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Zeitgenössisches

Trümmergöre – Monika Held

Monika Held legt mit Trümmergöre einen lesenswerten Roman über das Wechselspiel von Gegenwart und Vergangenheit vor und erzählt dabei die Geschichte von Jula, die als Trümmergöre im Hamburg der Nachkriegszeit aufwächst und als Erwachsene darüber nachdenkt, in die Vergangenheit zurückzuziehen.

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Böse Geschichten kommen nur zur Ruhe, wenn sie sich irgendwo niederlassen dürfen.

Während sich Monika Held in Der Schrecken verliert sich vor Ort noch mit Auschwitz und dem Holocaust beschäftigt, wendet sie sich in ihrem neuen Roman dem Leben der Nachkriegszeit zu. Jula wächst als Diplomatentochter auf, doch mittlerweile ist sie erwachsen und sucht für sich und ihren Lebenspartner eine gemeinsame Wohnung. Es ist ein Zufall, der sie auf eine ganz besondere Wohnungsanzeige stoßen lässt: das Haus, in dem sie einen großen Teil ihrer Kindheit verbracht hat, steht zum Verkauf. Es ist das Haus, in dem sie mit ihrer Großmutter gelebt hat. Und es ist das Haus, in dem auch ihr Onkel Hans wohnte. All das liegt schon viele Jahre zurück, doch die zufällig entdeckte Anzeige reicht aus, um das Vergangene sofort wieder zurück in das Gedächtnis zu spülen. Jula beschließt die Wohnung zu besichtigen, doch mit dem Moment, in dem sie das Haus betritt, wird aus der geplanten Wohnungsbesichtigung eine schmerzhafte Reise zurück in die Vergangenheit.

Die Reise in die Zeit beginnt mit einer Kartoffel, einem scharfen Messer und der Zeitung von gestern. Ich schäle die Kartoffel wie meine Großmutter. Von oben nach unten, immer im Kreis herum, ohne das Messer abzusetzen. Am Ende liegen zwischen sandigen Girlanden Wortreste, Buchstaben und Silben, aus denen wir kranke Tiere machten. 

Als Jula vier ist, lässt ihr Vater sie bei der Großmutter zurück, um seiner Arbeit als Diplomat nachzugehen. Doch die Großmutter bewohnt das Haus nicht alleine, denn da gibt es auch noch Onkel Hans, der zwar in einem Haus mit seiner Mutter lebt, doch ansonsten nichts mit ihr zu tun haben möchte. Es gleicht einem bedrückenden Kammerspiel, wenn beide immer wieder umeinander kreisen – im Versuch sich so wenig wie möglich zu begegnen, wenn sie sich doch sehen, sprechen sie nicht miteinander. Nur Jula erhält Zutritt zum Zimmer des Onkels, ab und an nimmt er sie auch mit auf den Gebrauchtwagenplatz – dort arbeitet er. Onkel Hans gibt Jula all das, was ihr von ihrem Vater vorenthalten wird, er hört ihr zu, ist für sie da. Doch dem Leben, das er führt, fehlt die kindgerechte Version. Schnell lernt Jula, dass man nicht alles, was man tagsüber erlebt habe, abends erzählen müsse. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold und wer schweigt, kann nicht lügen. Onkel Hans führt sie in eine Welt ein, in der sie auf allerhand seltsame Gestalten trifft, eine Welt mitten im Hamburger Kiez.

Zwei Mal sagte Großmutter streng: Dreh dich um, Rudolf! Tu es für das Kind! Ich flüsterte: Dreh dich um, Vati, du hast mich hier vergessen, bitte dreh dich um. Ich winkte wild mit beiden Händen, das müsste er, dachte ich, im Rücken spüren. Ich schlug die Fäuste gegen die Scheibe. Er verschwand im Schnee, er löste sich vor meinen Augen einfach auf.

Obwohl Jula noch ein kleines Kind ist, als sie ihren Onkel kennenlernt, merkt sie schnell, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Den schönen Erinnerungen an ihre Kindheit haftet ein Schmerz an, für den es kaum Worte gibt. In der Wohnung, in die sie  als junge Frau wieder zurück ziehen möchte, ist sie erwachsen geworden – auf schmerzhafte Art und Weise und viel zu schnell. Monika Held macht deutlich, dass eine Vergangenheit vergangen sein kann, doch manchmal nie ganz vergessen wird. Onkel Hans hat Jula nicht den ersten Schmerz ihres Lebens zugefügt, aber den größten – davon erzählt Monika Held erst sehr viel später, doch das Wissen darum, dass es da eine offene und eitrige Wunde gibt, die nie so ganz verheilen konnte, ist das ganze Buch über präsent.

Lieber Gott, sag ihm, dass er umkehren muss. Wenn er schläft, weck ihn auf. Ich habe noch Schleifen in den Zöpfen und niemand hat mir die Haare gebürstet.

Mit kurzen Sätzen und wenigen Worten gelingt es Monika Held auf beeindruckende Art und Weise die Geschichte von Jula zu erzählen. Es ist eine Geschichte, die mich sehr berührt hat, eine Geschichte, die ich so schnell nicht vergessen werde. Monika Held erzählt nicht einfach nur, sondern schreibt Sätze von einer solchen Kraft und Schönheit, dass sie sich tief in in mein Herz gemeißelt haben. Ihre Figuren sind mit sanften Strichen gezeichnet, man kommt ihnen so nah, dass ihr Schmerz und ihre Verletzlichkeit manchmal nur schwer zu ertragen sind. Jula, ihre Großmutter und Onkel Hans teilen ein Schicksal, ihnen allen wurde Schmerz zugefügt – wenn auch auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Ich glaube, dass Monika Held zu den wichtigsten Autorinnen unserer Zeit gehört – es ist beeindruckend, wie es ihr gelingt, die Schicksale ihrer Figuren mit Leben zu füllen und mit so viel Wärme und Liebe von ihnen zu erzählen.

Monika Held ist mit Trümmergöre ein großartiger Roman gelungen, der mich nicht nur beeindruckt hat, sondern auch tief berührt. Ich hoffe, dass die Geschichte von Jula und ihrem geliebten Onkel Hans noch viele Leser und Leserinnen finden wird. Dieses Buch hätte es verdient.

Not that kind of girl: Was ich im Leben so gelernt habe – Lena Dunham

Lena Dunham legt mit Not that kind of girl ein seltsames Buch vor. Es ist ein buntes Sammelsurium, das aus Essays, Anekdoten, E-Mails und langen Listen besteht. Doch diesen Versatzstücken, die mal unterhaltsam und mal traurig sind, fehlt auf den ersten Blick der Kleber, der alles zusammenhält. Sie präsentieren sich als bröselige Bruchstücke, denen alles fehlt, was eine gute Geschichte ausmacht. Das Buch konnte ich trotzdem nicht aus der Hand legen …

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Ich glaube, dass ich einer der wenigen Menschen bin, die Lena Dunham nicht gekannt haben – erst im Nachhinein habe ich erfahren, dass sie mit der Fernsehserie Girls berühmt geworden ist. Sie hat die Serie nicht nur geschrieben und produziert, sondern sie hat auch Regie geführt und spielt darin die Hauptrolle. Vor zwei Jahren wurde sie auf die Liste der 100 einflussreichsten Menschen der Welt gewählt und vom Time Magazine zur Coolest Person of the Year gekürt. All das mit gerade einmal achtundzwanzig Jahren.

Not that kind of girl erinnert in der Hinsicht an die Fernsehserie Girls, dass auch hier alles um Lena Dunham kreist – wenn man sich auf einen Themenschwerpunkt festlegen wollen würde, dann wäre es wohl Lena Dunham, in allen Facetten. Sicherlich ist das bei einem autobiographischen Erinnerungsbuch (das wahrscheinlich aber auch fiktional angehaucht ist) nicht ungewöhnlich, doch wie sehr die Autorin um sich und ihr Leben kreist, ist mitunter dann doch ein wenig verstörend: es geht (natürlich) um Liebe und Sex, um die schönen und ekligen Seiten des eigenen Körpers, um Freundschaften, die Arbeit und zwischendurch auch mal um das große Ganze (Ängste, Krankheiten, das Sterben). Es ist eine bunte Mischung, der jede Verbindung fehlt, der Anfang und Ende fehlt, ganz zu schweigen von so etwas wie einem Erzählfaden: Lena Dunham ist mal vier, mal neunzehn, mal neun, mal elf Jahre alt. Beim Lesen hatte ich zwischendurch das Gefühl, dem Redeschwall eines hyperaktiven Kindes zuzuhören. ADHS in Papierform.

Man sieht mir das alles nicht an, wenn ich auf Partys gehe. Unter Leuten bin ich gnadenlos komisch, aufgetakelt in Second-Hand-Kleidern, mit aufgeklebten Fingernägeln, im ewigen Kampf gegen die Müdigkeit von 350mg Tabletten, die ich abends nehme. Ich tanze am wildesten, lache am lautesten über meine eigenen Witze und rede von meiner Vagina wie andere über ihr Auto oder ihre Kommode.

Doch trotz allem: einmal angefangen konnte ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen, ich habe es an einem Sonntagnachmittag in einem Rutsch gelesen und habe alles andere darüber vergessen. Es ist leicht Not that kind of girl nicht zu mögen, es ist dagegen sehr viel schwieriger herauszufinden, warum man dieses seltsame Buch mögen könnte. Wenn man von Not that kind of girl all die selbstbezogene Geschwätzigkeit abkratzt, bleibt darunter nicht viel übrig, doch das, was übrig bleibt, hat mich fasziniert: Lena Dunham ist für ihr junges Alter eine wahnsinnig erfolgreiche Frau, doch dieser Erfolg hat sie in ihrem Inneren kein bisschen selbstsicherer, glücklicher oder zufriedener gemacht. Diesem Erfolg gingen sogar zahlreiche Fehler voraus, viele dunkle Momente und Stunden, ganz viel Unsicherheit und Unzufriedenheit.

[…] ich will meine Geschichten erzählen, mehr noch, ich muss es tun, um nicht wahnsinnig zu werden: Geschichten darüber, wie es ist, morgens in meinem erwachsenen Frauenkörper aufzuwachen, voller Angst und Ekel. Wie es sich anfühlt, bei einem Praktikum den Arsch getätschelt zu bekommen, mich in Meetings vor lauter fünfzigjährigen Männern beweisen zu müssen und zu einer Abendveranstaltung mit der schlimmsten Rotznase zu gehen, die die Welt je gesehen hat.”

Wir lernen in Not that kind of girl ein neurotisches Mädchen kennen, das sich selbst bemitleidet. Ein Mädchen, das kaum Freunde hat, sich hässlich fühlt und mit Jungs schläft, um Aufmerksamkeit zu bekommen und dazuzugehören. Ohne Scham erzählt Lena Dunham von ihren Versuchen, nicht nur Gewicht zu verlieren (Versuche, die häufig in Fressattacken enden), sondern auch ihre Jungfräulichkeit. Sie erzählt von der Abneigung, die sie empfunden hat, als ihre jüngere Schwester geboren wurde. Sie erzählt wenig von ihrem heutigen Erfolg, im Zentrum stehen vielmehr die Ängste, die sie überwinden musste, um überhaupt das Selbstbewusstsein dafür zu haben, kreativ zu sein und erfolgreich zu werden. Und trotz des Erfolgs ist dieses Selbstbewusstsein auch heute noch fragil und leicht angreifbar. Viele ihrer Geschichten sind natürlich auch unterhaltsam und mitunter hochkomisch, doch die Anekdoten und Essays von Lena Dunham funktionieren dort am besten, wo sie sich mit ihren Themen ernsthaft und mit großer Ehrlichkeit auseinandersetzt. An anderen Stellen hatte ich das Gefühl, mussten Lücken gefüllt werden: 13 Dinge, die man besser nicht zu seinen Freunden sagt; 10 Gründe, warum ich New York liebe; 15 Dinge, die ich von meiner Mutter gelernt habe. Diese Listen sind nicht nur banal, sondern auch von zweifelhafter literarischer Qualität.

Nein, ich bin keine Sexpertin, keine Psychologin, keine Ernährungswissenschaftlerin. Ich bin keine Mutter von drei Kindern oder die Besitzerin eines erfolgreichen Strumpfhosenimperiums. Ich bin eine junge Frau mit dem ausgeprägten Interesse zu bekommen, was mir zusteht, und was hier folgt, sind die hoffnungsvollen Nachrichten von der Front, an der ich dafür kämpfe.

Not that kind of girl ist ein schwieriges Buch, das ich keinesfalls empfehlen kann und möchte. Doch wem es gelingt, nicht nur die einzelnen Anekdoten zu sehen, sondern hinter diese Fassade zu schauen, der hat vielleicht ein ähnliches Leseerlebnis wie ich: ich habe ein keinesfalls perfektes Buch gelesen, das von einer mutigen Autorin geschrieben wurde, die ganz ohne Scham dazu einlädt, aus ihren Fehlern zu lernen und dabei vielleicht sich selbst ein Stückchen näher zu kommen – auch auf die Gefahr hin, plötzlich der eigenen Versicherung und Verletzlichkeit ebenso wie seinen Ängsten gegenüberzustehen.

Susan Sontag. Geist und Glamour – Daniel Schreiber

Essayistin, Filmemacherin, Schriftstellerin. Hochintelligent, wunderschön, charakterlich schwierig. All das – und wahrscheinlich noch viel mehr – ist Susan Sontag. In der großartigen Biographie Geist und Glamour begibt sich Daniel Schreiber auf ihre Spuren. Entstanden ist dabei nicht nur eine dichte und informative Biographie, sondern auch eine höchst lesenswerte.

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I’m happy when I dance.

Geist und Glamour ist die erste deutschsprachige Biographie über Susan Sontag gewesen und erschien bereits 2007 im Aufbau Verlag. Geschrieben wurde sie von Daniel Schreiber, der in Berlin und New York Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Theaterwissenschaft, Slawistik und Performance Studies studiert hat. Er schreibt für zahlreiche Zeitungen und hat im vergangenen Jahr das Buch Nüchtern vorgelegt – ein persönlicher Blick auf unseren Umgang mit Alkohol.

Bei der Lektüre von Geist und Glamour wird schnell deutlich, dass sich Daniel Schreiber intensiv mit Susan Sontag auseinandergesetzt hat – nicht nur mit ihr als facettenreiche und streitbare Person, sondern auch mit ihren Büchern. Hinterlassen hat die Autorin ein umfangreiches Werk: neun Essaysammlungen, vier Romane, zwei Drehbücher und ein Theaterstück. Während sie für ihre Essays mit viel Lob bedacht wurde, wurden ihre restlichen Arbeiten entweder verhalten kritisiert oder gar mit Spott und Häme überzogen. Ihrem Ruf als Intellektuelle hat dies überraschenderweise jedoch nie nachhaltig geschadet. Daniel Schreiber erzählt den ungewöhnlichen Lebensweg von Susan Sontag nach und setzt diesen immer wieder in ein Verhältnis mit ihren Texten und Veröffentlichungen. Entstanden ist dabei ein sehr dichtes und intensives Buch, voller Informationen. Es zeichnet das Bild einer Frau nach, die aus einfachen Verhältnissen stammt, mit einer schwierigen Mutter zusammenlebt und vaterlos aufwächst. Einer Frau, die früh beschließt, aus den Verhältnissen, in die sie hineingeboren wurde, auszubrechen und sich neu zu erfinden – als Intellektuelle und Schriftstellerin. Dieser Wunsch, sich selbst immer wieder neu zu erfinden, ist etwas, dass sich wie ein roter Faden durch das Leben von Susan Sontag zieht.

[…] die avantgardistische Kritikerin, die bei einer Anti-Vietnamkriegsdemonstration festgenomme, politische Radikale, die ernsthafte Filmemacherin in Schweden, die trotz fortschreitenden Alters jugendlich wirkende Intellektuelle und schließlich die engagierte Romanautorin mit Hang zur Künstler-Romantik.

Susan Sontag, die sich angeblich mit drei Jahren bereits das Lesen beigebracht hat, kommt mühelos durch Highschool und College und befreit sich mithilfe ihrer Bücherliebe aus dem Gefängnis ihrer Kindheit. Doch frei ist sie nur kurz, denn dann heiratet sie mit gerade einmal siebzehn Jahren Philip Rieff, einen deutlich älteren Soziologieprofessor. Das Gefängnis ihrer Kindheit wird durch das Gefängnis einer unglücklichen Ehe ersetzt. Es dauert lange, bis sie es schafft, sich daraus zu befreien und endlich auf eigenen Füßen zu stehen. Ihr Leben wird lange von zahlreichen intensiven, aber unglücklichen, Beziehungen geprägt – mit Männern und mit Frauen. Doch trotz ihres turbulenten Privatlebens, gelingt es Susan Sontag erstaunlich leicht, sich als Intellektuelle und Essayisten durchzusetzen – ihre häufig streitbaren Texte, die in zahlreichen Zeitungen veröffentlicht werden, finden viel Beachtung. Ein weiterer zentraler Bestandteil ihres Lebens waren ihre drei schweren Krebserkrankungen, die sie schließlich auch das Leben kosteten.

Die Erfüllung ihres unstillbaren Hungers nach Literatur unterschied sich wenig von ihren Essgewohnheiten am familiären Barbecue-Grill. Susans literarischer Hunger war so stark, dass sie trotz wochenlanger, schamvoller Selbst-Peinigungen sogar Bücher stahl, wie sie schilderte.

Daniel Schreiber greift beim Schreiben dieser beeindruckenden Biografie, die sich trotz aller Informationsdichte flüssig lesen lässt, auf eine Vielzahl an Quellen zurück – das Buch umfasst mehr als 700 Fußnoten. Deutlich wird dabei auch, wie mühevoll die Quellenauswertung gewesen sein muss – Susan Sontag entpuppt sich als hochintelligenter aber wankelmütiger Mensch, Geschichten werden von ihr immer wieder neu und in abgewandelter Form erzählt. Solange, bis um sie herum eine fast schon mythische Legendenbildung entstanden ist.

Ich dachte, ‘Scheiße, das wird >Pruust< ausgesprochen.’ Ich hatte die Recherche natürlich gelesen, aber ich hatte Prousts Namen noch nie ausgesprochen, nur in Gedanken, und ich dachte immer, es würde >Praust< heißen. Es war eigentlich ein wundervolles Gefühl – endlich würde ich lernen, wie man diesen Namen ausspricht. Endlich gab es andere Leute, die lasen, was ich las. Ich war endlich angekommen, und es war wahr, ich war es.

Der Untertitel der Biographie – Geist und Glamour – hätte nicht passender gewählt werden können, denn Susan Sontag vereint beides: einen scharfen Verstand und den Wunsch danach ein Leben mit chic zu führen. Aus diesem Grund bleibt es auch ein lebenslanges Anliegen von ihr, die Unterscheidung zwischen Unterhaltungsliteratur und anspruchsvoller Literatur aufzuheben. Warum muss man sich für The Doors oder für Dostojewski entscheiden? Warum kann man nicht beides schätzen?

Ich möchte nicht viele Bücher schreiben. Ich möchte ein paar wundervolle Bücher schreiben, die Menschen noch in hundert Jahren lesen werden.

Daniel Schreiber, der diese Biographie mit gerade einmal dreißig Jahren geschrieben hat, legt mit Geist und Glamour ein lesenswertes Buch vor, das einen umfangreichen Blick auf das Leben einer spannenden Frau wirft. Deutlich wird dabei, dass Susan Sontag eine schwierige Frau gewesen ist – so schwierig, dass es nicht ganz leicht ist, sie das ganze Buch hindurch zu mögen. Doch meine Bewunderung für Susan Sontag und meine Neugier auf ihre Texte hat dies keinen Abbruch getan: Daniel Schreiber lädt dazu ein, ihr umfangreiches Werk zu entdecken und ich bin gespannt darauf, wohin mich meine Susan-Sontag-Entdeckungsreise noch führen wird.

Auf Buzzaldrins Bücher besprochen wurden bereits die Tagebücher von Susan Sontag sowie der Interviewband The Doors und Dostojewski.

Jäger – James Salter

Beinahe 30 Jahre sollte es dauern, bis im vergangenen Jahr endlich wieder ein Roman von James Salter erschien, Alles, was ist  habe ich  als große und großartige Geschichte in Erinnerung. Nun legte der Berlin Verlag nach und veröffentlichte in diesem Herbst den Debütroman Jäger, der im Original bereits 1956 erschien. Jäger ist ein eindrücklicher Roman über den Krieg, der in der Luft geführt wird.

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Er bewegte sich allein gegen den Strom. So war es immer gewesen, überlegte er, das Gefühl, zu spät zu kommen, nachdem alles vorüber war.

Geschrieben wurde Jäger bereits 1956, kurz nach dem Ende des Koreakriegs. James Salter war damals selbst für mehrere Monate als Kampfpilot im Kriegseinsatz gewesen, stationiert an der Kimpo Air Base in Korea. Aus dem Tagebuch, das er damals geführt hat, entstand der vorliegende Roman und man kann davon ausgehen, dass  in dem, was die Hauptfigur Cleve Connell erlebt, viel von den Erfahrungen, Gefühlen und Gedanken des Autors stecken.

Und er hatte den Punkt erreicht, an dem ihn ein Gefühl von verlorener Zeit beschlich. Das ständige Zählen künftiger Tage, mit denen er früher so verschwenderisch umgegangen war. Er merkte, dass er zu oft an unglückliche Ereignisse dachte. Er dachte daran, dass er nicht sterben wollte, was etwas anderes war als der Wunsch zu leben. Es war eine düstere Krankheit, ein Zwang, der am Ende die Seele zersetzen konnte.

James Salter schildert in seinem Roman in nüchternen Worten den Alltag des Krieges aus der Perspektive eines Kampfpiloten. Cleve Connell ist einunddreißig Jahre alt, als er nach Korea kommt. Er ist zuvor sieben Jahre lang für die Air Force geflogen, hat viel Erfahrung und die Erwartungen, die die anderen an ihn richten, sind groß. Die Welt der Kampfpiloten ist eine harte Welt, unnachgiebig und ohne Mitleid. Wieviele gegnerische Flugzeuge abgeschossen werden ist das Einzige, was in dieser Welt zählt. Rücksicht nimmt man dabei weder auf sich selbst noch auf seine Kameraden. Schnell fühlt Cleve sich in seinem neuen Leben in Korea zu Hause und seine immer gleichen Tage werden einzig und allein davon bestimmt, in die Luft zu steigen und andere Flugzeuge abzuschießen. Tage, an denen er auf dem Boden bleiben muss weil das Wetter zu schlecht ist, sind verlorene Tage. James Salter beschreibt einen schrecklichen Krieg, der von jungen Männern geführt wird, die vergessen zu haben scheinen, dass der Krieg kein Spiel ist und dass sie mit ihren Flugzeugen über Menschenleben entscheiden können.

Es gibt eine Handvoll Männer, die weiter gehen als alle anderen. Und wenn man dazugehört, dann ist das so. Dann gibt es keinen anderen Weg. Wenn du mich also noch meinem Ziel fragst, dann ist es das. Nicht zu scheitern.

James Salter erzählt von Konkurrenz, Sehnsucht, Neid und Verrat und er beschreibt, wie Cleve Connell an all dem zerbricht, denn anders, als alle erwarten, wollen Cleve einfach keine Abschüsse gelingen. Die Sehnsucht nach dem ersten Abschuss und die Verzweiflung angesichts der Tatsache, dass seine Kameraden Flugzeug um Flugzeug abschießen, überwältigt Cleve irgendwann.

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James Salter, vor einem Einsatz als Kampfpilot

In Jäger geht es jedoch nicht nur um Männergetue und Kriegshelden, zwischen den Zeilen dringt James Salter noch tiefer in die Köpfe seiner jungen Helden ein – auf lakonische Art und Weise aber auch mit viel Mitgefühl. Sprachlich befindet sich der Roman, typisch für James Salter, auf sehr hohem Niveau und genau da, zwischen den Zeilen, geht es eben auch um die dunklen Schattenseiten des Krieges: um die Verzweiflung und Einsamkeit, um die Angst um das eigene Leben und den Verlust jeglicher Menschlichkeit, die irgendwo in den Kriegsmaschinerien verloren geht.

In einer Staffel zu sein war wie der Abriss eines ganzes Lebens. Man war ein Kind, wenn man eintrat. Es gab endlose Möglichkeiten, und alles war neu. Nach und nach, fast unbemerkt, zogen die Tage der schmerzlichen Lehre und Freuden an einem vorbei; man erreichte das Mannesalter; und dann plötzlich war man alt, zwischen neuen Gesichtern und Beziehungen, die man nicht verstand, die stetig um einen wuchsen, bis man sich schließlich in ihrer Mitte nicht mehr willkommen fühlte; die Männer aber, die man gekannt, mit denen man gelebt hatte, waren verschwunden, und der Krieg kaum mehr als die Erinnerung an Zeiten, die man mit niemandem mehr teilen konnte.

James Salter legt mit Jäger einen einfühlsamen Roman vor, dem es gelingt, auf hohem sprachlichem Niveau alle Facetten des Krieges einzufangen: das heroische Männergehabe, aber auch die dunklen Schattenseiten. Die Schilderungen der Kampfhandlungen in der Luft sind von einer beeindruckenden Intensität, genauso wie die Beschreibungen der einsamen und traurigen Stunden, die jeder Pilot mit sich allein verbringt, denn wer zu viel Schwäche zeigt, fällt heraus aus der Gemeinschaft. Jäger ist im Original vor sechzig Jahren erschienen, doch bis heute hat der Roman nichts von seiner Aktualität eingebüßt: ein Krieg ist kein Spiel, sondern bitterer Ernst, der geprägt ist von schrecklichen Verlusten auf beiden Seiten.

Jede Liebesgeschichte ist eine Geistergeschichte – D.T. Max

Am 12. September 2008 hat sich der Schriftsteller David Foster Wallace das Leben genommen, er erhängte sich in seiner Garage, nachdem er jahrelang mit schweren Depressionen gekämpft hatte. Seinen Büchern gemein ist eine überbordende Phantasie und eine alles durchdringende Traurigkeit. D.T. Max legt, sechs Jahre später, eine Biographie vor, die versucht alles nach zu erzählen: angefangen von einer scheinbar glücklichen Kindheit, bis hin zu den dunkelsten Stunden eines schwerkranken Mannes.

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Jede Geschichte hat einen Anfang, und so fing die Geschichte von David Wallace an: Er wurde am 21. Februar 1962 in Ithaca, New York geboren.

D.T. Max ist Absolvent der Harvard University, Stipendiat der Guggenheim Foundation und schreibt regelmäßig für den New Yorker. D.T. Max hat David Foster Wallace nie kennengelernt, er hat ihn nur ein einziges Mal auf einer Verlagsparty getroffen. Da es keine eigenen Erinnerungen gibt, auf die er zurückgreifen kann, greift er auf die Erinnerungen von Freunden und Familienangehörigen zurück, in diesem Sinne ist die vorliegende Biographie weniger ein Werk eines einzelnen Autors, als eine Form des kollektiven Gedächtnisses, in das Erinnerungen zahlreicher Begleiter und Weggefährten von David Foster Wallace eingeflossen sind. Für diese Biographie hat sich D.T. Max auf eine komplexe Suche begeben, auf die Suche nach dem wahren David Foster Wallace: dabei hat er nicht nur in den Texten dieses vielschichtigen Autors gesucht, sondern auch in dessen Kindheit und in dessen Beziehungen.

Flüssig und mitreißend erzählt D.T. Max vom Leben dieses außergewöhnlichen Schriftstellers, der in einem behüteten Elternhaus aufwächst, in dem ihm jedoch viele Freiheiten gewährt werden. Erst spät in seinem Leben beginnt Wallace damit, seine Kindheit zu hinterfragen und nimmt dabei besonders seine Mutter in den Blick. Die Schwierigkeiten, die Jahre später schließlich zu seinem Selbstmord führen, beginnen bereits, als David Foster Wallace ein Teenager ist und seinen ersten Zusammenbruch erlebt. Von diesem Moment an schwankt er immer wieder zwischen Genialität, er wird beispielsweise als bester Student bezeichnet, den die Universität Amherst je gehabt hat und Momenten der absoluten Zerstörung und Verzweiflung. Der glücklichen Kindheit steht das Leben eines jungen Mannes gegenüber, das geprägt ist von Zusammenbrüchen.

Seine Qualen, schrieb er, strömten aus verschiedenen Quellen, von der Angst vor dem Ruhm bis zur Angst vor dem Scheitern. Hinter den gewöhnlichen Ängsten lauerte die Angst, gewöhnlich zu sein.

Aus einem notorischen Kiffer wird ein schwerkranker Alkoholiker, aber auch diese Sucht überwindet David Foster Wallace – nur diese alles überwältigende Traurigkeit, die kann er sein ganzes Leben lang nie wirklich abschütteln. Das Leben von David Foster Wallace ist auch geprägt von Beziehungen, die er immer wieder nach kurzer Zeit beendet. Es wäre zu leicht, all dies auf seine Kindheit zurückzuführen, die glücklich erscheint und doch geprägt gewesen ist, von den unterschiedlichen Persönlichkeiten seiner Eltern. Doch die Wurzeln der immensen Traurigkeit, wurden sicherlich damals schon gelegt und konnten nie mehr gekappt oder aus der Erde gerissen werden. Von all dem erzählt D.T. Max auf eine Art und Weise, dass man glaubt, einen Roman zu lesen: mitreißend und unterhaltsam. Doch unter dieser Oberfläche lauert eine beständige Traurigkeit, der man sich beim Lesen immer bewusst ist.

Ein Mittel, das in dieser Biographie immer wieder gewählt wird, ist das des Briefes: D.T. Max zitiert aus zahlreichen Briefen, die David Foster Wallace an Freunde und Bekannte geschrieben hat. Besonders eindrücklich ist mir ein Brief im Gedächtnis geblieben, den er an seinen Freund Jonathan Franzen schrieb:

Ich kann nur sagen, dass ich das vielleicht vor zwei, drei Jahren für Dich war und vielleicht in 16 Monaten oder zwei oder 5 oder 10 Jahren wieder sein kann, aber im Moment bin ich ein kläglicher und sehr verwirrter junger Mann, mit 28 ein gescheiterter Schriftsteller, der so eifersüchtig ist, so scheußlich neidisch auf Dich […], dass ich die Selbsttötung als logische – wenn auch im Moment nicht wünschenswerte – Lösung des ganzen jämmerlichen Problems betrachte.

Jede Liebesgeschichte ist eine Geistergeschichte, das hervorragend von Eva Kemper ins Deutsche übertragen wurde, ist ein wahres Leseerlebnis, denn es ist nicht nur eine Annäherung an den Menschen David Foster Wallace sondern auch an seine Texte. Leicht beschämt muss ich an dieser Stelle gestehen, dass ich – bis auf Das ist Wasser – noch nichts von Wallace gelesen habe. All denen, denen es genauso geht wie mir, kann ich diese Biographie nur ans Herz legen, denn sie macht Lust darauf, dieses vielschichtige Werk, das David Foster Wallace hinterlassen hat, zu erkunden. Die Seiten der Biographie sind dicht befüllt mit zahlreichen Verweisen und Informationen, die das Buch jedoch an keiner Stelle zu einer zähen oder langatmigen Lektüre machen.

Seligkeit – eine jede einzelne Sekunde erfüllende Wonne und Dankbarkeit über das Geschenk, am Leben zu sein und Bewusstsein zu haben – ist das Gegenteil der niederschmetternden Langeweile.

Der Titel der Biographie fängt die Essenz des Lebens von David Foster Wallace perfekt ein: die Biographie ist eine Liebesgeschichte, denn sie erzählt von einer unbändigen Liebe zur Sprache, zu Worten, zur Literatur und zum Schreiben. Gleichzeitig ist sie jedoch auch eine düstere Geistergeschichte, die von dunklen Stunden und einem schwarzen Loch mit Zähnen erzählt. Vielleicht ist genau das auch die Essenz, die ich aus dieser Lektüre mitnehme: das Leben kann häufig aus beidem bestehen, aus Liebe und aus Geistern. Man sollte das Geschenk am Leben zu sein solange genießen, wie man kann, denn manchmal lauern die Geister schon im Hintergrund.

Urwaldgäste – Roman Ehrlich

Es ist noch gar nicht so lange her, dass Roman Ehrlich sein Debüt als Schriftsteller gefeiert hat – vor etwas mehr als einem Jahr erschien sein vielbeachteter Roman Das kalte Jahr. In diesem Herbst nun hat er sein zweites Buch vorgelegt, diesmal einen Erzählband, der den Titel Urwaldgäste trägt. Mit diesem entführt uns Roman Ehrlich in den Urwald der heutigen Arbeitswelt und den scheinbar ganz normalen Alltag.

Roman EhrlichIch fühlte mich ohnehin in diesen Tagen als soziales Wesen, als Mensch unter Menschen, unanbietbar.

Urwaldgäste ist ein seltsames Puzzle, das sich aus insgesamt zehn Erzählungen zusammensetzt. Alle Erzählungen können für sich stehend gelesen werden, manchmal begegnet man Figuren jedoch in mehreren der Erzählungen. Allen Erzählungen gemein ist der lapidare und scheinbar harmlose Ton, mit dem Roman Ehrlich einen ganz normalen Alltag beschreibt, der auf den zweiten Blick jedoch nicht mehr ganz normal wirkt. Gemein ist den Erzählungen jedoch auch das übergeordnete Thema: alle zehn kreisen auf unterschiedliche Art und Weise um unsere heutige Arbeitswelt, die eine etwas seltsam anmutende Welt ist. Eine Welt, die von ökonomischen Gesichtspunkten diktiert wird.

Es ist unmöglich, genau zu sagen, wann das geschehen war – wann dieser Zustand begonnen hatte, in dem ich maulfaul, abwesend und auch taub für die Äußerungen meiner Umwelt wurde. Es war ein Vorgang wie die Ankunft des Winters.

Da gibt es zum Beispiel den Protagonisten aus der ersten Erzählung, der zum Schein Physik studiert, um Zugriff auf die studentische Jobbörse zu erhalten. Er heuert bei dem Unternehmen Grinello Clean Solutions an, wo er einsam am PC seine neue Tätigkeit verrichten soll. Das Büro ist hochmodern ausgestattet, dem neuen Mitarbeiter fehlt es an nichts – nur menschliche Kollegen hat er irgendwie kaum. Wenn es ihm mal zu eintönig wird, dann kann er auf seinen USB-Weihnachtsbaum zurückgreifen. Dieser ganze Büroalltag wird von Roman Ehrlich lapidar geschildert, es erscheint alles so normal und alltäglich – in wie vielen Büros in Deutschland sieht es wohl genauso aus: in hochmodern eingerichteten Zimmern arbeiten Menschen stumpf vor sich hin, alleine mit sich und ihren sinnlosen Aufgaben. Keinem ist bewusst, wie einem dabei Stück für Stück das letzte bisschen Menschlichkeit abhanden kommt und von einem roboterhaften Tun ersetzt wird.

Ich stehe im Licht. Ich bin dran. An der Reihe – Aber halt! Halthalthalt. Hat denn so jemals jemand gesprochen? Hat denn, im Leben, jemals einer so geredet, sich so gegeben? Hat denn, hahaha, hihi hat denn so jemals jemand gelacht, hat sich denn je einer so aufgeregt, verdammt, Scheiße, Fuck, so wütend, war je einer so in Rage, so verzweifelt, so außer sich und ohne Hoffnung war jemals jemand so weit entfernt, so abwesend, versunken, verschlossen, verloren, hat sich jemals einer so gesehnt, so herrlich gesehnt, weil er so, so schrecklich verliebt war? Hat jemand, jemals, so direkt das Wort an Sie gerichtet und Sie gefragt, wollte jemals jemand auf diese Art von Ihnen wissen, was eigentlich mit Ihnen los ist?

Da gibt es auch noch Arne Heym, den Protagonisten einer anderen Erzählung, der ein unbefriedigendes Dasein in seinem Job fristet. Als er eines Abends auf eine spannende Werbeanzeige stößt (Lassen Sie sich täuschen!), verändert sich sein langweiliges und alltägliches Leben von einem Moment auf den anderen: plötzlich befindet er sich in einem lebensechten Rollenspiel, bei dem er nie so genau weiß, was Wirklichkeit ist und was Täuschung.

Ich habe eine große Sehnsucht. Ich gehe jeden Tag zur Arbeit. Und diese Arbeit, das ist es halt, was mir stinkt, ist dieser Ort der offenen Fragen, wo wie nirgends sonst ein Raubbau an meiner Sehnsucht getrieben wird. Eine Ausbeutung meiner Träume und Illusionen. Das findet hier statt. Aber sagen Sie mir mal, hat man Ihnen das nicht schon mal gesagt?

Roman Ehrlich legt mit Urwaldgäste einen vielschichtigen und interessanten Erzählband vor, der sich von vielem abhebt, dass unsere deutschsprachige Gegenwartsliteratur ansonsten zu bieten hat. Ein Grund dafür ist sicherlich die Tatsache, dass sich Roman Ehrlich einem wichtigen Themenkomplex annimmt: der Entindividualisierung unserer Arbeitswelt, vielleicht sogar unseres ganzen Lebens. Wo bleibt der Mensch in einer durchorganisierten und hochtechnisierten Welt? Wo bleibt das Menschliche? Wo bleiben Verletzlichkeit und überraschende Momente? Der Erzählton ist lapidar, fast beiläufig – so erschafft Roman Ehrlich eine Welt, die auf den ersten Blick ganz normal erscheint und doch verbergen sich unter dieser Oberfläche Seltsamkeiten, allerhand Skurriles und Befremdliches. In vielen der Erzählungen wird mit Realität und Phantasie gespielt und dabei werden Charaktere erschaffen, die genauso glatt sind, wie die Büros, in denen sie arbeiten. Das macht die Lektüre nicht immer einfach, aber darum nicht weniger spannend.

Urwaldgäste ist keine Lektüre für zwischendurch, ganz sicherlich nicht. Die Erzählungen erfordern nicht nur Zeit, sondern auch, dass man sich auf die Erzählwelt, die Roman Ehrlich erschafft, einlässt.Urwaldgäste ist kein Literatursnack und kein Wohlfühlbuch, aber ein hochinteressanter Erzählband, der es verdient, gelesen zu werden.

Weitere Besprechungen gibt es hier, hier und hier.

Maulinas erstaunliche Abenteuer …

Als ich die drei Bände rund um die liebenswerte Heldin Maulina zum ersten Mal in den Buchläden ausliegen sah, glaubte ich auf den ersten Blick nicht, dass das etwas für mich sein könnte. Sie sind liebevoll gestaltet und sehen dann doch aus wie … nun ja, wie Kinderbücher und ich bin doch schon lange kein Kind mehr. Dachte ich. Doch bereits nach den ersten Sätzen war es um mich geschehen, ich befand mich plötzlich in Maulinas Welt und wollte am liebsten gar nicht mehr weg.

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Maulen heißt nicht einfach rumstänkern, maulen, das ist eine Lebenseinstellung, aber davon später.

Maulina Schmitt heißt eigentlich Paulina Schmitt, doch es hat seine Gründe, dass sie von allen Maulina genannt wird. Maulina mault und wenn Maulina mault, herrscht akute Explosionsgefahr. Sie hat einen guten Grund zu maulen, denn ihr Leben verändert sich von einem Tag auf den anderen radikal und das ist für Maulina nur schwer auszuhalten, auch wenn es nur noch siebeneinhalb Jahre sind, bis sie endlich erwachsen ist und allein entscheiden kann. Maulina wurde aus ihrem Königreich Mauldawien vertrieben und gemeinsam mit ihrer Mutter an einen langweiligen Zipfel der Stadt verpflanzt. Im Königreich zurückgeblieben ist ihr Vater, den sie nur noch der Mann nennt, denn sie glaubt, dass er für all dies verantwortlich ist. All das, was vorher gut gewesen ist, gibt es plötzlich nicht mehr. Stattdessen wohnen Maulina und ihre Mutter von nun an in Plastikhausen, in einer kleinen Wohnung voller Plastikgriffen, Plastikfenstern, Plastikfensterbänken.

Aus der Wohnung mit den vier Zimmern, dem Dachboden des Grauens, dem Garten, dem wertvollen, bunten Frühwerk auf den Tapeten und der Straße voller Freunde ist ein mickriges Plastikhaus geworden am anderen Ende der Stadt. Wenn das, was wir hatten, ein Pfannkuchen war, ist davon nur noch ein fettiger Abdruck auf dem leeren Teller geblieben und ein Rest von Geschmack auf der Zunge. Und jetzt? Ein muffeliges, kleines, quadratisches Haus, das sich zwischen andere muffelige, quadratische Häuser in eine Straße aus kleinen Häusern duckt.

Doch Stück für Stück muss Maulina feststellen, dass die grausigen Tatsachen des Lebens sogar noch ein bisschen komplizierter sind, als gedacht – ihre Mutter und der Mann haben sich nicht nur getrennt und sie musste ihr geliebtes Königreich verlassen, sondern sie erfährt schließlich auch noch, dass der Grund dafür die Erkrankung ihrer Mutter ist. Einen Namen hat diese Erkrankung nicht, aber es wird schnell deutlich, dass sie der Mutter alle Lebenskraft raubt, aber nicht alle Lebensfreude. Doch das, was Maulina durch den Umzug genommen wird, erobert sie sich Stück für Stück zurück. Eine große Rolle spielen dabei der General für Käse, ihr Schulfreund Paul, Ludmilla Lewandowski, ein geheimnisvolles Eisrezept und die Geheimwaffe Kakao.

Heinrich

Der Mann hat keinen Namen mehr. Er ist unaussprechlich geworden, wie die Namen der schlimmsten Bösewichte in Kindergeschichten und Märchen, so ein Name, der, wenn man ihn ausspricht, einem die Knie verdreht und Pflanzen eingehen lässt, ein Name, den man nicht in den Mund zu nehmen wagt, weil dann die Schuhsohlen schmelzen, die Brillengläser springen, die Tiere in Ultraschall schreien und fliehen.

Die erstaunlichen Abenteuer von Maulina Schmitt umfassen drei Bände, drei Bände voller Abenteuer, voller Freude und Momenten zum Schmunzeln. Drei Bände die aber auch angefüllt sind mit Traurigkeit, Krankheit, Tod und damit, dass das Leben sich jederzeit ändern kann und wir keine Möglichkeit haben, diese Veränderungen zu kontrollieren oder aufzuhalten. Wir können nur noch entscheiden, wie wir mit diesen Veränderungen umgehen wollen. Finn-Ole Heinrich hat keine typischen Kinderbücher geschrieben, wenn es das überhaupt gibt. Er hat mit Maulina Schmitt eine tapfere und mutige Heldin geschaffen, deren Abenteuer von Menschen allen Altersgruppen gelesen werden kann. Wie schade wäre es gewesen, wenn ich diese großartige Lektüre verpasst hätte, weil ich mich von irgendeiner Etikettierung hätte abhalten lassen. Maulina Schmitt ist für all diejenigen geschrieben worden, die sich irgendwo an dieser mysteriösen Schwelle zwischen Kindheit und dem Leben als Erwachsene bewegen und für all diejenigen, die das Kind in sich immer noch bewahren konnten.

Als erwachsene Leserin habe ich beim Lesen immer einen kleinen Erkenntnisvorsprung gegenüber Maulina, begreife die Erkrankung der Mutter schneller und möchte irgendwann nur noch meine langen Arme um dieses traurige mutige trotzige kleine Mädchen legen, um sie vor dem Leben zu beschützen. Finn-Ole Heinrich erzählt von schweren Themen, von Themen, für die Kinder wohl kaum eigene Worte finden können. Er erzählt von Kaugummischmerz und dem Ende des Universums und er erzählt ganz ohne pädagogischen Zeigefinger. Er erzählt davon, manchmal, wenn einen die schlimmen Wendungen des Lebens erdrücken, vielleicht einfach aus einer anderen Perspektive auf das Leben zu blicken. General Käse würde sagen: Savoir vivre.

[…] diese zwei kleinen Worte, die sind ein Aufruf, ja ein Befehl! Immer das Leben zu untersuchen, alles auszuprobieren. Du musst rausfinden, was du willst und warum, und dann musst du dich auf den Weg dahin machen, mit allen Macken, die du hast. Und das Wichtigste ist, dass du auf dem Weg so viel Spaß hast wie möglich, dass du genießt und das Kleine kapierst, das Einfache siehst, das Mickrige liebst, nicht nur das Allerobermegadollste brauchst, sondern dich schon an ganz wenig freust und den Ausblick genießt. Und dass du, wenn mal was Blödes passiert, es nicht persönlich nimmst, sondern die Schultern zuckst und drüber lachst.

Durch die drei Bände begleiten mich die wunderschönen Zeichnungen von Rán Flygenring, die die Lektüre zu einem ganz besonderen Erlebnis gemacht haben. Und so habe ich drei Bücher, die eigentlich aussehen wie Kinderbücher, an nur einem einzigen regnerischen Samstag durchgelesen und habe dabei nicht nur Maulina ganz tief in mein Herz geschlossen, sondern beim Lesen auch gelacht und geweint, denn selten zuvor war ich so berührt von dem Ende eines Buches. Was bleibt mir nun anderes übrig, als euch diese drei Bände ans Herz zu legen? Genau: bitte lesen, ganz unbedingt.

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