Tom Liehr wurde 1962 in Berlin geboren und hat bereits als Redakteur, Rundfunkproduzent und DJ gearbeitet. Seit 1998 ist er Besitzer eines Software-Unternehmens. Von Tom Liehr, der in Berlin lebt, erschienen bisher die Bücher “Radio Nights”, “Idiotentest”, “Stellungswechsel”, “Geisterfahrer” und “Pauschaltourist”. “Leichtmatrosen” ist sein neuester Roman. Mehr über Tom Liehr erfährt man auf seiner Homepage.
Warum wollten Sie Schriftsteller werden?
Natürlich, weil damit Geld und Ruhm verbunden sind, und im Idealfall vielleicht sogar die Weltherrschaft.
Nein, Spaß beiseite. Ich war elf oder zwölf und habe einen SF-Roman von Robert A. Heinlein gelesen, “Tunnel zu den Sternen”, glaube ich, und verspürte anschließend das sehr dringende Bedürfnis, so etwas auch zu können. Also habe ich einen Schreibmaschinenkurs besucht und anderthalb Jahre später tatsächlich einen Science-Fiction-Roman geschrieben: “Der Aufstand der Menschen”, über 300 Seiten, enggetippt. Einen besonderen Motivationsschub verdankte ich einer Sozialamtsmitarbeiterin, der ich im Lauf dieser Zeit einen Brief schrieb, weil ich mich selbst um solche Angelegenheiten kümmerte. Sie rief mich an, und sagte mit tränenerstickter Stimme, dass sie den fraglichen Antrag zwar ablehnen müsste, ich aber absolut druckreif und völlig hinreißend schreiben würde, was sie mir unbedingt persönlich mitteilen wollte. Einen kleinen Dämpfer erhielten meine Ambitionen in der elften Schulkasse, als ein Deutschlehrer vor versammelter Mannschaft zu mir sagte: “Liehr, von dir wird nie auch nur eine einzige Zeile veröffentlicht werden.” Vielleicht dauerte es deshalb noch zwei Jahrzehnte, bis ich den Berufswunsch wieder aufgriff und ernsthaft mit seiner Umsetzung begann, dann aber sehr zielstrebig, weil ich inzwischen sicher wusste, Schriftsteller sei zu können. Ich habe damit nie besondere faktische Ziele verbunden, also etwa die aus dem ersten Satz, sondern in der Hauptsache den schlichten Wunsch, dass möglichst viele Menschen meine Geschichten lesen und an ihnen Freude haben. Das klingt naiv, aber daran hat sich tatsächlich nichts geändert. Und übrigens ist es auf anderen Wegen deutlich einfacher, an Geld und Ruhm zu kommen.
Gibt es einen Schriftsteller oder Künstler, der Sie auf Ihrem Weg besonders inspiriert hat?
Diese Frage ähnelt derjenigen, wo die Ideen herkommen – wüsste man das, würde man andauernd am fraglichen Ort sein und sich eben Ideen holen, denn es gibt fast nichts Wertvolleres für Autoren. Tatsächlich kommen sie immer ungefragt und spontan, oft, nein, meistens zur falschen Zeit und quasi von sich aus. So ähnlich verhält es sich mit der Inspiration – ich habe mehrere tausend Bücher gelesen (Filme gesehen, Gespräche geführt, Menschen getroffen, Erlebnisse gehabt) und könnte unmöglich sagen, an welcher Stelle und zu welchem Zeitpunkt etwas mit mir geschehen ist, das sich später schriftstellerisch in besonderer Weise ausgewirkt hat. Ich bin sicher, dass ich mir die vielen Kursiven, die es in meinen Romanen gibt (obwohl die Lektoren schon Dutzende ausmerzen), von John Irving ausgeliehen habe, und auch den kleinen, aber wirkungsvollen Kniff, Nebensätze, die das eigentlich nicht bräuchten, mit einem “Und” einzuleiten. Möglicherweise sogar noch einiges mehr, etwa die innige Liebe zu den Hauptfiguren. Aber ich müsste auch viele andere Autoren nennen, ohne meine Hand dafür ins Feuer legen zu können, dass sie wirklich Einfluss hatten – nicht einmal bei John Irving, in dessen Bücher ich in den Neunzigern vernarrt war. Allerdings gibt es einen Künstler, der mich durch seine Auffassung und die Art, wie er sich präsentiert, schon seit Jahrzehnten beeindruckt und vermutlich auch inspiriert, nämlich den amerikanischen Singer-Songwriter Jackson Browne, dessen Musik ich zwar längst nicht mehr so liebe wie “früher”, der für mich aber eine Ehrlichkeit und Treue zu sich selbst und seinen Idealen verkörpert, über die ich selbst auch gerne verfügen würde.
Wann und wo schreiben Sie am liebsten?
Schreiben kann ich eigentlich überall und zu jeder Zeit, außer zu Hause, seltsamerweise, da ist es, als würde das fürs Schreiben nötige Hirnareal mit dem Zuschlagen der Haustür ins Koma fallen. Höchstens vor dem Einschlafen, in dieser Übergangsphase, denke ich manchmal über Kurzgeschichtenplots nach, die ich, wenn ich mich am nächsten Tag noch daran erinnere, im Büro notiere. Über Romanprojekte nachzudenken, das verbiete ich mir in solchen Momenten, weil gute Ideen da zu wertvoll wären, um mit dem Einschlafen verloren zu gehen. Wenn ich einen Roman so weit durchgeplant habe, dass ich mit der eigentlichen Schreibarbeit beginnen kann, ziehe ich mich für eine Woche in ein Hotel in Brandenburg zurück, und da ist es genau umgekehrt wie beim Nachhausekommen – als wäre das fragliche Hirnareal plötzlich auf Speed, Meth und Ectasy zugleich. Die Ideen kommen schneller, als ich sie tippen kann (und ich tippe schnell), und ich muss sogar zum Essen, Spaziergang oder in die Sauna Notizbücher mitnehmen, um all die Gedankengänge und Formulierungen, die unaufhörlich auf mich einprasseln, wenigstens stichwortartig festzuhalten – in dieser Zeit schreibe ich 150, 180, manchmal sogar 200 Seiten, an 18 Stunden pro Tag. Ansonsten schreibe ich auch in der Bahn, im Büro, bevorzugt aber in Kneipen, vor allem nachts in meiner Stammkneipe, zwischen elf und drei, was aber nur funktioniert, wenn der Korpus des Romans bereits steht.
Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen?
“Die Abenteuer des Joel Spazierer” von Michael Köhlmeier (Hanser), das einen zwiespältigen Eindruck bei mir hinterlassen hat – eine zweifelsohne großartige literarische Arbeit, die ich aber aufgrund der Figurenkonstruktion als anstrengend und am Ende als unbefriedigend empfand. Derzeit lese ich parallel “Die Ordnung der Sterne über Como” von Monika Zeiner (Blumenbar), ein sehr kluger, feingliedriger Roman, der mich, glaube ich, ziemlich beeindruckt, und das Frühwerk “Die Wespenfabrik” (Heyne) von Iain M. Banks, weil es das einzige ins Deutsche übersetzte Buch von ihm ist, das ich noch nicht gelesen hatte, hauptsächlich aber aus melancholischen Gründen, denn Banks hat in der vergangenen Woche verlautbaren lassen, dass er unheilbar krank ist, wahrscheinlich innerhalb eines Jahres sterben wird und keinen weiteren Roman mehr schreibt.
Was würden Sie einem jungen Schriftsteller raten?
Wirklich gutmeinend: Lass es. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich die viele Arbeit, die man beispielsweise in einen Roman investiert, auch auszahlt, ist äußerst gering – vorsichtig gesagt, und wenn man unter “Auszahlen” das Debüt bei einem halbwegs nennenswerten Verlag versteht. Aber das ist natürlich, als wolle man einem Verliebten ausreden, verliebt zu sein – ein Ding der Unmöglichkeit, und mit etwas Glück wird er schließlich irgendwann zurückgeliebt, was ja vorkommen soll.
Ansonsten bin ich mit Ratschlägen vorsichtig, weil ich erstens schon zu viele falsche Ratschläge von Leuten gehört und gelesen habe, die es eigentlich besser wissen sollten, und weil man zweitens – und viel wichtiger – wenig über die genaue Situation desjenigen weiß, der die Ratschläge zur Kenntnis nimmt und möglicherweise befolgt. Jede Schriftstellerlaufbahn ist einzigartig, praktisch keine war in der Weise, in der sie dann stattgefunden hat, vorhersagbar. Vielen, und das könnte man vielleicht als Ratschlag verstehen, ist gemein, dass sie am Anfang sehr geduldig waren, unermüdlich an sich gearbeitet haben, um herauszufinden, welches ihre Themen, Stilmittel usw. sind, und welche Person sie als Schriftsteller sein können, also zu einer entsprechenden Identität zu finden, die sich später gemeinsam mit den Texten vermarkten lässt, denn es geht um einen Markt und um einen Beruf. Ich würde davon abraten, den Weg des vermeintlich geringeren Widerstands zu gehen, also über Vanity-Veröffentlichungen von KDP bis DKZ, aber auch da fällt mir sofort wieder das Verliebten-Beispiel ein, denn es gibt ja einige wenige, die auf diesem Weg erfolgreich waren, was andere merkwürdigerweise davon überzeugt, genau dasselbe auch schaffen zu können, ohne auch nur einen Blick auf Vergleichszahlen und Wahrscheinlichkeiten zu riskieren. Letztlich gibt es nur einen wirklich brauchbaren Ratschlag: Erzählt gute Geschichten, und erzählt sie gut. Und vielleicht noch: Verzettelt euch nicht.
Vielen Dank an den Autor für die Beantwortung meiner Fragen!