenn das Nein keinen Sinn ergab und jeglicher Vernunft widersprach. Eleni empfand es wie das rote Licht einer Ampel. Mit ihm konnte man auch nicht verhandeln.

Die Geschichte ist an dieser Stelle noch längst nicht zu Ende, sondern wird Seite um Seite fortgeführt, Generation über Generation. Entstanden ist dabei ein proppenvoller Roman, der sowohl unfassbar unterhaltsam ist, als auch wunderbar mitreißend. Vea Kaiser webt ihre Erzählung wie einen bunten Teppich, der aus ganz viel Familie besteht, aus Liebe und Glück, Schicksal und Zufall, alten Mythen und der Weigerung sich zu entschuldigen. Es geht um Familien, in denen die Großmütter noch das Geschehen bestimmen – im Falle von Lefti und Eleni wurde die falsche Entscheidung getroffen, denn beide wurde von ihrer Familie nicht mehr als Individuen gesehen, sondern nur noch in ihrer Funktion, die Familie zu erhalten und weiterzuführen.

Makarionissi endet mitten in der griechischen Krise der heutigen Zeit, doch das Buch sollte nicht als politischer Text gelesen werden – für mich ist Makarionissi einfach ein unglaublich unterhaltsamer Familienroman, voller Esprit und ganz und gar mitreißend erzählt. Ähnlich wie in Blasmusikpop wird auch in diesem Roman so einiges durch den Kakao gezogen – ich habe nicht selten herzhaft lachen müssen. Natürlich geht es hin und wieder auch um ernstere Themen, es geht z.B. um die Frage, wie stark die Familie das eigene Leben eigentlich bestimmen darf. Vor allem geht es aber darum, das Loslassen zu lernen und akzeptieren zu lernen, dass manchmal die Dinge einfach so sind wie sind. Der Sommer wagt sich im Moment langsam hervor und passend dazu ist Makarionissi mein Buch des Sommers und eine unbedingt Leseempfehlung.

Vea Kaiser: Makarionnissi oder die Insel der Seeligen. Roman. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2015. 460 Seiten, €19,99. Ein Interview mit der Autorin findet sich hier. Eine weitere Besprechung gibt es auf Leseschatz, dem Blog von Hauke Harder.

Verena Güntner im Gespräch!

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Foto: © Stefan Klüter

Verena Güntner ist nicht nur Schauspielerin, sondern auch Schriftstellerin – im vergangenen Herbst hat sie ihren eindrücklichen Debütroman Es bringen veröffentlicht. Ich habe mit ihr über die Arbeit auf der Bühne und über ihr Schreiben gesprochen.

Du hast Schauspiel studiert und viele Jahre als festes Ensemblemitglied gearbeitet, stehst du heutzutage immer noch auf den Theaterbühnen?

Ja, ich habe bis zum letzten Sommer gespielt. In der Zeit, in der ich das Buch zu Ende geschrieben habe, habe ich keine neuen Engagements angenommen, aber wie das halt so ist am Theater: es gibt Stücke, die laufen über mehrere Spielzeiten und die sind dann erst zum letzten Sommer hin ausgelaufen. Bis auf ein einziges Stück! Und zwar spiele ich seit jetzt fast vier Jahren das Gretchen. Das wird immer absurder, da Gretchen ja eigentlich vierzehn ist und ich immer älter werde. Ich vermute mittlerweile schwer, dass ich das wohl dienstälteste Gretchen bin.

Du bist aber nicht nur Schauspielerin – mittlerweile gibt es auch ein Buch von dir. Wie wird aus einer Schauspielerin eine Schriftstellerin?

Ich habe mich schon immer gerne mit Sprache und Texten befasst und mich da im Kleinen immer wieder ausprobiert. Ein paar Jahre lang habe ich sehr intensive Brieffreundschaften mit Menschen gepflegt, die auch gerne schreiben. Für mich waren das nicht nur Briefe, sondern die Möglichkeit, einen speziellen Dialog zu führen – vielleicht sogar in einer literarischen Form. Das habe ich über Jahre gemacht, genauso wie ich ein Tagebuch hatte und kleine Miniaturen und Geschichten geschrieben habe. Irgendwann habe ich gemerkt, dass da mehr ist, dass sich da etwas anzukündigen schien. Dieses Gefühl fiel zusammen mit dem Entschluss, mein Engagement in Bremen zu beenden, das war damals im Jahr 2007 und zu der Zeit habe ich auch das erste Kapitel von „Es bringen“ geschrieben, so in einem Rutsch, es danach jedoch jahrelang nicht mehr angeschaut – ich wusste nicht, wo das herkam. Es war plötzlich da.

Du hast gerade erzählt, dass du 2007 angefangen hast, deinen Roman zu schreiben. Weißt du noch, wann in dir überhaupt ursprünglich der Wunsch entstanden ist, zu schreiben?

Ich glaube, die Auseinandersetzung mit Texten ist durch meinen anderen Beruf sowieso schon da, wird dort verlangt und gehört einfach dazu. Vielleicht habe ich in dieser Arbeit irgendwann gemerkt, dass es auch eigene Geschichten gibt, die ich unterdrücken musste, aber all das war kein wirklich bewusster Prozess nach dem Motto: „Jetzt schreibe ich einen Roman.“ Ich glaube auch, das hätte nicht geklappt, wenn ich mir das vorgenommen hätte. Dass ich den Roman wirklich auch beendet habe, hatte ganz viel mit dem open mike zu tun. Ich habe meinen Text einfach dahingeschickt und nicht damit gerechnet, eingeladen zu werden. Die Resonanz war dann überraschend groß, und ich glaube, dass ich das auch gebraucht habe – so eine Rückmeldung von außen. Man werkelt ja so vor sich hin, und ich habe immer gedacht: so geht das doch eigentlich nicht, so kann man kein Buch schreiben. Als dann plötzlich Leute da waren, die sagten: doch, da ist etwas, war das wohl die notwendige Bestätigung, um das Buch zu Ende bringen zu können.

Hat deine Tätigkeit als Schauspielerin dein Schreiben in irgendeiner Form beeinflusst? Gab es vielleicht Dinge, die du auf der Bühne nicht ausleben konntest, aber dafür beim Schreiben?

Da sprichst du einen ganz wichtigen Punkt an, weil ich schon glaube, dass mir als Schauspielerin irgendwann auch Dinge gefehlt oder nicht mehr genügt haben. Schreiben ist ja erst einmal die totale Freiheit. Auf der Bühne oder bei der Arbeit mit Schauspielkollegen und Regisseuren gibt es gewisse Begrenzungen: es gibt ein Stück und gewisse Vorgaben, an die man sich halten muss. An die muss man sich natürlich auch nicht sklavisch halten, im besten Fall ist das ein großes Miteinander, aber ich denke schon, dass mein Schreiben das Resultat eines empfundenen Mangels war.

Wenn ich mir deine Laufbahn als Schriftstellerin anschaue, dann fällt mir als erstes auf, dass du – im Gegensatz zu vielen anderen jungen Autoren und Autorinnen – keine Schreibschule besucht hast. Würdest du dich als Autodidaktin bezeichnen?

Faktisch bin ich das wahrscheinlich. Aber ich sage gern, dass mein anderer Beruf meine Ausbildung gewesen ist. Man entwickelt dort natürlich ein Gespür für Spannungsbögen und Dramaturgien, man lernt, sich in Figuren hineinzudenken. Das ist das Handwerk, das man als Schauspieler braucht. Ich empfinde es deshalb nicht so, dass ich keine Ausbildung habe, ich war eben nur nicht auf einer Schreibschule-

2012 hast du dann beim Open Mike gelesen, was war das für dich für eine Erfahrung?

Das war so aufregend, weil es meine erste Lesung gewesen ist. Überhaupt war das mein allererster Auftritt als Autorin, ich hatte mich selbst vorher ja gar nicht so gesehen. Und man liest dort auf einer Art Theaterbühne, ziemlich groß ist die, gemessen am Umstand, dass man da alleine sitzt, und muss auch eine sehr steile Treppe hochsteigen. Vor keiner Theaterpremiere war ich so aufgeregt, wie vor dem open mike. Ich bin der Literaturwerkstatt sehr dankbar, das ist eine so tolle Veranstaltung, und ich hatte das Gefühl, gleich aufgenommen zu werden. Das ist sicherlich nicht bei jedem so, und ich hatte viel Glück. Zu merken, dass und wie die Leute auf meinen Text reagieren, war schön. Dass der Text vor einem Publikum funktioniert, war für mich eine notwendige Erfahrung.

Dein Roman „Es bringen“ ist im vergangenen Herbst erschienen und du hast dich für eine etwas ungewöhnliche Hauptfigur entschieden, für Luis, einen pubertierenden sechzehn Jahre alten Macho. Warum?

Er ist eine adoleszente Bringerfigur, ich vermute, das ist das Ungewöhnliche daran. Man kennt viele Coming-of-Age-Romane, die die Geschichte eines klassischen Losers erzählen. Bei Luis ist das ja alles etwas anders. Erstmal. Denn im Grunde ist er ein sehr verletzlicher Junge und genau das hat mich interessiert, dieses Spannungsfeld: einer, der nach außen hin dieses Mackertum lebt und sehr selbstbewusst daherkommt, auf der anderen Seite aber eine große Zartheit besitzt.

Abschließend würde mich eines noch ganz besonders interessieren: wie sehen deine Pläne für die Zukunft aus? Schreiben oder Schauspielern?

Ich habe immer große Angst vor endgültigen Antworten, aber jetzt im Moment ist es einfach das Schreiben. Ich habe viel größere Lust, zu schreiben, als zu spielen. Das kann sich ja aber auch wieder ändern. Ich bin da sehr offen.

Es bringen – Verena Güntner

Verena Güntner erzählt in ihrem Debütroman Es bringen schonungslos vom Erwachsenwerden: es geht um Saufgelage, Fickwetten, tiefe Freundschaften und um Luis, der auf jeden Fall ein echter Bringer sein möchte.

Es bringen

Es ist ganz einfach. Du brauchst einen Plan. Wenn du keinen Plan hast, geht alles den Bach runter. Das habe ich gelernt. Und wenn ich mal was gelernt habe, verlern ich es auch nicht wieder, ich bin ja nicht blöd.

Luis ist sechzehn Jahre alt und möchte auf keinen Fall ein zarter Junge sein, er ist krass und hart – eben ein richtiger Bringer. Er ist der Trainer und er ist die Mannschaft, das ist sein Motto. Mit seiner Mutter lebt er im fünfzehnten Stock eines Hochhauses. Er hat mal Höhenangst gehabt, aber das ist schon eine Weile her. Irgendwie kann man im Leben dann doch alles besiegen, glaubt Luis. Die fünfzehn Stockwerke ist er immer zu Fuß hochgegangen und jeden Tag ist er einmal auf den Balkon raus, so kann man auch eine lächerliche Höhenangst in den Griff kriegen. Mit seinen besten Freunden schließt er Fickwetten ab, ansonsten mag Luis noch Alkohol und Freibäder – schlaffe Schwänze findet er dagegen doof.

Aber ich hatte ja nur drei Bier, und drei Bier sind bei mir das Gleiche wie kein Bier. Ich könnte jetzt ohne Probleme nen Mathe-Test schreiben.

Bei den Fickwetten gewinnt Luis übrigens fast immer. meistens wegen seiner charmanten Zahnlücke. Die hat ihm seine Mutter vererbt. Seine Mutter nennt er nur Ma und liebt sie ansonsten über alles. Genauso wie seinen besten Freund Milan, der vier Jahre älter und schon ein richtiger Twen ist. Milan ist der Coolste von allen und Luis’ bester Freund. Es gibt da auch noch das Pferd Nutella, das er ziemlich gern hat, aber darüber spricht er lieber nicht.

Sein Leben hat Luis also fest im Griff, er ist ja nicht umsonst Trainer und Mannschaft zugleich. Doch eines Tages muss er feststellen, dass man auch als Bringer nicht alles im Leben kontrollieren kann. Von einem auf den anderen Tag bricht all das zusammen, was Luis so hart gemacht hat und er muss erleben, dass erwachsen werden auch bedeutet, zart und verletzlich zu sein.

Wenn du nicht dumm sterben willst, musst du dir Sachen genau anschauen, sie üben, und zwar: bis du sie kannst. Das ist der Ablauf, und wenn du den nicht kapierst, dann wird das mit deinem Plan nix. Ich will nicht dumm sterben. Ich will auch nicht ZU klug sterben, was manchmal passieren kann, ich kenne Leute, denen das passiert, und das ist übel, könnt ihr mir glauben. Nur eins weiß ich, Leute: Dumm sterb ich auf keinen Fall.

Wenn man Verena Güntners Debütroman liest, darf man nicht allzu zartbesaitet sein, denn die junge Autorin nimmt kein Blatt vor den Mund. Sie umschreibt nicht, sie beschönigt nichts. Titten, Muschi, Fickwetten. Schonungslos und ehrlich schreibt sie über die Welt von Luis, die langsam aus den Fugen gerät. Verena Güntner gelingt es dabei ganz wunderbar, den richtigen Ton zu treffen: der Roman wird aus der Perspektive von Luis erzählt und seine Lebenswirklichkeit wird erschreckend authentisch eingefangen – krass und hart und ganz frei von Klischees. Es gibt vereinzelt auch immer wieder poetische Stellen, in denen es schon fast philosophisch wird, doch meistens lauschen wir dem Ghetto-Slang von Luis, der mit Schimpfworten durchsetzt ist.

Manchmal, und ich kann euch echt nicht sagen, warum, kommt es mir so vor, als kennen wir uns schon seit Ewigkeiten. Als wären wir schon immer befreundet. Ich hab deshalb keine Erinnerung ohne Milan. Wenn ich mich in meinen Erinnerungen umdrehe, auch in denen, wo er gar nicht dabei gewesen sein kann, steht Milan immer hinter mir und schaut mich an. Er strahlt dabei eine unendliche Ruhe aus, die auch mich ruhig sein lässt. Milans Ruhe. Die habe ich immer bewundert und mich in ihren Windschatten gehängt, und weil die meisten Leute dumm sind, hat bis jetzt keiner was gemerkt. Dass ich Milan brauche, wissen nur er und ich. Und Gott, klar. Aber mit Gott bin ich eigentlich genauso close wie mit Milan. Ich würde alles für ihn machen, im Ernst. Bis auf Mord oder so was. Ohne Scheiß jetzt, ich würde wirklich alles für Milan machen.

Was für mich Es bringen zu einer ganz besonderen Lektüre gemacht hat, ist das, was sich hinter der Ghettofassade befindet. Es geht in diesem Roman um viel mehr als Titten, Muschis und Fickwetten. Es geht um einen Jungen, der hart sein möchte, der dazu gehören möchte und der dann doch feststellen muss, wie verletzbar man sein kann, wenn man erwachsen wird. Es geht um die schmale Linie zwischen der Kindheit und dem Moment, in dem man erwachsen wird. Luis erlebt diesen Moment viel zu schnell, viel zu abrupt und muss dabei feststellen, dass in der Welt der Erwachsenen ganz andere Gesetze herrschen. Dabei möchte er doch eigentlich nur, dass alles so bleibt, wie es ist und wie er es kennt. Diese Zerrissenheit zwischen der eigenen Sensibilität und dem Wunsch danach, erwachsen zu sein, beschreibt Verena Güntner mit ungeheuerer Intensität.

Als ich das Buch zuklappe, ist mir gleichzeitig ein bisschen schwer und leicht: Luis ist mir ans Herz gewachsen, trotz all seiner Eigenarten und Fehler und ich möchte ihn eigentlich ungern wieder hergeben. Ich würde ihm gerne die Hand halten bei den nächsten zaghaften Schritten, die er hinein ins Erwachsenenleben gehen muss. Das Buch verschont uns mit einem Happy End und doch habe ich das Gefühl, dass es Luis schaffen kann in dieser Welt. Es bringen ist ein schonungsloser und intensiver Roman, der unter seiner rauen Fassade ganz zart ist und noch lange in mir nachhallen wird.

Verena Güntner: Es bringen. Roman. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2014. 249 Seiten, €18,99. Lesung der Autorin aus dem Roman.

Pfaueninsel – Thomas Hettche

Thomas Hettche erschafft in seinem Roman Pfaueninsel eine Welt, die längst vergangen scheint. Die Pfaueninsel war im 19. Jahrhundert eine Art künstliches Paradies, voller exotischer Pflanzen und wilden Tieren. Doch im Zentrum dieser märchenhaft verwunschenen Geschichte stehen weder Gärten noch Tierwelt, sondern ein kleinwüchsiges Schloßfräulein und eine tragische Liebe.

DSC_1830Nichts auf der Pfaueninsel steht sicher in seiner Zeit. Jede Geschichte beginnt lange, bevor sie anfängt.

Die Geschichte, die Thomas Hettche erzählt, beginnt im Jahr 1810 und endet etwa 70 Jahre später. Die Pfaueninsel ist ein wunderschöner Ort mitten in der Havel bei Potsdam. Die Insel wurde damals im 19. Jahrhundert unter der Leitung von Peter Joseph Lenné, Karl Friedrich Schinkel und dem Hofgärtner Ferdinand Fintelmann zu einem künstlichen Paradies umgestaltet. Es wurden nicht nur exotische Blumen gepflanzt, sondern auch seltene Tiere wurden auf der Insel heimisch: es gab Kängurus, Affen und einen Löwen. Auch menschliche Exoten fanden sich auf der Insel: riesenhafte Gestalten, dunkelhäutige Wilde und sogar zwei Zwerge. Christian und Marie, die eigentlich Maria Dorothea Strakon heißt. Das kleinwüchsige Geschwisterpaar kam 1806 auf die Insel und Marie ist auf der Pfaueninsel das Schloßfräulein.

[…] die Makel des Zwergenwuchses, der ihren Kinderkopf im Laufe der Jahre immer weiter verformte, so daß ihre Stirn sich hoch aufwölbte unter dem Haaransatz, und darunter die breite, wie zerdrückte Sattelnase mit der aufgestülpten Spitze, die so gar nichts von einem Kindernäschen hatte.

Für die Besucher ist der Besuch der Pfaueninsel wie die Reise in eine fremde Welt, in eine exotische Welt voller Absonderlichkeiten, die man am Ende des Tages – glücklicherweise – wieder verlassen kann. Ein bisschen wie eine Spielzeugwelt. Doch für Marie ist die Pfaueninsel ein Zuhause, das sie in dem ständigen Gefühl bewohnt, anders zu sein, absonderlich, abartig, makelhaft. Nicht wirklich ein Mensch, sondern eine Mischung aus Pflanze und Tier. Auf keinen Fall normal. Sie wird aufgrund ihrer Kleinwüchsigkeit auf der Insel geduldet, aber nicht geliebt. Sie muss immer wieder für die Befriedigung von männlichen Bedürfnissen herhalten, aufgrund ihrer Zartheit weckt sie Interesse. Der König wendet sich an sie, aber auch ihr eigener Bruder. Doch im Grunde bleibt Marie alleine. Ihre Wünsche und Bedürfnisse bleiben unerfüllt, dabei wünscht sich Marie nicht viel, nur ein bisschen Liebe hätte sie gerne. Sie hat ein Auge auf Gustav geworfen, den Sohn des Hofgärtners. Doch kann die Liebe wirklich die scheinbaren Grenzen des Normalen überwinden?

Ein Monster. Sie versuchte das Wort abzuschütteln, wie man ein Insekt abschüttelt, aber es wollte ihr nicht gelingen. Monster. Monster. Monster.

Thomas Hettche legt mit seinem Roman Pfaueninsel ein Buch vor, das eigentlich aus zwei Ebenen besteht, die der Autor sehr gekonnt miteinander verbindet. Da gibt es zum einen die historische Geschichte der Pfaueninsel, die von allerlei beeindruckenden Herrschaften bevölkert wird und immer wieder in den Roman  sehr ausführlich einfließt. Da geht es um Sichtachsen, Botanik und Menagerien und um die Anordnung der seltenen Pflanzen, da werden Könige erwähnt und historische Zusammenhänge, da kommen Lenné und Schinkel zu Wort und Fintelmann der Hofgärtner. Einschränkend gesagt werden muss an dieser Stelle, dass diese Passagen ab und an einen ermüdenden Charakter haben. Zum anderen gibt es da aber auch noch die tragische Liebesgeschichte und die tragische Lebensgeschichte von Marie, die Thomas Hettche mitten hinein in diesen historischen Stoff verpflanzt, die wohl aber genauso gut in unserer heutigen Zeit funktionieren könnte. Diese Ebene hat mich von Beginn an begeistern können.

[…] alles nur Maskerade, Kulisse wie die Mauern des Schlosses, die nicht aus Steinen, sondern aus bemalten Brettern bestanden. Schloßfräulein, dachte Marie, und begann zu weinen, war sie nur in dieser Welt der Lüge, in der wirklichen aber ein Monster.”

Marie ist ein in all ihrer Naivität liebenswertes Mädchen. Die Pfaueninsel bietet ihr und ihrem Bruder Christian ein Zuhause, doch eine wirkliche Heimat finden sie dort nicht. Es ist vor allen Dingen Marie, die unter dem Makel der Kleinwüchsigkeit leidet. Die glaubt, ein Monster zu sein und stetig auf der Suche nach einem Platz im Leben ist. Dabei bedient sie sich auch der Literatur, liest sich durch die Schloßbibliothek – im verzweifelten Versuch Antworten auf Fragen zu finden, die sie quälen und bedrängen. Ihr größter Lebenswunsch ist es geliebt zu werden, doch die Liebe zu Gustav kann sie nicht erfüllen.

Thomas Hettche gelingt es, das Innenleben von Marie mit viel Feinfühligkeit und Wärme zu schildern. Das Mädchen, aus dem im Laufe der Geschichte eine unglückliche alte Frau wird, die kaum noch gehen kann, ist mir beim Lesen ganz eng ans Herz gewachsen. Aber auch die Geschichte der Pfaueninsel in all ihren poetischen Bildern weiß zu überzeugen.

Pfaueninsel ist ein wahrlich wunderschöner und sehr lesenswerter Roman. Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog Wörterrausch.

April – Angelika Klüssendorf

April ist eine junge Frau, die eine Jugend ohne Jugend erlebt hat. Auch eine wirkliche Kindheit hat sie nie gehabt. In einer schonungslosen Welt ist sie in ein Leben als Erwachsene hinein gewachsen, das sie überfordert – gefangen zwischen den Anforderungen der Gegenwart und den Schrecken der Vergangenheit.

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Am liebsten würde sie die Liebe in Flaschen abfüllen, um bei Bedarf Tropfen für Tropfen parat zu haben.

Vor drei Jahren hat Angelika Klüssendorf den Roman Das Mädchen veröffentlicht, eine trostlose Geschichte über die Hölle einer Kindheit. Der Roman stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreis. April ist die Fortsetzungsgeschichte, auch dieser Roman steht nun auf der Shortlist. Es ist eine Fortsetzung, die man auch ohne Anfang verstehen kann. Es ist die Fortsetzung eines ausweglosen Lebens, das in einer fürchterlichen Kindheit seine Wurzeln hat.

Die letzten Jahre hat sie in Heimen verbracht, mit hundert Mark und der Zuweisung für die Wohnung wurde sie ins Erwachsenenleben entlassen.

Aus dem Mädchen ist mittlerweile eine junge Frau geworden, die sich den Namen April gegeben hat – in Anlehnung an einen Song von Deep Purple. Die Kindheit hat sie hinter sich gelassen, auch wenn sie immer noch in ihr steckt. Irgendwo. Sie ist gerade achtzehn geworden und die Jugendhilfe hat ihr ein Zimmer zugewiesen. Auch Arbeit hat sie bekommen, als Bürohilfskraft im Starkstromanlagebau. April ist davongekommen und doch ist sie in ihrem neuen Leben noch nicht angekommen: sie klaut bei jeder sich bietenden Gelegenheit, an ihrer Arbeitsstelle gelingt es ihr nicht, sich unterzuordnen. Ein kleiner Kobold sitzt in ihr, der sie immer wieder aufbegehren lässt, wenn sie zu viel Glück empfindet. Glück kann sie nur ganz schwer aushalten.

Anders als ihre ewig grausame Mutter hatte ihr Vater eine Art Gerechtigkeitssinn; er hat April nur mit der Hand geschlagen, er schlug auch nicht gern, es kam sogar vor, dass er sich danach entschuldigte. Trotz allem wünscht sie sich, dass ihr Vater sie auf seine Weise liebt.

April strauchelt durch ihr neues Leben als Erwachsene. Phasen der Verzweifelung wechseln sich mit Phasen eines ruhigen Glücks ab. Nicht alles ist schlecht in ihrem Leben, doch vieles ist durch ihre Kindheit verseucht worden. Ihre Eltern leben noch, doch sie sind ihr keine Unterstützung. Ihre Mutter ist Kellnerin und der Vater eine Art Lebenskünstler. Die Reise in das Erwachsenenleben muss sie alleine bewältigen und Angelika Klüssendorf lässt den Leser an dieser Reise teilnehmen. Es ist eine scheinbar hoffnungslose Reise, doch sie ist durchsetzt mit Glücksmomenten: April gelingt es einen Ausreiseantrag zu stellen, sie bewirbt sich an einem Literaturinstitut. Erst als sie die DDR verlässt, verlässt sie auch ihre Kindheit – aus dem Kobold, der Glück nicht lange festhalten kann, wird eine selbstbewusste Frau, die immer noch schwankt, doch plötzlich viel klarer ist. Sie verlässt eine Welt, die für sie reglementiert gewesen ist und betritt ein Schlaraffenland der Entscheidungsmöglichkeiten.

Sie hat das Gefühl, noch in der Kindheit verhaftet zu sein, ein Mädchen, das versucht, sich wie eine Frau zu verhalten, ohne die unsichtbare Grenze dazwischen zu überwinden.

Bei dem Versuch die Welt zu verstehen, wird die Literatur Aprils Gradmesser. Sie liest alles, was sie in die Hände bekommt: ihr Lieblingsroman ist der Graf von Monte Christo. Literatur wird zu ihrem wichtigsten Lebensinhalt, sie schreibt und liest, um sich von dem zu befreien, was gewesen ist. Es ist ein Zufall, der sie zur Herausgeberin einer kleinen Literaturzeitschrift macht. Und so habe ich April als Lebensgeschichte gelesen, die durchsetzt ist mit Fluchtgedanken und dem Bedürfnis nach Heimat. Mit der Suche nach Freiheit und der schon fast erdrückenden Hoffnungslosigkeit. Entstanden ist dabei ein bedrückender Roman mit großer Eindringlichkeit. Ganz sicherlich kein Lesevergnügen und doch konnte ich das Buch kaum aus der Hand legen.

Angelika Klüssendorf legt mit April einen fast schon seltsamen Entwicklungsroman vor, der voller Widersprüche ist: aus dem Mädchen, das ein Erwachsenenleben voller Hoffnungslosigkeit betritt, wird – trotz aller zwischenzeitlicher Rückschläge – mit der Zeit eine starke, junge Frau. Geschrieben ist der Roman schnörkellos und unprätentiös, das Leid ist in jedem Wort, in jedem Satz, in jeder Zeile greifbar und doch ist der Erzählton nüchtern, ja fast schon lakonisch erzählt. April ist ein trost- und hoffungsloser Roman, dem es gelingt,dann doch irgendwann  einen leisen Hoffnungsschimmer zu spenden: es ist die Hoffnung darauf, dass es trotz allem besser werden könnte.

Weitere Besprechungen gibt es hier, hier und hier.

Traumsammlerin – Patti Smith

Patti Smith ist Punk- und Rockmusikerin, von manchen wird sie auch als “Godmother of Punk” bezeichnet. Sie singt jedoch nicht nur, sondern ist darüber hinaus auch als Dichterin, Malerin und Fotografin bekannt. Neben einigen Gedichtbänden, erschien im Jahr 2010 die Autobiographie “Just Kids. Die Geschichte einer Freundschaft”, die die Geschichte der Freundschaft von Patti Smith und Robert Mapplethorpe erzählt. Im vergangenen Jahr erschien schließlich der schmale Band “Traumsammlerin”, im Original: “Woolgathering”, eine Zusammenstellung aus kurzen Texten, Zeichnungen und Fotografien.

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“Jemand hat mich gefragt, ob ich Traumsammlerin als Märchen sehe. Ich mochte solche Geschichten immer sehr, aber ich fürchte, es fällt nicht darunter. Alles in diesem kleinen Buch ist wahr und so erzählt, wie es war. Es zu schreiben, löste mich aus meiner seltsamen Erstarrung, und ich hoffe, dass es den Leser bis zu einem gewissen Grad mit einer unbeschwerten, eigentümlichen Freude erfüllt.”

Viele der Texte, die in diesem wunderbaren Band versammelt sind, sind im Original bereits im Jahr 1992 bei Hanuman Books erschienen. Es handelt sich um Reflexionen und Gedankensplitter, die Patti Smith zu Beginn der 90er Jahre gesammelt und zu Papier gebracht hat. 1991 lebte Patti Smit gemeinsam mit ihrem Mann und zwei Kindern in einem alten Steinhaus am Stadtrand von Detroit. Das Haus liegt direkt an einem Kanal, Efeu und Purpurwinde winden sich die bröckelnden Mauern entlang. Doch sinnbildlich für die damalige Gemütsverfassung von Patti Smith sind wohl eher die beiden alten Trauerweiden.

“Ich liebte meine Familie und unser Zuhause aufrichtig, doch in diesem Sommer litt ich an einer schlimmen und unbeschreiblichen Schwermut.”

In dieser düsteren Gemütsverfassung beginnt Patti Smith damit Texte für die “Traumsammlerin” zu verfassen. Sie setzt sich in dem Moment an die Arbeit, als die Birnen anfingen zu reifen.

“Ich schrieb mit der Hand auf kariertes Papier, und am 30. Dezember 1991, meinem fünfundvierzigsten Geburtstag, war ich fertig mit dem Manuskript.”

“Traumsammlerin” ist eine lose Sammlung an Gedankensplittern und Erinnerungsfetzen; ohne Zusammenhang und chronologische Ordnung. Patti Smith erinnert sich in allerlei kurzen Texten und Sequenzen zurück an ihre Kindheit, greift einzelne Ereignisse heraus, beschreibt Menschen, denen sie begegnet ist, erinnert sich an Dinge, die sie getan hat. Angereichert sind die kurzen Erzählungen mit Fotografien und Zeichnungen. Auch wenn die Autorin selbst sich dagegen verwahrt, dass es sich bei ihren Texten um Märchen handelt, erwecken diese mitunter einen märchenhaften und beinahe magischen Eindruck. Der Stil, in dem Patti Smith ihre Erinnerungen notiert, ist assoziativ – sie überschreitet beim Schreiben immer wieder die unsichtbare Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit und versetzt sich selbst und den Leser in eine Form von Traumland, in dem einem nicht mehr bewusst ist, was Realität und was Einbildung ist.

“Ich wusste schon immer, ich würde ein Buch schreiben, wenn auch nur ein kleines, das einen fortträgt in eine Welt, die weder zu vermessen ist noch in Gedanken zu fassen.”

Patti Smith beschreibt sich selbst als “melancholisches” und “staksiges” Kind, mit ungeschickten Armen. Und in der Tat: Die Stimmung der Melancholie ergreift einen beim Lesen, sie lässt sich aus den Texten herausschälen und setzt sich irgendwann wie ein Kloß im Hals fest. Dies ist umso erstaunlicher, da Patti Smith überwiegend positive Erinnerungen an ihre Kindheit hat. Sie wächst mit vielen Geschwistern in ärmlichen Verhältnissen auf, zu acht wohnen sie in einem kleinen Häuschen, doch auf ihre Kindheit blickt sie nicht zurück im Zorn, sondern mit viel Gleichmut und mitunter auch mit “unbändiger Freude”. Vielleicht ist dieses Glück, was aus den Erinnerungsfetzen von Patti Smith spricht, das Befremdlichste und gleichzeitig Schönste dieses schmalen Bändchens. Selten kann wohl alles, was man als Kind erlebt hat, ausschließlich positiv besetzt sein, doch Patti Smith gelingt es, nicht verbittert und verletzt zurückzublicken, sondern als gereifte Frau. Möglicherweise liegt in diesem Blick auch eine Form der Verklärung und doch habe ich ihre Perspektive auf das, was sie in ihrer Kindheit erlebt hat, als eine starke und mutige Perspektive empfunden.

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“Wie glücklich wir doch als Kinder sind. Wie die Stimme der Vernunft dieses Licht verdunkelt. Wir wandern durchs Leben, eine Fassung ohne Stein, bis wir eines Tages um eine Ecke biegen und er vor uns auf der Straße liegt, ein geschliffener Tropfen Blut, realer als ein Geist, strahlend. Wenn wir uns rühren, wird er vielleicht verschwinden. Wenn wir nicht handeln, werden wir nichts gewinnen.”

Patti Smith sammelt Träume, Erinnerungen und Gedanken, Seite an Seite mit wunderbar mystischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Sie selbst erhoffte sich, dem Leser eine unbeschwerte und eigentümliche Freude schenken zu können. Ich habe dieses Geschenk annehmen können, ich habe Texte  gelesen, die wie Juewelen funkelten. In einer wunderbaren Prosa gehalten. Ich habe Erinnerungen voller Magie aufgesaugt und bin eingetaucht in die Familiengeschichte und Träume voller Wolle. Patti Smiths “Traumsammlerin” ist ein Buch mit Zauberkraft – lasst euch verzaubern!

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